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DOKUMENT2. Marie begann ihre Zensur mit der Wahl der entsprechend bequemen Kleidung, die es ihr ermöglichen würde, den gesamten Samstag auf Knien vor Schränken und Schubladen zu verbringen. Die graue Jogginghose mit den bereits ausgebeulten Knien würde das in jedem Fall verkraften, und auch ihr fast komplett durchgescheuerter Hosenboden würde den Erfolg des Projekts »Lebensende« in keinem Fall beeinträchtigen. Dazu ein leichtes baumwollenes Sweatshirt in Schwarz; ein zu farbenfrohes Outfit schien Marie dem Ernst der Lage kaum angemessen. Hinzu kamen dicke Wollsocken, die sie gerne so weit wie möglich über die Hosenbeine der Jogginghose zog, um die Beine zu wärmen, aber vor allem, um die hübschen Wollsocken besonders zur Geltung zu bringen. Außerdem erinnerte sie diese Variante, Socken zu tragen, entfernt an die Woll-Stulpen diverser Ballettschülerinnen beim Training. Wahrscheinlich bereute sie es eben doch ab und zu, die Ballettstunden schon nach vier Jahren mit acht aufgegeben zu haben. Und da sie meistens allein in ihrer Wohnung war, konnte auch niemand ihren seltsamen Aufzug mit Kritik oder Spott belegen.
Zunächst verschaffte sich Marie einen akribisch genauen Überblick über die zu zensierenden Lebensbereiche, indem sie eine ausführliche To-do-Liste erstellte. Mit Block und Kugelschreiber im Anschlag machte sie es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem und versuchte, ihre noch recht diffusen Gedanken zu ordnen. SORTIEREN. Die Reihenfolge der Aufgaben war jetzt noch nicht so wichtig - was wann zu erledigen war, wollte sie später entscheiden. Liebesbriefe, Tagebücher und Fotos kamen als Erstes auf die Liste. Es folgten Bücher und die Video- und DVD-Sammlung - da war genügend dabei, was nicht jeder unbedingt sehen musste. Auch in ihrem Laptop würde sie wohl gewaltig ausmisten müssen, bevor er in fremde Hände geraten konnte. Als Nächstes schrieb sie »Klamotten« und »Unterwäsche«, danach »Badezimmer/Kosmetik« auf den Block. Als sie die erste Bestandsaufnahme schon für beendet erklären wollte, fielen ihr noch die Musik-CDs und der Terminkalender ein. Auch sie wurden notiert.
Im Anschluss daran zog Marie einen dicken Strich unter die nun schon recht ansehnliche Liste und überlegte, was es außer der Zensur ihrer persönlichen Dinge sonst noch zu bedenken galt. Die Todesart war natürlich ein ganz wichtiger Punkt bei einem Selbstmord, ebenso wie der Todesort und -zeitpunkt. Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um. Falls diese Wohnung am Ende den Zuschlag als perfektes Ambiente bekommen sollte, musste sich hier wohl auch noch einiges tun. Die meisten der Möbel besaß sie schon seit ihrer Studienzeit, und in den letzten sechs Jahren - so lange wohnte sie hier - hatte sie so gut wie nichts mehr verändert. Marie machte ein dickes Ausrufezeichen hinter das Stichwort »Todesort« und vermerkte so ihre eventuellen Umgestaltungspläne. Und selbst wenn sie sich gegen die Wohnung als Platz für das perfekte Sterben entscheiden sollte, so war es wenig sinnvoll, deren Inhalte, aber nicht die Räume selbst aufzumotzen. Schließlich war der Satz »Zeige mir deine Wohnung, und ich sage dir, wer du bist« nicht von der Hand zu weisen. Also fügte sie kurzerhand den Stichpunkt »Wohnung« noch zur Liste der zu zensierenden Bereiche hinzu. BEENDEN.
Als Verpflegung für ihr Stöber-Vorhaben bereitete Marie sich anschließend eine große Tasse Rooibostee zu. Als der Wasserkocher verheißungsvoll brodelte, zog sie den Stecker aus der Steckdose, übergoss den Teebeutel mit dampfendem Wasser und gab nach einigen Minuten noch etwas Milch dazu. Der süße Duft zog verführerisch durch die Wohnung, als wolle er die Bewohnerin zum Weiterleben animieren. Keine Chance bei Marie. Sie öffnete eine Packung Hafer-Schoko-Kekse und machte sich an die Arbeit. SUCHEN …
Die doch etwas dürftige Sammlung an Liebesbriefen fand sich nach intensiver Suche schließlich in einer fast schon antiken Schuhschachtel unter dem Bett. Die nicht unerhebliche Staubschicht darauf verursachte schon bei der kleinsten Bewegung Hustenreiz. Der Inhalt einiger darin enthaltener Poetik-Ergüsse verflossener Verehrer leider auch, wie Marie bedauernd feststellen musste. Wie gut, dass sie rechtzeitig die Spreu vom Weizen trennte. Sie schrieb »Staubwischen« auf die To-do-Liste und wandte sich den Briefen zu.
Gerade zog sie einen weiteren Umschlag aus dem mit einer roten Schleife zusammengebundenen Päckchen. Wie kitschig, unbeholfen gestammelte Liebesschwüre eines Fünfzehnjährigen mit einer auch noch roten Samtschleife zusammenzuhalten! Die Schleife wanderte also direkt in den Mülleimer, der zur schnelleren Entsorgung mitten im Schlafzimmer platziert worden war. Da klingelte es an der Wohnungstür … unverhofft … am Samstagnachmittag. Unter anderen Umständen hätte sich Marie gefreut, denn wer auch immer es war, er wäre eine willkommene Abwechslung im eintönigen Wochenendeinerlei gewesen. Unter den gegebenen Umständen allerdings empfand sie es zum ersten Mal als Störung. ÖFFNEN …
»Guten Tag, Frau Hartmann, entschuldigen Sie bitte die Störung.« Natürlich. Der schleimige Herr Ratzek aus dem vierten Stock. War ja klar. Wer sollte auch sonst bei ihr klingeln als diese Nervensäge? SCHLIESSEN … Marie gab dem ersten Impuls, den unliebsamen Besucher abzuwimmeln, nicht nach. Schließlich sollten die Nachbarn nach ihrem Tod möglichst positiv von ihr sprechen, und Herrn Ratzek hatte sie sowieso schon viel zu oft angezickt.
»Nein, nein, Sie stören überhaupt nicht.«
»Ich vertrete in dieser Woche den Hausmeister und müsste Sie in dieser Funktion kurz in Anspruch nehmen. Sie haben vermutlich bemerkt, dass in den letzten Tagen in unserem Haus einige Elektro-Installationsarbeiten durchgeführt wurden …«
Es war Herrn Ratzeks Markenzeichen, erst nach ausführlichen einleitenden Worten inhaltlich zum Punkt zu kommen, was Maries Sympathie ihm gegenüber nicht gerade steigerte. Aber wenn man ohnehin in den Vorbereitungen für das eigene Ableben steckte, konnte man durchaus noch ein paar Minuten mehr als sonst für soziale Kontakte opfern, fand Marie. Zumal ihr diese Kontaktpflege posthum zugutekommen konnte. SPEICHERN.
»… und deshalb müsste ich kurz an Ihren Sicherungskasten.«
Auch Herrn Ratzeks Vortrag nahm irgendwann ein Ende, doch Marie hatte überhaupt nicht zugehört. Nur einige Bruchstücke der langen Rede dieses Wichtigtuers waren bis zu ihrem Gehirn vorgedrungen: irgendetwas von »Überstrom« und »tödlicher Spannung« infolge der kürzlich vorgenommenen Installationsarbeiten. Für sie in keinster Weise relevant, fand Marie. Herr Ratzek sah das offensichtlich ganz anders. Er eilte an ihr vorbei zu ihrem Sicherungskasten und redete dabei unaufhörlich.
»Ich drehe Ihnen lieber gleich selbst die entsprechende Sicherung heraus, damit Sie sich in keinem Fall in Gefahr bringen. Mit elektrischen Spannungen ist nicht zu spaßen. Dieser Überstrom in Ihrer Küche kann sich bei der kleinsten Inbetriebnahme eines Küchengerätes bereits in einem tödlichen Stromschlag entladen. Und wenn Sie dann nicht rechtzeitig gefunden werden, dann ›Gute Nacht, Marie‹!« Er lachte meckernd über sein einfallsloses Wortspiel und drehte die Küchensicherung heraus.
Spätestens jetzt war sich Marie sicher, dass es genug war mit nachbarlicher Fürsorge und auch mit der Pflege potenzieller posthumer Sympathie. BEENDEN.
Als Herr Ratzek endlich gegangen war, nicht ohne seiner Sorge um Maries Wohl nochmals Ausdruck zu verleihen, indem er die herausgedrehte Sicherung, wie er sagte, »in Verwahrung nahm«, konnte sie sich wieder ihren Aufräumarbeiten widmen. Der Tee war inzwischen kalt. Also schloss sie ihren Wasserkocher im Schlafzimmer an und bereitete einen weiteren Rotbusch-Cocktail. Dabei ergoss sich ein Teil auf den kleinen weißen Flokati, den sie kurzerhand gleich in den bereitstehenden Mülleimer entsorgte. Reinigung lohnte sich schließlich nicht mehr.
Zurück zu den Liebesbriefen. »Ich finde Dich ziemlich nett«, schrieb Thomas in der fünften Klasse. Marie erinnerte sich gut an das Gefühl, als er wenige Wochen später Carola wohl noch etwas netter fand. Sowohl sprachlich als auch inhaltlich völlig unbrauchbar, entschied Marie und entsorgte das Schriftstück, ohne es bis zum bitteren Ende gelesen zu haben. VERWERFEN. Und ohne zu wissen, was aus Thomas, der nach der siebten Klasse die Schule gewechselt hatte, geworden war, war es sowieso viel zu risikoreich, seine unbeholfenen Zeilen in der Sammlung zu behalten. Am Ende wohnte er noch bei Mutti und war schon von daher in keinster Weise geeignet, ein gutes Licht auf Marie zu werfen.
Der Nächste auf Amors Literaturliste war Günther, mit dem sie zwei Jahre in der Jugendgruppe der Kirchengemeinde gewesen war. Das »Miteinander-Gehen« dauerte ganze drei Monate und beinhaltete immerhin die ersten Zungenküsse und vorsichtige Berührungen unterhalb der bis dahin unangetasteten Kleiderschicht. Nach einigen Wochen jedoch wurde der sechzehnjährigen Marie klar, dass auch das nicht alles sein konnte. Als Günther aber selbst nach drei Monaten keinerlei Anstalten machte, sich weiter vorzuwagen, machte sie Schluss.
In dieser Zeit hatte er sich zum Verfassen eines einzigen Liebesbriefs durchringen können, den Marie nun in Augenschein nahm: »Ich muss die ganze Zeit an Dich denken und kann nachts nicht schlafen vor Sehnsucht.« Nicht schlecht, aber auch nicht gerade neu. »Du bist das schönste Mädchen der ganzen Schule.« Aha, vielleicht doch nicht so ungeeignet. »Gestern Abend mit Dir war sehr schön.« Okay … Aber was war das? Ganz unten, etwas oberhalb der ungemein schwungvollen Unterschrift (sah aus wie stundenlang geübt), entdeckte Marie den Satz, der den Brief unmittelbar von der Bestsellerliste auf die Abschussliste verbannte: »Merci, dass es Dich gibt!« Oh nein! Derartige Plattheiten mochten vor neunzehn Jahren noch weniger abgegriffen gewesen sein - heute war so etwas definitiv untragbar. So musste auch Günthers Machwerk den Weg in den Müll antreten. WOLLEN SIE DAS DOKUMENT WIRKLICH IN DEN PAPIERKORB VERSCHIEBEN? JA. ENTER.
Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. So langsam wurde es Zeit, dass die repräsentativen Werke das »Töpfchen« füllten, sonst würde sie als ewig unbeachtetes Mauerblümchen in die Geschichte eingehen. Das Gedicht von Jörg war ja ganz gelungen: »Du bist mein Stern in dunkler Nacht / Was hast Du nur mit mir gemacht?/ Ich kann nicht schlafen, kann nicht essen / und kann Dich einfach nicht vergessen!/Mein Herz schlägt wild, wenn ich Dich seh / Du bist schlank wie ein junges Reh / Dein Auge glänzt wie Morgentau /Oh, bleib für immer meine Frau!« Für einen Sechzehnjährigen war das doch eine recht gute Leistung und somit als Anfang von Maries Liebesarchiv bestens geeignet.
Die Tatsache, dass sie mit Jörg nicht gerade lange zusammen gewesen war, verschwieg Marie sogar vor sich selbst. Einige Zeit nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, waren ihr damals seine Qualitäten schmerzlich bewusst geworden, als sich die zwei Jahre ältere Jasmin in ihn verliebte, mit der er heute verheiratet war. Seitdem verdrängte sie konsequent den Umstand, dass sie nur Schluss gemacht hatte, weil er in der Fußballmannschaft der Schule auf die Ersatzbank musste. LÖSCHEN. Als er auf der Abiturfeier zwei Jahre später eine ebenso intelligente wie witzige Rede hielt, stellte sie sich vor, wie sie ihn als seine Freundin auf der Bühne hätte beglückwünschen können. Egal, das Gedicht jedenfalls war für sie geschrieben worden.
Einen weiteren Beitrag zum Archiv lieferte Ben, mit dem sie Informatik studiert hatte. Als sie das Studium begann, war er schon im Hauptstudium und im ersten Semester ihr Tutor. Er sah wirklich blendend aus und war der Schwarm aller Studentinnen. Doch nur Marie bat er schon nach der dritten Stunde, die Arbeitsblätter für die nächste Sitzung zu kopieren, nach der fünften um Hilfe bei der Erstellung seiner Homepage, und noch vor Beendigung dieses Projektes waren sie zusammen. Marie war glücklich. UNTERSTREICHEN.
Die Tatsache, dass Ben bei den Kommilitonen äußerst beliebt war, verschaffte ihr schnell Zugang zu allen wichtigen Studentenveranstaltungen und -partys. Und da er am Informatik-Institut arbeitete, war sie auch sehr bald mit den meisten Dozenten bekannt. Hinzu kam, dass er mit ihr für Prüfungen und Referate übte. In dieser Zeit hatte Marie das Gefühl, ihr könnte nichts mehr misslingen. Das Leben schien ohne große Probleme zu meistern zu sein. Sie machte ein wirklich gutes Vordiplom und zog mit Ben in eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Alles schien perfekt.
Bis zu dem Abend, an dem sie extrem euphorisch von einer Besprechung mit ihrem Professor nach Hause kam und Ben mit einer seiner studentischen Hilfskräfte im Bett erwischte. In diesem Moment musste Marie erkennen, dass ihr Freund den Begriff »Hilfskraft« offensichtlich etwas freier interpretierte. Wobei er sich sonst noch helfen ließ, blieb sein Geheimnis, denn Marie zog sofort aus und brach den Kontakt ab.
Das Einzige, was ihr von Ben blieb, waren die acht Briefe, die sie jetzt in den Händen hielt, und eine handbemalte Spieluhr in Form eines Karussells. Marie erinnerte sich sehr gut daran, dass Ben damals einige Monate verzweifelt versucht hatte, den Kontakt zu ihr wieder aufzunehmen. Doch obwohl sie unter der Trennung unglaublich gelitten hatte, hatte es ihr Stolz nicht erlaubt, ihn auch nur ein Mal anzuhören. Die Briefe und die Spieluhr waren zu ihren Artgenossen in die Schuhschachtel gewandert, wo sie schon seit zehn Jahren ein finsteres Dasein fristeten.
ANSICHT. Gedankenverloren drehte Marie die blecherne Spieldose in ihren Händen hin und her. »Wo ich mit dir doch den absoluten Glückstreffer auf dem Rummel getan hab«, hörte sie ihn noch sagen (er sagte Rummel, was Marie bis dahin noch nie gehört hatte), als er ihr das kleine Karussell schenkte. Genau ein Jahr zuvor war es auf einem örtlichen Volksfest zum ersten Kuss zwischen ihnen gekommen. »Eigentlich schade, Kasimir.« Ihr Kater hatte sich neben die ausgebreiteten Hinterlassenschaften gelegt, leckte sich die Pfoten und nahm von Marie keinerlei Notiz. ANSICHT SCHLIESSEN.
Nun war es aber an der Zeit, den Zweck der Übung nicht aus den Augen zu verlieren und die Lebenszensur fortzusetzen. Die Trennung von Ben war nicht mehr rückgängig zu machen, das von ihm Gebliebene jedoch durchaus gewinnbringend zu nutzen. Die Briefe von Ben waren poetisch, aber nicht kitschig, also bestens geeignet zur posthumen Imagepflege. Schließlich war Ben inzwischen, wie Marie wusste, Chef eines nicht gerade unbedeutenden Softwareunternehmens und im letzten Jahr von einer Wirtschaftszeitschrift zum »Manager des Jahres« gewählt worden. Es konnte also nichts schaden, seine vormaligen Liebesbeteuerungen sorgsam zu archivieren. SPEICHERN.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
Kasimir schreckte aus seinem Mittagsschläfchen auf, das er in einem Sonnenfleck auf dem Schlafzimmerteppich genossen hatte. Interessiert betrachtete er Marie, die Bens Briefumschläge einen nach dem anderen missgelaunt betrachtete. Sie enthielten keinerlei Absender, was für Liebesbriefe nicht unüblich war, wenn man sie sich während der Vorlesung in der Uni zusteckte. Wie aber sollte die Nachwelt von Maries intensiver Beziehung zu einem ebenso gut aussehenden wie intelligenten »Manager des Jahres« beeindruckt sein, wenn sie die Verbindung von ihm zu diesem nachnamenlosen Ben von vor zwölf Jahren nicht herstellen konnte? Dem musste abgeholfen werden, dafür war diese Töpfchen-Kröpfchen-Nummer schließlich da, fand Marie. OPTIONEN …
Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste die Umschläge mit dem vollen Namen des Absenders versehen. Ben Bergemann. Keine leichte Aufgabe für jemanden, der nicht einmal zu Schulzeiten die Unterschrift der Eltern unter der Klassenarbeit nachgeahmt hatte. Aber kurz vor Lebensende war genau der richtige Zeitpunkt für eine erste und wohl auch letzte Urkundenfälschung; schließlich hatte man danach keine Gelegenheit mehr dazu. FORMAT. ZEICHEN. Zunächst studierte Marie akribisch Bens ebenso schwungvolle wie gleichmäßige Handschrift, deren Buchstaben wie perfekt gepustete Luftschlangen aneinandergereiht waren. Vom Anfang bis zum Ende eines Wortes schien sein schicker Füller, an den sie sich noch sehr gut erinnern konnte, auch nicht für den kleinsten Moment abgesetzt zu haben.
Kurz nachdem Ben und sie zusammengekommen waren, hatte sich Marie einen ähnlichen Füller gekauft, weil Ben ihr immer wieder erklärt hatte, dass Kugelschreiber das Schriftbild verschlechterten. Nach der Trennung hatte sie ihn natürlich sofort entsorgt, was sich nun als extrem ungünstig erwies. Zum einen hätte er jetzt ihrer Fälschung Glaubwürdigkeit verliehen. Zum anderen fiel ihr aufgrund ihres über die Jahre durch Kugelschreiber verschlechterten Schiftbildes die Nachahmung der »Schriftzüge des Jahres« besonders schwer. Mit ihrem Schulfüller, den sie ganz hinten in einer Schublade fand, versuchte sie ihr Glück wieder und wieder. Ein Mal verrutschte das »e« infolge einer ungücklichen Handbewegung, ein anderes Mal entglitt die Feder beim »m«. WIEDERHOLEN.
Nachdem sie mehrere Blätter eines Din-A4-Collegeblocks mit Bergemanns gefüllt hatte, fühlte Marie sich in der Lage, einen Briefumschlag seiner Jungfräulichkeit zu berauben. Kasimir hatte sich wieder zusammengerollt, als sie ein rotes Kuvert mehrmals umwendete, um den besten Platz für den wichtigen Absender zu suchen. An welche Stelle hätte wohl Ben seinen Namen gesetzt? Und wo würde der wichtige Zusatz von den Rezensenten der Briefe am ehesten bemerkt? Marie entschied sich für die Platzierung auf der Rückseite des Kuverts in der Mitte der Einstecklasche. KOPIEREN. EINFÜGEN. Mit möglichst flüssigen Bewegungen setzte sie ihre Luftschlangen auf das leicht raue Papier. Nicht schlecht. Von Mal zu Mal wurden ihre Bewegungen sicherer und das Ergebnis besser. Und so entstanden in einem Schlafzimmer in München innerhalb weniger Minuten acht echte Bergebeziehungsweise Hartmanns auf zwölf Jahre alten Briefumschlägen.
Zufrieden lehnte Marie sich zurück und betrachtete einige Minuten ihr Werk. Ben Bergemann. Ben Bergemann. Ben Bergemann. Sie verglich ihre Kuvert-Beschriftung mit den Brief-Originalen und sah Kasimir Beifall heischend an: »Na, was sagst du jetzt?« Da Kasimir natürlich nichts dazu sagen konnte und vermutlich auch nicht wollte, jedoch wieder einmal vorwurfsvoll aufblickte, fühlte Marie sich als infame Urkundenfälscherin entlarvt und verurteilt. RÜCKGÄNGIG? Aber schließlich war Ben, wenn auch nicht mit ausführlicher Unterschrift, wirklich der Absender dieser Briefe gewesen, und er hätte sie mit Sicherheit auch mit seinem kompletten Namen versehen, wenn er geahnt hätte, wie wichtig dieses Detail für Marie einmal werden würde. Also: Marie rehabilitiert, Kasimir widerlegt, Briefe archiviert. SPEICHERN.
Amors Schuhschachtel beherbergte nun neun Briefe. Nicht gerade üppig in einem fünfunddreißigjährigen Leben, das immerhin ungefähr zwanzig geschlechtsreife Jahre beinhaltete, fand Marie. Kein Ruhmesblatt also für das vorzubereitende posthume Image. Während sich Kasimir geräuschvoll auf die andere Seite drehte, ersann sie den nächsten Schritt in Sachen Liebesbrief-Kosmetik. Sie musste die Quantität der Korrespondenz deutlich erhöhen, sollte die Nachwelt nicht auf den Gedanken kommen, ihr Liebesleben habe sich in diesen zwanzig geschlechtsreifen Jahren auf zwei Beziehungen beschränkt, von denen eine gerade mal ein paar Monate gedauert hatte.
OPTIONEN … Es mussten eindeutig etwas mehr Liebesgeständnisse her. Mit einer Handvoll ziemlich normaler Texte konnte sie nach ihrem Tod mit Sicherheit niemanden beeindrucken. Wie aber kam man an poetische, ausgefallene Liebesbriefe, wenn man gerade keinen Mann zur Hand und selbst auch kaum Erfahrung mit derartigen Mitteilungen hatte? Marie stand auf und lief einige Male unruhig im Zimmer hin und her. Mit Grauen erinnerte sie sich an die wenigen kümmerlichen Versuche, mit denen sie selbst sich im Laufe ihrer Beziehungen abgequält hatte. Vielleicht war ja das der Grund, dass sie jetzt kurz vor Ende ihres Lebens nur auf eine recht spärliche Anzahl schriftlicher Liebesgeständnisse zurückblicken konnte. Denn wie man in den Wald hineinschreibt, so schreibt es ja wohl heraus …
Selbst schuld also, aber damit konnte sie sich in diesem Moment leider nicht zufriedengeben. Aktivität war gefragt - etwas, das sie in den vergangenen Monaten eher vermieden hatte. Doch wollte sie nicht, dass ihr Ende genauso unauffällig wurde wie das Leben davor, dann musste sie jetzt über ihren Schatten springen und sich selbst als Liebesbrief-Autorin betätigen. Und das, obwohl Schreiben noch nie ihre große Stärke gewesen war. Ausgerechnet. Vielleicht sollte sie sich eher an einem Gemälde oder einer CD mit Liebesliedern versuchen? Das lag ihr vermutlich mehr. VERSCHIEBEN. Auch keine schlechte Idee, aber zuerst musste sie die Aktion Liebeskorrespondenz zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. »Drücken gilt nicht«, sprach sie sich selbst Mut zu und streichelte Kasimir ein paar Mal liebevoll über den Kopf, den dieser, überrascht über die Ansprache, kurz gehoben hatte. Schließlich konnte sie ihre schriftstellerischen Versuche jederzeit wieder vernichten und es bei den vorhandenen Briefen belassen. SPEICHERN.
Marie beschloss, sich zunächst einige Anregungen zu holen, und lief ins Wohnzimmer zu ihrem Bücherregal. Vielleicht fand sich hier etwas, das man als Inspiration für einen eher unkreativen Geist wie den ihren brauchen konnte. Doch bis auf einen Gedichtband von Goethe, den sie in ihrer Schulzeit von den Eltern geschenkt bekommen hatte und in dem sich natürlich auch Liebesgedichte fanden, beherbergte das Regal keinerlei brauchbare Vorlagen. »Wie schreibe ich einen Liebesbrief an mich selbst, wenn es sonst keiner tut?« - das wäre mal ein hilfreiches Buch in der vielfältigen Literaturlandschaft gewesen, fand Marie an diesem Samstag und setzte sich mit Goethes Gedichten auf ihr Sofa, um gleich mit der Recherche zu beginnen. ÖFFNEN. Vielleicht war das Geschenk der Eltern, das sie damals mit siebzehn als ziemlich sinnlos empfunden hatte, jetzt doch noch von Nutzen.
Einige seiner Gedichte hatte der Meister mit dem Namen der jeweils Angebeteten versehen, was Marie für ihre Zwecke eher ungelegen kam. Natürlich hatte sie nicht vor, ein Goethe-Werk sozusagen unter falschem Namen an sich selbst zu adressieren, doch auch für andere Verwendungszwecke waren fremde Namen eher kontraproduktiv. Nachmachen konnte sie seine manchmal doch recht überschwängliche Art des Dichtens natürlich sowieso nicht. Das hätte vermutlich auch kein sprachlich versierterer Schreiber geschafft. VERWERFEN. Und wenn ihr auch das Lesen des lange nicht mehr beachteten Gedichtbandes durchaus Spaß machte, merkte Marie recht bald, dass sie dem Verfassen eigener Liebesbriefe so in keinem Fall näherkam. Im Gegenteil: Sie verbrauchte recht unergiebig wertvolle Zeit.
Um die halbe Stunde mit Goethe nicht ganz ungenutzt zu lassen, setzte sich Marie mit ihrem Schulfüller und einem jungfräulich weißen Briefbogen an den Wohnzimmertisch. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass ihre Liebesbrief-Fälschung sofort auffliegen würde, wenn sie die Zeilen in ihrer eigenen Schrift zu Papier brächte. Also musste sie noch einmal unterschiedlich geformte Buchstaben üben, vergleichen und wieder ändern, bis sie sich ans Werk machen konnte. Dann schrieb sie mit ihrer jungenhaftesten Schrift eines der Gedichte, an das sie sich aus ihrer Schulzeit noch erinnern konnte, ab:
»Willkommen und Abschied«. Sehr ergreifend.
»Ganz war mein Herz an deiner Seite/Und jeder Atemzug für dich.« Wer wünschte sich das nicht?
»In deinen Küssen welche Wonne!/ In deinem Auge welcher Schmerz!« Muss Liebe schön sein! Leider konnte sich Marie kaum mehr daran erinnern.
»Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!/ Und lieben, Götter, welch ein Glück!« Nun wurde es ihr doch etwas wehmütig ums Herz. Wie musste sich eine Frau fühlen, der ein Mann solche Gedichte schrieb? Für Marie unvorstellbar. Sie musste sich ihre Liebesbriefe mühevoll selbst schreiben, und eine andere bekam derartige Kunstschätze einfach mal so präsentiert. Das Leben war ungerecht. SPEICHERN.
Schnell wischte sie die sentimentalen Gedanken beiseite und erfand als Absender einen jugendlichen Goethe-Liebhaber namens Wolfgang (wie sinnig), der in ein paar einleitenden Worten bekannte, er habe bei diesem in der Schule behandelten Gedicht sofort an Marie denken müssen. Das war für einen unbeholfenen Jüngling genug Liebeserklärung, fand Marie und steckte den Bogen abschließend in ein passendes Kuvert.
Dass es mit ein paar abgeschriebenen Dichter-Zeilen nicht getan war, war klar. Und ein Brief mehr machte noch keine begehrenswerte Marie. WEITER. Um das Verfassen eigener Gedanken kam sie demnach nicht herum. Leider. Aber so ein perfekter Selbstmord verlangte eben auch Opfer. Sie musste sich schriftstellerisch betätigen, ob sie wollte oder nicht.
Nur Mut! Frisch gewagt ist halb gesülzt. Kasimir kam verwundert aus dem Schlafzimmer getrottet, als wollte er nachsehen, wo sein Frauchen so lange blieb. Er strich einige Male um Maries Beine und maunzte fordernd, bis sie sich von ihrem Projekt losriss und ihm die geforderten Streicheleinheiten zugestand. Doch auch als er sich längst wieder auf seinen Sessel verabschiedet hatte, blieb der Briefbogen leer. Marie hatte keine Ahnung, wie sie anfangen und was sie schreiben sollte.
Wieder stand sie auf und lief unruhig hin und her. Bewegung sollte angeblich gut für das Gehirn sein, wirkte sich aber offensichtlich nicht unmittelbar aus, denn die kreativen Gedanken ließen trotzdem auf sich warten. Einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, ihre beste Freundin, Alma, anzurufen und um Hilfe zu bitten. Die war schließlich Redakteurin bei der »Süddeutschen Zeitung« und als solche prädestiniert für die ansprechende Verschriftlichung aller Arten von Gedanken. Doch wie hätte sie ihr ungewöhnliches Anliegen erklären sollen? Sie konnte schließlich nicht sagen, dass sie gerade dabei war, ihren Nachlass publikumswirksam zu fälschen. Zu dumm. VERWERFEN.
Nur um einmal angefangen zu haben, setzte Marie ein in wieder neu verstellter Schrift geschwungenes »Meine Liebste« an den oberen Papierrand und betrachtete es kritisch. Zu kitschig? Warum eigentlich? Verliebte waren manchmal so. Sie musste nur versuchen, sich etwas mehr in diesen für sie schon sehr weit entfernten Zustand zu versetzen. Schwierig. Wann war sie das letzte Mal verliebt gewesen? Marie begann zu rechnen: Vor ziemlich genau acht Jahren hatte sie ihre erste Stelle als Systemadministratorin bei einem Münchner Pharmaunternehmen gekündigt. Der Grund war die Trennung von Lars, einem Arbeitskollegen, gewesen - ihre letzte Beziehung, die ganze achtzehn Monate gehalten hatte. Unglaublich! Acht Jahre! Kein Wunder, dass es ihr schwerfiel, zumindest vorstellungshalber in den Zustand des Verliebtseins zurückzufinden.
Also: »Meine Liebste« … Das konnte doch nicht so schwer sein. »Nach unserer unbeschreiblich schönen Nacht (lieber ein bisschen dicker auftragen) denke ich in jeder freien Minute an Dich.« Warum eigentlich nur in jeder freien Minute? Was war mit den anderen? Wenn schon, dann richtig. Wann war man schon mal in der äußerst komfortablen Situation, die Liebeserklärungen, die man bekam, steuern zu können? Marie zerknüllte den begonnenen Brief und setzte erneut oben auf einem leeren Bogen an: »Meine Liebste, nach unserer unbeschreiblich schönen Nacht denke ich Tag und Nacht an Dich! Ich sehe Dich vor mir, wie du …« Ja, wie eigentlich? EINFÜGEN.
Sie hatte keine Ahnung, was ein potenzieller Liebhaber an ihr hätte herausheben können. Und einfach das Blaue vom Himmel herunter zu erfinden war zu riskant und auch irgendwie unter ihrem Niveau, fand Marie. Also marschierte sie erst einmal ins Schlafzimmer vor den großen Spiegel, um eine ausführliche Bestandsaufnahme zu machen. Kasimir kam natürlich unverzüglich hinterher, froh über wenigstens etwas Bewegung an diesem für seinen Geschmack eher langweiligen Samstag. Er postierte sich neben seinem Frauchen und versuchte kurz mit seinem Spiegelbild Kontakt aufzunehmen. Als sein wiederholtes Miauen jedoch ohne Antwort blieb, schlich er gelangweilt ins Wohnzimmer zurück und ließ Marie mit ihrer Selbstanalyse allein. Typisch Mann.
Oberschenkel zu dick, Bäuchlein zu groß, Hüften sehr breit und schon die ersten Falten im Gesicht - nicht gerade die beste Ausgangssituation, um einen imaginären Verliebten zu Begeisterungsstürmen hinzureißen. Marie wollte ihren Beobachtungsposten vor dem Spiegel schon wieder frustriert verlassen, da entdeckte sie, dass ihr die kleinen Fältchen um den Mund eigentlich eher eine besondere Note gaben, als dass sie sie alt und verbraucht wirken ließen. Zur Probe lächelte sie ihrem Spiegelbild einmal kurz zu und musste zugeben, dass Kasimir recht hatte: Durch einen kontaktfreudigen Gesichtsausdruck konnte das Aussehen noch gewinnen. SPEICHERN.
Nun gut, die dunklen, schulterlang gewellten Haare, die sie meist zu einem lockeren Knoten zusammengebunden trug, konnten sich durchaus auch sehen lassen. Ein paar herausgerutschte Strähnchen umspielten ihr Gesicht, was ihr ein wenig das strenge Aussehen nahm. Auch das konnte man sicher in einem Liebesbrief ganz gut verwerten. Die braunen Augen waren okay, die Nase ein bisschen nach unten gezogen, der Mund hingegen wieder gut proportioniert. Und die Sommersprossen gaben ihrem Gesicht fast etwas Charmant-Witziges. Ergebnis: Kopf recht hübsch, Oberkörper in Ordnung, Beine verbesserungswürdig. Alles in allem gar keine so schlechte Bilanz, fand Marie jetzt doch und setzte sich wieder an ihren bereits begonnenen Liebesbrief. Der unbekannte Verehrer, dem sie schließlich den Namen Thomas gab (je normaler, desto unauffälliger), schwärmte nun ausführlich von ihren süßen Fältchen und den vorwitzigen Strähnchen, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen.
In einem nächsten Brief durfte ebendieser Thomas die netten Sommersprossen und die liebenswerte Mimik loben, um schließlich zu ihrer herzlichen und humorvollen Art zu kommen. Je länger sie schrieb, desto kreativer flossen die Liebesgeständnisse aus Maries Schulfüller, der sich je nach Absender ein völlig neues Schriftbild anzueignen schien. Langsam bekam sie Routine in der Erschaffung immer anderer Schriftzüge, sodass sie kurz überlegte, eventuell gleich noch ein paar Zeugnisse oder Studienscheine zu fälschen. Auch die hätten durchaus ein paar Verbesserungen vertragen können. Da aber Aufwand und Risiko in diesem Fall ungleich höher und ohnehin noch genügend zu tun war, verwarf Marie den Gedanken und konzentrierte sich wieder ganz auf ihre momentane Aufgabe. Sie erfand einen traumhaften Italien-Urlaub mit einem Holger, schuf aufregende Biking-Touren mit einem Christian und erdachte romantische Abende mit einem Frank, die alle in einem oder mehreren Liebesbriefen an sie Erwähnung fanden. Und alle begeisterten sich für eine Marie, die sie bis heute selbst nicht gekannt hatte, nach eingehendem Studium jetzt aber direkt ein wenig mochte. BEENDEN.
In den letzten Jahren hatte sie außer zu Alma und ein paar Arbeitskolleginnen zu so wenigen Leuten wirklich Kontakt gehabt, dass keiner ihre kleine Beziehungskorrektur bemerken würde. Und da die gefälschten Briefe alle nicht datiert waren, konnte jeder denken, der eine oder andere ihm unbekannte Flirt sei in einer der vielen Kontaktpausen passiert. Und sogar Alma war bis vor Kurzem ein Jahr beruflich in London gewesen, sodass auch diese eigentlich so herzliche Freundschaft etwas auf Eis gelegen hatte. In dieser Zeit hatte sich Marie noch etwas mehr zurückgezogen, was sie jetzt mit dem Erfinden neuer Flirts und Beziehungen mühsam wieder ausbügeln musste. Hätte sie das mal früher gewusst!
Nachdem sie sich in ihren Briefen, wie sie meinte, nun genügend selbst beweihräuchert hatte, las sie alle selbst erdachten Texte noch einmal durch und steckte sie, allesamt für gut befunden, in verschiedene Kuverts, die sie zum Teil wieder aus dem Abfall holte. Schließlich wurde die Fälschung umso glaubwürdiger, je unterschiedlicher das Material war, das zum Einsatz kam. Und die zunächst entsorgten Umschläge waren immerhin aus verschiedenen Jahren, wodurch sie sogar jeder Echtheitsprüfung standhalten würden. Nicht dass Marie eine solche bezüglich ihres Nachlasses erwartet hätte - das wäre wohl auch etwas vermessen gewesen -, aber man konnte ja nie wissen.
So entstand im Laufe dieses Samstags ein recht ansehnlicher Stapel aus einigen echten und etwas mehr unechten Liebesbriefen, die aber an Romantik und Gefühl kaum zu überbieten waren. So manche Angebetete hätte sich glücklich geschätzt, derart ausführliche und liebevolle Zeilen von einem ihrer Verehrer zu bekommen. Vielleicht war es sowieso das Beste, sich bei der Beurteilung der eigenen Qualitäten nicht auf irgendwelche Männer, sondern auf sich selbst zu verlassen, überlegte Marie und schloss einigermaßen zufrieden die Schuhschachtel und damit das erste Kapitel ihrer Lebenszensur für die Nachwelt. SPEICHERN.
Bei aller sicher notwendigen Vergangenheitsbewältigung wollte Marie aber nicht die Zukunft aus den Augen verlieren. Diese würde zwar nicht mehr allzu lange andauern, sollte aber schließlich zum bestgeplanten Teil ihres Lebens werden. Deshalb konzentrierte sich Marie nun wieder auf die Organisation ihres Ablebens, denn dafür war noch einiges an Recherche nötig. Todesart, -ort und -zeitpunkt waren noch völlig offen und sollten keinesfalls spontan gewählt werden. Als Informatikerin und Computerexpertin entschied sich Marie natürlich für das Internet als adäquates Recherchemedium. AUSWÄHLEN. Mit einer weiteren Tasse Tee und ihrem Laptop machte sie es sich mit ihren Utensilien unter den strengen Blicken von Kasimir auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem und loggte sich im Netz ein. SUCHEN.
Sehr bald schon zeigte sich, dass sich die üblichen Suchmaschinen für die Planung des eigenen Todes als komplett untauglich erwiesen. Sie lieferten zwar eine Unmenge an spektakulären und auch weniger interessanten Geschichten über die unterschiedlichsten Todesfälle, ließen einen aber mit der Frage nach Vorbereitung, Durchführbarkeit und Erfolgsquote ziemlich im Stich.
Noch schlimmer: Die Seiten, die sich im Internet mit dem Thema Selbstmord beschäftigten, hatten in der Hauptsache seine Vermeidung, Therapien und das Schicksal der Angehörigen zum Inhalt. Also genau die für Marie gänzlich unerheblichen Aspekte. Fast musste sie befürchten, von ihrer bei klarem Bewusstsein getroffenen Entscheidung abzukommen, falls sie sich allzu lange mit derart kontraproduktiven Websites beschäftigte. Dieser Gefahr wollte sie sich unter keinen Umständen aussetzen. VERWERFEN.
Der Fall lag klar: Marie musste sich der Thematik von einer unverfänglicheren Seite nähern. Der Selbstmord musste sich sozusagen nicht als Ziel, sondern vielmehr als eine Art Nebenwirkung darstellen, zumindest für die Dauer der Recherche. Die Begriffe »Suizid« und auch »Tod« waren demnach als Suchbegriffe vollkommen ungeeignet. GEHE ZU … Gegen null Uhr wagte sich Marie auf neues Terrain und fütterte ihren Computer mit den verschiedensten Möglichkeiten, auf unverfängliche Art den Tod zu finden.
Sie inspizierte die Homepages von Gartencentern, Baumärkten und Elektrofachgeschäften. Möglichkeiten boten sich hier genug. Diese Läden priesen eine Vielzahl geeigneter Tatwerkzeuge zu durchaus erschwinglichen Preisen an. »Zwei Heckenscheren zum Preis von einer« versprach beispielsweise ein Gartencenter in Schnäppchenlaune, konnte Marie damit allerdings gar nicht locken. Hätte sie sich mit einer Heckenschere umbringen wollen (auf welche Weise, war ihr selbst nicht klar), dann ganz bestimmt nicht »stereo«. Außerdem hatte sie in den vergangenen Jahren aufgrund ihres recht einsamen Lebens kaum Geld für Nicht-Lebensnotwendiges ausgegeben und so eher ungewollt ein nettes Sümmchen angespart. Marie konnte sich ihren Selbstmord also durchaus etwas kosten lassen.
Diese Erkenntnis brachte Marie zu vorgerückter Stunde auf die Idee, das Problem von einer ganz anderen Seite zu betrachten. Jede Form von Discountern wurde kategorisch ausgeschlossen, zumal sie die zuletzt recherchierten Todeswerkzeuge von der Gartenharke bis zur Bohrmaschine alle in einer äußerst blutigen Art und Weise und mit optisch ziemlich unvorteilhaftem Ergebnis hätte anwenden müssen. Was in jedem Fall denkbar ungeeignet war für die posthume Imagepflege.
Wenn auch keine endgültige Lösung des Problems, so hatte diese Nacht durch den Ausschluss verschiedener Optionen trotzdem ein ziemlich zufriedenstellendes Ergebnis erbracht: Maries Todesart musste äußerliche Unversehrtheit garantieren und mit nicht unerheblichen Kosten verbunden sein, also eine gewisse Exklusivität ausstrahlen, um von ihr den Zuschlag zu bekommen. Durch diese beiden Charakteristika konnte sie nun sehr schnell weitere Möglichkeiten endgültig ausschließen.
Tod durch Ertrinken. Zu üblich und zu unvorteilhaft. Schon allein in der Literatur waren die Beispiele zahlreich, wo Autoren wie zum Beispiel Gottfried Benn sich allzu ausführlich über die unappetitliche Entstelltheit weiblicher Wasserleichen ausließen. Wer nur eines dieser Gedichte gelesen hatte, konnte in keinem Fall ernsthaft eine derartige Tötungsart für sich in Erwägung ziehen. Denn wer wollte schon mit einem von Ratten zerfressenen Körper enden? VERWERFEN.
Tod durch Sturz aus großer Höhe. Türme, Berge und Brücken, die man völlig umsonst oder für einen geringen Eintrittspreis erklimmen konnte, gab es schließlich zur Genüge. Aber zerschmettert machte man einige Meter tiefer dann wohl auch keine sehr gute Figur mehr. Also auch Fehlanzeige.
Tod durch Autounfall. Die finanzielle Investition beschränkte sich in diesem Fall, so man wie Marie ein Auto besaß, je nach Todesort auf den Preis höchstens einiger Liter Kraftstoff, der trotz des erhöhten Benzinpreises für Marie nicht im Geringsten einem dem Anlass angemessenen Kostenumfang gleichkam. Ganz abgesehen davon, dass man bei einer derartigen Lösung des Problems seine körperliche Unversehrtheit kaum optimal in der Hand hatte. Ging das Auto nach dem Aufprall in Flammen auf, so musste sie ihren Tod im schlimmsten Fall als verkohltes Gerippe fristen, was dem posthumen Schönheitsideal keinesfalls zuträglich war. Zeit für biologische Abbauvorgänge war später unter der Erde immer noch genug. VERWERFEN.
Da nun klar war, dass nicht nur die Zensur des bisherigen Lebens, sondern sogar die Planung des Lebensendes selbst eines nicht unerheblichen Zeitaufwandes bedurfte, den Marie aber aufgrund der Wichtigkeit der Aktion nicht umgehen konnte, beendete sie gegen vier Uhr morgens ihre Internet-Recherche vorübergehend, um mit ein paar Stunden Schlaf Kraft für die nächsten Punkte ihrer To-do-Liste zu sammeln.
In der Gewissheit, trotz unerwarteter Widerstände bei ihrem Vorhaben einige Schritte weitergekommen zu sein, legte sich Marie in dieser Nacht zum ersten Mal seit Langem erschöpft und zufrieden in ihr Bett und schlief ruhig und traumlos in einen Oktober-Sonntag. SIE KÖNNEN DEN COMPUTER JETZT AUSSCHALTEN. ENTER.