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DOKUMENT 1. Der Tag, an dem Marie beschloss, sich
das Leben zu nehmen, war ein schöner, sonniger Herbsttag. Keiner
dieser Tage, an denen man schon beim Aufstehen von einem grauen,
wolkenverhangenen Himmel entmutigt wird. Auch keiner der Tage, an
denen man bereits auf dem Weg ins Büro von einem kräftigen
Regenschauer überrascht wird, der im Handumdrehen die Arbeit von
mindestens einer Stunde sorgfältigster Morgentoilette zunichte
macht.
An einem solchen Tag würde man dann, durchnässt und
mit hängender Frisur, sicher schon im Treppenhaus dem gut
aussehenden Kollegen aus dem Vertrieb begegnen, auf den man bereits
seit einiger Zeit ein nicht ganz uninteressiertes Auge geworfen
hat.
Nein, einer dieser Tage war es nicht. Schon deshalb
nicht, weil es ein Samstag war. Ein Samstag mit blauem Himmel und
kleinen, unbedeutenden weißen Wölkchen. Mit buntem Herbstlaub, das
in der Sonne glänzte und den grauen Asphalt mit einem leise
raschelnden, farbenfrohen Teppich bedeckte.
Es war ein Tag, der einem so gar keinen Grund gab,
mit dem Leben nicht absolut zufrieden zu sein. Erwachte man am
Morgen aber trotzdem mit diesem unbestimmt nagenden Gefühl im
Bauch, dann musste das zwangsläufig an einem selbst liegen. Da
konnte der Tag nun
wirklich nichts dafür, fand Marie. SPEICHERN UNTER … MARIE.
Wenn man selbst an einem nahezu perfekten Samstag
nicht glücklich durch Herbstwälder spazieren oder gemütlich in
einem Straßencafé in der Sonne sitzen konnte, war das schon ein
recht akzeptabler Grund, sich umzubringen, fand Marie. Schließlich
konnte sie nicht ewig darauf warten, dass sich etwas wirklich
Entscheidendes änderte, was ihrem Leben einen Sinn gab, für den es
sich lohnte weiterzumachen. SPEICHERN. Dass sie zum Beispiel im
Supermarkt am Süßigkeiten-Regal den Mann ihres Lebens traf, der ihr
half, die heruntergefallenen Pralinen einzusammeln, und sie
anschließend fragte, ob sie am Abend schon was vorhabe. So oder so
ähnlich hatte sich Marie das erste Zusammentreffen mit ihrem
Traummann immer vorgestellt. Es war ihr aber noch nie irgendetwas
passiert, das auch nur ansatzweise so romantisch gewesen
wäre.
Oder sollte sie sich vielleicht ewig abmühen, die
Speckröllchen loszuwerden, die sie von der Idealfigur eines
Werbemodels trennten und die sich bis jetzt jeder noch so wirksamen
Diät hartnäckig widersetzt hatten? Wenn man bei jeder brandneuen
Schlankheitskur, die von einer der vielen Frauenzeitschriften
angepriesen wurde, feststellte, dass man sie schon erfolglos
ausprobiert hatte, dann war das durchaus ein recht akzeptabler
Grund, sich umzubringen, fand Marie.
Schließlich konnte sie nicht ewig darauf warten,
dass sie eine hübsche, geräumige Wohnung in der Innenstadt fand,
die auch noch bezahlbar war. Oder darauf hoffen, dass irgendjemand
in der Firma ihre bisher verborgen gebliebenen Fähigkeiten
entdecken und zum Anlass für ein
lukratives Jobangebot nehmen würde, was der Anfang einer
wunderbaren Karriere wäre. Schließlich konnte sie nicht ewig im
Kino bei jedem Leinwand-Happy-End voller Selbstmitleid in Tränen
ausbrechen und sich anschließend mehrere Tage als lebensunfähiges
Mauerblümchen fühlen, bloß weil das Drehbuch des Films der Heldin
nicht nur die schlankere Taille, sondern auch den scheinbar
perfekten Mann schenkte. Und schließlich war es kein Dauerzustand,
dass das einzige männliche Wesen, mit dem sie es in den letzten
Jahren zu so etwas wie einer festen Beziehung gebracht hatte, ihr
Kater Kasimir war. Der war zwar in seiner Treue und
Anspruchslosigkeit als Partner kaum zu übertreffen, in einigen
anderen Punkten ließen seine ehelichen Qualitäten allerdings -
naturgemäß - zu wünschen übrig.
Also Schluss mit dem sehnsüchtigen Schielen nach
dem hübschen Lebenspartner der Bürokollegin. Schluss mit den
neidischen Augenwinkel-Blicken auf die appetitliche Figur der
jungen Frau in der U-Bahn. Schluss mit dem reflexartigen Umdrehen
nach dem gut aussehenden Familienvater im Schwimmbad. Also
endgültig Schluss mit den ewigen Vergleichen, denen man doch
sowieso nie standhalten konnte. Das setzte einen nur unter Druck
und führte zu nichts, außer vielleicht zu schlechter Laune. Und das
wiederum war schon ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen.
SPEICHERN.
Oder sollte sie etwa jahrzehntelang auf eine
Veränderung hoffen, um dann mit achtzig festzustellen, dass sie
bereits mit zwanzig ihrem Leben hätte ein Ende setzen können, ohne
etwas Nennenswertes versäumt zu haben? Das wäre ja wirklich immens
viel verschwendete Zeit und vor allem Kraft. Außerdem war man
sozusagen
schon fast lebensmüde, wenn man für diese lebensverneinende
Erkenntnis so lange ausharrte. Es war also geradezu lebensbejahend,
sich schon jetzt das Leben zu nehmen, fand Marie.
Schließlich hatte sie ziemlich genau fünfunddreißig
Jahre ernsthaft und ausdauernd versucht, ihrem Leben Sinn zu geben
und etwas Außergewöhnliches daraus zu machen. War es da ihre
Schuld, dass sich bis jetzt - zwei Wochen nach ihrem
fünfunddreißigsten Geburtstag - immer noch nichts Entscheidendes
ereignet hatte? Dass sie mit Mitte dreißig Single, kinderlos,
beruflich unterfordert und gelangweilt war? Dreieinhalb Jahrzehnte
ohne nennenswertes Ergebnis - welchem Projekt wurde heutzutage noch
eine derart lange Entstehungszeit zugebilligt? In der freien
Wirtschaft hätte sie vermutlich schon mit fünf die Segel streichen
müssen. Nun gut, der Vergleich hinkte etwas, Karriere und Kinder
hätte bis dahin nicht mal ein Hochbegabter schaffen können.
Spätestens mit Mitte dreißig hatte Marie sich
früher immer in einem »fertigen« Leben gesehen. Gut aussehender,
liebevoller Ehemann - ganz klar. Zwei bis drei Kinder, von denen
das letzte ruhig noch unterwegs sein konnte - selbstredend. Ein
ausfüllender Beruf mit Eigenverantwortung, in den sie nach jeder
Schwangerschaft relativ problemlos zurückkehren konnte - keine
Frage. Ein Haus mit Garten (der Mann, den sie sich erträumt hatte,
konnte sich das schon leisten) verstand sich sowieso von selbst.
Der obligatorische Hund - na gut, musste nicht unbedingt sein.
Dafür vielleicht eine Haushälterin? Optional.
Und was davon war bis heute eingetreten? Die
magische Altersgrenze war überschritten, und Marie hatte
weder Mann noch Kind noch Haus, noch Haushälterin. SPEICHERN. Was
sie hatte, war ein Kater … wie die meisten alleinstehenden Frauen,
wenn man einem Großteil der aktuellen Frauenliteratur glauben
durfte. Zumindest musste sie sich das immer mal wieder von denen
anhören, die solche Bücher lasen. Ihr Job als Entwicklerin bei
einem Münchner Softwarehersteller war zwar grundsätzlich okay, doch
unter dem neuen Chef, der darauf bestand, jeden Arbeitsgang
abzusegnen, in keinster Weise mehr eigenverantwortlich. Hatte sie
bis vor fünf Jahren noch eigenständig programmieren, analysieren
und implementieren können, so fühlte sie sich seit Schmidts
Firmeneintritt mehr als seine Handlangerin denn als eine
fachkundige Softwareentwicklerin. Manchmal fragte sie sich, ob sie
nicht vielleicht besser aus dem Fotografie-Praktikum nach dem
Abitur einen Beruf gemacht hätte. Doch alles in allem hatte sie das
Programmieren immer stärker fasziniert, auch wenn die Kamera ein
schönes Hobby geblieben war.
So saß sie nun nach fünfunddreißig Jahren eher
weniger interessantem Leben in ihrer langweiligen
Zwei-Zimmer-Wohnung in München-Sendling, und ihr einziger
Mitbewohner war der braun-weiß getigerte Kater, den sie vor drei
Jahren in einem kurzen Anfall von Aktionismus aus dem Tierheim zu
sich geholt hatte. Auch der Kontakt zu ihren Eltern war in den
letzten Jahren deutlich abgekühlt, zu sehr beschlich Marie immer
wieder das Gefühl, dass auch sie zunehmend enttäuscht waren vom
Werdegang ihres einzigen Kindes. Wie man es drehte und wendete, die
Lebensbilanz an diesem Samstag war mehr als dürftig, fand Marie.
Wenn man es über dreieinhalb Jahrzehnte in keinem der erwähnten
Punkte zu wenigstens
ein bisschen Überdurchschnittlichkeit gebracht hatte, dann war das
schon ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen. Und wenigstens
dieses Ende durfte dann nicht mehr mittelmäßig, sondern musste in
jedem Fall außergewöhnlich sein.
Denn was war das Wichtigste an einem anständigen
Selbstmord? Für Marie eindeutig der Eindruck, den man damit bei
seiner Umwelt hinterließ. Für manch anderen mochte es das Ende des
eigenen unerträglichen Lebens sein, nicht jedoch für Marie.
Schließlich ging ihr Leben weiter, in den Köpfen der anderen. Immer
wieder begegnete man der Vorstellung, nach dem Tod eines Menschen
lebe der Verblichene weiter in den Herzen derer, die ihn liebten.
Eine äußerst fragwürdige Einstellung, fand Marie. Die Erinnerung an
sie sollte nach ihrem sorgfältig inszenierten Ende nicht von wirren
Emotionen, sondern von klaren Beurteilungen geprägt sein.
Beurteilungen, die sie vor ihrem Ableben zu steuern gedachte.
FORMATIEREN.
Schließlich musste keiner wissen, dass sie es in
ihren fünfunddreißig Jahren zu nichts gebracht hatte. Wenn sie sich
schon zu Lebzeiten nie etwas hatte anmerken lassen, sodass weder
Eltern noch Freunde noch Kollegen ahnten, wie unzufrieden sie mit
ihrer Gesamtsituation war, dann sollte es nach ihrem Tod erst recht
keiner erfahren. Im Gegenteil: Es wäre wirklich zu dumm, wenn
ausgerechnet nach erfolgreichem Abschluss des Projektes »Marie«
noch dessen Schwachstellen ans Tageslicht kämen. Die Diskrepanz
zwischen einem Selbstmord und dem scheinbar perfekten Leben, die
dem einen oder anderen Hinterbliebenen merkwürdig vorkommen konnte,
kalkulierte Marie mit ein. Sie würde ihr und ihrem Ende
etwas Geheimnisvolles verleihen, das sie im Nachhinein nur
aufwerten konnte. Lange würde man sich fragen, was hinter dem
rätselhaften Suizid der Marie Hartmann wirklich gesteckt hatte.
Darauf, dass nicht der Tod, sondern ihr Leben manipuliert war,
würde vermutlich niemand kommen. Und das war auch gut so.
Aber wie nahm man sich effektiv und doch auch
ziemlich eindrucksvoll das Leben? HILFE. Da war zunächst die Wahl
des Ortes. Sie sollte wohlüberlegt und gut durchdacht werden.
Werther tat es am eigenen Schreibtisch, das ist zwar intellektuell,
aber ziemlich einfallslos und zudem völlig unspektakulär. Madame
Bovary starb in ihrem Bett - naheliegend, aber wenig
eindrucksvoll.
WWW.SELBSTMORD.DE? Vermutlich
Fehlanzeige. WWW.SUIZID.DE?
Höchstwahrscheinlich auch.
Die Telefonseelsorge, die schließlich Erfahrung mit
diesen Fragen haben musste, würde wohl auch keine Auskunft
geben.
Was also tun? Marie entschloss sich, über eine
derart wichtige Angelegenheit nicht vorschnell und unvorbereitet zu
entscheiden, sondern auf eine wie auch immer geartete Eingebung zu
warten. Auf ein oder zwei Tage kam es jetzt schließlich auch nicht
mehr an. Vielmehr war es von großer Bedeutung, dass die Aktion
durch genaueste Planung und gründliche Recherche zu bestmöglicher
Wirkung gebracht wurde. Wenn schon Ende, dann richtig.
SPEICHERN.
Vorher konnte oder sollte man vielleicht noch die
Wohnung in Ordnung bringen. Es war ja allgemein bekannt, dass nach
einem selbst gewählten Tod die lieben Freunde und Verwandten nichts
Besseres zu tun hatten, als auf der Suche nach Erklärungen,
Entschuldigungen
und Entlastungen in der Wohnung und damit der Intimsphäre des
Verstorbenen zu graben. Und das konnte, war man nicht darauf
vorbereitet (wie im Falle einer Kurzschlusshandlung), für den
Verblichenen unangenehm bis peinlich werden. Kein Problem
allerdings für den auf das posthume Stöbern Vorbereiteten. Ein
Grund mehr für einen gut organisierten Selbstmord.
Zunächst einmal wollte sich Marie ihre gesamte
Korrespondenz vornehmen. Die Telefonrechnungen würden komplett ins
Altpapier wandern. Schließlich ging es niemanden etwas an, wann sie
wie lange mit wem telefoniert hatte. Oder, wichtiger noch, wann wie
lange mit wem nicht.
»Sieh dir das an«, würde es sonst heißen, »seit
diesem Tag hat sie sich ganz zurückgezogen. Das musste ja eines
Tages so enden!« Nein, sie wollte keine Erklärungen frei Haus
liefern. So einfach sollten sie es nicht haben. LÖSCHEN.
Ihre Liebesbriefe waren ebenfalls nicht für fremde
Augen bestimmt. Einige eigneten sich wiederum ganz gut, das Image,
sozusagen posthum, wieder etwas aufzupolieren. War da nicht zum
Beispiel ein recht passables Gedicht eines frühen Verehrers im
Gymnasium? Falls es sich als einigermaßen intelligent
herausstellte, konnte das auch positiv auf sie abstrahlen. Ebenso
wie die wenigen ganz gut gelungenen Liebesbriefe aus der Beziehung
zu ihrem Studienkollegen Ben, der es beruflich immerhin schon recht
weit gebracht hatte. Seine Liebesschwüre sollten nach ihrem Ableben
sogar gefunden werden. Das verlieh ihr einen Hauch seines Ruhmes,
und ihm nahm es etwas von dieser Unantastbarkeit, an der er seit
Beginn seiner Karriere arbeitete. AUSWÄHLEN.
Sämtliche sorgfältig verborgen gehaltenen
Videokassetten und DVDs dagegen, die so manchen einsamen Abend
geselliger hatten werden lassen und für einige Stunden den Schleier
eines glücklich-sorgenfreien Lebens über die Wohnung geworfen
hatten, mussten natürlich weg. Keiner durfte wissen, dass manche
Tage nur mit Hilfe einer kitschigen Liebesschnulze aus den
Fünfzigerjahren oder einer schlecht gemachten Komödie zu ertragen
gewesen waren. »Sie hat sich aus der Realität in eine Traumwelt
geflüchtet«, würden sie andernfalls sagen, »das musste ja eines
Tages so enden!« RÜCKGÄNGIG.
Auch eine posthume Besichtigung des Bades war noch
nicht im Entferntesten vertretbar. All die kleinen oder auch
größeren Hilfsmittel, mit denen sich Frauen aller Altersgruppen Tag
für Tag optisch dem angeblichen Ideal näherzubringen versuchen …
Und mit fünfunddreißig gab es schon das eine oder andere Fältchen
beziehungsweise Pfündchen, das man lieber losgeworden wäre. Nein,
niemand sollte sie später nach ihren diversen allmorgendlichen
Restaurierungsversuchen beurteilen. Cellulite-Lotion,
Anti-Aging-Cremes, verschiedenste Schlankheitspillen, die enorme
Gewichtsreduzierung innerhalb weniger Tage versprachen, mussten
ohne Ausnahme entsorgt werden. Nicht, dass Marie dick gewesen wäre.
Wenn man sich jedoch mit den Schauspielerinnen und Models maß, die
eher einem Strich in der Landschaft als einer Rubensfigur glichen,
kam man auch mit etwa sechzig Kilo Körpergewicht schlecht weg. Was
im Badezimmerregal bleiben durfte, waren Seife, Parfum (sie sollten
sehnsüchtig daran riechen und sagen: »Ja, das ist es. So hat sie
immer gerochen. Es wird uns fehlen!«), diverse Schminkutensilien,
das Übliche eben. Für einen gebührenden
Abgang musste das Bad natürlich auch noch auf Hochglanz gebracht
werden. Keiner sollte sie schließlich für unreinlich halten.
Für das gesamte Projekt jedenfalls galt: Nachdem
alle Habseligkeiten sorgsam aussortiert sein würden, die ein
schlechtes oder zumindest nicht perfektes Licht auf sie werfen
konnten, würde der Einsatz von ein paar ausgefallenen und
interessanten Details das Ergebnis zu einem durchdachten Ganzen
abrunden, für das sie sich nach ihrem Tod nicht zu schämen
brauchte. Durchschnittliches und Unterdurchschnittliches musste
rausfliegen, Überdurchschnittliches betont oder hervorgehoben
werden, falls sie überhaupt etwas Derartiges bei ihrer
Lebenskosmetik finden würde. Und falls nicht, wären eben
Neuanschaffungen nötig.
Und vielleicht konnte sie mit diesem letzten großen
Projekt ganz nebenbei noch einigen verhassten Menschen eins
auswischen. Ein letzter Seitenhieb gegen die intrigante Kollegin
Renate, ein kleiner Triumph gegenüber Schmidt, eine abschließende
Genugtuung im Bezug auf die wenigen Ex-Freunde. Alles noch möglich.
Sie hatte die Fäden selbst in der Hand - ein Zustand, der Marie
immer am angenehmsten gewesen war. Und die Eltern konnten
vielleicht wenigstens im Nachhinein mit ihrer einzigen Tochter und
deren Leben ein bisschen zufrieden sein. Wer sonst machte sich mit
seinem Ende schon so viel Mühe? Das alles klang jedenfalls nach
einem wirklich sinnvollen und Erfolg versprechenden Konzept.
SPEICHERN.
Aber es war auch eine Menge Arbeit, ein derart
durchgeplanter Selbstmord. Wenn man bedachte, dass sich Menschen
täglich einfach vor einen Zug warfen oder
sich ein Loch in den Kopf schossen, ohne vorher auch nur eine
einzige Vorkehrung für ihr »Nachleben« zu treffen. Ziemlich mutig,
fand Marie. Wo es doch so viel zu berücksichtigen gab.
UNTERSTREICHEN.
Ihr Selbstmord sollte ein Gesamtkunstwerk werden,
wie es die Welt vorher noch nicht gesehen hatte. Nicht ein
Selbstmord um des eigenen Ablebens willen, sondern ein Selbstmord
zum Zwecke einer entsprechenden Breitenwirkung, des sozusagen
posthumen Ruhms für die Verblichene. Blieb nur noch zu hoffen, dass
an den christlichen Versprechungen vom Leben nach dem Tod
wenigstens ansatzweise etwas dran war, denn sonst würde sie kaum
Zeuge des Erfolgs ihrer effektvollen Inszenierung werden können.
Doch bis dahin hatte sie ohnehin noch einiges vor sich. Und die
Konzentration auf die Planung ihres Ablebens bewahrte sie davor,
darüber nachzudenken, welche Konsequenzen dieser Selbstmord für
sie haben würde. ÜBERSCHREIBEN.
An diesem sonnigen, blau-weiß behimmelten Samstag
war mit einem Abschluss des Projektes »Lebensende« jedoch in keinem
Fall zu rechnen. Allein das erforderliche Tuning der eigenen
Wohnung würde mindestens das gesamte Wochenende in Anspruch nehmen,
die Auswahl von Todesart, -ort und -zeitpunkt weitere zwei Tage,
eventuell sogar mehr. SPEICHERN. So konnte sich die Organisation
des Ganzen fast zu einer lebensverlängernden Maßnahme für Marie
entwickeln. Was aber nicht weiter schlimm war, denn immerhin würde
danach alles exakt nach ihren Vorstellungen sein. Und das war
schließlich Sinn der Sache. Also erst einmal kein Selbstmord an
diesem äußerlich makellosen Oktober-Samstag.