Kapitel 25
Der Wind blies die Tür zur Schmiede auf und Großmutter rauschte mit ihm herein. In der Werkstatt herrschte heillose Unordnung.
»Hallo, Henry.«
Henry machte sich nicht die Mühe, von den Flammen aufzuschauen. Nicht für eine Frau, die der eigenen Enkelin ihre Hilfe versagte.
»Wir haben geschlossen.«
»Ich möchte dir dafür danken«, sagte sie, ohne auf seine Worte zu achten, »dass du heute für sie eingetreten bist. Das war sehr mutig.«
»Ich habe nur gesagt, was ich denke.« Henry arbeitete am Feuer. Das Stück Metall, das er herauszog, glühte weiß wie ein heruntergefallenes Stück Mond. Er hielt es mit Hilfe einer Zange, legte es auf eine Ecke des Ambosses und begann, es zu schmieden.
»Du warst in keiner Weise verpflichtet,Valerie zu verteidigen«, sprach Großmutter zu Henrys Rücken. »Du hattest die Verlobung bereits gelöst.«
»Sie liebt einen anderen.« Henry biss sich auf die Zähne, ärgerlich, weil sie ihn dazu gebracht hatte, das laut auszusprechen. Das Metall, das er bearbeitete, nahm eine spitze, längliche Form an. »Das bedeutet nicht, dass ich sie nicht mehr gernhabe.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass Lucie dasselbe für dich empfunden hat.«
Henry zuckte mit den Achseln. Die Erwähnung ihres Namens war ihm unangenehm. »Ich habe gehört, dass sie in mich verliebt gewesen sein soll.«
»Ja,Valerie hat es mir gerade erzählt.«
Henry zwickte die beiden Enden seines Werkstücks ab. Er hatte nicht viel Zeit.
»Anscheinend hätte Lucie alles für dich getan. Sie hätte sich sogar in einer Wolfsnacht mit dir getroffen, wenn du sie darum gebeten hättest.«
Er wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. »Ich verstehe nicht, was das mit der ganzen Geschichte zu tun hat«, erwiderte er in schroffem Ton, aber bemüht, höflich zu bleiben.
Doch schon im nächsten Moment ging ihm ein Licht auf und aus seiner Verwirrung wurde Zorn. Zum ersten Mal sah er sie an. »Sie halten mich für den Wolf.«
Großmutter richtete sich auf.
»Ist Ihnen klar, was Sie mir vorwerfen? Mord!«
»Ich werfe niemandem etwas vor«, erwiderte sie wider besseres Wissen. Die Hitze in der Werkstatt setzte ihr zu. Ihre Anschuldigungen verloren ihre Richtung, ihre Schärfe. »Ich versuche nur, die Wahrheit herauszufinden«, setzte sie hinzu.
Bei diesen Worten veränderte sich Henrys Miene. Der Zorn verflüchtigte sich, seine Züge wurden milder, nahmen einen Ausdruck des Erstaunens und schließlich des Entsetzens an – jedoch vermischt mit einer gewissen Freude darüber, dass er nun seine Anklägerin beschuldigen konnte.
»Sie sind es«, rief er und deutete mit dem Finger auf sie. »Mein Gott, Sie sind es. Ich kann es an Ihnen riechen.«
Großmutter wurde nervös, nun, da alle ihre Beweise gegen ihn aufgebraucht waren. »Was kannst du an mir riechen?« Sie bewegte sich in Richtung Tür.
»In der Nacht, in der mein Vater starb, konnte ich den Wolf riechen. Einen starken Moschusgeruch.« Er kam näher. »Denselben Geruch, den ich in diesem Augenblick an Ihnen rieche.«
Er stand jetzt dicht vor ihr und seine Augen glühten. Sie spürte seinen Atem, und dazu die Hitze des Feuers, seine Anschuldigung – sie fühlte sich der Ohnmacht nahe.
»Was haben Sie denn da draußen in Ihrer Hütte gemacht? So ganz allein?« Henry ließ nicht locker. »In der Nacht, in der Ihre Enkelin ermordet wurde?«
In diesem Augenblick stieg ihr plötzlich der Geruch in die Nase, so wie einem ein längst vergessener Name wieder einfällt. Nur für einen Augenblick, aber das genügte. Der junge Mann hatte recht. Sie verspürte das dringende Verlangen, sich zu verteidigen. »Henry, ich habe gelesen, bis ich eingeschlafen bin.« Verwirrt klammerte sie sich an ihr Alibi.
»Und danach?«
Sie schwieg. Der Geruch stieg aus ihren Kleidern auf wie Nebel von einem Fluss. Er war bitter und penetrant.
»Sie wissen es nicht, stimmt’s?«, bedrängte er sie.
Sie musste hier raus. Sie musste nach Hause und etwas nachprüfen. Sie musste Gewissheit haben. Wir hatte ihr Verdacht so leicht auf sie zurückfallen können?
Sie schlüpfte zur offenen Tür hinaus und ließ sie hinter sich zuknallen.