Kapitel 1
Von der schwindelnden Höhe des Baumes aus konnte das kleine Mädchen alles sehen. Tief unten im Talgrund lag das verschlafene Dorf Daggorhorn. Von hier oben sah es aus wie ein fernes und fremdes Land. Wie ein Ort, über den sie nichts wusste, ein Ort ohne angespitzte Schanzpfähle, ein Ort, in dem nicht die Angst zu Hause war.
So hoch oben in der Luft hatte Valerie immer das Gefühl, sie könnte auch jemand anders sein. Sie könnte ein Tier sein – ein Falke, stolz und unnahbar, nur auf das eigene Überleben bedacht und ganz für sich.
Obwohl sie erst sieben Jahre alt war, wusste sie, dass sie irgendwie anders war als die anderen im Dorf. Valerie wahrte immer einen gewissen Abstand zu ihnen, selbst zu ihren Freundinnen, die nett und offenherzig waren. Sie konnte nicht anders. Ihre ältere Schwester Lucie war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie sich verbunden fühlte. Lucie und sie waren wie die zwei ineinander verwachsenen Wein— reben in dem Lied, das die älteren Leute im Dorf sangen.
Lucie war die Einzige.
Valerie spähte an ihren baumelnden nackten Füßen vorbei und überlegte, warum sie eigentlich hier hochgeklettert war. Natürlich war es ihr verboten, aber das war nicht der Grund. Und auch nicht das Abenteuer des Kletterns, denn das hatte schon vor einem Jahr seinen Reiz verloren, als sie zum ersten Mal den obersten Ast erreichte und nicht mehr weiterkonnte, weil über ihr nur noch Himmel war.
Sie kletterte hier herauf, weil sie da unten, im Dorf, nicht frei atmen konnte.Wenn sie nicht herauskam, wurde sie von einer Traurigkeit befallen, die auf ihr lastete wie eine dichte Schneedecke. Hier oben auf ihrem Baum strich die Luft kühl über ihr Gesicht und sie fühlte sich unbesiegbar. Angst hinunterzufallen hatte sie nie. So etwas war in dieser schwerelosen Welt nicht möglich.
»Valerie!«
Suzettes Stimme drang durch das Blätterwerk herauf. Sie war wie eine Hand, die sie wieder zur Erde hinabzog.
Am Tonfall ihrer Mutter merkte sie, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Sie zog die Knie ein, stemmte sich in die Hocke und begann mit dem Abstieg. Wenn sie senkrecht nach unten blickte, konnte sie das steile Dach von Großmutters Haus sehen, das direkt in das Geäst des Baumes gebaut und mit einem dichten Teppich aus Kiefernnadeln bedeckt war. Das Haus war zwischen knorrigen Ästen verkeilt, als wäre es während eines Sturms dort stecken geblieben. Valerie wunderte sich immer wieder, wie es bloß hierher geraten war, aber sie fragte nie nach, denn eine Erklärung hätte den schönen Zauber zerstören können.
Der Winter nahte, und die Herbstblätter hatten begonnen, ihren Griff zu lockern und sich von den Ästen zu lösen. Manche erzitterten und fielen ab, als Valerie durch den Baum nach unten stieg. Sie hatte den ganzen Nachmittag im Wipfel gehockt und dem Gemurmel der Frauen gelauscht, das leise von unten zu ihr heraufgeweht war. Ihre Stimmen waren ihr heute gedämpfter, heiserer als sonst vorgekommen, als hätten sie sich Geheimnisse zugeraunt.
Als sie sich den unteren Ästen näherte, die am Hausdach kratzten, sah sie, wie Großmutter, die Füße unterm Kleid verbogen, auf die Veranda herausgeschwebt kam. Großmutter war die schönste Frau, die Valerie kannte. Sie trug lange Stufenröcke aus Seide, die bei jedem Schritt hin und her wogten. Setzte sie den rechten Fuß vor, schwang der Rock nach links. Sie hatte schöne, zarte Fußknöchel wie die kleine Tänzerin aus Holz in ihrem Schmuckkästchen. Das gefiel Valerie und machte ihr zugleich Angst, denn sie sahen so zerbrechlich aus.
Valerie selber war ganz und gar nicht zerbrechlich, sie sprang vom untersten Ast und landete mit einem leisen, aber satten Plumps auf der Veranda.
Sie war auch nicht empfindlich wie die anderen Mädchen mit ihren rosigen Pausbacken. Valeries Wangen waren schmal und blaß. Sie selbst fand sich eigentlich nicht hübsch, so sie sich überhaupt Gedanken über ihr Aussehen machte. Doch niemand, der sie sah, vergaß je wieder das maisblonde Mädchen mit den verstörend grünen Augen, die leuchteten wie von einem Blitz entflammt. Mit ihrem wissenden Blick wirkte sie älter, als sie war.
»Kommt, Mädchen!«, rief ihre Mutter aus dem Inneren des Hauses, Besorgnis trübte ihre Stimme. » Wir müssen heute Abend früh zurück.« Valerie war unten angelangt, bevor jemand überhaupt merkte, dass sie auf dem Baum gewesen war.
Durch die offene Tür sah sie, wie Lucie zu ihrer Mutter lief, in den Armen eine Puppe, die sie mit Stoffresten bekleidet hatte, die Großmutter ihr zu diesem Zweck geschenkt hatte. Valerie wäre gern mehr wie ihre Schwester gewesen.
Lucies Hände waren weich und rund, fast wie Kissen, und das bewunderte Valerie. Ihre waren knochig und dürr, kratzig von Schwielen und eckig. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass andere sie deshalb nicht liebenswert fanden und nicht anfassen wollten.
Ihre ältere Schwester war ein besserer Mensch als sie, so viel war gewiss. Lucie war netter, gutmütiger, geduldiger. Sie wäre niemals über das Baumhaus hinausgeklettert, denn ihr war klar, dass vernünftige Leute dort oben nichts verloren hatten.
»Mädchen! Heute ist Vollmondnacht!«, drang die Stimme ihrer Mutter jetzt zu ihr heraus. »Und wir sind an der Reihe«, setzte sie traurig hinzu und verstummte.
Valerie wusste nicht, was sie damit meinte, dass sie »an der Reihe« waren. Sie hoffte, dass es sich um eine Überraschung handelte, dass sie etwas bekommen würden. Als sie nach unten spähte, entdeckte sie auf dem Waldboden ein paar Zeichen, die wie Pfeile aussahen.
Peter.
Ihre Augen weiteten sich, und sie huschte die steile, staubige Treppe des Baumhauses hinunter, um die Zeichen genauer in Augenschein zu nehmen.
Nein, die sind nicht von Peter, dachte sie, als sie erkannte, dass es sich nur um irgendwelche Kratzer in der Erde handelte.
Aber was ist, wenn …?
Die Zeichen führten in den Wald. Kurz entschlossen und ohne darüber nachzudenken, was sie tun sollte und was Lucie tun würde, ging sie ihnen nach.
Natürlich führten sie nirgendwohin. Kaum war sie zehn Schritte gegangen, hörten die Zeichen auf. Sie war zornig auf sich selbst, weil sie auf so alberne Ideen kam, aber auch froh, dass niemand gesehen hatte, wie sie ihnen für nichts und wieder nichts gefolgt war.
Peter, Valeries bester Freund, hinterließ immer Zeichen für sie, indem er mit einem Stock Pfeile in die Erde kratzte. Die Pfeile wiesen ihr den Weg zu ihm, oft zu einem Versteck tief im Wald.
Aber nun war er schon seit Monaten fort, ihr Freund. Sie waren unzertrennlich gewesen, und Valerie konnte sich noch immer nicht damit abfinden, dass er nicht wiederkam. Als er fortging, war das, wie wenn man einen Strick durchschneidet – von dem nur zwei ausfasernde Hälften zurückbleiben.
Peter war nicht wie die anderen Jungen, die einen hänselten und sich prügelten. Er verstand sie. Er verstand ihre Abenteuerlust. Er verstand, dass sie sich nicht an die Regeln halten wollte. Und er behandelte sie nie wie ein Mädchen.
»Valerie!« Jetzt rief Großmutters Stimme. Ihrem Ruf musste man zügiger Folge leisten als dem ihrer Mutter, denn sie konnte ihre Drohungen tatsächlich wahr machen. Valerie schüttelte die rätselhaften Erinnerungen, die sich ja doch zu keinem Bild fügen ließen, ab und lief zurück.
»Hier unten, Großmutter.« Sie lehnte sich gegen den Baum, dessen Rinde rau war wie Sandpapier. Sie schloss die Augen, um das Gefühl voll auszukosten – und vernahm das Rumpeln von Wagenrädern, das wie ein aufziehendes Gewitter klang.
Auch Großmutter hörte es, glitt die Treppe herunter auf den Waldboden, schlang die Arme um Valerie und drückte ihr Gesicht gegen die kühle Seide ihrer Bluse und das klobige Allerlei ihrer Amulette. Das Kinn an Großmutters Schulter geschmiegt, sah Valerie zu, wie Lucy und ihre Mutter bedächtig die steile Treppe herabstiegen.
»Heute Nacht müsst ihr stark sein, meine Süßen«, flüsterte Großmutter. Valerie verharrte reglos und ließ sich drücken, außerstande, ihre Verwirrung zum Ausdruck zu bringen. Für Valerie hatten jeder Mensch und jeder Ort einen eigenen Geruch – manchmal erschien ihr die ganze Welt wie ein Garten. Sie fand, dass Großmutter nach zerriebenem Laub roch, und nach etwas anderem, Kräftigerem, das sie nicht einordnen konnte.
Sobald Großmutter Valerie losließ, reichte Lucie ihrer Schwester einen Strauß aus Kräutern und Blumen, den sie im Wald gepflückt hatte.
Der Wagen, den zwei kräftige Arbeitspferde zogen, holperte über die zerfurchte Straße. Die Holzfäller hockten in Trauben auf den frisch geschlagenen Baumstümpfen, die ein Stück nach vorn rutschten, als der Wagen vor Großmutters Baum mit einem Ruck zum Stehen kam. Zwischen den Männern waren Äste gestapelt, die dicksten unten und die dünnsten oben. Valerie fand, dass die Mitfahrer selbst wie aus Holz geschnitzt aussahen.
Ihr Vater, Cesaire, früher ein gut aussehender Mann, saß hinten im Wagen. Er stand auf und streckte Lucie die Arme entgegen, hütete sich aber, auch Valerie seine Hilfe anzubieten. Er stank nach Schweiß und Bier und Valerie mied seine Nähe.
»Ich liebe dich, Großmutter!«, rief Lucie über die Schulter hinweg, während sie und ihre Mutter von Cesaire in den Wagen hinaufgezogen wurden. Valerie kletterte ohne Hilfe nach oben. Die Zügel schnalzten und der Wagen rollte schwerfällig an.
Ein Holzfäller rutschte zur Seite, um für Suzette und die Mädchen Platz zu machen, woraufhin Cesaire sich zu dem Mann hinüberbeugte und ihm einen schallenden Schmatz auf die Wange gab.
»Cesaire!«, zischte Suzette und warf ihm unauffällig einen tadelnden Blick zu, während um sie herum im Wagen Gespräche angeknüpft wurden. »Es überrascht mich, dass du zu dieser späten Stunde noch wach bist.«
Valerie hörte Vorwürfe wie diesen nicht zum ersten Mal. Sie wurden nie offen ausgesprochen, sondern stets hinter einer scherzhaften oder geistreichen Bemerkung versteckt. Und dennoch gab ihr der verächtliche Ton, in dem sie vorgebracht wurden, jedes Mal einen Stich.
Sie blickte zu ihrer Schwester. Sie hatte ihre Mutter nicht gehört, denn sie lachte gerade über einen Witz, den einer der Männer gemacht hatte. Lucie behauptete immer, dass ihre Eltern sich liebten und dass Liebe sich nicht in großen Gesten zeigte, sondern im Alltäglichen, einfach darin, dass man füreinander da war, zur Arbeit ging und abends wieder nach Hause kam. Valerie hatte versucht, ihr zu glauben, aber sie konnte nicht. Irgendwas sagte ihr, dass Liebe mehr sein musste – und nicht so vernünftig.
Jetzt hielt sie sich an den hinteren Holmen des Wagens fest, lehnte sich hinaus und betrachtete den Boden, der unter ihr weggezogen wurde. Ihr wurde schwindlig und sie drehte sich wieder nach vorn.
»Mein Baby.« Suzette zog sie auf ihren Schoß und Valerie ließ es geschehen. Ihre blasse, hübsche Mutter roch nach Mandeln und feinem Mehl.
Als der Wagen die Black Raven Woods hinter sich ließ und am Silberfluss entlangrumpelte, kam die düstere Silhouette des Dorfes in Sicht. Schon aus der Ferne warf der Schrecken seine Schatten voraus: Pfähle, Eisenspitzen und Widerhaken, die steil herausragten. Der Wachturm des Getreidespeichers, das größte Bauwerk im Dorf, reckte sich in die Höhe.
Das Erste, was man spürte, wenn man über die Kuppe kam, war Angst.
Daggorhorn war ein Dorf voller Menschen, die Angst hatten, Menschen, die sich selbst in ihren Betten nicht sicher fühlten, schutzlos und verwundbar auf Schritt und Tritt.
Die Menschen hatten begonnen zu glauben, dass sie diese Qualen verdient hatten – dass sie etwas Unrechtes getan hatten und Böses in sich trugen.
Tag für Tag konnte Valerie beobachten, wie sich die Dorfbewohner vor Angst duckten, und spüren, dass sie anders war als sie. Mehr als das Außen fürchtete sie eine Dunkelheit, die aus ihrem Inneren kam. Anscheinend war sie die Einzige, die so empfand.
Ausgenommen Peter, versteht sich.
Valerie dachte an die Zeit, als er noch da war, als sie beide noch zusammen waren, furchtlos, unbekümmert und voller Lebensfreude. Heute verübelte sie den Dorfbewohnern ihre Angst, sie verübelte ihnen den Verlust ihres Freundes.
Sobald man das schwere Holztor passiert hatte, sah das Dorf aus wie jedes andere im Königreich. Die Pferdehufe wirbelten Staubwolken auf wie in allen Ortschaften dieser Art und jedes Gesicht war einem vertraut. Hunde streunten durch die Straßen, mit leeren schlaffen Bäuchen, die so über den Rippen spannten, dass ihr Fell wie gestreift aussah. Leitern lehnten sachte an Veranden. Moos quoll aus Dachritzen und kroch über die Hauswände und niemand unternahm etwas dagegen.
Heute Abend hatten es alle im Dorf eilig, ihre Tiere in den Stall zu bringen.
Heute war Wolfsnacht, wie immer bei Vollmond, seit Menschengedenken.
Schafe wurden zusammengetrieben und hinter dicke Türen gesperrt. Hühner wurden von einem Familienmitglied an das andere weitergereicht und reckten, als sie Leitern hinaufgeschubst wurden, die Hälse, machten sie so lang, dass Valerie befürchtete, sie könnten sie sich selbst aus den Leibern reißen.
Als sie zu Hause ankamen, tuschelten Valeries Eltern miteinander. Statt die Leiter zu ihrem Pfahlhaus hinaufzuklettern, lenkten Cesaire und Suzette ihre Schritte zu dem Stall darunter, der im düsteren Schatten des Hauses lag. Die Mädchen rannten vor ihnen her, um Flora, ihre Lieblingsziege, zu begrüßen. Bei ihrem Anblick rüttelte Flora mit den Hufen an den wackligen Brettern des Verschlags und ihre klaren Augen glänzten erwartungsvoll.
»Jetzt ist es so weit«, sagte Cesaire, trat zu Valerie und Lucie und legte ihnen die Hände auf die Schultern.
»Wofür?«, fragte Lucie.
» Wir sind an der Reihe.«
Valerie bemerkte etwas in seiner Haltung, was ihr nicht gefiel, etwas Bedrohliches, und sie wich vor ihm zurück. Lucie fasste sie an der Hand und beruhigte sie, wie sie es immer tat.
Cesaire war ein Mann, der davon überzeugt war, dass man zu seinen Kindern ehrlich sein sollte, er zupfte seine Hose zurecht und beugte sich zu seinen beiden kleinen Töchtern hinab, um mit ihnen zu sprechen. Er eröffnete ihnen, dass in diesem Monat Flora geopfert werden sollte.
»Die Hühner versorgen uns mit Eiern«, rief er ihnen ins Gedächtnis. » Wir können nur die Ziege opfern, etwas anderes können wir uns nicht leisten.«
Valerie war bestürzt und fassungslos. Lucie kniete traurig nieder, kraulte der Ziege mit ihren kleinen Fingern den Hals und zupfte sie sanft an den Ohren, was sich Tiere nur von kleinen Kindern gefallen lassen. Und Flora probierte ihre winzigen, frisch gewachsenen Hörner aus und stupste damit gegen Lucies Hand.
Suzette blickte auf die Ziege und dann erwartungsvoll zu Valerie.
» Verabschiede dich von ihr, Valerie«, sagte sie und legte eine Hand auf den dünnen Arm ihrer Tochter.
Aber Valerie konnte nicht – irgendetwas hielt sie davon ab.
»Valerie!« Lucie sah sie flehentlich an.
Sie wusste, dass ihre Mutter und ihre Schwester sie für herzlos hielten. Nur ihr Vater verstand und nickte ihr zu, als er die Ziege an einem dünnen Strick wegführte. Floras Nüstern blähten sich und ihre Augen blickten scharf vor Unbehagen. Valerie hasste ihren Vater für sein Mitleid und seinen Verrat, aber sie hielt ihre Tränen zurück.
Sie war auf der Hut. Niemand durfte sie weinen sehen.
In dieser Nacht lag Valerie wach, nachdem ihre Mutter sie zu Bett gebracht hatte. Mondlicht strömte durchs Fenster und zerfloss auf den Dielen zu einem langen Pfeiler.
Sie dachte angestrengt nach. Ihr Vater hatte Flora, ihre geliebte Zeige, fortgebracht. Sie war dabei gewesen, als Flora auf dem Boden im Stall geboren wurde, als Cesaire dem feuchten Zicklein unter dem Gemecker der Geiß auf die Welt geholfen hatte.
Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Lucie kam ihr nach, als sie aus dem warmen Bett schlüpfte, die Dachbodenleiter hinabkletterte und zur Vordertür schlich.
» Wir haben etwas zu erledigen!«, flüsterte Valerie eindringlich und winkte der Schwester, ihr zu folgen.
Aber Lucie blieb zurück, schüttelte ängstlich den Kopf und versuchte, Valerie wortlos zum Bleiben zu bewegen. Valerie wusste, dass sie nicht wie ihre ältere Schwester in der Tür kauern und sich an ihrem Hirschfell festhalten konnte. Sie wollte nicht tatenlos zusehen, wie das Leben seinen Gang nahm. Doch so wie Lucie immer Valeries Übermut bewundert hatte, so bewunderte Valerie die Besonnenheit ihrer Schwester.
Valerie hätte ihre ängstliche Schwester jetzt am liebsten zugedeckt und zu ihr gesagt, sie könne ganz unbesorgt sein: »Sch!, liebe Lucie, morgen früh ist alles wieder gut.« Stattdessen drehte sie sich um, drückte mit dem Daumen den Riegel nach unten und ließ ihn leise in den Türpfosten einschnappen, ehe sie in die Kälte hinausschlüpfte.
Das Dorf war in dieser Nacht besonders unheimlich. Der helle Mondschein verlieh ihm die Farbe sonnengebleichter Muscheln. Die Häuser ragten hoch empor wie große Schiffe und die Äste der Bäume stachen wie dornenbewehrte Masten gegen den Nachthimmel ab. Valerie ging zum ersten Mal allein durch das Dorf, und ihr war, als entdecke sie eine neue Welt.
Um schneller bei dem Altar zu sein, nahm sie eine Abkürzung durch den Wald. Sie schritt über Moos, das sich unter ihren Füßen anfühlte wie in Milch aufgeweichtes Brot, und sie schlug einen Bogen um Pilze, die aussahen wie Brandblasen und oben braune Flecken hatten, als wären sie mit Zimt bestäubt.
Etwas griff aus dem Dunkeln nach ihr und blieb wie dünne, nasse Seide an ihrer Wange kleben. Eine Spinnwebe. Ihr war, als krabbelten überall auf ihrem Körper unsichtbare Insekten. Sie strich sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte, die Fäden wegzuwischen, aber sie waren zu dünn, und ihre Hand fuhr ins Leere.
Der Vollmond stand reglos über ihr.
Sobald sie die Lichtung erreichte, schritt sie vorsichtiger aus. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie, dasselbe Gefühl, das sie immer hatte, wenn sie ein scharfes Messer putzte – das Gefühl, dass die kleinste Unachtsamkeit schlimme Folgen haben konnte. Die Dorfbewohner hatten eine Fallgrube ausgehoben, angespitzte Holzpfähle in den Boden der Grube getrieben und zur Tarnung Äste und Gras darübergebreitet. Valerie wusste, dass die Falle hier irgendwo war, aber man hatte sie immer in sicherem Abstand drum herum geführt. Wahrscheinlich war sie schon daran vorbei, aber ganz sicher war sie sich nicht.
Ein vertrautes Meckern wies ihr den Weg, und gleich darauf erblickte sie Flora, ein Stück weiter vorne. Mutterseelenallein stand sie auf der vom Mond in knochenbleiches Licht getauchten Lichtung, zitterte im Wind und schrie. Ein Bild des Jammers. Valerie begann zu rennen. Kaum hatte die Ziege sie bemerkt, bäumte sie sich ungestüm auf und streckte ihr den schmalen Hals so weit entgegen, wie es der Strick erlaubte.
»Hier bin ich«, wollte Valerie rufen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, als sie plötzlich ein Geräusch vernahm.
Etwas preschte mit schnellen Sätzen aus großer Entfernung heran und kam in der Dunkelheit immer näher und näher. Valerie wollte weiterlaufen, doch sosehr sie es auch versuchte, ihre Füße waren wie gelähmt.
Für einen Augenblick wurde es wieder ganz still.
Und dann erschien er.
Zuerst nur ein huschender schwarzer Schatten. Dann stand er da – der Wolf. Er kehrte ihr den Rücken zu, einen mächtigen, fürchterlichen Rücken, und sein Schwanz schwang hin und her und fegte ein Muster in den Staub. Er war so groß, dass sie ihn gar nicht mit einem Blick erfassen konnte.
Valerie entfuhr ein Stöhnen, ihr Atem stockte. Die Ohren des Wolfs zuckten und dann wandte er den Kopf und ihre Blicke trafen sich.
Seine Augen waren wild und schön.
Seine Augen sahen sie an.
Nicht auf gewöhnliche Art, sondern auf eine Weise, wie sie noch niemand angesehen hatte. Seine Augen durchbohrten sie, erkannten etwas. Dann packte sie das Entsetzen. Sie warf sich zu Boden, denn sie konnte nicht länger hinsehen, kauerte sich zusammen und vergrub sich in der schützenden Dunkelheit.
Ein großer Schatten schob sich drohend über sie. Er war so groß und sie so klein, dass sie das Gefühl hatte, von ihm niedergedrückt zu werden und in der Erde zu versinken. Ein Schauder lief durch ihren Körper. Sie stellte sich vor, wie der Wolf seine krummen Reißzähne in ihr Fleisch bohrte.
Ein Brüllen ertönte.
Valerie wartete auf den Sprung, wartete darauf, dass seine Kiefer zuschnappten, seine Klauen zupackten, aber sie spürte nichts. Sie vernahm ein Schlurfen, das Gebimmel von Floras Glöckchen, und erst da kam ihr zu Bewusstsein, dass der Schatten von ihr gewichen war. Aus ihrer kauernden Haltung hörte sie ein Knirschen und Krachen. Aber da war noch etwas anderes, ein Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. Viel später erst sollte sie erfahren, dass es das Toben einer finsteren, entfesselten Wut war.
Dann folgte eine angsterfüllte Stille, eine fiebrige Ruhe. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und hob langsam den Kopf, um nach Flora zu sehen.
Alles war ruhig.
Nichts war mehr da bis auf den Strick. Er war noch an dem Pflock festgebunden und lag schlaff auf der staubigen Erde.