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Kapitel 22

Valeries Vater wachte am Kamin, während Suzette im Bett lag und fantasierte. Das heißt, er war, eine Axt auf dem Schoß, auf einem Hocker zusammengesunken und schlief jetzt mit offenem Mund. Die Axt war genauso groß wie die aller anderen. Es war die, die er immer benutzt hatte, und dennoch sah sie jetzt zu groß für ihn aus. Valerie bemerkte die tiefen, pflaumenfarbenen Ränder unter seinen geschlossenen Augen und setzte sich neben ihn, um selbst Wache zu halten.

Als Valerie wie betäubt vom Kornspeicher nach Hause gegangen war, erblickte sie die drei kleinen Mädchen, um die sich Lucie immer gekümmert hatte. Sie saßen, blass und still, an einem Fenster und sahen mit stierem Blick und geschürzten Lippen zu, wie sie vorbeiging. Valerie fragte sich, ob sie sich in ein, zwei Jahren überhaupt noch an Lucie erinnern würden. Daran, wie freundlich und freigebig sie war, daran, wie sie sie nacheinander im Kreis wirbelte, dann eine von ihnen ein zweites Mal dran nahm, weil es ihr Freude machte, und dann, aus Gründen der Gerechtigkeit, auch die anderen noch einmal herumwirbelte. Ob sie sich daran noch erinnern würden?

Mitten in dem Chaos breitete sich unter der Oberfläche tiefes Misstrauen aus wie Schimmel. Der Blick der Dorfbewohner trübte sich, sodass sie einander nicht mehr in die Augen sahen.

Ein paar Männer hatten sich zusammengetan und eine Bürgerwehr gegründet, die an Türen klopfte und nach allem forschte, was aus dem Rahmen des Üblichen fiel. Und in den wenigen Stunden, in denen sie suchten, wurden sie auch fündig. Eine Dorfbewohnerin bewahrte eine bunte Sammlung von Federn neben ihrem Bett auf. Ein anderer besaß ein Buch in einer alten Sprache, behauptete jedoch, er könnte es nicht lesen. Eine Frau hatte ein Kind zur Welt gebracht, obwohl sie dafür eigentlich schon viel zu alt war.

Ja, sie wurden fündig.

Doch sie hatten Mühe, bei Solomons Soldaten Gehör zu finden, denn die Jäger hatten anscheinend ihre eigenen Methoden. Und so bewahrten die Männer ihre Erkenntnisse für später auf.

An solche Dinge denkend, war auch Valerie eingeschlummert. Doch jetzt schreckten Vater und Tochter aus dem Schlaf hoch, als es – Bum! Bum! – an die Tür hämmerte und gleich darauf die Tür zu splittern begann. Jemand drängte herein.

Valerie stellte sich vor, wie mächtige Klauen wütend am Holz kratzten und riesige Zähne ganze Stücke herausrissen.

Das splitternde Holz der Tür flog auseinander – aber nicht der Wolf stürzte ins Zimmer. Es waren zwei Soldaten, die hereinstürmten, sofort das Kommando übernahmen und sich wie die Herren im Haus gebärdeten. Einer stieß mit dem Fuß einen Stuhl um, der ihm gar nicht im Weg stand. Auch die Menschen behandelten sie wie ihr Eigentum. Sie stießen Cesaire beiseite, ergriffen Valerie und schleppten sie fort.

Suzette wachte nicht einmal auf.

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»Erzähl ihnen, was du mir erzählt hast«, verlangte Solomon und lehnte sich über den Schanktisch in der Schenke.

Roxanne saß Valerie direkt gegenüber, sah sie aber nicht an, sondern durch sie hindurch auf die Wand dahinter.

Die Schenke war eilends zum Gerichtssaal umfunktioniert worden. Die Bänke waren zu Sitzreihen zusammengestellt worden, und wer darauf keinen Platz fand, benutzte Hocker. Valerie war für jedermann sichtbar vorn im Raum an einen Stuhl gefesselt. Schwer bewaffnete Soldaten hatten alle Ausgänge besetzt und wachten dort steif in ihren Harnischen.

Valerie hatte Peter hereinkommen gesehen, ihm angemerkt, wie schwer es ihm fiel, hier zu sein und sie so zu sehen. Er stand jetzt allein in der hintersten Ecke.

Roxanne wusste, dass sie antworten musste. Die Leute warteten darauf, dass sie ihr Versprechen einlöste und erzählte. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und begann mit zitternder Stimme.

»Sie kann auf die höchsten Bäume klettern«, wiederholte sie brav, was sie Solomon erzählt hatte und was sie für die Wahrheit hielt, eine Wahrheit, die ihr das Herz brach. »Sie kann schneller rennen als alle anderen Mädchen. Sie trägt diesen roten Mantel. Die Farbe des Teufels«, wie sie für diejenigen hinzufügte, die eins und eins nicht zusammenzählen konnten.

Der Strick schnitt in Valeries Haut, während Roxanne fortfuhr. »Und sie kann mit Werwölfen sprechen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

Dorfbewohner stöhnten laut auf, und Roxannes Gesicht wurde unter ihren roten Haaren rosig von Tränen. Der Kummer ließ Valerie erzittern, als ihre Freundin verstummte.

»Bestreitest du die Anschuldigungen?«, wandte sich Solomon mit gespielter Fassungslosigkeit an Valerie.

»Nein«, antwortete sie ausdruckslos.

Ein Raunen ging durch die Menge.

»Ich bestreite sie nicht.«

Prudence saß ruhig und gefasst da. Ihre Mutter hatte es sich am Ende der Bank gemütlich gemacht und kaute an einer Haarsträhne. Henry saß zwischen einem Freund und seiner Großmutter und trug schwarze Trauerkleidung. Rose hatte den Platz direkt hinter Henry und versuchte selbst jetzt, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Peter stand immer noch alleine.

»Und was war der Inhalt dieses Gesprächs?« Solomon legte die Fingerspitzen aneinander.

Valerie, die erleichtert feststellte, dass sie noch einen Funken Humor in sich trug, unterdrückte ein Lächeln. Sie würde ihm die Auskünfte geben, aber in der Reihenfolge, die sie wollte. »Der Wolf hat gesagt« – sie machte eine Pause, um die Spannung zu steigern – »dass Sie nicht wissen, womit sie es zu tun haben.«

Solomon spürte, dass sich alle Augen im Raum auf ihn richteten, und lächelte überlegen. Er war zu klug, um in diese Fall zu tappen. »Das glaube ich gern«, erwiderte er süßlich. »Und was hat er noch gesagt?«

Valerie brummte der Kopf wie sonst nur, wenn sie eine Erkältung bekam. Sie fühlte sich abgeschnitten vom eigenen Körper. »Er hat versprochen, Daggorhorn in Ruhe zu lassen. Aber nur, wenn ich mit ihm fortgehe«, dachte Valerie, nur um dann festzustellen, dass sie es laut ausgesprochen hatte.

Roxannes Körper reagierte. Der Schock stoppte die Tränen, die ihr Wille nicht hatte zurückhalten können.

Valerie spürte, dass Peters Augen sie aus dem hinteren Teil der Gaststube durchbohrten.

Eine beklemmende Stille legte sich über den Raum.

Solomon überlegte einen Augenblick. Das war besser, als er sich erhofft hatte. Er lehnte sich so dicht zu Valerie hinüber, als ob sie ganz allein wären. »Der Wolf ist jemand aus dem Dorf, der dich haben will, Valerie«, sagte er mit der aufgesetzten Stimme, die er für das Publikum reservierte. »Weißt du, wer es ist? Ich an deiner Stelle würde scharf darüber nachdenken.«

Valerie schwieg natürlich. Sie wusste nichts mit Gewissheit und konnte nicht sprechen. Sie blickte wieder zu Peter, um in seinem Gesicht zu lesen. Doch er war nicht mehr da.

Solomon war ein scharfer Beobachter. Er kannte Valerie inzwischen gut genug und wusste, dass er nichts mehr aus ihr herausbekommen würde.

»Er will sie, nicht euch«, rief er, es mit einer anderen Taktik probierend, den Dorfbewohnern zu. »Rettet euch. Es ist ganz einfach. Wir geben dem Wolf, was er will.«

Henry fuhr in die Höhe. Sein Freund schaute bekümmert zu ihm auf. Henrys rechthaberisches Festhalten an seinen Prinzipien war den Menschen in seiner Umgebung von jeher ein Dorn im Auge, denn ohne diese Eigenschaft wäre er lustiger und unterhaltsamer gewesen. Er stibitzte nie die Unterwäsche einer alten Frau von der Wäscheleine und rannte damit davon. Und er tauschte beim Schach nie einen Bauern gegen einen Läufer. Aber diesmal brachte er sich selbst in Gefahr.

»Wir können sie nicht dem Wolf geben. Das wäre ein Menschenopfer.«

»Wir haben alle Opfer gebracht«, rief Madame Lazar auf ihre unverbindliche Art dazwischen, als ob sie nur eine Feststellung machte.

Henry ließ den Blick durch den Raum schweifen und suchte Unterstützung, wo keine war. Die Dorfbewohner waren sich nie so einig wie dann, wenn sie sich gegen jemanden verbündeten.

Verzweifelt drehte sich Henry um und blickte zu der Stelle, wo er Peter hatte stehen sehen. Er war fort, sein Platz war leer.

Valerie war gerührt über Henrys Bemühungen, obwohl sie spürte, dass es ihm dabei weniger um sie ging als vielmehr darum, das Richtige zu tun. Aber zumindest widersetzte er sich Vater Solomon. Nicht einmal ihre Familie hatte das getan.

Ihre Eltern und ihre Großmutter saßen beieinander und schwiegen aus Angst. Sie wollten sich jetzt nicht opfern.Was für einen Sinn hätte es, zusammen eingesperrt zu werden? Er musste einen anderen Weg geben.

Ihre Mutter sah immer noch sehr schlecht aus, und Valerie war sich nicht einmal sicher, ob sie ganz bei Sinnen war. Cesaire machte einen wütenden, aber auch hilflosen Eindruck, als hätte er endlich begriffen, wie ohnmächtig er war. Und Großmutter – nun ja,Valerie hoffte, dass sie einen Plan hatte, aber sie wusste auch, dass die alte Frau ihre Leben aufs Spiel setzen würde, wenn sie jetzt den Mund aufmachte. Sie war froh, dass Roxanne wenigstens Großmutter nicht mit hineingezogen hatte.

Solomon, immer ein Mann der Tat, nutzte die Gelegenheit, den Soldaten zuzunicken, die daraufhin mit stampfenden Schritten zu Valerie herüberkamen, sie losbanden und abführten. Die Verhandlung war beendet.

Die Dorfbewohner hatten es eilig, aus diesem Raum zu kommen, dem nach ihrer Entscheidung, ihrem Urteil – wonach sie es mehr verdient hatten zu leben als Valerie – etwas Bitteres anhaftete. Und so strömten sie wortlos hinaus und verkniffen sich jede Bemerkung, bis sie im Freien waren. Niemand wagte, Vater Solomon anzusprechen, niemand wagte auch nur, ihn anzusehen. Niemand wollte auffallen.

Nur Pater Auguste richtete das Wort an Vater Solomon. »Ich dachte, Sie sind gekommen, um den Wolf zu töten, und nicht, um ihn zu beschwichtigen.«

Solomon sah ihn an, als stelle er seine Geduld auf eine harte Probe. »Ich habe nicht die Absicht, ihn zu beschwichtigen«, sagte er in verschwörerischem Ton. »Das Mädchen ist nur der Köder für unsere Falle heute Nacht.«

»Natürlich, aber natürlich«, murmelte Pater Auguste und trat zurück. Sein Vertrauen war wiederhergestellt und er selbst bereit, seinen Helden seine Heldenarbeit tun zu lassen. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht! In dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, wandte er sich ab, zufrieden, dass alles seine Ordnung hatte. Valerie sah ihm an, dass er keinerlei Schuld auf sich nehmen würde. Sie war ganz auf sich allein gestellt.

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Die Dorfbewohner standen direkt vor dem Eingang der Schenke in kleinen Gruppen beisammen, und als Cesaire, Suzette und Großmutter nach der Gerichtssitzung heraustraten, verstummte das allgemeine Gemurmel, insbesondere beim Anblick der Großmutter, die nicht oft zu besonderen Ereignissen ins Dorf kam.

Nur Madame Lazar, die sich gerade mit Rose und einigen Klatschmäulern unterhielt, sprach laut weiter. »… ihre Großmutter lebt ganz allein im Wald.«

Es war nicht das erste Mal, dass ihr dergleichen zu Ohren kam, doch aus irgendeinem Grund blieb Großmutter stehen und hörte zu.

»Das erste Opfer war ihre Schwester«, fuhr Madame Lazar fort. »Das zweite war der Vater ihres Verlobten. Und vergessen wir nicht die arme Mutter, die für ihr Leben gezeichnet ist. Also wenn das Mädchen keine Hexe ist, was ist dann die Erklärung?«

Cesaire sah, dass Großmutter von Madame Lazars Worten in den Bann gezogen wurde.Anscheinend fanden sie bei ihr einen gewissen Widerhall.

»Hör gar nicht hin.«

»Sie hat nicht unrecht«, sinnierte Großmutter. »Valerie spielt bei alldem eine zentrale Rolle.«

Cesaire blickte besorgt, nickte aber nur und ging mit Suzette, die wieder ins Bett musste, weiter die Straße hinunter. Großmutter verharrte, um auch den Rest noch zu hören.

»Ich habe versucht, Henry seine Gefühle für sie auszureden«, fuhr Madame Lazar fort. »Aber es ist hoffnungslos. Er hat völlig denVerstand verloren. Also wenn da keine Hexerei dahintersteckt …« Madame Lazar verstummte und ihre Zuhörerinnen nickten beifällig.

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Niemand sprach Henry an, als er aus der Schenke stürmte, um Peter zur Rede zu stellen, der auf der anderen Straßenseite in einer dunklen Ecke lehnte und die Menge beobachtete. Peter richtete sich kampfbereit auf.

»Was war das denn eben?«, fragte Henry mit einer Stimme, die schriller klang, als ihm lieb war.

»Pst!« Peters Augen wanderten über den Platz.

»Ich dachte, du hast sie gern«, sagte Henry, diesmal bemüht, seine Stimme zu zügeln.

Peter rieb sich die Augen und öffnete sie dann wieder in der Hoffnung, Henry wäre inzwischen verschwunden. Er war es nicht.

»Das habe ich auch.« Peter seufzte, als er merkte, dass er eine ehrliche Antwort geben musste, weil sich Henry mit weniger nicht zufrieden geben würde. »Aber …« Er nickte in Richtung Schenke, wo der Hauptmann stand. »… ich für meinen Teil versuche, es klug anzugehen.«

Henry spähte kurz hinüber und sah, dass selbst dieser flüchtige Blick der Aufmerksamkeit des Hauptmanns nicht entgangen war.

»Du willst sie befreien.« Endlich verstand Henry.

Peter machte sich nicht die Mühe zu antworten.

Henry musterte seinen Rivalen. Er spürte, dass er ihm vertrauen konnte, fand aber, dass er es lieber nicht tun sollte. Und doch war Henry nicht so stolz, dass er das Mädchen, das er liebte, deswegen opfern würde. Er beobachtete, wie ein Soldat Valerie aus der Schenke schleppte und woanders hinbrachte, wo sie eingesperrt wurde. Dort, wo die Fesseln gesessen hatten, war ihre Haut rot und wund gescheuert. Der Anblick erleichterte ihm die Entscheidung.

»Ich werde dir helfen.«

»So verzweifelt bin ich nicht«, erwiderte Peter kühl. Sein Stolz war anscheinend noch ungebrochen.

»Ach tatsächlich? Und wie sieht dein Plan aus?«

Peter trat von einem Fuß auf den anderen.

»Du hast gar keinen, stimmt’s? Hör mal, die Schmiede gehört jetzt mir. Ich habe Werkzeug und ich kann damit umgehen. Du brauchst mich.« Henry wollte die Genugtuung, dass Peter einlenkte. »Gib es zu.«

Die Sache gefiel Peter nicht. Aber noch weniger gefiel ihm die Vorstellung, Valerie vom Wolf holen zu lassen. Er wusste, dass es mit Henrys Unterstützung leichter sein würde.

»Also gut.« Peters Gesicht hellte sich kaum merklich auf. Er musste Henry nicht unbedingt vertrauen. Er musste nur darauf vertrauen, dass Henrys Liebe zu Valerie stark genug war.

Was aber, wenn sie zu stark war? Übernatürlich stark?

»Aber wenn du der Wolf bist, haue ich dir den Kopf ab und piss dir in den Hals.«

»Und ich werde dasselbe mit dir machen. Und mit Freuden. «

»In Ordnung.«

Die beiden Jungen sahen einander forschend an, verwundert über den Waffenstillstand, den sie erzielt hatten, so unbehaglich ihnen dabei auch zumute sein mochte.