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Kapitel 23

Roxanne fühlte sich seltsam leer, wie von innen heraus verdorben. Sie trat auf den Hauptmann zu.

»Wo ist mein Bruder? Vater Solomon hat mir versichert, dass er freigelassen wird.« Sie schniefte in der kalten Luft.

Etwas Unmerkliches huschte über das Gesicht des Hauptmanns.

»Freigelassen?« Er nickte geistesabwesend. »Ja, ich glaube, das wurde er.«

Er drehte sich um und ging in die Schenke zurück. Roxanne vermutete, dass sie ihm folgen sollte. Sie eilte hinter ihm her, während er leichtfüßig drei Stufen auf einmal nahm. Er führte sie durch die Gaststube und durch die Hintertür auf den Hof, auf dem eine Schubkarre stand. Roxanne war verwirrt, blieb stehen und schaute sich um. Sie konnte ihren Bruder nirgends entdecken.

Der Hauptmann verscheuchte ein paar Krähen, hob die Schubkarre an den Griffen hoch und drehte sie herum. Roxanne sah jetzt, dass ihr Inhalt mit einer Decke zugedeckt war. Als die Karre auf sie zurollte, rutschte eine Hand heraus. Claudes Hand.

Roxanne schüttelte den Kopf und prallte zurück.

Der Hauptmann blieb direkt vor ihr stehen und deckte die Leiche auf. Roxanne sank mit den Knien auf den matschigen Boden.

Claudes Haut war ganz blass, sodass seine Sommersprossen noch deutlicher hervorstachen als sonst. Seine Hände und seine Füße waren voller Blasen, sein Gesicht zerschrammt und geschwollen.

Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass sie Claude nicht mehr lebend vorfinden würde. Sie war so tief gesunken, wie sie sich nie hätte vorstellen können, doch an etwas so Entsetzliches hatte sie nicht einmal im Entferntesten gedacht.

Zu Beginn der Woche hatten Dielen geknarrt. Schranktüren wollten nicht richtig schließen. Menschen waren arm und Nahrungsmittel knapp. Es gab Missgunst, Geiz und Eitelkeit.

Die Dinge waren nicht vollkommen gewesen. Aber sie waren erträglich gewesen.

Jetzt war das Böse über Daggorhorn gekommen.