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Kapitel 12
Im Inneren des Berges war das Wirtshausgeprahle bangem Schweigen gewichen.
»Da entlang, Männer«, flüsterte der Vogt, als sie an eine Gabelung gelangten, und nickte mit dem Kopf zu einem Gang, der in ein dunkles Loch hinabführte. Er hatte sich zu dem Haufen Mitstreiter umgedreht, den Peter und Henry flankierten wie Bücherstützen. Selbst im Fackelschein waren die Gesichter der Männer in der finsteren Höhle kaum zu erkennen. Ein abgestandener, säuerlicher Geruch hing in der Luft.
»Zu gefährlich«, murmelte ein Sattler zweifelnd. »Wir können nicht sehen, was hinter der Biegung ist.«
»Wir nehmen den anderen Gang«, erklärte Peter und deutete auf seine Hälfte des Haufens.
Henry blickte zu seinem Vater. Sie wollten es nicht zugeben, aber Peter hatte recht. Eine Gruppe von zwanzig Männern war zu groß und in der dunklen Höhle nicht beweglich genug. Henry wünschte, er hätte es zuerst ausgesprochen.
»Ja«, sagte er, nur um etwas gesagt zu haben. »Wir sollten uns aufteilen.«
»Wie ihr meint«, erklärte der Vogt hochnäsig und ging alleine weiter. Die anderen überlegten, wem sie sich anschließen sollten. Mehrere, die froh waren, dass der Vogt die Führung übernahm, beschlossen, ihm zu folgen. Peter, Henry und Adrien, die lieber selber führen wollten, als geführt zu werden, blieben zurück und schauten betreten. Aber Henry tröstete sich mit dem Gedanken, dass er auf diese Weise wenigstens Peter im Auge behalten konnte.
Er hoffte, sein Vater würde ihm die Führung überlassen, doch Adrien musterte die Gruppe und nahm dann selbst das Heft in die Hand. Die Holzfäller waren noch bei ihnen. Sie hingen an ihnen wie Kletten und würden dorthin gehen, wo Peter hinging. Cesaire hingegen, der zurückgeblieben war, um einen letzten Schluck aus seiner Flasche zu nehmen, beschloss widerwillig, sich der Gruppe des Vogts anzuschließen, und rannte los, um sie einzuholen.
Nun, auf sich allein gestellt, gingen Adrien, Henry, Peter und die Holzfäller vorsichtig weiter. Die Arbeiter bemühten sich, leise aufzutreten, aber sie waren groß und schwer und nicht geübt, auf Zehenspitzen zu gehen.
Henry pirschte sich an Peter heran und erschreckte ihn. »Hier unten könnte es gefährlich werden.« Er entzündete ein Streichholz. »Du solltest dich vorsehen.«
»Du solltest lieber auf dich selbst aufpassen«, erwiderte Peter und deutete auf die Flamme, die sich bis ans Streichholzende gefressen hatte. Der drohende Ausdruck in seinen Augen war selbst in der Dunkelheit nicht zu übersehen.
»Richtig«, sagte Henry und schüttelte die Hand, als die Flamme ihn zwickte.
Bevor sich die Rivalität weiter hochschaukeln konnte, gelangten sie an die nächste Gabelung. Ein Gang sah bedrohlicher aus als der andere, in beiden war es stockdunkel.
»Wir müssen jeden Winkel durchsuchen«, erklärte Peter und forderte die Holzfäller mit großer Geste auf, sich nochmals aufzuteilen. »Wir nehmen den abschüssigen Gang.«
»Nein«, fiel ihm Henry ins Wort, der unbedingt widersprechen und verhindern wollte, dass Peter noch eine Entscheidung für sie traf. »Wir sollten jetzt zusammenbleiben.«
»Vielleicht solltest du auch nach Hause gehen und auf Vater Solomon warten«, rief Peter, der bereits auf dem Weg in den abschüssigen Gang war, über seine Schulter.
Während des Wortwechsels der beiden hatten die Waldarbeiter vielsagende Blicke getauscht. Wollten sie ihr Leben wirklich einem eingebildeten jungen Kerl anvertrauen? Sie blickten zu Henry und Adrien, die unschlüssig am Eingang verharrten, und folgten zögernd Peter. Henry, der ihnen nachblickte, fühlte die Augen seines Vaters auf sich ruhen. Warum kam der Vorschlag nicht von mir?
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Peter grinste breit in sich hinein, zufrieden über seinen Sieg. Die Gruppe blieb dicht hinter ihm, während er mit der Fackel die Wände und den Fußboden ableuchtete und auf verdächtige Bewegungen lauerte.
Ängstlich setzten die Holzfäller einen Fuß vor den anderen und schlüpften durch einen schmaleren Gang, jede Sekunde darauf gefasst, von dem Wolf angefallen und in das schwarze Loch des Todes gestoßen zu werden. Ein leichter Wind wehte, wie etwas Böses, das ruhelos durch die Dunkelheit säuselte.
Augenblicke später erschrak einer der Holzfäller über einen großen, vorstehenden Felsen und ließ seinen Bogen fallen. Das Klappern hallte durch die Gänge. Kopflose Angst befiel die Männer, doch zum Glück dachte Peter für sie. Weitergehen, dachte er. Darauf warten, dass die Luft sich verändert, den Augenblick der Stille erspüren, bevor eine Bewegung erfolgt.
Innerhalb eines einzigen beklemmenden Augenblicks veränderte sich die Luft. Ein kräftiger Windstoß fegte durch die Höhle und stürzte ihn und seine Männer in das Chaos des Nichts.
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Henry sah von Weitem die Wände in einem angsterfüllten schwarzen Kokon verschwinden, als der Windstoß ihn erfasste, Staub aufwirbelte und ihm in die Augen blies.
Alles, was er hörte, waren Rufe. Schreie. Das Getrappel von Füßen.
Seine Fackel erlosch.
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Der Vogt sah ihn zuerst. Dieses dunkle Dreieck, den Halbkreis aus vier runden Flecken und, am schlimmsten von allen, die vier kleinen Haken darüber. Der in den Boden getretene blutige Pfotenabdruck des Wolfs, angestrahlt von seiner Fackel. Der Vogt bückte sich zu ihm hinab, und seine Männer umringten ihn, als von irgendwo aus dem tiefen Inneren der Höhle ein Schrei ertönte.
Ein Mann war angegriffen worden.
Der Vogt war darauf gefasst, wusste sofort, woher der gellende Schrei kam.
»Lauft!«, rief er.
Die meisten Männer folgten ihm, doch ein paar stoben auseinander, liefen vor dem Schrei davon dem Eingang der Höhle zu. Der Berg hallte von ihrem Gebrüll wider.
Den Gang hinunter, immer weiter, befahl sich der Vogt. Bis zur Gabelung ist es jetzt zu weit. Es muss einen kürzeren Weg geben. Der Boden ist hier tückisch und schlammig. Pass auf, dass du nicht ausrutschst. Stolpere nicht über die Steine am Rand.
Seine Atemzüge waren laut, seine Schritte noch lauter. Da ist ein Licht. Lauf zu dem Licht, vielleicht ist da etwas. Jetzt konnte er es erkennen. Eine Öffnung, eine Kammer, da vorn!
Der Vogt taumelte in den Raum, seine Männer hinterher, einer nach dem anderen. Schnee, rot gefärbt vom Mondlicht, wirbelte durch eine Öffnung im Felsen weit über ihnen. Sein Blick suchte den Raum ab, fiel auf verdrehte, hoch aufragende Schatten.
Gesteinsformationen?
Ganz langsam, auf etwaige verdächtige Bewegungen achtend, ging er auf sie zu.
Und erkannte, dass es keine Felsen waren.
Knochen. Menschenknochen. Drei Meter hoch aufgetürmt. Sie waren so grell weiß, dass sie fast wie gemalt aussahen. Ernüchtert blieb der Vogt vor dem Knochenberg stehen.
Er schaute nach oben. Wo war der Wolf? Er konnte nicht herausgekommen sein … Die leeren Augenhöhlen der Schädel starrten auf ihn herunter, ihre Münder, zu einem Grinsen verzerrt, spotteten über seine missliche Lage, gaben aber keine Antwort.
Wieder suchte er den Raum ab … und machte eine andere Entdeckung.
Adrien. Sein Körper lag kalt und leblos am Boden, grauenvoll zerfetzt vom Wolf.
Etwas wogte in der Brust des Vogts. Er spürte das entsetzte Schweigen der Männer hinter sich. Er würde den Wolf finden und dafür büßen lassen. Hasserfüllt ging er weiter, aber er trat nicht mehr vorsichtig auf. Es machte ihm Freude, mit schweren, dröhnenden und ausgreifenden Schritten den Raum zu durchmessen. Er würde ihn finden.
Er malte sich schon die Größe seines künftigen Ruhmes aus, als er hinter sich ein Geräusch vernahm.
Ein leises Knurren.
Er wirbelte herum und blickte in ein Maul voller Zähne. Speichel, der sich in den Winkeln sammelte. Riesige funkelnde Fänge.
Ehe er sich’s versah, hielt er seinen Dolch in der Hand. Die Bestie sträubte die Nackenhaare und der ekelhafte Geifer troff schwer auf den Höhlenboden. Ihre Blicke begegneten sich. Die Zeit stand still. Und dann sprang das Ungetüm und stürzte sich auf sein nächstes Opfer.