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Kapitel 2

Valerie saß mit ausgestreckten Beinen auf dem taufeuchten Boden am Straßenrand und wartete. Sie hatte keine Angst, dass ihre Füße überfahren werden könnten, wegen so etwas machte sie sich niemals Sorgen. Sie war jetzt älter – zehn Jahre waren vergangen seit jener Schreckensnacht, in der sie dem Bösen ins Auge geblickt hatte. Doch als sie heute am Opferalter vorbeigegangen war, hatte sie von dem Haufen Knochen, der vom Opfer der letzten Nacht geblieben war, nicht einmal Notiz genommen. Sie hatte das, wie jedes Kind aus dem Dorf, ihr Leben lang jeden Monat einmal gesehen und aufgehört, darüber nachzudenken, was es zu bedeuten hatte.

Die meisten Kinder waren irgendwann in ihrem Leben ganz besessen von den Vollmondnächten und statteten dem Altar am darauffolgenden Morgen einen Besuch ab, um sich das getrocknete Blut anzusehen und Fragen zu stellen wie: Kann der Wolf sprechen? Oder ist er wie die anderen Wölfe im Wald? Warum ist der Wolf so böse? Die Antworten, die sie bekamen, waren häufig noch enttäuschender, als wenn sie gar keine bekommen hätten. Die Eltern versuchten, ihre Kinder zu schützen, brachten sie zum Schweigen und verboten ihnen, darüber zu sprechen. Manchmal jedoch stupsten sie ihnen scherzhaft an die Nase und ließen Bemerkungen entschlüpfen wie: » Wir bringen hier ein Opfer dar, damit der Wolf nicht kommt und süße kleine Mädchen wie dich verschlingt. «

Seit ihrer Begegnung mit dem Wolf hatte Valerie nicht mehr nach ihm gefragt. Doch es kam oft vor, dass sie nachts von der Erinnerung heimgesucht wurde. Dann wachte sie auf und betrachtete Lucie, die, mit einem gesunden Schlaf gesegnet, viel zu still in ihrem gemeinsamen Bett lag. Sie sah ihre Schwester lange an und fühlte sich schrecklich einsam. Und wenn ihre Angst zu groß wurde, tastete sie zu Lucie hinüber und fühlte ihren Herzschlag.

»Lass das!«, murmelte Lucie dann immer schlaftrunken und schlug ihr auf die Hand. Valerie wusste, dass ihre Schwester nicht gern an ihren Herzschlag dachte. Er erinnerte sie daran, dass sie ein Lebewesen, dass sie nicht unfehlbar war, nur Fleisch und Knochen.

Jetzt strich Valerie mit den Fingern über den kalten Boden des Fußwegs und ertastete die Ritzen zwischen den alten Sandsteinplatten. Der Stein fühlte sich so an, als könnte er zerbröckeln, als wäre er von innen her verwittert und als könnte sie mit etwas mehr Zeit kleine Stücke herausbrechen. Das Laub der Bäume leuchtete gelb, als hätte es allen Sonnenschein des Frühlings aufgesogen und für den Winter aufgespart.

An einem Tag wie heute war es leichter, die vergangene Vollmondnacht mit einem Achselzucken abzutun. Das ganze Dorf war in Aufregung, denn alle bereiteten sich auf die Ernte vor: Männer liefen mit rostigen Sensen umher, Frauen lehnten sich aus Fenstern und ließen Brotlaibe in Körbe fallen.

Bald sah Valerie das schöne runde Gesicht ihrer Schwester auf dem Weg auftauchen. Lucie hatte einen abgebrochenen Türriegel zum Reparieren in die Schmiede gebracht. Als sie jetzt den Pfad heraufkam, liefen vier kleine Mädchen aus dem Dorf hinter ihr her. Die Mädchen vollführten merkwürdig gezierte Bewegungen, und erst als sie näher kamen, erkannte Valerie, dass Lucie ihnen gerade beibrachte, wie man einen Knicks machte.

Lucie war sanft wie sonst niemand, sanft wie die Natur und das Leben. Ihr Haar war weder rot noch blond, sondern beides. Sie gehörte nicht hierher nach Daggorhorn, sie gehörte in ein Wolkenland, in dem der Himmel gelb, blau und rosa getupft war, wie gemalt. Was sie sagte, war Poesie, und ihre Stimme klang wie Musik. Valerie hatte manchmal das Gefühl, ihre Familie hätte Lucie nur ausgeborgt.

Wie seltsam es ist, eine Schwester zu haben, dachte Valerie. Jemanden, der man selbst hätte sein können.

Lucie blieb vor Valerie stehen, und mit ihr das Mädchengefolge. Eine Kleine mit schmutzigen Knien musterte Valerie abschätzig, enttäuscht von ihr, weil sie ihrer älteren Schwester so gar nicht ähnlich war. Für das Dorf war Valerie immer nur die andere, die etwas sonderbare Schwester. Zwei der Mädchen sahen einem Mann zu, der auf der anderen Straßenseite verzweifelt versuchte, einen Ochsen vor seinen Karren zu spannen.

»He!« Lucie drehte das vierte Mädchen herum, bückte sich, nahm seine kleine Hand und hielt sie ihm über den Kopf. Das Mädchen zögerte, sich zu drehen und den Blick von seinem Idol zu wenden. Die anderen drei sahen ungeduldig zu, als ob sie sich ausgeschlossen fühlten.

Valerie kratzte sich am Bein und knibbelte Wundschorf ab.

Lucie hielt ihr die Hand fest. »Das gibt eine Narbe.« Lucies Beine waren makellos, perfekt. Sie rieb sie immer mit einer Paste aus Öl und Weizenmehl ein, wenn sie etwas davon erübrigen konnten.

Valerie besah sich ihre eigenen Beine, die voller Mückenstiche, blauer Flecken und Schrammen waren, und fragte: »Hast du etwas übers Zelten gehört?«

Lucie beugte sich zu ihr vor. »Alle anderen haben die Erlaubnis bekommen!«, flüsterte sie. »Jetzt müssen wir einfach mit.«

»Kurz gesagt, wir müssen Mutter überreden.«

»Versuch es.«

»Spinnst du? Mir würde sie es nie erlauben. Du bist doch diejenige, die immer bekommt, was sie will.«

»Vielleicht.« Lucie hatte volle rosige Lippen, und wenn sie nervös darauf herumkaute, wurden sie noch rosiger. »Vielleicht hast du ja recht«, sagte sie grinsend. »Auf jeden Fall bin ich dir einen Schritt voraus.«

Mit einem verschmitzten Lächeln hielt sie Valerie ihren Korb hin, doch die hatte schon erraten, was er enthielt, noch bevor sie einen Blick hineinwarf. Vielleicht hatte sie es auch gerochen. Das Lieblingsgebäck ihrer Mutter.

»Gute Idee!« Valerie stand auf und klopfte sich den Schmutz hinten von ihrem Kittel.

Lucie, glücklich über ihren Weitblick, legte den Arm um Valerie. Gemeinsam brachten sie die kleinen Mädchen zu ihren Müttern zurück, die in ihren Gärten arbeiteten. Die Frauen in diesem Dorf waren stachelige Naturen, doch selbst die Unfreundlichste hatte für Lucie ein Lächeln übrig.

Auf dem Nachhauseweg kamen sie an ein paar Schweinen vorbei, die keuchten wie kranke alte Männer, an einem Zicklein, das versuchte, hinter ein paar eingebildeten Hühnern her zu trotten, und einer Kuh, die zufrieden Heu mampfte.

Sie gingen an der langen Reihe von Häusern entlang, die auf ihren Pfählen dastanden, als wären es Stelzen, mit denen sie jeden Augenblick weglaufen könnten. Am zweitletzten Haus angekommen, kletterten sie die Leiter hinauf und betraten ihre kleine Welt. Die Kommode war so verzogen, dass die Schubladen nicht mehr schlossen, und in dem hölzernen Seilbett konnte man sich leicht Splitter einziehen. Das Waschbrett, das Vater letzten Winter gebaut hatte, war schon wieder so abgenutzt, dass Mutter ein neues brauchte. Der Beerenkorb war niedrig und flach, damit keine Frucht zerquetscht wurde. In einem Lichtstrahl, der durchs Fenster fiel, schwebten ein paar Federteilchen und erinnerten Valerie daran, wie sie als Mädchen immer auf der Matratze gehüpft waren und ganze Wolken von Federn aufgewirbelt hatten.

Ihr Haus unterschied sich nicht groß von anderen. Die Möbel in Daggorhorn waren einfach und praktisch. Alles diente einem Zweck. Ein Tisch hatte vier Beine und eine waagrechte Platte, mehr nicht.

Ihre Mutter war natürlich zu Hause. Sie stand am Herd und war in Gedanken versunken. Ihre Haare waren zu einem lockeren Knoten hochgebunden und ein paar lose Strähnen fielen ihr in den Nacken.

Bevor die Mädchen hereinkamen, hatte Suzette über ihren Mann nachgedacht, über all seine Fehler und seine Tugenden. Der Fehler, den sie ihm am meisten vorwarf – und den sie für unverzeihlich hielt –, war seine Fantasielosigkeit. Wie neulich zum Beispiel. In einer verträumten Stimmung hatte sie plötzlich den Wunsch verspürt, ihm noch eine Chance zu geben, und ihn hoffnungsvoll gefragt: Was, glaubst du, ist hinter den Mauern? Er kaute sein Essen, schluckte. Spülte sogar einen Schluck Bier hinterher. Er hatte ausgesehen, als denke er nach. Jede Menge mehr vom selben, schätze ich. Suzette war wie am Boden zerstört gewesen.

Die Leute im Dorf mieden ihre Familie. Suzette fühlte sich abgeschnitten von allem, wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte.

Während sie im Eintopf rührte, begriff sie, dass sie in einem Strudel gefangen war. Je verzweifelter sie ihm zu entrinnen versuchte, desto stärker wurde sie hineingezogen, immer tiefer und tiefer …

»Mutter!« Lucie trat von hinten an sie heran und kraulte sie sanft am Rücken.

Suzette kehrte in die Welt der Töchter und der ungekochten Eintöpfe zurück.

»Habt ihr Durst, Kinder?« Ihre Miene hellte sich auf und sie goss zwei Becher Wasser ein. Für Lucie gab sie einen Klacks Honig dazu, nicht aber für Valerie, die sich daraus nichts machte. »Ihre beide habt heute einen großen Tag«, sagte sie und reichte jedem Mädchen seinen Becher.

Suzette war froh, dass sie für die Männer das Ernteessen kochen musste und deshalb einen Vorwand hatte, zu Hause zu bleiben. Sie rührte wieder in einem riesigen runden Topf mit zwei Henkeln. Der Topf war unten ausgebaucht und kam Lucie deshalb immer merkwürdig vor, weil er keine richtige Halbkugel war. Dinge, die unvollkommen aussahen, mochte sie nicht. Valerie spähte in den Topf. Er enthielt ein Allerlei aus braunem Hafer und gelbbraunen und grauen Körnern – ein paar Erbsen stachen grellgrün hervor.

Während Lucie plapperte, half Valerie ihrer Mutter, die Mohrrüben von ihrem spärlichen Kraut zu befreien. Suzette sagte nichts. Lucies Geplapper überdeckte ihr Schweigen, aber Valerie fragte sich, ob sie etwas bedrückte. Sie beschloss zu warten, bis die Laune ihrer Mutter vorüberging, wie sie es in der Vergangenheit gelernt hatte, und gab Gemüse und Kräuter in den Topf. Kohl, Knoblauch, Zwiebeln, Lauch, Spinat und Petersilie.

Valerie konnte nicht ahnen, dass Suzettes Gedanken zu ihrem Mann zurückgekehrt waren. Cesaire war ein liebevoller Vater und treu sorgender Ehemann. Nur hatte sie sich eben mehr erhofft. Hätte sie nicht so hohe Erwartungen an ihn gestellt, wären ihr seine Fehler möglicherweise gar nicht so schlimm erschienen.

Für das, was er wirklich tat, für den Teil, den er geschafft hatte, war sie ihm dankbar. Dafür hatte sie ihm, wie sie fand, genug zurückgegeben, indem sie das Haus in Ordnung hielt und sich liebevoll um ihre Kinder sorgte. Sie musste zugeben, dass in der Ehe, wie bei jeder vertraglichen Verpflichtung, wie bei jedem gegenseitigen Schuldverhältnis, für Liebe möglicherweise kein Platz war.

Zufrieden mit diesem Ergebnis, widmete sie sich wieder ihren Töchtern und bemerkte, dass Valerie sie mit diesen durchdringenden grünen Augen ansah, fast als könnte sie ihre Gedanken lesen. Suzette wusste nicht, von wem Valerie diese Augen hatte. Ihre und Cesaires waren hellbraun. Sie räusperte sich.

»Schön, dass ihr mir zur Hand geht, Kinder. Ich habe es schon immer gesagt und werde es immer wieder sagen: Du musst kochen können,Valerie, wenn du eine eigene Familie gründen willst. Lucie weiß das bereits.«

Lucie war wie Suzette. Sie schauten voraus und planten. Valerie und Cesaire überlegten nie lange und handelten rasch.

»Ich bin siebzehn. Wir wollen nichts überstürzen.« Valerie halbierte eine Kartoffel, indem sie durch die Schale und das matte, samtige Fleisch schnitt. Dann klappte sie die beiden Hälften auseinander und ließ sie auf dem unebenen Tisch tanzen. Sie dachte nicht gern an die Dinge, über die ihre Mutter ständig reden wollte.

»Du bist im heiratsfähigen Alter, Valerie. Du bist jetzt eine junge Frau.«

Das Zugeständnis verscheuchte alle Gedanken an künftige Verpflichtungen aus den Köpfen der Schwestern. Sie witterten ihre Gelegenheit.

»So, Mutter«, begann Lucie, »wir müssen jetzt aufs Feld und bei der Ernte helfen.«

»Ja, natürlich. Für dich ist es das erste Mal, Valerie«, sagte Suzette und senkte den Blick, um ihren Stolz zu verbergen. Sie hatte schon angefangen, Kohl zu hobeln.

»Manche Leute, manche Frauen bleiben hinterher draußen …«, setzte Valerie hinzu.

»… und machen ein kleines Lagerfeuer«, ergänzte Lucie.

»Mh-hmm«, brummte Suzette, deren Gedanken schon wieder abschweiften.

»Prudences Mutter nimmt ein paar von den anderen Mädchen mit zum Zelten …«, erzählte Valerie.

»… und wir wollten fragen, ob wir auch mitdürfen«, schloss Lucie.

»Mit Prudences Mutter?«, wiederholte Suzette die einzige klare Auskunft, die sie erhalten hatte.

»Ja«, antwortete Valerie.

»Haben die anderen Mütter denn schon ihre Erlaubnis gegeben?«

»Ja«, antwortete Valerie wieder.

»Na schön. Dann ist es wohl in Ordnung«, sagte sie geistesabwesend.

»Danke, vielen, vielen Dank!«

Erst jetzt, als sie sah, wie dankbar sie waren, begriff Suzette, dass sie eine Einwilligung gegeben hatte, die sie vielleicht lieber nicht hätte geben sollen.

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»Ich kann nicht glauben, dass sie Ja gesagt hat!«, rief Valerie.

»Das war spitze von dir, wie du immer nur Ja gesagt hast. Sie ist überhaupt nicht zum Nachdenken gekommen!«

Die Mädchen schlenderten die furchige Straße zum Dorfplatz hinunter.

»Und von dir erst, wie du ihr den Rücken gekrault hast!«

»Das war gut, nicht? Ich weiß, dass ihr das gefällt.« Lucie schmunzelte zufrieden.

»Lucie! Sag bloß, du hast deinen kompletten Kleiderschrank mitgebracht!« Ihre Freundin Roxanne spähte um die Ecke und zog die bleiche Stirn in Falten. Hinter ihr tauchten noch zwei Mädchen auf: Prudence und Rose.

Lucie hielt ihr Bündel in den Armen, und erst jetzt fiel Valerie auf, dass es prall gefüllt war.

»Das wirst du den ganzen Tag mit dir herumschleppen müssen«, sagte sie.

Prudence zog einen Flunsch, denn sie wusste, dass Lucie bisweilen zum Übertreiben neigte. »Wir helfen dir jedenfalls nicht beim Tragen, wenn du schlappmachst.«

»Nur zusätzliche Decken.« Lucie lächelte. Sie fror leicht.

»Erwartest du etwa Gäste?«, fragte Rose und zog eine Augenbraue hoch.

Valerie fand, dass ihre drei Freundinnen wie ein Triade mythischer Göttinnen aussahen. Roxanne hatte rostfarbene, glatte Haare, die so dünn waren, dass man meinen konnte, sie fänden alle zusammen in einem Strohhalm Platz. Ihre Sommersprossen waren blass, wie falsche Tupfen auf den Flügeln eines Schmetterlings. Für Valerie war klar, dass sie hinter all ihren Korsetts, Blusen und Schals nur ihren Körper verstecken wollte.

Rose hingegen ließ die Schnürbänder ihrer Bluse immer offen und hatte keine Eile, sie festzuziehen, wenn die Bluse mal etwas tiefer rutschte. Sie war hübsch, mit einem herzförmigen Mund und einem markanten Gesicht – sie zog immer die Wangen ein, damit es noch mehr zur Geltung kam. Ihre Haare waren dunkel und schimmerten je nach Licht schwarz, braun oder blau. Hätte man sie in ein eleganteres Oberteil gesteckt, hätte sie fast als feine Dame durchgehen können … zumindest, solange sie nicht den Mund aufmachte.

Prudence war eine melancholische Schönheit mit dunkelblondem Haar und einer berechnenden Art. Allzu oft und schnell rutschte ihr ein böses Wort heraus, aber gewöhnlich entschuldigte sie sich dafür. Sie war groß und etwas herrisch.

Alle fünf Mädchen zogen zum Dorftor hinaus, den Hügel hinauf in Richtung der Felder, wo sie auf den Zug der Männer stießen, die ebenfalls ganz aufgeregt waren. Das ganze Dorf wirkte schon putzmunter und Vorfreude erfüllte die Luft wie der unerwartete Duft eines starken Gewürzes.

Claude, Roxannes Bruder, schloss zu ihnen auf, stolpernd, da er versuchte, bei jedem Schritt einen Stein vor sich her zu kicken.

»H-h-hallo.« Claude hatte flinke graue Augen. Er war etwas jünger als die Mädchen und im Dorf ein Außenseiter, da er schon immer ein wenig … anders war. Aus unerfindlichen Gründen trug er nur einen einzelnen Wildlederhandschuh, und er war unablässig damit beschäftigt, ein selbst gemachtes Kartenspiel zu mischen, das er ständig bei sich trug. Die Taschen seiner Flickenhose, die seine Mutter aus Sackleinenresten und Lederflicken zusammengestückelt hatte, waren immer nach außen gestülpt. Er wurde wegen der Hose verspottet, aber das kümmerte ihn nicht. Er war stolz auf das Werk seiner Mutter, die bis spät in die Nacht nähte, obwohl sie in der Schenke schon schwer genug arbeiten musste.

Wie man sich erzählte, war Claude als Säugling auf den Kopf gefallen und deshalb so wunderlich. Valerie hielt das für Unsinn. Er war eine schöne Seele.

Sein Fehler war nur, dass er nicht zu allem gleich seinen Senf dazu gab wie alle anderen, sondern wirklich zuhörte. Deshalb hielten ihn die Leute für begriffsstutzig. Dabei war er einfach nur freundlich und nett und er liebte die Tiere wie die Menschen.

Er wusch nie seine Socken. Und niemand wusch sie für ihn.

Er und Roxanne hatten beide Sommersprossen, aber er hatte mehr, sogar auf den Lippen.

Alle nannten Roxanne und Claude Rotschöpfe, warum, hatte Valerie nie verstanden. Sie vermutete, dass Fantasielosigkeit der Grund war. Sie würde die beiden Sechs-Uhr-Abends-Sonnenuntergang-Schöpfe nennen. Oder Seegrund-Algenwedel-Schöpfe. Als Kind hatte Valerie sie immer um ihre Haare beneidet, denn in ihren Augen waren sie etwas Besonderes, ein Zeichen Gottes.

Claude und Valerie hörten zu, während die anderen Mädchen über die Jungen aus den Nachbardörfern schwatzten, die bei der Ernte helfen sollten. Claude verlor bald das Interesse und schlappte gemütlich in Richtung Dorfmitte zurück.

Doch irgendwie änderte sich die Stimmung, als sie an der Feldschmiede vorbeikamen, die auf dem Weg zu den Heuwiesen eingerichtet worden war. Eine gewisse Befangenheit wurde spürbar. Die Mädchen wurden fahrig. Ihr Atem ging schneller. Valerie kniff vor Enttäuschung die Augen zusammen. So dumm konnten ihre Freundinnen doch nicht sein. Wegen eines Jungen den Kopf zu verlieren. Henry Lazar.

Er war ein hübscher, schlaksiger Bursche mit kurz geschnittenen Haaren und ungezwungenem Lächeln. Zusammen mit seinem Vater Adrien, der ebenfalls gut aussah, war er gerade damit beschäftigt, Achsen von Erntewagen auszubessern. So wie andere Leute gerne kochten oder im Garten arbeiteten, so hatte Henry seine Freude an den Feinheiten von Schlössern, die er gern selbst konstruierte und herstellte. Einmal hatte er Valerie ein paar gezeigt, die er geschmiedet hatte, viereckige und runde, wobei eines zufällig wie ein Katzenkopf aussah, ein anderes wie ein auf dem Kopf stehendes, von einem Kind gezeichnetes Haus oder ein Familienwappen. Manche waren schwarz, andere golden, wieder andere mit einer dunklen Patina überzogen.

Valerie winkte unbekümmert, während ihre Freundinnen verstummten, schüchtern vor sich hin lächelten und zügig vorbeischritten. Nur Lucie machte einen höflichen Knicks. Henry schüttelte den Kopf und grinste.

Rose, die sich im letzten Moment zurückfallen ließ, um ganz sicherzugehen, dass sich ihre Blicke begegneten, sah ihm so lange in die Augen, dass es ihm unangenehm wurde.

Davon abgesehen taten die Mädchen so, als machten sie sich überhaupt nichts aus Henry, und nahmen verkrampft ihre Unterhaltung wieder auf. Obwohl sie so eng befreundet waren, glaubten sie dennoch, sich eine Blöße zu geben, wenn sie zugaben, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlten. Außerdem hatte auf diese Weise jede das Gefühl, Henry für sich zu behalten. Valerie wunderte sich darüber, dass sie so anders reagierte als die anderen. Gewiss, Henry sah gut aus, war charmant, groß und nett, aber Herzklopfen und Atemnot bekam sie seinetwegen nicht.

»Ich hoffe, ihr habt nicht vergessen, wer heute sonst noch kommt«, neckte sie die anderen.

»Bei so vielen«, bemerkte Lucie, »müssen einfach ein paar Hübsche darunter sein.«

Die Mädchen sahen einander an, fassten sich bei den Händen und hüpften gemeinsam auf und ab. Heute Nacht würden sie frei sein.

Und den Bewohnern von Daggorhorn bedeutete die Freiheit einer Nacht alles.