Kapitel elf
Jason, allein
Was bleibt noch, ist die
Ehre dahin?
Publius
Syrus
Bei Anbruch der Morgendämmerung war Jason sich über vier Dinge im klaren: erstens, daß er sich wie ein Feigling benommen hatte; zweitens, daß er nie mehr nach Hause zurückkehren konnte; drittens, daß er hungrig war und viertens, müde außerdem.
Als die erste zaghafte Helligkeit sich über die Maisfelder ausbreitete, schlug die Müdigkeit mit schweren Fäusten auf seine Schultern wie zuvor der Regen; ein schaler, metallischer Frühmorgengeschmack klebte an seinen Zähnen.
Doch ihm schien das alles so unwichtig. Trotzdem nahm er ein Stück Trockenfleisch aus der Satteltasche und ließ es im Mund quellen, bevor er zu kauen begann.
»Siehst du«, erklärte er dem braunen Wallach, den sein Vater Indeterminist getauft hatte, ohne sich je über den Grund zu äußern. »Ich bin nicht einfach irgend jemand. Ich bin etwas Besonderes.« Er nuschelte mit vollem Mund. »Etwas Besonderes.« Er führte sein Pferd am Zügel, wie er es den größten Teil der Nacht getan hatte: das war eine seiner Lehren, die anscheinend auf fruchtbaren Boden gefallen war.
Er pflegte immer wieder zu sagen, Grausamkeit Tieren gegenüber sei unverzeihlich.
Doch was sollte er jetzt anfangen? Jason überdachte seine Lage; nicht zum ersten Mal, seit er nach seiner kopflosen Flucht wieder zur Besinnung gekommen war. Er besaß ein wenig Geld, sein Schwert, die Pistolen und das Gewehr, Pferd und Sattel und die Kleider, die er am Leib trug.
Sonst nichts.
Was hätte Valeran getan?
Valeran. Er ließ die Zügel fallen, sank im Morast auf die Knie und weinte. Was hätte Valeran getan? Valeran wäre nie in eine solche Lage geraten, er hätte nicht Reißaus genommen sondern standgehalten.
Jason wußte nicht, wie lange er weinte, doch als er wieder zu sich kam, kniete er immer noch im Schlamm, während das Pferd geduldig neben ihm wartete.
Er stand auf und rieb sich die Augen.
Ihm fiel etwas ein, daß Onkel Lou irgendwann gesagt hatte und zwar, wenn man nicht in der Lage war, ein Problem im Ganzen zu lösen, sollte man erst einen Teil davon knacken und von dort aus weiterarbeiten. Er nannte das ›eine Eimerkette bilden‹, was immer das bedeuten sollte.
Doch es ergab einen Sinn. Ausprobieren kann ich es ja, dachte er. Vor ihm lag Wehnest. Sofern er nicht doch umkehren und nach Hause reiten wollte ...
»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich kann nicht umkehren.«
... nun, dann mußte er entweder an Ort und Stelle bleiben, den Weg durch die Felder nehmen oder geradeaus reiten. Er hatte das Pferd lange genug geführt; er nahm die Zügel auf, schwang sich in den Sattel und ließ das Tier in langsamen Schritt fallen.
Er tätschelte das Gewehrfutteral. Als erstes mußte er etwas wegen der Schußwaffen unternehmen; an ihnen erkannte man ihn sofort als einen Bewohner Heims. Krieger aus Heim erfreuten sich nicht überall sonderlicher Beliebtheit; es gab immer jemanden, der sich gerne eine der von der Gilde ausgesetzten Belohnungen verdiente. Während die Pistolen sich ohne weiteres verbergen ließen, war ihm durchaus klar, daß er das Gewehr wegwerfen mußte, doch Jason hatte das Schmiedehandwerk unter Nehara gelernt; allein der Lauf bedeutete Stunden um Stunden harter Arbeit, und es kam ihm nicht richtig vor, sich davon so ohne weiteres zu trennen.
Außerdem konnte ihm das Gewehr durchaus noch zupaß kommen.
Überdies, dachte er und würgte an den ungebeten aufsteigenden Tränen, war es eine Erinnerung an Heim.
Er verdiente es nicht, aber er wollte es trotzdem behalten.
Ein Stück weiter die Straße hinunter, am Boden einer kleinen Senke, erhob sich in dem Maisfeld, umgeben von einem kreisrunden grasigen Fleck, eine altehrwürdige Eiche, die ihre Zweige über einen Brunnen breitete. Er hatte keine Ahnung, ob der Brunnen eigens für Reisende und ihre Tiere gegraben worden war, oder ob er ursprünglich zu einer Heimstätte gehörte, jedenfalls hielt man ihn gut instand: Der Eimer aus Eschenholz war neu, das Seil stark und ordentlich aufgerollt.
Er tränkte zuerst das Pferd und ließ es anschließend grasen.
Nachdem das erledigt war, zog er sich aus, holte einen weiteren Eimer Wasser herauf und unterzog die einzelnen Kleidungsstücke einer mehr schlechten als rechten Wäsche. Hemd und Beinkleider wrang er so gründlich aus, wie er es zuwege brachte, und legte sie dann zum Trocknen in die Sonne.
Zu guter Letzt füllte er den Eimmer ein drittesmal und goß sich den Inhalt über den Kopf, bevor er Zeit hatte, es sich anders zu überlegen.
Das Wasser war kälter als er auch nur geahnt hatte. Er rieb sich den Schlamm von der Haut und klapperte dabei mit den Zähnen.
Mit der Schlafdecke trocknete er sich notdürftig ab, breitete sie dann aus und legte sich hin. Was er tun konnte, hatte er getan, der Rest mußte der Sonne überlassen bleiben.
Mit einem Ruck setzte er sich auf und mußte einen Augenblick überlegen, wo er sich eigentlich befand, bevor es ihm wieder einfiel.
Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, Kleider und Decke waren beinahe trocken. Er hatte immer noch Hunger.
Rasch zog er sich an und stand nachdenklich vor seiner bescheidenen Habe, während er sich den Schlaf aus den Augen rieb. Schließlich kniete er nieder, um das Gewehr mit einem ölgetränkten Lappen aus der Satteltasche zu polieren, bevor er es in die Decke wickelte und verschnürte. Na ja, das Gewehr war versteckt - sozusagen, aber es sah immer noch aus wie ein in eine Decke verschnürtes Gewehr.
Nicht gut genug, entschied er und öffnete das Paket wieder.
Jason nahm ein paar Federn aus dem Beutel mit dem Schnitzzeug für Pfeile und band sie an einen kleinen Stock, den er in den Gewehrlauf steckte. Mit dem Jagdmesser schnitt er einige Maisstauden ab, verfütterte die unreifen Kolben an das Pferd, legte die Stengel neben das Gewehr und wickelte alles zusammen wieder in die Decke.
Na, das sah schon viel besser aus.
Ein flüchtiger Beobachter mußte in dem Bündel einen Bogen und halbfertige Pfeile vermuten.
Mit einem breiten Grinsen stand er auf, bis ihm wieder zu Bewußtsein kam, in welcher Lage er sich befand.
Feiglinge hatten kein Recht zu lächeln. Er würde nie wieder lächeln, beschloß er, wickelte die Pistolen in Öltücher und verbarg sie in den Satteltaschen.
Dennoch, Riccetti hatte recht gehabt, wie gewöhnlich. Nach der Lösung eines Problems, wie unbedeutend es auch sein mochte, erschien der Tag ein wenig heller, das Leben etwas lebenswerter.
Nachdem er seinen Schwertgurt zurechtgerückt hatte, schwang er sich auf Indeterminists Rücken und schüttelte mit Nachdruck die Zügel.
Wehnest war nicht im geringsten mit Heim vergleichbar oder auch nur mit einer der kleineren Städte in Holtun-Bieme. In Heim bewohnte man überwiegend Fachwerk- oder Blockhäuser aus Kiefernholz. Sowohl in Holtun wie auch in Bieme bevorzugte man Stein als Baumaterial, obwohl die baufälligen Hütten, die vertrauensvoll Halt an den Mauern der festen Gebäude suchten, aus allen möglichen Materialien zusammengefügt waren, hauptsächlich aus mit Lehm bestrichenen Matten aus Weidengeflecht in einem Rahmen aus Eichenholz.
In Wehnest bestanden alle Häuser, ausgenommen die Fürstenburg in der Ferne, aus diesen Lehmmattengestellen, und bestimmt erfreuten sie sich auch all der zweifelhaften Vorzüge solcher Konstruktionen.
Lehmhütten waren ebenso zugig wie die armseligsten Steinbauten, in den Wänden pflegte sich Ungeziefer aller Schattierungen ein Stelldichein zu geben und - als wäre das nicht bereits schlimm genug -, sie brannten wie Zunder. Das war der Grund, weshalb er den Bau neuer Lehmhütten in Holtun-Bieme verboten hatte.
Und vielleicht erklärte das auch den Wachtposten an der Straße. In einiger Entfernung konnte Jason das Wächterhaus des Fürsten sehen, ein Steingebäude am Rand der Häuserzeilen in unmittelbarer Nähe der Burg.
Doch Metreyll lebte seit geraumer Zeit im Frieden, und die Siedlung hatte sich über den steinernen Ring um die Burg im Herzen der Stadt hinaus ausgebreitet; die unbefestigte Straße wurde von einer Lehmhütte bewacht, die mehr wie ein alter Schuppen aussah, und den Schuppen bewachten zwei schläfrig wirkende Posten.
Mit vorgetäuschter Geduld wartete Jason, bis die zwei Männer einen Bauern und seinen Ochsenkarren abgefertigt hatten.
Auf ein Kopfnicken hin stieg er vom Pferd.
»Was führt dich nach Wehnest, Junge?« verlangte der ältere der beiden zu wissen. Der mürrische Ausdruck auf seinem faltigen Gesicht kündete von unendlicher Müdigkeit, und sowohl Brustpanzer wie Helm waren an verschiedenen Stellen durchgerostet: ein verbrauchter Mann in einer verbrauchten Rüstung. Aus beiden war das meiste Leben bereits entwichen.
»Ich reise nur durch. Und ich bin älter als ich aussehe«, gab Jason so barsch zurück wie er nur konnte, doch die Wirkung ging verloren, als mitten im Satz seine Stimme umkippte.
Der andere Posten kicherte hämisch. »Und woher? Als wenn wir das nicht wüßten.«
»Wie bitte?« Jasons Hand fiel auf den Schwertgriff. Der jüngere Mann tat es ihm an Schnelligkeit gleich; er hatte das Schwert bereits halb aus der Hülle gezogen, als sein älterer Kamerad beschwichtigend die Hand hob.
»Ta havath, Artum, ta havath«, sagte er müde, dann wandte er sich wieder Jason zu. »Das erleben wir ständig, Junge, nichts Ungewöhnliches - und die Zurückgewiesenen wenden sich meistens lieber hierher, statt zu den Elfen zurückzukehren. Die Fürsten von Heim legten keinen Wert auf deine Klinge, wie?«
Jason begriff nicht ganz, worauf der andere hinauswollte, aber es schien geraten, darauf einzugehen. »Wenn Ihr meint.« Zurück zu den Elfen - dabei konnte es sich nur um Therranj handeln. Anscheinend hielt ihn der ältere Soldat für einen der in Therranj ansässigen Menschen.
Der Ältere nickte. »Dachte ich mir. Vor zehn Jahren habe ich selbst versucht, dort anzuheuern. Man versprach gute Bezahlung. Sie wollten mich nicht.«
Der Jüngere - Artum - stieß wieder sein hämisches Kichern aus. »Du warst noch nie besonders gut mit dem Schwert, Habel.«
Habel richtete sich kerzengerade auf, und für einen kurzen Moment erkannte Jason etwas von der Kraft, die er in seiner Jugend besessen haben mußte.
»Es lag nicht an meinem Schwert, Junge«, sagte er beinahe flüsternd.
Manchmal besteht der gesamte Besitz eines Kriegers aus seiner Würde und seinem Stolz; Habeis Stolz, unter der Asche vieler Jahre beinahe erloschen, drohte mit neuer Kraft aufzulodern.
Doch der Augenblick ging vorüber, und Jason würgte hart an einem brodelnden Gefühl des Zorns. Der Zorn richtete sich nicht gegen Habel und nicht gegen den anderen Posten, sondern gegen sich selbst. Zumindest besaß Habel einigen Stolz; vielleicht hatte Habel irgendwann vor langer Zeit nicht das Hasenpanier ergriffen und sich selbst als Feigling gebrandmarkt.
»Artum ...« Der alte Mann lehnte sich gegen die Wand des Postenhäuschens und seufzte. »Dieser verdammte Drache, den sie da haben, schaute mir in die Seele und erklärte mich für ungeeignet.«
Ellegon. Sein Sohn hatte keine engen Freunde, bis auf zwei:Valeran und den Drachen. Und Valeran war tot. Ellegon würde Jason ins Herz blicken, den Feigling erkennen und sich angewidert zurückziehen.
Jason hatte sich nie so einsam gefühlt.
»Aus welchem Ort stammst du?« erkundigte sich der jüngere Posten.
»Ist das wichtig?«
»Ich habe gefragt ...«
»Artum.« Habel musterte ihn geraume Weile. »Nein, vermutlich nicht«, meinte er dann und benahm sich plötzlich ganz berufsmäßig. Mit einem groben Kalkbatzen malte er ein Zeichen an die Wand der Hütte. »Bei Anbruch der Nacht mußt du Metreyll verlassen oder dich bei einem Stadtwächter gemeldet haben - entweder hast du bis dahin eine Arbeitsstelle gefunden oder kannst genügend Geld vorweisen, um ihn zu überzeugen, daß du nicht darauf angewiesen bist, andere Leute zu bestehlen.«
»Ich werde die Stadt verlassen«, sagte Jason mit mehr Überzeugung als er empfand. Wohin geht man, wenn das Leben vorbei ist?
»Sehr schön, aber wenn du Arbeit suchst - Falikos, der Viehzüchter, stellt noch Treiber ein. Die Bezahlung ist beschissen, aber das Essen soll gut sein.«
»Vielen Dank; ich werde mich drum kümmern.«
»Du brauchst mir nicht zu danken; das ist meine Pflicht. Jetzt verschwinde.«
Als erstes mußte er einen Platz finden, wo er bleiben konnte; zwar hatte Jason keineswegs vor, seine ganze Barschaft herumzuzeigen - wie kam jemand in seinem Alter und mit seinem Aussehen zu so viel Geld? -, doch bestimmt durfte er wenigstens so viele Münzen sehen lassen, daß er sich Verpflegung und Unterkunft beschaffen konnte. Der Gedanke, als Treiber anzuheuern, reizte ihn nicht sonderlich. Trotzdem, sein Pferd brauchte Ruhe und Futter, und er brauchte Arbeit.
Wohin geht man, um aufzugeben?
Karl Cullinane hatte gelächelt und Mutter diese Frage gestellt, als sie an der Unfähigkeit eines Lehrlings verzweifelte, sich das Zahlensystem der Anderen Seite zu merken. Als Antwort hatte sie ihn verflucht und ihre Bemühungen verdoppelt. Es gab keinen Ort, wo man hingehen konnte, um aufzugeben.
Hier durfte er nicht lange bleiben. Bestimmt waren sie schon hinter ihm her, wollten ihm vorlügen, alles sei in Ordnung, sein Sohn könne ruhig ein Feigling sein - ein erbärmlicher Feigling.
Das schlimmste war, daß Ellegon ihn vielleicht ausfindig machte. Er konnte dem Drachen nicht gegenübertreten, und ihm auch nicht, niemals wieder, nicht bevor ...
... bevor was?
Das war die Frage, auf die er keine Antwort wußte.
Ein paar Tage. Mehr brauchte er nicht. Ein paar Tage, um seine Gedanken zu sammeln und sich darüber klar zu werden, was er als nächstes tun sollte.
Er fand ein Unterkommen für sich und das Pferd bei Vator, dem Stallbesitzer, wo er sich als Taren vorstellte, ein häufiger Name in ganz Eren.
Der fette, kahlköpfige Mann verlangte nach einem genauen Blick auf Jasons Gepäck einen weit höheren Preis für die Unterbringung seines Pferdes, als Jason für ortsüblich hielt, aber nachdem Jason ihm beim Beschlagen eines widerspenstigen Maultiers zur Hand gegangen war, bot er ihm als Gegenleistung für einen Tag Arbeit Kost und Logis auf dem Heuboden über den Stallungen an; außerdem erklärte er sich bereit, Jason bei der Stadtwache als seinen Gehilfen zu melden.
Das schien ein annehmbarer Handel zu sein; Jason nickte und ging an die Arbeit.
Die Arbeit war hart, doch trotz seiner Müdigkeit konnte er in dieser Nacht nicht schlafen.
Zum Teil lag es an den Insekten, die das Stroh bevölkerten; gegen Mitternacht war seine Haut von Hunderten von Bissen und Stichen übersät. Den kleinen Vorrat an Heiltränken in seinen Satteltaschen wagte er nicht anzubrechen; er hielt es für geraten, sie für Notfälle aufzubewahren.
An denen es bestimmt nicht fehlen würde.
Denn immerhin gab es einen Ausweg aus seinem Dilemma. Wenn er eine Heldentat vollbrachte, so gewaltig, so tapfer, daß seine Feigheit dagegen verblaßte, dann konnte er seine Schwäche vielleicht gutmachen, wenigstens halbwegs.
Er kratzte an einem neuen Einstich und rollte sich dann im Stroh zusammen.
Mein Vater bewährte sich, indem er deinen Vater tötete, Ahrmin. Du gehörst mir.
Er merkte, daß er schon wieder weinte, daß er die ganze Zeit über lautlos geweint hatte, so lange, daß seine Augen schmerzten.
Ich werde es schaffen, irgendwie, beschloß er. Es kam darauf an, daß er eine Entscheidung gefällt hatte: Er würde sich bewähren, auf irgendeine Weise.
Und diesmal, gelobte er sich, werde ich nicht weglaufen.
Blieben zwei Fragen: Wie konnte er ...
... und konnte er?
Jason wußte es nicht. Viele Chancen hatte er nicht; ob er wieder versagte? Nein, er würde nicht versagen.
Das war die einzige Antwort auf alle seine Fragen: Er würde nie wieder versagen. Basta.
Was blieb einem Mann, der seine Ehre verloren hatte?
Nur eins: Entschlossenheit. Das mußte vorläufig genügen.
Als er endlich in unruhigen Schlummer fiel, plagten ihn furchtbare Alpträume.