Kapitel neun
Jason Cullinane
Ich habe mich
gerettet;
was kümmert mich mein Schild?
Ich werde mir einen anderen beschaffen,
der nicht weniger gut ist.
Archilochus
Ich komme mit. Kaum war es heraus, da wußte Jason, daß er einen schrecklichen Fehler begangen hatte.
Doch war es nicht das, was man von ihm erwartete, verlangte? Man setzte große Erwartungen in seinen Sohn. Er nicht weniger als alle anderen.
Eingeschlossen Aeia und Valeran. Nun, vielleicht hätte Aeia ihm ein gutmütig-herablassendes Lächeln geschenkt, auch wenn er bei Riccettis Aufforderung schweigend aufgestanden wäre, um den Raum zu verlassen, doch der alte Soldat, der mit vielem nicht einverstanden zu sein schien, was Jason Cullinane tat oder darstellte, reagierte auf Jasons hastig hervorgestoßene Worte mit einem beifälligen Kopfnicken, dem höchsten Lob, zu dem er sich Jason gegenüber je hatte hinreißen lassen.
Es war nicht gerecht. Es war einfach nicht gerecht. Und wenn es als selbstverständlich galt, daß andere Sechzehnjährige sich mit Schwert, Bogen oder Gewehr in den Weg von Armbrustbolzen und scharfen Klingen stellten - weshalb mußte er, Jason, dasselbe tun? Die anderen waren so phantasielos - wußten sie nicht, daß Schwerter tiefe Wunden schlugen, daß Pfeile und Bolzen das schutzlose Fleisch durchbohrten?
Wußten sie das nicht?
»Ruhig, Junge«, murmelte Valeran, der neben ihm in dem Unterholz am Wegrand kauerte, wo sie im kalten Regen auf die Vorhut der Sklavenjäger warteten. »Karl würde sagen, ›das ist ein Kinderspiel«, meinte er. Die englischen Worte klangen seltsam aus seinem Mund.
Mit der linken Hand tätschelte Valeran die Armbrust, die er schußbereit auf den Knien hielt. »Nichts weiter als ein schlichtes, anspruchsloses Gemetzel. Blutig, aber unkompliziert - und was zu tun ist, haben wir doch oft genug geübt und besprochen, nicht wahr?«
»Ja, Valeran«, erwiderte Jason und war dankbar, daß die Umstände ihn zwangen, im Flüsterton zu sprechen, denn er wußte, bei einem lauten Wort hätte seine Stimme versagt.
Ein Kinderspiel.
Die Pferde hatten sie weiter oben am Weg in den Wald geführt und festgebunden; es standen sechs Männer aus Heim gegen zwei Kundschafter der Sklavenkarawane; der Plan, nach dem sie vorgehen sollten, war simpel, narrensicher. Sofern der Hauptangriff bereits im Gange war - wenn sie Gewehrschüsse von weiter unten hörten -, stand es ihnen frei, die Pistolen aus den Öltüchern zu nehmen und zu gebrauchen. Andernfalls waren sie auf Schwert und Armbrust angewiesen - und auf die Würgeschlinge, die Jasons alter Freund Mikyn, der in der Astgabel einer bejahrten Eiche hockte, als Überraschung für die Sklavenjäger bereithielt.
Ein Kinderspiel.
In einiger Entfernung klang rascher, trommelnder Hufschlag auf.
»Haltet euch bereit«, sagte Valeran.
Die beiden Reiter kamen in Sicht, der zweite reichlich zwanzig Schritt hinter seinem Vordermann, um nicht von den Schlammspritzern getroffen zu werden, die von den Hufen des vorn gehenden Pferdes flogen.
Lautlos, wie ein Spinnwebfaden, der zu Boden schwebt, senkte sich Mikyns Schlinge aus den grauen Regenschleiern ...
... und legte sich um den plötzlich ausgestreckten Arm des zweiten Reiters.
Der Mann verfügte über ausgezeichnete Reflexe: Mit einem schrillen Ausruf schloß er die Faust um die Schnur und zog mit einem heftigen Ruck. Mikyn, der darauf nicht vorbereitet war, stürzte von seinem luftigen Sitz und landete mit einem harten Aufprall im Morast.
Das war im Plan nicht vorgesehen.
Ein Kinderspiel, nicht wahr?
Der erste Sklavenjäger hörte den Schrei und riß sein Pferd herum, während er nach seinen Waffen tastete.
Das war im Plan nicht vorgesehen.
Valeran erhob sich aus der Deckung und brachte die Armbrust in Anschlag.
»Übernimm den vorderen!« rief er und zielte auf den Mann, der Mikyn aus dem Baum gezerrt hatte und jetzt mit seitlich vorgerecktem Schwert auf den Jungen eindrang. Doch um Mikyn zu helfen, mußte der alte Kämpe notgedrungen den zweiten Gegner außer acht lassen.
Das war im Plan nicht vorgesehen.
Der Sklavenjäger zog und warf ein Messer.
Die Zeit hielt inne und ein Augenblick erstarrte zur Ewigkeit:
Valeran, den Zeigefinger um den Abzug der Armbrust gekrümmt, folgte aufmerksam jeder Bewegung des grauhaarigen Mannes, der Mikyn mit dem Schwert bedrohte, denn er wußte, wenn er mit dem ersten Schuß fehlte, war das Schicksal des Jungen besiegelt
- das Wurfmesser, das blitzend durch die Luft wirbelte -
- Jason, der unbewußt den Arm ausstreckte, seinem Lehrer und Mentor eine Warnung zurufen wollte, dem Mann, der ihm viel mehr ein Vater gewesen war, als er es jemals sein konnte -
Er mußte Valeran warnen. Er durfte ihn nicht sterben lassen. Doch er befand sich mit in diesem erstarrten Augenblick, war ein Teil des furchtbaren Geschehens, nicht nur ein Zuschauer.
Das war im Plan nicht vorgesehen.
Und dann geriet das Bild wieder in Bewegung:
Der Reiter, der es auf Mikyn abgesehen hatte, ließ mit verwundertem Gesichtsausdruck das Schwert aus der kraftlosen Hand fallen und tastete unbeholfen nach dem Armbrustpfeil, der bis zur Befiederung in seine Brust eingedrungen war.
Zwei weitere Bolzen sprossen aus dem Leib seines Kumpanen, und auch das entsetzt steigende Pferd wurde getroffen.
Und Valeran sank rücklings zu Boden. Aus dem blutigen Teich, der einmal sein rechtes Auge gewesen war, ragte der Holzgriff eines Wurfmessers.
Das war im Plan nicht vorgesehen.
Ein Kinderspiel.
Jason begann zu laufen. Und lief immer schneller.