Kapitel sieben
Ein Ritt im Dunkeln
Ein Herrscher sollte nicht die ganze Nacht schlafen,
denn er ist ein Mann, in dessen Händen das Wohl des Volkes ruht und der zahlreiche Pflichten zu erfüllen hat.
Homer
Die Stille lastete auf Karl Cullinanes Schultern, als er auf den Balkon hinaustrat und in die Nacht schaute.
Die Dunkelheit glich einem feuchten Tuch, der Himmel war bedeckt, ein Westwind versprach Kälte und Regen. Keine tanzenden Feenlichter belebten die Finsternis; die einzigen fadenscheinigen Stellen in dem Vorhang aus Schwärze stammten von den Lichtern der Burg und vereinzelten erleuchteten Fenstern in der Stadt Biemestren.
Warum konnte er nicht schlafen? Die Nacht war bereits zur Hälfte verstrichen, und er hatte immer nur für ein paar Momente Ruhe gefunden.
Lauerte eine Gefahr dort draußen? Hatte er plötzlich einen sechsten Sinn für Bedrohungen entwickelt?
Nein.
Sei nicht albern, Karl.
Da draußen sah er nichts außer Dunkelheit. Nichts von Bedeutung.
Es hatte Zeiten gegeben, da wäre ein junger Karl Cullinane durch die Nacht gestreift, bis zum Bersten angefüllt mit Gedanken und Plänen, einer immer wichtiger als der andere. Was gab es nicht alles zu tun - Sklavenjäger bekämpfen, große Taten vollbringen, einfach jung sein.
Jung sein war angenehm gewesen. Aber das war vorbei; die Jahre flogen nur zu schnell vorüber. Das war es. Die Jahre vergingen zu schnell. Verdammt zu schnell.
Er schloß die Türen zum Balkon und ließ sich in seinen Sessel fallen. Vielleicht lag es an der Fürstenversammlung. Vielleicht war der Zeitpunkt ungünstig gewählt, aber er hatte die Sitzung einberufen, und irgendwann mußte es ja einmal sein. Holtuner und Biemer mußten sich an einen Tisch setzen und mit dem Gedanken vertraut machen, daß sie jetzt in einem Staat lebten. Und Nerahan verdiente es, wieder in seine Baronie eingesetzt zu werden. Dennoch ...
»Karl?« Stoff raschelte hinter ihm, flackernder Lichtschein huschte über die Wände, als Andrea mit einem brennenden Strohhalm vom Kamin die Lampe entzündete.
»Ja. Nur ich.« Er versuchte seiner Stimme einen scherzenden Klang zu verleihen. »Wen hast du erwartet? Geh wieder ins Bett.«
Ohne die halbherzige Bitte zu beachten, stand sie auf und trat zu ihm. Ihr weißes seidenes Nachthemd wehte in dem Luftzug von der Tür.
»Es gab eine Zeit, altes Mädchen, da schliefen wir ohne was.«
Sie lächelte. »Auf der Erde, mit zu wenig Decken zwischen uns und dem kalten Boden.« Sie strich mit der Hand über den Stoff und zupfte dann an seinem Ärmel. »Komm mit zu Bett.«
Er zuckte die Schultern. »Na gut. Gleich. Setz dich erst noch ein bißchen zu mir.«
»Was ist denn?« Andy legte ihm eine Hand auf die Schulter, während er mit gerunzelter Stirn auf seine Fußspitzen starrte.
Karl schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Gar nichts.«
»Willst du dann endlich schlafen kommen? Bitte?« Sie kehrte zum Bett zurück und schlüpfte zwischen die Decken. »Du hast morgen einen langen Tag.«
»Schlaf du ruhig weiter.« Er nahm die Lampe an sich. »Nur weil ich unter einem Anfall von Schlaflosigkeit leide, brauchst du nicht auch wach zu bleiben. Mach dir keine Sorgen. Ich muß noch etwas Papierkram durchsehen.«
Er tappte über den Teppich zu seinem Büro, schloß behutsam die Doppeltür hinter sich und stellte die Lampe auf den Schreibtisch. Dann setzte er sich hin, zog einen Stapel Papiere heran und versuchte, sich darin zu vertiefen.
Es handelte sich um ein wichtiges Thema - er hatte die genaue Aufstellung der letzten Grundsteuererhebung der Baronie Adahan herausgegriffen -, doch wie gewöhnlich würde er keine Unstimmigkeiten entdecken, auf die man den Finger legen konnte. Kleine Unterschlagungen waren bei Steuereinnehmern die Regel, nicht die Ausnahme. Obwohl für solche Vergehen die Todesstrafe vorgesehen war, nahm keiner Anstoß daran, solange die Diebstähle sich in Grenzen hielten; die fürstlichen Steuereinnehmer wurden armselig bezahlt, und sie waren ständig der Versuchung ausgesetzt, ein wenig mehr einzunehmen, als ein Freisasse gemäß den Unterlagen zu zahlen hatte. Selbst mit doppelter Buchführung ließen sich diese Unregelmäßigkeiten nicht aufspüren, der ursprüngliche Eintrag war falsch, nicht spätere Angleichungsversuche.
Doch es kümmerte ihn nicht. Es schien einfach nicht so wichtig zu sein.
Er wünschte sich Ellegon herbei. Dem Drachen gelang es unfehlbar, seine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken.
Verdammt. Er betätigte zweimal den Klingelzug - das Rufzeichen für einen Posten, dem er gleichzeitig entnehmen konnte, daß es sich nicht um einen Notfall handelte.
Stiefel dröhnten im Gang; die Tür wurde schwungvoll geöffnet. »Majestät wünschen?« tönte der Wächter mit einer Stimmgewalt, die gar nicht zu seiner eher schmächtigen Statur passen wollte.
»Pst; nicht so laut.« Karl drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Und guten Abend, Nartham«, fügte er hinzu. Er hätte den Mann, auch ohne hinzusehen, allein an der Stimme erkannt.
»Zu Euren Diensten«, grüßte der Posten, und die Fensterscheiben klirrten.
»Ta havath, Nartham«, mahnte Karl. Sachte, Nartham. Warum dieser Posten immer brüllen mußte, als wäre er ein schwerhöriger Artillerist auf dem Exerzierplatz, war eines der Rätsel, die Karl nicht zu ergründen vermochte. »Meine Frau schläft nebenan, ja?«
»Vergebung, Majestät«, entschuldigte sich der Posten mit kaum verminderter Lautstärke.
»Der Gefängniskarren - ist er heute nachmittag abgefahren?«
»Nein, Euer Majestät. Soweit mir bekannt ist, hatte der Fahrer sich verspätet, und der Bar... der Richter wies ihn an, über Nacht hier zu bleiben. Er wird sich wohl bei Tagesanbruch auf den Weg machen.«
Karl entließ ihn mit einem Kopfnicken - »Vielen Dank ...«
- was Nartham nicht bemerkte. »Sonst noch etwas?«
»Nein.« Karl schüttelte den Kopf. »Gute Nacht, Nartham.«
»Aber ... ja, Majestät.«
Kaum hatte der Posten die Tür zum Gang hinter sich geschlossen, öffnete sich die Doppeltür zum Schlafzimmer.
»Du sollst es dir von der Seele reden«, sagte Andy, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt.
»Ich dachte, du wolltest schlafen.«
»Nein. Du hast mir gesagt, ich sollte weiter schlafen. Das ist ein Unterschied. Ich hätte ohnehin kein Auge zugetan, aber Narthams Stimme kann Tote aufwecken. Was ist denn los? Worüber machst du dir solche Sorgen?«
»Vielleicht ist es die Gerichtsverhandlung.« Er hob die Schultern. »Es macht nicht viel Unterschied. Es ist nur ... Vernim. Dämlicher Hund. Wenn er nur den Mund gehalten hätte, wenn er nur gemerkt hätte, daß Thomen ihn bloß einschüchtern wollte ...«
Sie trat zu ihm. »Und das raubt dir den Schlaf? Der Wilderer? Vielleicht habe ich mich der hiesigen Denkweise etwas zu sehr angepaßt, aber weshalb regst du dich auf? Bei der Thronbesteigung hast du eine Amnestie erlassen; Vernim brauchte nichts weiter tun, als das Hochwild in Ruhe zu lassen und auf die Kaninchenjagd umzusteigen.«
»Hat er aber nicht getan.«
Und es war nicht recht.
Doch war das wirklich der Grund für dieses Gefühl der Unruhe, das ihn plagte? Er konnte es wirklich nicht sagen.
Dabei war es noch gar nicht lange her, da mußte er bedeutend schwerere Brocken verdauen, als die Hinrichtung eines Mannes, dessen Vergehen schlimmstenfalls eine Tracht Prügel rechtfertigte.
Wieder schüttelte er den Kopf. »Mich stört noch etwas anderes an der Sache, und ich kann mir nicht darüber klar werden, was es ist.«
Ganz schön verrückt. Ein junger Karl Cullinane pflegte sich über diese Selbstfindungs-Affen lustig zu machen, die unentwegt in ihrem Seelenleben herumkramten. Zu sich selbst finden? Sich über die eigenen Gefühle nicht im klaren sein? War das nicht der Gipfel der Albernheit?
Außer man war selbst davon betroffen. »Weißt du, als ich noch jünger war, hätte ich mich nicht damit abgefunden.«
Vielleicht war das der Grund. Vielleicht auch nicht.
»Womit abgefunden?«
»Daß ich nicht einmal höre, wenn du aus dem Bett steigst. Ich werde alt«, fügte er hinzu, froh, daß Tennetty ihn nicht hören konnte.
Sie schob seine Hand weg, ohne auf seinen Ablenkungsversuch einzugehen. »Mach mir nichts weis. Du hättest dich nicht damit abgefunden, einen Mann aufzuhängen, weil er sich ein Stück Wild für den Kochtopf geschossen hat. Das ist es, was dich stört.«
Er warf ihr einen schrägen Blick zu. Und wenn schon. »Mir blieb nichtes andere übrig. Es gab keinen Ausweg.«
Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. »Also? Willst du dir bis in alle Ewigkeit deswegen Vorwürfe machen?«
»Nicht bis in alle Ewigkeit.« Zu seiner Zeit hatte er Schlimmeres tun müssen. Einst hatte er eine Schar seiner Freunde ins gegnerische Feuer geführt und es nicht einen Moment lang bedauert, obwohl nur er und Tennetty überlebten.
Nein. Er ballte die Fäuste. Die Erinnerung daran verfolgte ihn unablässig. Aveneer, Piell, Erek ... für den Rest seiner Tage würde er Aveneers herzhaftes Lachen vermissen, Piells stets gleich düstere Miene, die so unerklärlich beruhigend wirkte, Ereks konzentrierten Gesichtsaudruck - natürlich bereute er es, sie in den Tod geführt zu haben.
Er bereute die Tat und die Notwendigkeit, doch nicht seine Unterwerfung unter diese Notwendigkeit.
Dieser immerwährende Kummer über die Folgen des Unvermeidlichen: Damit bezahlte man den Toten seine Schuld.
Sie lächelte auf ihn hinab. »Weißt du, in Thomens Alter hättest du über einer Sache wie dieser nicht lange gebrütet. Du hättest den Bastard entweder befreit oder ohne Gewissensbisse aufgehängt.«
So einfach war das jetzt nicht mehr. Es mußten viele Dinge in Betracht gezogen werden. Alles in allem war es besser, den Dummkopf aufzuhängen, als Tyrnael vor den Kopf zu stoßen.
»Du hast schon recht«, meinte er. »In Thomens Alter hätte ich etwas unternommen.«
Er zuckte die Schultern. »Was weiß ich. Vielleicht ... ja, vielleicht hätte ich versucht, ihn zu befreien ...«
Nein.
Er schaute zu ihr auf. »Hat Thomen dir gegenüber irgendeine Andeutung gemacht?«
Sie war seinem Gedankengang gefolgt und rieb sich fröstelnd die Arme. »Nein. Aber er würde mich auch nicht in eine so unangenehme Lage bringen.« Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Und selbst wenn, glaube ich kaum, daß ich dir davon erzählt hätte.«
Er stand auf. »Darüber werden wir uns ein anderes Mal unterhalten.« Vorläufig mußte er sich darüber klar werden, was er jetzt tun sollte. Der junge Baron lud sich die Verantwortung auf die eigenen Schultern. So hatte er es von seinem verstorbenen Vater gelernt und später auch von seinem Kaiser und Mentor.
»Kannst du ihn für mich ausfindig machen?«
Sie nickte. »Außer er ist gegen Magie gefeit - aber bist du sicher, daß du möchtest, daß ich ihn finde?« Während sie seine Erwiderung abwartete, reckte sie sich ausgiebig, faßte ihr langes, fließendes Haar zusammen und hatte es mit ein paar wie Zauberei anmutenden Handgriffen zu einem säuberlichen Knoten gedreht, den sie mit zwei Elfenbeinkämmen feststeckte.
Bist du sicher, daß du möchtest, daß ich ihn finde?
Das war das Problem. Theoretisch, wenn Thomen das tat, was Karl teils hoffte und teils fürchtete, beging der Junge Hochverrat ...
Theoretisch.
Die Arbeit eines Herrschers, hatte Karl Cullinane einmal in seinem Tagebuch vermerkt, besteht hauptsächlich darin, die Funken auszupinkeln. Das hier war ein Funken. »Wie schnell kannst du feststellen, wo er sich befindet?«
»Ich habe schon lange keinen Suchzauber mehr anwenden müssen.« Sie überlegte. »Es wird mich einige Stunden kosten, die Vorbereitungen zu treffen und den Zauber zu wirken.«
Das war in Ordnung. Solange Karl unterwegs sein konnte, bevor der Gefängniskarren vom Hof rumpelte, hatte er die Möglichkeit, Thomen von seinem verrückten Vorhaben abzuhalten.
Doch es galt noch einiges zu regeln, wenn er die Burg in aller Stille verlassen und am Ende des Abenteuers unversehrt zurückkehren wollte.
Mit einer Schulterbewegung ließ er sein Nachthemd zu Boden gleiten und tappte über den weichen Teppich ins Schlafzimmer. »Dann an die Arbeit. Sobald du fertig bist, treffen wir uns bei den Ställen.«
Als er nach seinen Kleidern griff, breitete sich ein Lächeln über seine Züge: Es gab etwas zu tun.
Der Aufsichtsführende an dem Tisch vor der unterirdischen Waffenkammer war einer von Karls Schreibern, ein etwa dreißigjähriger, leicht übergewichtiger Mann mit dunklem Bart, der über den erfrischenden Charakterzug verfügte, seinem Kaiser nicht mit übertriebener Ehrerbietung zu begegnen. Offenbar ganz in seine Notizen vertieft, dauerte es einen Moment, bis er den Kopf hob, als Karl durch den Gang auf ihn zukam.
Seine Überraschung, mitten in der Nacht den Kaiser hier anzutreffen, vermochte er nicht zu verbergen, doch ließ er sich nicht zu neugierigen Fragen hinreißen.
»Einen guten Abend, Majestät«, grüßte er, stellte den Federhalter ins Tintenfaß zurück und rieb sich im Aufstehen die Hände. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«
»Nicht nötig, Jayar«, erwiderte Karl und überprüfte pro forma Meisterin Ranellas Siegel am Türschloß, bevor er es mit dem Fingernagel aufschlitzte. »Wenn du mir nur die Tür öffnest. Ich möchte bei Tagesanbruch zu einem kleinen Übungsritt aufbrechen, und dazu brauche ich ein paar frisch geladene Pistolen, aber damit komme ich allein zurecht.« Nach kurzem Nachdenken verbesserte er sich: »Vielleicht ist es doch besser, wenn wir Hand in Hand arbeiten - ich das Pulver, du die Kugeln und die Zündung.«
Zwar stand ihm ausreichend Zeit zur Verfügung, aber weshalb sie unnötig verschwenden.
»Es wird mir ein Vergnügen sein.« Der Ingenieur suchte einen großen Schlüssel von seinem Ring und öffnete die Tür.
Jayar brauchte einen Augenblick, um die Deckenlampe zu entzünden, er hängte sie behutsam wieder an ihren Platz, bevor er drei kleine Holzfäßchen von einem Bord nahm. Die Kreidemarkierungen gaben an, daß es sich einmal um eine bestimmte Menge von Ranellas neuestem Schießpulver handelte, in dem zweiten Behälter befand sich erstklassiges Zündpulver und das dritte, in dem es beim Abheben klapperte, enthielt Bleikugeln.
Sie nahmen jeder zwei Pistolen von einem Regal an der feuchten Steinwand und legten sie auf eine narbige Werkbank an der gegenüberliegenden Mauer.
»Müßtest du bei deinem Dienstalter nicht von der Nachtschicht befreit sein?« erkundigte sich Karl. Immerhin stand Jayar als Geselle so hoch im Rang, daß Ranella ihm einen eigenen Siegelring anvertraut hatte; er war auch ohne Genehmigung von höherer Stelle zum Betreten der Waffenkammer berechtigt.
»Schwierige Frage.« Jayar schürzte die Lippen und legte den Kopf zur Seite. Karl nahm ein konisches Pulvermaß aus Messing von einem Haken, schüttete eine großzügige Ladung in die erste Pistole, stampfte das Pulver mit dem Ladestock fest und reichte Pistole und Stock an Jayar weiter.
»Du und Ranella, ihr vertragt euch nicht?« fragte Karl.
»Nun ... seid vorsichtig mit der Pistole, das ist eine starke Ladung«, sagte Jayar. »Und um Eure Frage zu beantworten, eigentlich bin ich für diesen Dienst zu alt, aber ich gebe einen wirklich lausigen Ingenieur für die Tagesschicht ab.« Jayar zuckte die Schultern. »Ich lasse mich zu leicht ablenken.« Mit dem Daumen wies er über die Schulter auf den Tisch, an dem er geschrieben hatte. »Ranella fühlt sich wohler, wenn ich zu Zeiten Dienst tue, an denen kein anderer Dienst hat.«
»Ich habe nie gehört, daß du dich beschwert hast.«
»Ich beschwere mich auch jetzt nicht, Majestät. Mir gefällt es gut, wie es ist.« Mit dem etwa dreißig Zentimeter langen Ladestock stopfte Jayar den Pfropfen in den Lauf, wickelte die Kugel in das Ölpflaster und rammte sie fest. »Ich liebe die Nacht«, fuhr er fort und streute etwas Zündpulver auf die Pfanne, bevor er den Hahn einschnappen ließ. »Alles ist ruhig, und ich kann mich meiner Schreiberei widmen.«
»Du arbeitest immer noch an dem Geschichtswerk, ja?«
Der Ingenieur wiegte den Kopf. »Irgend jemand muß es tun.«
»Tatsächlich? Wie weit bist du gekommen?«
»Nun ...« Der untersetzte Mann schob die Brauen zusammen. »Nicht annähernd weit genug. Aber weiter als gestern.«
»In anderen Worten, ich sollte mich um meinen eigenen Kram kümmern.« Karl lachte in sich hinein.
»Ich hätte es nicht so ausgedrückt«, sagte der Ingenieur und legte die geladene Pistole so auf den Tisch, daß der Lauf zur Wand zeigte. Dann griff er nach der nächsten. »Ich hätte es gedacht, aber ich hätte es nicht gesagt.«
Karl nickte verstehend. »Wenn du fertig bist, wirst du es mich dann sehen lassen?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Jayar neigte den Kopf zur Seite. »Vielleicht sagt Euch nicht zu, wie ich Euch beschrieben habe.«
»Dann«, meinte Karl mit einem stählernen Unterton in der Stimme, »möchte ich zu bedenken geben, daß Rang auch seine Privilegien hat. Du wirst mich das Buch sehen lassen, sobald es vollendet ist.«
»Selbstverständlich, Majestät. - Die nächste Pistole, bitte.«
Innerhalb weniger Minuten waren sämtliche vier Pistolen geladen und steckten sicher in ihren Futteralen.
»Zu den Ställen, Majestät?« fragte Jayar, der hinter ihnen die Tür verriegelt hatte und jetzt mit einer Hand nach dem Sprechtrichter griff, während er mit der anderen nach der Siegelwachskerze tastete.
»Ja«, bestätigte Karl, der genau wußte, was als nächstes kam. Er hätte wirklich gerne auf Begleitung verzichtet, aber ...
»Hattet Ihr einen besonderen Wunsch in bezug auf die Eskorte, Majestät?«
»Garavar - sag ihm, daß ich nur ihn und seine Söhne benötige. Und keine Eile. Es handelt sich ja nur um einen kleinen Ausritt - ich werde kurz vor Sonnenaufgang aufbrechen.«
Garavar würde den Mund halten, hoffte Karl. Nach ein paar Jahren hatte sogar ein Kaiser gelernt, auf Befehle zu verzichten, von denen er genau wußte, daß ohnehin keiner sie befolgte. Es war keine Sache der Etikette, daß ein Kaiser nachts nicht ohne Eskorte ausreifen durfte; es war nüchterne Berechnung. Selbst wenn Karl nichts von einer Leibwache verlauten ließ, war es ein offenes Geheimnis, daß Ingenieure oder Soldaten, die ihn dennoch begleiteten, keine Bestrafung zu fürchten hatten.
Anderereits konnte man gar nicht sicher sein, daß, im Falle er bei einem seiner nächtlichen Ausflüge tatsächlich ums Leben kam, sein Nachfolger - ob nun Jason oder der Baron mit dem schnellsten Pferd - sich ebenso gnädig gegen die Gefolgsleute des neulich Verstorbenen zeigen würden, Gefolgsleute, die zugelassen hatten, daß der Kaiser sich in Gefahr begab.
Wenn man die Wahl hatte zwischen einem erhobenen Zeigefinger und dem Henkersbeil, fiel die Entscheidung leicht.
»Sehr wohl, Majestät«, sagte Jayar und zog den Sprechtrichter dicht vor den Mund. »Achtung, Achtung«, rief er in die Öffnung, dann hielt er sie ans Ohr, bis er eine gedämpfte Antwort vernahm. »Ein Läufer zu General Garavars Quartier«, bellte er in den Trichter. »General Garavar und seine Söhne, wiederhole: Söhne, sollen sich bei den fürstlichen Stallungen einfinden, um den Kaiser als Eskorte zu begleiten. Kein Grund zur Hast, Eile tut's auch. Bestätigen und Ende.«
Er grüßte Karl mit einer knappen Handbewegung und einem freundlichen Lächeln.
»Falls es sich doch nicht nur um einen kleinen Ausritt handeln sollte«, meinte Jayar, »hat es mich gefreut, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.« Ernst fügte er hinzu: »Und ich meine, was ich sage, Majestät. Es war ein seltenes und ausgesprochenes Vergnügen.«
»Das auf Gegenseitigkeit beruht.« Karl Cullinane zwang sich zu einem sorglosen Auflachen. »Paß auf dich auf.«
Die graue Helligkeit der Stunde vor Tagesanbruch hing trübe über der staubigen Straße, während im Westen ferner Donner ertönte.
Garavar und seine sechs Söhne hatten sich in zwei Gruppen geteilt und Karl und Andy in die Mitte genommen, während der Trupp sich in leichtem Trab von Burg Biemestren und dem lichteren Horizont entfernte. Während das Märchen von dem Vergnügungsritt im Gespräch aufrechterhalten wurde, hatte sich natürlich keiner davon tausehen lassen: Ältere Hände lagen in der Nähe des Schwertgriffs, während die jüngeren sich von den Pistolenkolben angezogen fühlten.
Das galt auch für Garthe, den jüngsten Sohn. Er war erst fünfzehn, allerdings ziemlich groß für sein Alter, und man hätte ihn ohne weiteres auf Mitte Zwanzig schätzen können. Sämtliche Mitglieder der Familie wiesen die Tendenz auf, schnell zu altern und sich ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zu verändern, obwohl Gashier, der älteste Sohn, älter wirkte als sein Vater; in Gashiers Gesicht hatten sich weit mehr Sorgenfalten eingegraben. Vor langer Zeit, als er es noch nicht besser wußte, hatte Karl ihn für den älteren Bruder des Generals gehalten, denn Garavar sah man die Jahre nicht an.
Karl neigte zu der Ansicht, daß sich diese Eigenart sowohl genetisch begründen ließ wie auch mit der wiederholten Anwendung von Heiltränken und -Sprüchen, die auf manche Geschöpfe eine leicht verjüngende Wirkung auszuüben schienen.
Vielleicht zeigte sich diese Wirkung auch bei Karl. Er kämmte sich mit den Fingern durch die Haare. Womöglich litt er an Entzugserscheinungen: Da er seit Jahren keinen Kampf auf Leben und Tod mehr ausgefochten hatte, war er natürlich die ganze Zeit über unverletzt geblieben, obwohl er sich häufig und mit vollem Einsatz im Waffengang übte. Wurde er doch zu langsam?
Das sollte ich nicht einmal denken, wenn Tennetty in der Nähe ist. Er kicherte.
Danagar, der rechts von Karl ritt, runzelte die Stirn über das Geräusch und bemühte sich, seinen Gesichtsausdruck rasch wieder in den Griff zu bekommen, als ihm bewußt wurde, wen er da hatte tadeln wollen.
»Ta havath, Danagar«, meinte Karl. »Wir reiten schließlich nur zum Spaß durch die Gegend.«
»Selbstverständlich, Majestät«, nickte Danagar, von sichtlichen Zweifeln erfüllt.
An der nächsten Wegbiegung traf sie der kalte Wind in heftigen Böen. Die aufgehende Sonne schien einen kurzzeitigen Sieg über den Nebel davonzutragen, aber die Mischung von Dunst und greller Morgenhelligkeit erschwerte die Sicht.
»Garthe«, rief Garavar, »reite voraus, sieh dich um und erstatte Meldung.«
»Ja, Vater«, sagte der Junge und schüttelte die Zügel.
»Warte«, hielt Karl ihn zurück. Garthe gehorchte. »Andy?« Karl stand in den Bügeln und wandte sich zu seiner Frau um.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht genau sagen. Er befindet sich in dieser Richtung«, sie streckte die Hand aus, »vielleicht eine Meile entfernt oder auch drei. Laß mich etwas versuchen.« Sie murmelte einige schroffe Silben. »Nein, er wartet gleich hinter der Biegung.«
»Fein. Mach dich unsichtbar und warte hier.«
Sie wußte, wann es keinen Sinn hatte, ihm zu widersprechen, deshalb schloß sie die Augen, ließ ihr Bewußtsein in die Luft hinausgreifen und sprach die harten, fremden, flüchtigen Worte, die man hörte und vergaß, die sich weder dem Sprecher noch dem Zuhörer für länger als einen Atemzug einprägten.
Lautlos verband sich der Raum zu einem festen Gewebe aus Nebel und Dunst und umhüllte Andy mit einem stillen Wirbelsturm, der sich rascher und rascher drehte, bis er sie und ihr geschecktes Pferd vollkommen verbarg und dann, plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt ...
... waren sie und das Pferd verschwunden.
»Andy?«
Ein vertrautes Kichern ertönte in der Luft. »Nein, Claude Rains«, sagte sie. »Frisch ans Werk, Held. Mir geht es gut.«
Karl drehte sich um und ließ sein Pferd in Trab fallen.
»Neben mir, nicht vor mir«, befahl er, »weil«, und jetzt erhob er die Stimme, »wir alle, nämlich ich, Karl Cullinane, Kaiser und Prinz, sowie mein gesamtes Gefolge, die Absicht haben, hinter dieser Wegbiegung auf den Gefängniskarren zu warten, der später am Vormittag hier vorbeikommt.« Er sprach noch lauter. »Und wir werden den Karren bis nach Tyrnael begleiten, falls nötig, um dafür zu sorgen, daß ihm kein Unglück wiederfährt. Wenn ihr versteht, was ich verdammt noch mal sagen will.«
Es raschelte im Wald. Garthe griff nach der Pistole, ließ aber bei seines Vaters heftigem Kopfschütteln die Hand wieder sinken.
»Wir warten hier«, sagte Karl. »Und da ich weiß, daß wir sieben ganz unter uns sind, brauchen wir uns auch keine Gedanken über irgendwelche Geräusche in den Wäldern zu machen - es sind nur Kaninchen oder so was.«
Hinter dem dichten Vorhang aus Nebel und Laub meldete sich eine Stimme. »Ich komme heraus, Karl.«
Einen Moment darauf stand Thomen Furnael vor ihm, gekleidet in ein zerlumptes Bauerngewand, aber ein Schwert um die Hüften gegürtet.
»Er ist nicht allein, Majestät«, bemerkte Gashier. »Ich kann wenigstens noch zwei andere hören.«
»Natürlich ist er allein«, widersprach Karl. »Der Baron befindet sich auf einem Vergnügungsritt, genau wie wir. Vorausgesetzt, da hinten wäre tatsächlich jemand, könnte das der alte Hivar sein?«
»Sehr gut«, sagte Thomen, die Hände vor der Brust gefaltet. »Woher wußtest du das?«
Karl schwang ein Bein über den Pferderücken, glitt zu Boden und bedeutete Garavar und seinen Söhnen, im Sattel zu bleiben. »Wem sonst würdest du trauen, Junge? Hivar ist schon bei deiner Familie, bevor ich deinen Vater zum erstenmal traf. Aber du irrst - dahinten ist niemand, er nicht und auch keine sonstigen verläßlichen Diener der Familie, denn du hast dich ganz allein auf einen kleinen Morgenritt begeben - und du wirst deinen kleinen Morgenritt jetzt abbrechen und deinen Hintern zurück nach Biemestren befördern. Kapiert?«
Es war genau die Art von Inszenierung, die Karl in dem Alter auch eingefallen wäre: sich als Straßenräuber zu verkleiden, Vernim befreien und ihn mit einem Tritt über die Grenze befördern. Einfach und elegant.
Das einzig Dumme war, daß es nicht klappen würde. Zu viele Leute hatten gesehen, wie betroffen Thomen reagierte, als Vernim ihn bei der Urteilsverkündung angriff; Vernim hatte bewiesen, daß er über ein loses Mundwerk verfügte - er würde reden.
Es konnte nicht funktionieren, verdammt.
»Es gibt noch eine Möglichkeit«, bemerkte Thomen, die Hand am Schwertknauf. »Wir können es austragen, du und ich, Euer Majestät.«
»Noch ein Schritt, Danagar, und du bist ein toter Mann«, warnte Karl, der aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen hatte. Er wandte sich wieder an Thomen. »Du glaubst, daß du es mit mir aufnehmen kannst? Ehrlich.«
Einiges Geschick im Umgang mit dem Schwert war die eine Gabe, die Thomen von seinem Vater gelernt hatte; brutale Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber die andere. »Nein. Ich bin vielleicht nicht einmal gut genug, um dich auch nur zu verwunden. Aber ...«
»Dann bist du der Meinung, daß wir alle besser dran sind, wenn ihr beide sterbt, du und Vernim? Wem nützt das, Thomen. Wem nützt das?« Er blickte dem jungen Mann unverwandt in die Augen und versetzte ihm einen jähen Tritt zwischen die Beine. Während Thomen sich nach Atem ringend zusammenkrümmte, packte Karl ihn an der Schulter und wirbelte ihn herum.
»Hivar, kein Grund zur Aufregung«, rief er und ließ den Jungen sanft zu Boden gleiten. »Er wird die nächste Zeit vorsichtig in den Sattel steigen müssen, aber sonst ist er in Ordnung.«
Erst nach geraumer Weile antwortete ihm eine Stimme unter den Bäumen hervor: »Ich hoffe, Ihr sprecht die Wahrheit.«
»Wenn ich es dir sage.« Karl winkte Garthe heran. »Nimm dich des Barons an. Binde ihn - wir werden ihn freilassen, sobald der Karren vorüber ist. Er kann mit uns nach Hause reiten. Ich bürge für seine Sicherheit, Hivar. Mein Wort darauf.«
»Sehr gut«, erwiderte die körperlose Stimme. »Und ich?«
»Du verschwindest von hier, alter Mann«, antwortete Karl. »Weil du niemals hier gewesen bist und das alles nie stattgefunden hat.«
Garavar nickte beifällig; Thomen rang sich trotz seiner Schmerzen die Frage ab: »Warum?«
»Du solltest mir nicht drohen, Thomen«, sagte er. »Das ist unhöflich.«
Weil, dachte Karl Cullinane, die Hinrichtung Vernims in meinen Verantwortungsbereich fällt. Du bist noch nicht soweit, noch nicht. Du warst bereit, dein Gewissen zu beruhigen, indem du mir Gelegenheit gabst, dich zu töten; ich möchte lieber ein weniger kostbares Linderungsmittel anwenden.
Das bin ich dir schuldig, Thomen - und deinem Vater und deinem Bruder.
»Weil ich der Kaiser bin«, sagte Karl Cullinane laut. »Und das solltest du dir besser merken, Junge.«