Kapitel zwölf
Wiedersehen
Alte Freunde sind die
besten.
John
Seiden
Walter Slowotski schenkte dem alten Soldaten ein herzliches Lächeln. »Du glaubst also, er war nur auf der Durchreise?«
Der alte Mann nickte. »Das hat er gesagt, gestern. Schien in Eile zu sein. Weshalb fragst du? Warst du dabei, als er von den eingebildeten Laffen in Heim abgewiesen wurde?«
Was immer die Bemerkung bedeuten sollte, es war bedeutungslos, und der alte Mann schien eine Zustimmung zu erwarten: Slowotski nickte und schnippte ihm die Kupfermünze zu, die er für eine Auskunft zu zahlen versprochen hatte. Eine größere Summe hätte unnötig Verdacht erregt.
»Reine Neugier.« Slowotski hob die Brauen. »Ich kannte ihn, als er noch jünger war und dachte, ich könnte ihm eine Arbeit anbieten.«
»Wenn ich ihn sehe, was soll ich ihm sagen? Welchen Namen?«
»Warrel«, nannte er einen geläufigen Erendra-Namen, der dem seinen am ähnlichsten klang und den er häufig als Decknamen benutzte. Warrel ip Therranj.
Während der alte Soldat seinem Kameraden einen wissenden Rippenstoß versetzte, ließ Walter sein Pferd in einen zockelnden Trab fallen. Vielleicht hatten die anderen mehr Glück. Oder weniger.
Zumindest hatte er etwas erfahren. Besser als nichts.
Wehnest sah noch genauso aus, wie in seiner Erinnerung: willkürlich ausgestreute Häuser und Straßen mit der ummauerten Burg als flüchtig hingekleckstem Mittelpunkt; das unbeholfene Gemälde eines unbegabten Künstlers, ausschließlich in Braun- und Grau tönen gehalten.
Doch es war Markttag, daher ging es in den Straßen und auf den Plätzen recht geschäftig zu, wenn auch nicht so lebhaft wie bei seinen früheren Besuchen. Vielleicht lag das daran, daß die wichtigste Handelsware - Futtergetreide - noch nicht reif war; er konnte nur einen oder zwei Einkäufer entdecken.
Dafür war der Pferdemarkt gut bestückt; wie es schien, stand ein Viehtrieb nach Pandathaway bevor.
Ob Jason sich darauf eingelassen hatte? Der Junge konnte doch nicht so dumm sein.
Eine Beobachtung entlockte Walter ein Lächeln, obwohl er sorgsam darauf achtete, dieses Lächeln nicht bis auf sein Gesicht dringen zu lassen: Die Sklavenpferche auf dem Marktplatz, in denen sich einst geknechtete Menschen drängten, waren leer. In Wehnest gab es immer noch Sklavenarbeit und Sklavenhandel, aber in weit geringerem Ausmaß als zuvor, und die Preise waren in den Himmel gestiegen.
Der übrige Handel schien nicht darunter zu leiden. Ein paar Schritte weiter drehte vor einem Laden ein Fleischverkäufer mehrere faustgroße Stücke Schaffleisch am Spieß über einem niedrigen Feuer. Es duftete köstlich.
Schon überredet, dachte Slowotski, stieg ab und hielt eine Kupfermünze aus Pandathaway hoch, während er mit drei Fingern auf drei der Portionen deutete.
Der Händler antwortete mit einem Finger; Slowotski machte Anstalten, die Münze wieder einzustecken, doch hielt er inne, als der Mann ihn mit zwei ausgestreckten Fingern versöhnte. Walter nickte und lächelte, schnippte die Münze in die Luft, zog in Windeseile sein Messer und hatte zwei tüchtige Portionen vom Spieß geschnitten, bevor der Händler das Geldstück auffangen konnte.
Als der gute Mann den Mund auftat, um zu protestieren, setzte Slowotski eine vornehm verärgerte Miene auf und reichte ihm eines der Stücke auf der Messerspitze zurück, wobei er sich ein leichtes Beben der Nasenflügel gestattete.
Der Händler überlegte einen Augenblick, beschloß, daß der Anlaß die Aufregung nicht wert sei und winkte Slowotski mit einem geschäftsmäßigen Lächeln weiter.
Gar nicht übel, dachte Slowotski, derweil er die erste Portion verschlang und sich anschließend, etwas langsamer, über die zweite hermachte.
»Recht geschickt, das muß ich sagen«, tönte über dem Lärm der Menge eine Stimme an seine Ohren. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du das von mir gelernt.«
Er drehte sich zu dem Stand auf der anderen Straßenseite herum, der das Zeichen der Heilenden Hand trug ...
... und die Stimme hatte seine Sprache gesprochen.
Doria. Er zog das Pferd hinter sich her über die Straße und band es an den Pfosten vor dem Marktstand.
Manchen Menschen kerben die Jahre ihre Botschaft ein; andere altern mit Haltung und Anmut. Doria war überhaupt nicht gealtert; beinahe zwei Jahrzehnte waren über sie hin weggezogen, ohne sie zu berühren. Unter den weißen Gewändern wirkte ihr Körper ungebeugt; als sie ihm die Hand auf die Schulter legte, enthüllte der zurückgleitende Stoff einen festen jungen Arm.
Einen viel zu kurzen Moment schwang er sie empor und schob sie dann ein Stück von sich.
»Gott, Doria, du siehst gut aus.«
Jede Spur von Kindlichkeit war längst aus ihrem Gesicht verschwunden, doch kein Netz feiner Linien überzog statt dessen ihre Haut, ihre Züge wirkten nicht erschlafft. Man hätte sie beinahe auf nicht mehr als zwanzig schätzen können, wären nicht die Augen gewesen.
Die Augen. Sie beunruhigten ihn. Es lag nicht nur an der gelben Iris; man hatte den Eindruck, daß ihnen nichts verborgen blieb.
Doria faßte seine Schulter mit erstaunlicher Kraft. »Es tut gut, dich zu sehen.« Sie führte ihn durch die Bude in die Kühle des kleinen, dunklen Raums dahinter.
Eine weitere Klerikerin der Hand hielt sich dort auf, eine scharfäugige, schmächtige Frau, die Walter auf Anhieb nicht leiden mochte. Sie drehte sich um und ging ohne ein Wort.
Doria winkte Walter auf einen Sitz. »Du schienst überrascht, mich zu sehen.«
Ihm fehlten die Worte. »Ich hätte nicht geglaubt, daß sie dich je hinauslassen würden. Oder ...«
Sie lächelte voller Zuneigung. »Oder was? Oder du wärst gekommen, um mich da herauszuholen?« Das Lächeln wurde breiter, als sie nach seiner Hand griff. »Selbst wenn ich mit dir gegangen wäre, was hätte deine Frau gesagt? Es ist gut so, Walter. Es ist mir gutgegangen. Ich habe Erfüllung gefunden.« Ihre Mundwinkel bogen sich nach oben. »Du auch, wie ich sehe«, sagte sie, und ihr Lächeln verlieh den Worten eine doppelte Bedeutung.
»Ja. Erst letzte Nacht.«
»Vorsichtig.« Sie drohte ihm mit dem Finger. »Du bist unbezähmbar, weißt du das.«
»Eine von vielen Facetten meines Charmes.«
Ihr Gesicht wurde ernst, sie neigte den Kopf zur Seite, als lauschte sie einer fernen Stimme. »Walter, die Zeit reicht nur für ein kurzes Gespräch; ein Viehzüchter hat mich als Heilerin für einen Treck nach Pandathaway angeworben.«
»Pandathaway?« Wahrscheinlich standen sie dort noch immer auf der Fahndungsliste.
Sie wehrte seine Besorgnis mit einer Handbewegung ab. »Ich gehöre der Hand, Walter. Mir droht keine Gefahr, obwohl ich bald aufbrechen muß ...« Ein plötzliches Erschrecken malte sich auf ihrem Gesicht, und sie legte die Fingerspitzen an seine Schläfe. Etwas wie elektrischer Strom schien von ihrer Berührung auszugehen.
»Karls Sohn!«
»Ja, ich ...«
»Pst.« Sie schloß die Augen für einen kurzen Moment und öffnete sie wieder. »So geht es schneller.«
Eine lange Minute verharrte sie schweigend, den Blick auf einen Punkt in weiter Ferne geheftet.
An diese neuen Fähigkeiten mußte man sich erst gewöhnen, befand Walter.
Dann beschloß er, sich den gegebenen Umständen gleich anzupassen.
»Kannst du etwas tun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Keiner von der Hand wird etwas unternehmen, Walter. Ich bezweifle, ob ich dazu in der Lage wäre, selbst wenn ich wollte. Es bedarf größerer Kräfte als der meinen, um die schützende Aura von Jasons Amulett zu durchdringen. Die Mutter könnte es, wenn sie wollte ...«
»Aber sie will nicht.«
»Kann nicht. Keiner der Hand vermag dir zu helfen. Glaub mir. Es liegt ein Geas auf uns allen.« Sie biß sich auf die Lippe und tupfte mit einem Fingernagel gegen ihre Nasenspitze - eine Geste, deren er sich noch von früher erinnerte. »Und nur, weil ich nicht ausschließlich Doria von der Heilenden Hand bin, kann ich mich überhaupt mit dieser Sache befassen ...«
»Doria, ich ...«
Sie hob die Hand. »Bitte, alter Freund. Ich kann nur wenig tun. Bitte. Ahira ist immer noch zu einem viel größeren Teil James Michael Finnegan, als ich Doria Perlstein bin.«
»Keine Hilfe? Keine Unterstützung?«
Sie leckte sich einmal, zweimal über die Lippen, dann schüttelte sie den Kopf. »Wenn ich mich von dem Geas befreien könnte, vielleicht. Aber dann hätte ich nichts mehr, höchstens noch die Zaubersprüche in meinem Kopf. Nein.« Sie erschauerte.
Wieder nahm er sie in die Arme und hielt sie fest. Diesmal ließ er sie nicht so schnell los.
»Ich habe dich vermißt«, flüsterte er. Bis jetzt hatte er nie erkannt, wie sehr er sie vermißte.
Vor langer Zeit hatten sie sich geliebt. Nein, so ernsthaft war ihre Beziehung nicht gewesen: Sie hatten Spaß miteinander gehabt, im Bett und außerhalb. Walter war mit Leib und Seele dabeigewesen. Doria auf die eingeschränkte Art, die sie sich gestattete.
Doch das lag weit zurück.
Als er sie jetzt in den Armen hielt, gab es Wärme zwischen ihnen, aber keine Leidenschaft.
Wärme genügte.
Doria legte die Arme um ihn und bettete den Kopf an seine Brust. »Es gibt nur eins, das ich tun kann ...«
»Ja?«
»Ich kann dir Glück wünschen.« Mit tränenfeuchtem Gesicht schaute sie zu ihm auf. »Es ist nicht viel ...«
Walter hatte Doria immer liebevoll behandelt; es gefiel ihm, daß sie unter der Maske, die sie der Welt zeigte, so zerbrechlich war, daß er gar nicht anders konnte, als gut zu ihr sein.
»Das ist sehr viel, Doria.« Er drückte die Lippen in ihr Haar. »Mehr als genug.«
Mit einem Kopfnicken schob sie ihn von sich. »Aber du mußt jetzt gehen. Wenn es dir noch vor dem Zusammentreffen mit Ellegon und Tennetty gelingt, den Jungen ausfindig zu machen, kann alles gut ausgehen. Wenn nicht ...«
Es war, als hätte sich ein Vorhang über Dorias Gesicht gesenkt, das ihn plötzlich bar jeden Ausdrucks anstarrte.
Nein, das stimmte nicht ganz: Erstens war es nicht mehr Dorias Gesicht, und zweitens trug es einen Ausdruck, der jedoch fremd und kalt wirkte. Die gemeißelten Wangenknochen, die schmalen Lippen, die alles sehenden Augen erinnerten nicht mehr an ein menschliches Wesen.
»Doria?« Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wehrte ihn mühelos ab.
»Walter Slowotski«, sprach sie mit einer Stimme, die er nie wieder zu hören gehofft hatte, »du mußt jetzt gehen. Hier gibt es nichts, was du für deinen Freund tun könntest.«
Es war die wispernde und doch mächtige Stimme der Matriarchin von der Heilenden Hand, die kaum gedämpft über Dorias Lippen kam.
»Du mußt jetzt gehen«, wiederholte sie.
»Aber ...«
»Jetzt.«
Für einen kurzen Moment schaute Doria aus der Maske ihres Gesichts. »Bitte, Walter, geh.«
Dann war sie verschwunden, als die Matriarchin wieder von ihr Besitz ergriff. »Geh. Oder muß ich dich zwingen?«
Ein Knurren wollte aus seiner Kehle dringen, aber er beherrschte sich. Er konnte nichts tun, als gehorchen.
»Ich gehe«, sagte er zu seiner Freundin gewandt und mißachtete geflissentlich die Matriarchin, die sich ihres Körpers bediente. »Doria, laß es dir gut gehen.« Er berührte mit den Fingern seine Lippen und legte sie dann auf ihren Mund. »Leb wohl«, verabschiedete er sich. »Bis wir uns wiedersehen. Und wir werden uns wiedersehen.«
Er machte kehrt und ging, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.
Bei Sonnenuntergang traf er die anderen in dem schmuddeligen Gasthaus, wo sie für die Nacht ein Zimmer genommen hatten. Auf dem Boden und an den Wänden flanierten Kakerlaken, und in den Wänden konnte er das Kratzen und Schaben von Ratten hören. Sie hätten sich eine bessere Unterkunft leisten können - ein Gasthaus, dessen Besitzer sich aufgrund der höheren Preise einen Kleriker der Spinnensekte leisten konnte, der das Ungeziefer mit einem Vernichtungsfluch ausrottete, doch übermäßiger Luxus hätte nicht zu ihrer Tarnung als Kaufleute gepaßt.
Er traf als letzter ein. Ahira lag mit halb geschlossenen Augen auf dem Bett, während Aeia und Bren Adahan sich über einen Stadtplan beugten, den sie in die Schmutzschicht auf dem Boden gekratzt hatten.
»Guten Tag zusammen«, grüßte Walter und freute sich, daß seine Stimme viel gelassener klang, als er sich fühlte. »Etwas herausgefunden?«
Aeia schüttelte den Kopf. »Nein. Und wir haben die ganze Stadt durchstöbert, soweit ich das beurteilen kann. Wie war es bei dir?«
Ahira mußte irgendein besonderer Ton in seiner Stimme aufgefallen sein - sie kannten sich einfach zu lange. »Was ist es? Jason?«
Walter schüttelte den Kopf. »Keine Spur. Aber ich habe Doria getroffen.«
Der Zwerg verstand es ausgezeichnet, seine Überraschung zu verbergen. »Wie geht es ihr?« fragte er, vielleicht ein bißchen zu beiläufig.
»Gut.« Walter zuckte die Schultern. »Sie scheint keine Probleme zu haben. Und ich glaube nicht, daß einer von uns hingehen sollte, um mit ihr zu sprechen - sie scheint beruflich gerade sehr in Anspruch genommen zu sein und ... wir werden später darüber reden.« Es gefiel ihm nicht, vor den jungen Leuten über Doria zu sprechen; das war eine Angelegenheit für die ursprüngliche Gruppe und vielleicht nicht einmal für alle Mitglieder.
Ahira nickte. »Einverstanden. Über ihn hast du nichts in Erfahrung bringen können?«
»Ich habe den Wachtposten gefunden, mit dem er auf dem Weg in die Stadt gesprochen hat. Nach dem, was er gesagt hat, bin ich fast sicher, daß Jason nicht mehr in der Stadt ist.« Slowotski holte tief Atem. »Ich schlage vor, daß wir morgen früh aufbrechen und unser Glück auf der Straße nach Aeryk versuchen. Wenn er den Weg eingeschlagen hat, erwischen wir ihn womöglich noch vor dem verabredeten Treffen mit Ellegon.«
»Ganz meiner Meinung«, sagte Bren Adahan, »denn wenn wir eine andere Straße nehmen, können wir die Verabredung nicht einhalten. Und ohne guten Grund halte ich das für unklug.«
»Aeia?«
»Ich weiß nicht.« Sie hob die Achseln. Trotz allem erfreute sich Walter an dem Widerhall, den diese Bewegung unter ihrer Bluse fand. Nicht, daß er in dieser Nacht etwas vorhatte. Von Adahan einmal ganz abgesehen, förderte ein von Kakerlaken verseuchtes Zimmer nicht unbedingt seine Neigung zur Romantik.
»Was Walter und Bren sagen, klingt vernünftig, aber ...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß einfach nicht.«
Slowotski wandte sich an Ahira. »Du bist an der Reihe.«
»Laß mich deine Vermutung hören.«
Die Straße nach Aeryk war der meistbenutzte Handelsweg, aber es gab Dutzende anderer, kleinerer Straßen, die Jason benutzt haben konnte. Hölle, er konnte unterwegs nach Norden sein, oder er hielt sich in Wehnest versteckt, oder befand sich auf dem Weg durch die Wüste zum Tabernakel der Hand.
»Noch einen Tag in Wehnest bleiben und herumfragen wäre auch nicht schlecht.« Er wiegte den Kopf. »Vielleicht treiben wir jemand auf, der mit ihm gesprochen hat.«
Bren Adahan schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch keinen Sinn ...«
»Ruhe«, unterbrach ihn Slowotski, »du bist nicht gefragt.«
Sie konnten nicht alle Möglichkeiten überprüfen. Der Wunsch Ahiras, mit Doria zu sprechen, stand ihm förmlich in dicken Lettern auf der Stirn geschrieben, eigentlich war anzunehmen, daß er sich entschloß, noch einen Tag in Wehnest zu bleiben, nur einen Tag, und dann zu versuchen, die verlorene Zeit auf dem Weg zu dem Treffen mit Ellegon wieder hereinzuholen.
Doch Ahira schob die Unterlippe vor. »Wir brechen gleich morgen früh nach Aeryk auf. Und jetzt wird geschlafen. Ohne Ausnahme.« Seinem alten Freund warf er einen wissenden Blick zu, als wollte er sagen: Du kennst mich auch nicht so gut wie du glaubst.
Die beiden anderen begriffen wahrscheinlich nicht worum es ging, als Walter erwiderte: »O doch, Jimmy, o doch.«