Es ist noch Zeit bis zum Abendessen, also fahre ich ans Meer, setze mich dort auf einen Felsen und genieße den Blick auf das makellose Blau.
Es dauert keine zwei Minuten, da geht mein Handy. Lisa hat mit Gordon darüber gesprochen, wie man die Geschichte mit Fred und den Rottweilern aus der Welt schaffen könnte. Leider ist Gordon nicht sehr entgegenkommend. Prinzipiell ist er bereit, sich außergerichtlich zu einigen, allerdings nur gegen Zahlung eines hohen fünfstelligen Betrages.
«Was heißt das?», frage ich und ahne, dass mein meditativer Moment am Meer gleich ein jähes Ende finden wird.
«Er will fünfundzwanzigtausend Dollar», erwidert Lisa. «Und zwar …»
«Fünfundzwanzigtausend?», motze ich. «Für zwei Scheißrottweiler?»
«Wenn du mich ausreden lassen würdest, könnte ich es dir erklären», sagt Lisa ruhig, aber hörbar gereizt. «Er will fünfundzwanzigtausend pro Hund. Also fünfzigtausend für beide. Weil es nämlich Bühnenhunde sind.»
«Bühnenhunde für fünfzigtausend Dollar? Wer sind die beiden? Simon und Garfunkel?»
«Reg dich nicht so auf», sagt Lisa. «Die Hunde sind Teil der Bühnenshow von Gordons Rockgruppe. Sie haben eine |69|spezielle Ausbildung. Und die war ziemlich teuer. Gordon sagt, er kann die Hunde nicht mehr einsetzen. Sie sind total verstört, Fred hat sie traumatisiert. Deshalb muss die Band neue Bühnenhunde besorgen.»
Ich blicke aufs Meer und atme tief durch. «Und was mach ich jetzt?»
«Du kannst gern nochmal selbst mit ihm reden. Aber, wie gesagt, wenn er dich in den Staaten vor Gericht bringt, kann es noch teurer werden.»
«Sag ihm, ich bin in ein paar Tagen wieder da. Dann reden wir.»
«Hab ich schon. Er glaubt, dass du auf Zeit spielen willst. Deshalb sollst du ihm eine Schuldanerkenntnis faxen. Sonst reicht er Klage ein.»
Ich überlege. «Und da gibt’s keine andere Möglichkeit?», frage ich dann.
«Wie gesagt, wenn er dich in den Staaten verklagt …»
«Schon gut», unterbreche ich. «Kannst du das für mich erledigen? Ich wollte dich sowieso bitten, mich in der Sache juristisch zu vertreten.»
«Das mit dem Fax kann ich machen», erwidert Lisa. «Ob ich dich vertreten will, weiß ich aber noch nicht. Tommi ist, wie gesagt, ziemlich sauer auf dich. Ich bin sicher, er findet es nicht so toll, wenn ich dir gegen Gordon helfe.» Sie räuspert sich. «Außerdem gibt es da nicht viel Spielraum. Du wirst zahlen müssen, die Frage ist nur, wie viel.»
«Ja, das sehen wir dann», sage ich etwas unwirsch. Ich bin nicht eben begeistert davon, dass Gordon mir meine Ersparnisse abknöpfen wird. Mehr noch ärgert mich aber, dass Tommi sich auf die Seite seines Geschäftspartners schlägt und dabei offenbar auch Lisa in Sippenhaft nimmt. Noch vor ein paar Monaten hat Tommi mir gesagt, |70|wie glücklich er darüber ist, mich in der Familie zu haben. Daran muss ich ihn bei Gelegenheit mal erinnern.
Meine Laune ist im Keller. Ich beende das Gespräch und will aufbrechen, merke aber, dass ich mich nicht vom Anblick des Meeres und des Himmels losreißen kann. Ich setze mich also wieder, blicke in die Ferne und atme den Duft dieses Spätsommertages ein.
Alles halb so schlimm, denke ich nach einer Weile. Gordon kann das Geld haben. Ich brauche es eigentlich nicht. Obwohl ich in einer großen Wohnung lebe, guten Wein trinke, oft auswärts esse und mir auch sonst nichts versagen muss, reicht mein Gehalt sogar, um ein paar Rücklagen zu bilden. Ich schiebe jeden Monat eine mal etwas größere, mal etwas kleinere Summe auf ein Sparkonto, ohne zu wissen, wofür. Ich habe keine Frau, die ich mit Schmuck behängen kann, keine Kinder, denen ich Hobbys oder eine Ausbildung finanzieren kann, und ich selbst habe keine Wünsche, die so kostspielig wären, dass ich sie mir nicht erfüllen könnte. Was also soll ich mit dem Geld? Dann bin ich doch lieber einer der wenigen Menschen auf der Welt, die in die berufliche Entwicklung zweier Rottweiler investieren. Es gibt größeren Schwachsinn.
Zum Abendessen erscheine ich diesmal im Anzug, im Gegensatz zu den anderen Herren allerdings ohne Krawatte und mit offenem Hemd. Damit genüge ich halbwegs der Kleiderordnung, trage aber den sommerlichen Temperaturen Rechnung. Trotzdem wird mir schon nach ein paar Minuten derart warm, dass ich mein Sakko ausziehen muss. Wie Timothy, Karl und Konstantin in ihren Maßanzügen überleben können, ist mir schleierhaft. Vielleicht tragen die drei statt Unterwäsche eine Art Drainage.
|71|Der kleine Alphons ist heute nicht dabei. Er hat am Nachmittag Hennings Bio-Honig gefunden und das Glas leergelöffelt. Jetzt liegt Alphons mit heftigem Bauchweh im Bett. Mir kommt das nicht ungelegen, denn ich habe nur diesen einen Anzug dabei, und es wäre mir lieb, wenn Alphons ihn erst am letzten Tag meines Aufenthaltes versehentlich bekleckern, zerreißen oder anzünden könnte.
Wir plaudern über Gott und die Welt. Melissa lässt kaum eine Gelegenheit aus, sich als charmante, witzige und intelligente Gesprächspartnerin in Szene zu setzen. Iris wirkt an der Seite von Timothy merkwürdig still. Ihr Mann beteiligt sich immer dann gern am Gespräch, wenn er eine Anekdote zum Besten geben kann, die seinen Status und seine finanzielle Potenz unterstreicht. Gerade erzählt er, dass er vor ein paar Jahren zwei Rennpferde gekauft hat. Eines hat sich beim «Ladies’ day» in Ascot leider die Knochen gebrochen, weshalb Timothy das andere noch am selben Tag an einen Araber verkauft hat, um den wirtschaftlichen Schaden in Grenzen zu halten. Als Timothy dies einer Dame aus dem englischen Königshaus erzählte, sagte die: «Mr. Huntington, Sie wissen doch, nur wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd. Das kann ja auf einen Immobilienhändler unmöglich zutreffen.»
Allgemeine Heiterkeit am Tisch, nur Iris’ Lächeln wirkt bemüht. Vermutlich kennt sie die Geschichte bereits, denke ich, derweil Timothy das Wort an mich richtet: «Mögen Sie eigentlich Pferderennen, Paul?»
«Ja, durchaus», antworte ich. «Aber mein Vermieter hat mir verboten, Rennpferde in der Wohnung zu halten, deshalb habe ich mir einen Hund zugelegt.» Ich bemerke, dass Iris leicht amüsiert in meine Richtung schaut.
«Interessant. Was für eine Rasse?», fragt Elisabeth.
|72|«Ein Mischling. Überhaupt nicht vergleichbar mit Ihrem reinrassigen Saluki», erwidere ich freundlich.
Meiner ist nämlich ein Hund und kein potthässlicher Pinsel mit Silberblick.
«Ach, Sie kennen sich aus?», sagt Elisabeth und scheint erstmals seit meiner Ankunft an einem Gespräch interessiert zu sein.
«Ein bisschen.»
Elisabeth legt das Besteck beiseite. «Es freut mich, dass Sie die Qualitäten meines Hundes erkennen, Herr Dr. Schuberth. Sie müssen wissen, ich bin sehr stolz auf Maja von Aschaffenburg …»
Sogar der Köter ist ein Aristokrat. Das war zu erwarten.
«… sie hat sämtliche Preise gewonnen. Wir können uns gar nicht retten vor Angeboten von Züchtern, aber ich möchte in dieser Hinsicht nichts überstürzen.»
Sie blickt zu ihrem Hund, der auf einem Flokati in der Ecke liegt. Hund und Teppich sind farblich fast identisch, weshalb man schlecht erkennen kann, wo der Saluki aufhört und der Flokati anfängt.
Auch die Köpfe der anderen Anwesenden drehen sich nun in Richtung der hochdekorierten Schönheit. Maja von Aschaffenburg öffnet die Augen, hebt ihren Kopf und blickt interessiert in die Runde, wobei ihre Pinselohren umherflattern. Dann erhebt sie sich, streckt sich ein wenig und beginnt zu posieren, als würden gleich ein paar Wettkampfrichter hereinkommen.
«Sie ist ein Showtalent», sagt Elisabeth nicht ohne Stolz.
Mich erinnert sie an eine Bordsteinschwalbe, die auf Kundschaft wartet, denke ich, erwidere aber mit einem wohlwollenden Lächeln: «Ja, das sieht man.»
|73|Elisabeth wendet sich wieder ihrem Essen zu, wie auf Kommando tun das auch die übrigen von Beutens.
«Wie schmecken Ihnen eigentlich die Gambas, Herr Dr. Schuberth?»
«Ausgezeichnet, vielen Dank, Frau von Beuten.»
«Dann greifen Sie zu», bittet Elisabeth. «Es ist genug da.»
«Das mache ich gern», erwidere ich. Während ich mir aus Höflichkeit noch zwei Garnelen auftue, spüre ich, dass sich die Atmosphäre merklich entkrampft hat. Niemandem am Tisch ist verborgen geblieben, dass Elisabeth mir soeben die Gnade erwiesen hat, mit mir zu sprechen. Eine freundliche Bemerkung über den prämierten Puderquast Maja von Aschaffenburg hat gereicht, um das Eis zu brechen. Würde ich nun noch die personellen Wünsche Elisabeths umsetzen und zudem die Handtuchspender im Verlag mit dem Hinweis «Sei sparsam» versehen, wäre mir der Job als Vorstandschef wohl sicher. Ich könnte ab jetzt ein paar entspannte Tage auf Mallorca verbringen und dabei meine gerade erfolgte Aufnahme in die bessere Gesellschaft genießen. Leider werde ich der besseren Gesellschaft nicht sehr lange angehören. Noch wissen die Anwesenden nichts von meiner eigenmächtigen Entscheidung, Schamski auf die Insel zu holen. Sobald das rauskommt, werde ich sicher wieder in Ungnade fallen, und zwar schneller, als Karl einen Horse’s Neck kippen kann.
Beim Dessert ist es so weit. Konstantin hat offensichtlich etwas auf dem Herzen, denn er kann sich nicht auf seine Wildfeigen in Portwein konzentrieren. Irgendwann schiebt er den Teller beiseite und gibt sich einen Ruck. «Wenn Sie nichts dagegen haben, Dr. Schuberth, würde ich Sie gleich noch auf einen kurzen Drink in die Bibliothek bitten.» Er bemüht sich, unverfänglich zu klingen. «Sie hatten ja inzwischen |74|Gelegenheit, über die Personalfrage von heute Morgen nachzudenken, oder?»
«Sie meinen die Personalfrage Schamski», erwidere ich leichthin.
Er nickt. «Genau, aber lassen Sie uns das gleich besprechen.»
Ich nicke nun ebenfalls. «Es hat sich nichts an meiner Einstellung geändert. Ich favorisiere Herrn Schamski nach wie vor», sage ich in einem ebenso verbindlichen wie ruhigen Ton.
Wieder entsteht diese merkwürdige Stille am Tisch. Elisabeth isst ungerührt weiter und lässt sich nicht anmerken, dass sie meine Haltung ähnlich indiskutabel findet wie die Abschaffung des Manchesterkapitalismus.
«Wie gesagt, wir sollten das später besprechen», wirft Konstantin rasch ein. Er ist bemüht, Elisabeth auf keinen Fall den Abend zu verderben.
Dann muss ich das eben machen.
«Ich habe mir die Freiheit genommen, Herrn Schamski zur morgigen Sitzung einzuladen», sage ich. Fast im gleichen Moment hört man das schrille Geräusch einer Messerklinge, die über Porzellan kratzt. Elisabeth ist beim Zerteilen einer Feige abgerutscht. Scheint so, als hätte sie gerade die Contenance verloren. Das ist doch mal was.
«Ich finde, Sie sollten sich selbst ein Bild von Herrn Schamski machen, bevor wir eine Entscheidung treffen», sage ich. Die Patriarchin legt ihr Besteck beiseite und sieht mich an. Ihr Blick ist jetzt wieder so erfrischend frostig wie ein Eisberg im Nordpolarmeer, was ich geflissentlich ignoriere. Sie erhebt sich. Ich und die anderen Herren am Tisch tun das ebenfalls.
«Ich ziehe mich jetzt zurück», sagt Elisabeth, nickt kurz |75|in die Runde, dreht sich um und geht. Konstantin hat kaum Gelegenheit, mir einen verächtlichen Blick zuzuwerfen, er ist vollauf damit beschäftigt, seine aufgebrachte Mutter hinauszubegleiten.
Kaum hat sie die Terrasse verlassen, setze ich mich wieder. So langsam gefallen mir die Abende im Hause von Beuten. Ich bin so frei und nehme mir noch vom Dessert. Für eine kurze Weile ist nur das Klappern des Löffels zu hören, mit dem ich Feigen auf meinen Teller befördere.
«Einen Brandy dazu?», fragt der alte von Beuten, und ich glaube, ein kaum wahrnehmbares Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen.
Als ich wieder auf meinem Zimmer bin, ist es noch früh. Ich habe weder Lust zu arbeiten noch Lust zu lesen. Vielleicht sollte ich mal eines der Millionen Fernsehprogramme ausprobieren, die die hauseigene Satellitenstation empfangen kann. Ich greife zur Fernbedienung, als es klopft.
Konstantin ist sichtlich verärgert, bemüht sich aber, das zu überspielen. «Ich muss Sie dringend bitten, künftig solche Entscheidungen mit mir abzusprechen», fällt er mit der Tür ins Haus. Seine Stimme zittert ein wenig.
«Ich wollte nach dem Essen mit Ihnen über alles reden», erwidere ich lammfromm. «Aber da Sie schon das Gespräch darauf gebracht haben …»
«Wie dem auch sei», unterbricht er unwirsch. «Wann soll Uschi Herrn Schamski denn vom Flughafen abholen?» Er zieht sein kalbsledernes Filofax hervor und fingert nervös nach dem goldenen Füllfederhalter.
«Herr Schamski hat gesagt, er organisiert das selbst.»
Indigniert klappt Konstantin sein Filofax zu. «Wie Sie meinen, Dr. Schuberth. Wobei Taxis und Mietwagen rausgeschmissenes |76|Geld sind, wenn Sie mich fragen. Einen schönen Abend noch.» Er schließt die Tür.
«Wünsche ich Ihnen auch, Herr von Beuten.» Korinthenkacker.
Ich schalte den Fernseher ein und beginne zu zappen. Die Auswahl ist beeindruckend. Ich halte den Umschaltknopf gedrückt und jage nun im Halbsekundentakt durch Shows, Nachrichtensendungen, Dokumentationen, Spielfilme, Magazine und Werbeblöcke. Sprach- und Musikfetzen untermalen den Bilderrausch. Die Welt in einem bunten, zappelnden, lärmenden Schnelldurchlauf.
Ich halte erstaunt inne. Was war das? Langsam schalte ich ein paar Sender zurück auf der Suche nach einem Bild, das ich gerade gesehen habe, oder vielmehr: geglaubt habe, zu sehen.
Wieder klopft es.
«Herein», sage ich, während ich ungläubig auf den Bildschirm starre, weil ich nun gefunden habe, was ich suche. Es ist eine chinesische Sendung.
Die Badezimmertür öffnet sich, und Audrey erscheint. Sie sieht, dass ich gebannt zum Fernseher blicke. «Du sprichst Chinesisch?»
«Nein», sage ich.
Sie überlegt kurz. «Aber du willst es lernen.»
Ich schüttele den Kopf.
«Aha! Dann zeigst du also gerade typisch männliches Fernsehverhalten. Du siehst dir etwas an, was du nicht verstehst. Das macht dir aber nichts aus, weil die Sendung dich sowieso nicht interessiert. Richtig?»
«Falsch. Ich hab das per Zufall gefunden», erkläre ich und zeige auf den Bildschirm. «Der da ist ein Freund von mir. Er heißt Bronko.»
|77|Audrey blickt genauer hin und sieht den langhaarigen, schielenden Bronko, der von vier Herren in schwarzen Anzügen eskortiert wird.
«Er sieht nett aus», stellt sie fest. «Was macht er da?»
«Keine Ahnung. Er scheint in Schwierigkeiten zu stecken.» Ich starre weiterhin auf den Bildschirm. «Wird er da gerade abgeführt? Ist das ein Gerichtssaal oder ein Gefängnis oder was?»
Audrey mustert das Gebäude, das Bronko und die dunklen Herren durchschreiten. «Ich kann nur einen Gang erkennen. Könnte alles Mögliche sein.»
Jetzt sind Bronko und seine Begleiter an einer Tür angelangt. Die Stimme des Kommentators klingt aufgeregt. Die Tür wird geöffnet, und im gleichen Moment sieht man Hunderte Asiaten, die Bronko zujubeln. Der tritt nun durch die Tür und hebt die Arme, woraufhin der Jubel frenetisch wird.
«Ist er vielleicht ’n Rockstar?», mutmaßt Audrey.
Ich schüttle erstaunt den Kopf. «Eigentlich ist er Künstler. Aber er hat bislang kaum Bilder verkauft, soweit ich weiß.»
Wie zur Bestätigung vollführt die Kamera nun einen rasanten Flug über den Platz, den Bronko gerade betreten hat, und zeigt dabei großformatige Gemälde, die die umliegenden Fassaden schmücken und von riesigen Scheinwerfern in gleißendes Licht getaucht werden.
«Sieht so aus, als ob er in China etwas mehr Erfolg hat», stellt Audrey nüchtern fest, während Bronko unter lauten Fanfarenklängen eine Bühne besteigt, auf der eine paar festlich gekleidete Damen und Herren auf ihn warten, offenbar um ihm irgendeinen Preis zu überreichen. Bronko verbeugt sich vor seinen applaudierenden und johlenden Fans.
|78|Im nächsten Moment endet der Bericht, und das Bild eines Sprechers, der wahrscheinlich den nächsten Beitrag anmoderiert, erscheint. Ich bin immer noch perplex und schalte den Fernseher ab.
«Wusstest du das nicht?», fragt Audrey.
«Ich wusste, dass Bronko in China ist, aber dass er da eine Blitzkarriere hingelegt hat, davon hatte ich keine Ahnung.»
«Ich denke, er ist dein Freund.»
«Ist er auch, aber wir kennen uns noch nicht so lange. Er hat eine Weile bei mir gewohnt und ist dann vor ein paar Monaten nach Shanghai gegangen. Außer einer Postkarte habe ich seitdem kein Lebenszeichen von ihm erhalten.»
«Warum hast du ihn nicht einfach mal angerufen?»
«Er hat kein Handy. Und ich weiß nicht, wie ich ihn sonst erreichen kann.» Während ich das sage, merke ich, dass ich es bedauere, so lange nicht mit Bronko gesprochen zu haben.
«Er hat sicher im Moment eine Menge zu tun. Er wird sich schon melden», versucht Audrey mich aufzumuntern.
Ich nicke. Ist kaum ein halbes Jahr her, dass Bronko mich durch die Gegend chauffiert hat, weil ich meinen Führerschein versoffen hatte und er Geld brauchte. Wir saßen mit Schamski und Günther in meiner Küche, tranken Wein und versuchten herauszufinden, was das Leben mit uns noch vorhaben könnte. Ein paar Monate, die mir gerade wie eine Ewigkeit erscheinen.
Audrey bemerkt, dass ich meinen Gedanken nachhänge. «Soll ich vielleicht später nochmal …?»
«Nein», sage ich. «Ist schon gut, ich wollte sowieso noch mit dir reden.»
|79|«Klar. Gerne. Worüber denn?»
«Über uns.» Ich überlege, wie ich Audrey am besten beibringen kann, dass ich unsere kurze Affäre nicht weiterführen möchte, finde solche strategischen Erwägungen aber im selben Moment überflüssig. Wenn man mit jemandem offen über Sex reden kann, dann mit Audrey.
«Wir sollten nicht wiederholen, was heute unter der Dusche passiert ist.»
Sie stutzt. «Denkst du, ich bin gekommen, weil ich Sex von dir will?», fragt sie leicht amüsiert.
So ganz abwegig ist der Gedanke nicht, denn Audrey trägt einen dünnen Morgenmantel, der vermuten lässt, dass sie darunter nackt ist. Ich zucke mit den Schultern.
«Ich bin nicht hier, um mit dir zu schlafen», sagt sie und wirkt nun wieder ernst. «Außerdem fand ich das mit uns beiden in der Dusche auch nicht so toll.»
Derweil meine Gesichtszüge entgleiten, obwohl ich mich bemühe, den Nackenschlag möglichst gefasst wegzustecken, lacht Audrey laut auf. «Paul! Entspann dich! Wir hatten einen Quickie unter der Dusche. Und es war sehr nett. Aber ich bin nicht davon ausgegangen, dass du mir deshalb gleich einen Heiratsantrag machst.»
Kein Wunder, dass dieses Luder die Männer scharenweise in den Wahnsinn treibt.
Sie setzt sich neben mich auf die Bettkante. «Es ist wegen Iris, oder?»
Ich sehe sie leicht erschrocken an und versuche im gleichen Moment, mein Erschrecken zu überspielen. «Nein, wieso?» Ich bemühe mich, beiläufig und leicht erstaunt zu klingen, dabei weiß ich längst, dass Audrey mich gerade ertappt hat.
|80|Und sie weiß es auch, denn betont locker erwidert sie: «Gut, dann kann ich es Iris ja sagen.»
«Was willst du ihr sagen?»
«Na, dass wir Sex hatten.»
Und damit sitze ich in der Falle.
«Wieso musst du ihr das denn überhaupt sagen?», frage ich unbehaglich.
«Wieso nicht? Sie ist meine Schwester. Und sie hat mich gefragt. Bevor ich ihr antworten konnte, kam Daddy aber dazu.»
«Sie hat gefragt? Einfach so? Ohne Grund?», will ich wissen.
«Nicht ganz ohne Grund. Ich hab ihr gesagt, dass ich dich nett finde.»
«Und deshalb denkt sie gleich, du hättest mit mir geschlafen?»
«Findest du das so abwegig?»
Na ja. Ja und nein.
«Nein», sage ich dann.
«Na also», sagt Audrey. «Soll ich ihr nun die Wahrheit sagen oder nicht?»
Sie sieht mich an und wartet. Ich überlege. Es behagt mir nicht, Iris zu belügen. Andererseits hat sie sich für Timothy entschieden. Insofern bin ich ihr keine Rechenschaft darüber schuldig, was ich tue oder lasse. Das ist aber auch nicht ganz richtig, weil im speziellen Fall Audrey eine wesentliche Rolle spielt. Vielleicht sollte sie entscheiden, ob Iris die Wahrheit erfährt oder nicht. Jedenfalls ist das hier offenbar einer dieser Augenblicke, in denen man Farbe bekennen sollte.
«Iris und ich hatten eine sehr kurze Affäre, unmittelbar vor ihrer Hochzeit», beginne ich.
|81|«Wow. Hätte ich ihr gar nicht zugetraut.»
«Sie hat sich für Timothy entschieden und ihn geheiratet. Das ist im Prinzip schon die ganze Geschichte.»
Audrey sieht mich an. «Im Prinzip», wiederholt sie und schaut mir tief in die Augen. «Das heißt, du liebst sie immer noch.»
«Ich weiß es nicht», sage ich. «Ja, wahrscheinlich schon. Aber das ist jetzt sowieso egal. Sie hat Timothy geheiratet, und damit basta.»
«Weiß sie denn, dass sie die Frau deines Lebens ist?»
«Ich wollte es ihr sagen, aber ich bin zu spät gekommen. Die Trauung war schon vorbei.»
«Sie weiß es also nicht.»
«Nein. Ich sag doch. Ich war zu spät. Wir haben uns zuletzt kurz nach ihrem Hochzeitstanz gesehen. Das ist nicht gerade der ideale Zeitpunkt, um einer Frau eine Liebeserklärung zu machen.»
Audrey seufzt.
«Was?», frage ich unwirsch.
«Männer sind komisch», sagt Audrey. «Erst wissen sie eine Ewigkeit lang nicht, was sie wollen. Und wenn sie es dann endlich wissen, lassen sie sich von der kleinsten Kleinigkeit entmutigen.»
«Eine Hochzeit würde ich nicht als Kleinigkeit bezeichnen», werfe ich ein.
«Eine Ehe heißt noch nicht viel» erwidert Audrey. «Das kann dir jede Sekretärin, die sich ihren ehemals glücklich verheirateten Chef geangelt hat, bestätigen.»
Okay, da ist was dran.
«Wenn man sich von irgendwelchen Umständen abschrecken lässt, dann ist das nur Feigheit», fährt Audrey fort. «Das weiß ich aus Erfahrung.»
|82|Ich merke auf. Sieht so aus, als sei ihr der letzte Satz rausgerutscht, denn sie beißt sich auf die Unterlippe.
«Soso, aus Erfahrung», sage ich und warte. Wenn Audrey mir schon intime Geständnisse entlockt, dann kann sie auch selbst mal aus dem Nähkästchen plaudern. Also sehe ich sie weiterhin erwartungsvoll an.
«Okay», sagt Audrey. «Ich liebe einen verheirateten Mann.»
«Sieh an!», sage ich, und meine Laune bessert sich.
«Er heißt Shawn, kommt aus Irland und lebt in New York. Er arbeitet als Kriegsfotograf, und wenn die Chance besteht, dass wir uns irgendwo auf der Welt sehen können, dann tun wir es.»
«Schöne Geschichte», sage ich. «Und? Liebt er dich?»
«Ja. Ich glaube, er liebt mich sogar sehr. Trotzdem schafft er es nicht, seine Frau zu verlassen.»
«Das heißt also, ihr lebt nicht zusammen. Wo ist dann der Unterschied zu Iris und mir?»
Audrey sieht mich an, als würde ich gerade auf der Leitung stehen. «Shawn weiß, dass ich ihn liebe. Und er weiß auch, dass ich nicht ewig auf ihn warten werde. Also muss er sich irgendwann entscheiden. Oder er muss damit alt werden, dass ihm vielleicht die Liebe seines Lebens durch die Lappen gegangen ist.»
Kein schlechter Ansatz. Wenn ich weiter nur für Iris schwärme, ohne ihr zu sagen, was ich für sie fühle, werde ich nie erfahren, ob aus uns ein Paar werden könnte, allen widrigen Umständen zum Trotz. Audrey liegt auch richtig damit, dass ich mich Iris aus Feigheit nicht offenbare. Ich habe einfach Angst, sie könnte mir sagen, dass sie mit Timothy glücklich ist und die Ehe mit ihm nie in Zweifel gezogen hat.
|83|Audrey errät meine Gedanken. «Wenn sie dich nicht will, ändert sich kaum was. Weniger als jetzt könnt ihr danach auch nicht zusammen sein.»
Ich sehe Audrey an und muss grinsen. Hätte ich nicht gedacht, dass mir heute Abend eine Vierundzwanzigjährige mal eben die Welt erklärt.
Sie sieht, dass ich belustigt bin. «Was?»
«Danke», sage ich aufrichtig.