Melissa hat mich durch den verführerisch duftenden Garten des Anwesens zum Privatstrand geleitet, vorbei am hauseigenen Tennisplatz und einem etwas abseits liegenden Gartenhaus, das Uschi und ihr Mann Josef bewohnen. Die malerische Bucht ist zu beiden Seiten von Felsen eingerahmt. An einem Steg dümpelt ein Schlauchboot, bereit, Gäste zur familieneigenen Motoryacht überzusetzen. Sie liegt ein paar hundert Meter weiter vor Anker und trägt den Namen Bertolt Brecht. Ich halte es für eine hübsche Idee, Luxusgütern Namen berühmter Kommunisten zu geben. Derweil meine Gedanken um einen neuen Mercedes-Geländewagen in einer Leo-Trotzki-Edition kreisen, erzählt mir Melissa, dass Karl ein großer Bewunderer Bertolt Brechts ist. Um ein Haar hätten die beiden sogar mal zusammengearbeitet, sie erspare mir aber die Details, denn der alte von Beuten werde mir die Geschichte sicher bei nächstbester Gelegenheit selbst erzählen. Ich habe ihr nur mit halbem Ohr zugehört, weil ich meinen Leo-Trotzki-Mercedes im Geiste gerade serienmäßig mit leninroten Ledersitzen und einem Brüder-zur-Sonne-Schiebedach ausstatte.
«Ich habe in Ihrem Dossier gelesen, Sie sind unverheiratet, Mr. Schuberth», sagt Melissa, derweil wir die Treppen zum Haupthaus hinaufsteigen, um unsere Besichtigung dort fortzusetzen.
|24|«Geschieden», antworte ich.
«Oh. Das tut mir leid», erwidert Melissa.
«Das muss es nicht. Ist auch schon eine Weile her.»
Melissa nickt verständig. «Haben Sie Kinder?»
«Nicht direkt», sage ich. «Meine Exfrau hat ein Kind mit in die Ehe gebracht. Sophie ist meine Quasitochter geworden.»
Wieder nickt Melissa. «Wir sind ja auch eine Patchworkfamilie», erwidert sie, und für das Wort «Patchwork» verwendet sie derart exzellentes Oxford-Englisch, dass ich ihren Elite-Uni-Abschluss förmlich gerahmt vor mir sehe. «Konstantin hat zwei Töchter aus erster Ehe. Iris lebt in London. Seit ihrer Heirat vor ein paar Monaten.»
Ich weiß. Wir haben am Tag zuvor miteinander geschlafen, und ich habe es dann vermasselt, die Hochzeit zu sprengen. Letzteres hat Iris nie erfahren. Ich habe ihr gesagt, dass ich aufgrund einer Autopanne in jenem Dorf gelandet bin, wo die Feierlichkeiten stattfanden. Das stimmte sogar, gelogen war hingegen, dass ich zufällig dort war. In Wahrheit wollte ich Iris nämlich bitten, nicht vor den Traualtar zu treten, kam aber leider zu spät.
«Ich kenne ihren Mann aus London», fährt Melissa fort. «Timothy ist ein Gentleman mit einer blendenden Zukunft. Er hat einen tadellosen Ruf und verkehrt nur in den besten Kreisen.»
Bestimmt ein Upperclass-Bubi, dessen Sippe seit Jahrhunderten arme Bauern ausbeutet.
«Alter Adel?», frage ich Interesse heuchelnd.
«Nein», erwidert Melissa. «Timothy hat sein Geld mit Immobilien verdient. Sein Vater war ein einfacher Dachdecker.»
Na klar. Die meisten Hollywoodstars kommen ja auch |25|aus einfachen Verhältnissen, sind aber seltsamerweise dennoch mit irgendwelchen reichen oder mächtigen Leuten verschwistert oder verschwägert. Außerdem nennen Dachdecker ihre Söhne vielleicht Brendan oder Mike, aber niemals Timothy.
«Es würde mich aber nicht wundern», ergänzt Melissa, «wenn Timothy eines Tages von der Queen zum Ritter geschlagen würde. Er engagiert sich sozial sehr stark, und es gab schon mehrfach das Gerücht, er würde in die Politik gehen.»
Ich habe genug von Heldengeschichten über den künftigen Sir Timothy. Ich halte inne, schaue mich um, als würde ich die Aussicht genießen, und hoffe, dass Melissa unterdessen das Thema wechselt. Dabei fällt mein Blick auf Audrey, die ein Sonnenbad auf der großzügigen Poolterrasse nimmt. Melissa bemerkt es.
«Meine Nichte Audrey. Konstantins zweite Tochter aus erster Ehe. Ist sie Ihnen eigentlich schon vorgestellt worden?»
«Wir haben uns zufällig im Flugzeug kennengelernt.»
«Dann wissen Sie ja schon, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt.»
Ich nicke. So kann man es auch ausdrücken.
«Manchmal beneide ich Audrey.» Melissa klingt wehmütig. «Sie weiß, was sie will, und sie hat das ganze Leben noch vor sich.»
Ich stutze. «Haben wir das nicht auch?», frage ich. «Zumindest noch ein gutes Stück.»
Melissa sieht mich an. «Wir Frauen haben da eine etwas andere Zeitrechnung, wissen Sie?»
Ja, ich weiß. Ich kenne ein paar, deren biologische Uhr so laut tickt, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht.
|26|«Glauben Sie mir, Mr. Schuberth, es ist für eine erfolgreiche Frau nicht leicht, einen Partner zu finden. Manche Männer wollen nur Geld, manche stecken in ungeklärten Beziehungen fest, andere haben Probleme mit dem Job, mit Drogen oder mit ihrer Gesundheit. Und unter den wenigen, die dann übrig bleiben, muss man auch noch denjenigen finden, der eine Familie gründen will, und das nicht erst in fünf Jahren.»
Sie bemerkt, dass ich nun auch ernst geworden bin, und lächelt breit. «Machen Sie doch nicht so ein trauriges Gesicht, Mr. Schuberth. Ich bin erst siebenunddreißig. Mir bleibt also noch etwas Zeit. Keine Sorge.»
Keine Sorge? Ich bin offensichtlich gerade in ein Bewerbungsgespräch geraten. Natürlich mache ich mir da Sorgen.
«Ich bin sicher, Sie werden den richtigen Mann schon noch finden», sage ich und befürchte, dass das nicht sehr überzeugend klingt.
Melissa zeigt erneut ihr schneeweißes Lächeln. «Wer weiß, Mr. Schuberth? Vielleicht ist der Richtige mir ja bereits über den Weg gelaufen», sagt sie mit einem beunruhigenden Blitzen in den Augen.
Melissas Attacke wird von Uschis Mann Josef unterbrochen, der nun am Ende der Treppe erscheint. Er schleppt meine Koffer und möchte wissen, auf welches Zimmer er sie bringen soll.
«Wir kommen», ruft Melissa bester Laune und zieht mich sanft, aber bestimmt in Richtung Haupthaus.
Derweil Josef, den man Jupp nennen darf, meine Koffer in die obere Etage schleppt, zeigt Melissa mir das weitläufige Erdgeschoss. Den Eingangsbereich dominiert ein großformatiges Ölgemälde. Das Bild zeigt Elisabeth von Beuten |27|als stahlblaue Patriarchin und ist fast identisch mit dem Foto, das sich in meinem Dossier befindet. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Elisabeth in Öl noch grimmiger aussieht.
Im Erdgeschoss befinden sich eine Bibliothek, mehrere Arbeits- und Besprechungszimmer, ein Salon mit offenem Kamin und eine sich daran anschließende Terrasse mit einem phantastischen Blick auf die Bucht und das Meer. Hier werden wir offenbar heute Abend speisen, denn ein spanisches Hausmädchen ist gerade dabei, eine lange Tafel einzudecken.
Die hinter dem Salon liegende Küche bekomme ich nicht zu Gesicht.
«Die Wirtschaftsräume sind dem Personal vorbehalten», erklärt Melissa. «Wenn Sie irgendetwas brauchen, wenden Sie sich einfach an Uschi. Die kümmert sich um alles.» Melissa flirtet ein wenig. «Wenn Sie noch etwas wissen möchten, können Sie natürlich selbstverständlich auch mich fragen, Mr. Schuberth.»
Ich habe das Gefühl, Melissa würde mir gerne noch persönlich mein Zimmer zeigen, aber auf dem Weg in die obere Etage wird sie von ihrem Bruder Konstantin gerufen. Elisabeth hat ein Anliegen, und da Elisabeths Wünsche ganz offensichtlich höchste Priorität haben, bringt Melissa mich nur rasch bis vor die Tür meines Zimmers, um dann in jenen Flügel des Hauses zu eilen, in dem sich Elisabeths Privatgemächer befinden.
Mein Zimmer ist geräumig, die Einrichtung ein bisschen pompös, aber geschmackvoll, außerdem gibt es ein separates Bad. Das finde ich besonders angenehm, denn bei einem Gemeinschaftsbad würde Melissa mir wahrscheinlich regelmäßig den Rücken schrubben wollen.
|28|Jetzt, wo ich ein wenig Ruhe habe, möchte ich gern wissen, wie es meinem Hund geht. Fred ist während meines Besuches auf Mallorca bei meiner Exfrau und ihrem bescheuerten Lebensgefährten untergebracht.
«Gut, dass du anrufst.»
«Ist was passiert?», frage ich unbehaglich.
«Kann man so sagen», erwidert Lisa. «Tommy ist ziemlich sauer.»
«Auf mich?»
«Auch. Aber erst mal auf Fred. Ein befreundeter Musiker hat uns besucht und seine beiden Hunde mitgebracht …»
«Moment mal», unterbreche ich. «Ich hab euch gesagt: keine anderen Hunde. Keine Hunde, keine Katzen, keine Kinder. Mein Hund hasst alles und jeden auf der Welt. Das hab ich ausdrücklich gesagt.»
«Ich weiß», antwortet Lisa. «Wir haben nicht geahnt, dass Gordon seine Rottweiler mitbringt …»
«Rottweiler?», unterbreche ich erneut, und diesmal bin ich besorgt. Fred ist zwar ein Bullterrier-Jagdhund-Mix und insofern ziemlich robust, aber wenn er sich mit zwei Rottweilern angelegt hat, dann dürfte das selbst für ihn übel ausgegangen sein.
«Geht es ihm gut?», frage ich vorsichtig.
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
«Ist er etwa verletzt?»
«Nun ja», erwidert sie leicht gedehnt. «Die beiden haben ihm ein kleines Stück vom Ohr abgebissen.» Bevor ich etwas erwidern kann, setzt sie rasch nach: «Aber keine Sorge, der Arzt hat gesagt, das wird wieder. Wenn alles verheilt ist, sieht er fast so gut aus wie vorher.»
Ich atme hörbar aus. Wenn man sich einen verrückten Hund aus dem Tierheim holt, muss man auch damit leben, |29|dass er verrückte Sachen macht. Also sollte ich mich nicht zu sehr aufregen. Fred hat Scheiße gebaut, aber immerhin hat er es überlebt. Damit kann man bei ihm schon mehr als zufrieden sein.
«Und warum ist Tommy jetzt sauer?», will ich wissen.
«Gordon hatte vor, ihn als Studiomusiker für sein nächstes Album zu verpflichten. Aber das hat sich jetzt erledigt. Stattdessen will Gordon uns verklagen. Außerdem kommen da noch ein paar ziemlich hohe Rechnungen auf dich zu. Du bist doch versichert, oder?»
«Ja klar», sage ich wie aus der Pistole geschossen, weiß aber nicht mehr hundertprozentig, ob ich die Versicherungsunterlagen damals nur angefordert oder auch unterschrieben zurückgeschickt habe. «Aber was denn für Rechnungen?»
«Na, für die Behandlung der Rottweiler. Fred hat sie übel zugerichtet, und Gordon überlegt jetzt, ob er sie in eine Spezialklinik nach Orlando bringt. Dazu müsste man aber ein Flugzeug chartern …»
«Moment, Moment», unterbreche ich, derweil sich vor meinem geistigen Auge in Windeseile mein Konto leert, weil zwei Rottweiler in einem Learjet Pay-TV gucken und Kobesteaks fressen. «Das ist völlig unverhältnismäßig. Das zahlt doch keine Versicherung.»
«Vielleicht findet Gordon ja einen Richter, der dich persönlich für die Sache haftbar macht», erwidert Lisa.
«Ist das denkbar?», frage ich etwas kleinlaut und hoffe, dass ich auf Lisas anwaltlichen Beistand in dieser Sache zählen kann.
«Ich weiß nicht», antwortet sie. «Wenn es Gordon gelingt, dich in Amerika zu verklagen, dann halte ich so ziemlich alles für möglich.»
|30|Ich denke kurz nach. «Könntest du vielleicht …?»
«… versuchen, die Sache geradezubiegen?», ergänzt Lisa. «Klar kann ich das versuchen. Aber ich kann dir nichts versprechen.»
«Danke.»
«Schon gut. Ich meld mich, wenn ich was weiß.»
Für den Moment ist meine Laune im Keller, da ich aber sowieso nichts weiter tun kann, als auf Lisas Verhandlungsgeschick zu vertrauen, konzentriere ich mich wieder auf den Grund meines Besuches. Ich habe einen Hund, der mich mehr kosten könnte als eine Ehe mit einem Topmodel. Nach Lage der Dinge brauche ich den Job als Vorstandsvorsitzender also dringend.
Ich ziehe das Dossier hervor und lege die Fotos aufs Bett.
Oben Elisabeth, daneben Karl, darunter deren Kinder Konstantin und Melissa. Unter Konstantin lege ich dessen Kinder Iris, Audrey und Alphons. Ein Bild von Timothy fehlt in meinem Dossier. Da er vermutlich mit den Geschäften der Familie wenig zu tun hat, kann ich ihn unter strategischen Aspekten erst mal vernachlässigen.
Vor mir liegt nun die Familie von Beuten. Wenn ich den kleinen Alphons mal außen vor lasse, dann entscheiden sechs Leute darüber, ob ich den Job bekomme oder nicht. Mit Timothy wären es sieben.
Da ich nicht davon ausgehe, dass im Hause von Beuten demokratische Strukturen herrschen, vermute ich, dass letztlich Elisabeth allein entscheiden wird. Vielleicht fragt sie Karl nach seiner Meinung, wenn der zwischen zwei Drinks mal eine Minute Zeit hat. Mit Sicherheit wird der beflissene Konstantin ein Wörtchen mitzureden haben. Und wahrscheinlich hat auch Melissas Stimme Gewicht. |31|Fraglich ist, ob sie sich in die Geschäfte der Familie einmischt, denn wie ich ihrem Lebenslauf entnehme, besitzt sie in London mehr als ein Dutzend Sportstudios. Sie hat also genug mit ihrem eigenen Unternehmen zu tun. Nebenbei bemerke ich, dass Melissa bei ihrem Alter gemogelt hat. Sie ist zweiundvierzig. Damit bleibt ihr deutlich weniger Zeit für die Familienplanung als von ihr behauptet. Ich muss höllisch aufpassen, dass ich nicht vor Ende der Woche mit ihr verheiratet bin.
Elisabeth wird sich aus Gründen der Höflichkeit anhören, was ihre Enkelinnen von mir halten. Ob Iris und Audrey jedoch Einfluss auf die Entscheidung ihrer Großmutter haben, ist ebenfalls fraglich. Und was Iris von mir hält, weiß sowieso der Himmel. Vielleicht fungiert Timothy als eine Art neutraler Beobachter. Er kennt die Familie noch nicht so lange, außerdem ist er nicht in die Geschäfte der von Beutens involviert. Womöglich verspricht man sich deshalb von ihm eine möglichst objektive Einschätzung meiner Person.
Je länger ich die Fotos betrachte, desto klarer wird mir, dass ich nicht die leiseste Ahnung davon habe, wie ich strategisch vorgehen muss. Ich brauche also einen Rat. Einen Rat von einem eiskalten Strategen. Und das heißt: einen Rat von Schamski. Da er nicht nur mein Freund ist, sondern außerdem mein Stellvertreter im Vorstand werden soll, kann er sich jetzt schon mal als Berater nützlich machen. Ich greife zum Handy, im selben Moment klopft es an der Tür. Rasch packe ich die Fotos zusammen, stecke sie zurück in meinen Koffer und sage: «Ja, bitte.»
Die Tür öffnet sich, Konstantin von Beuten erscheint.
«Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, Sie nochmal persönlich zu begrüßen, Dr. Schuberth», beginnt er und |32|bleibt unschlüssig in der Tür stehen. «Mutter war etwas indisponiert, aber wie ich gehört habe, hat meine Schwester sich ja um Sie gekümmert.»
Am liebsten wäre sie mit mir sofort nach Acapulco durchgebrannt.
«Ja, vielen Dank», erwidere ich und bedeute Konstantin, doch bitte einzutreten.
Er hebt abwehrend die Hand. «Danke, ich möchte Sie nicht zu lange aufhalten, Dr. Schuberth, ich wollte mit Ihnen nur kurz die Termine für die nächsten Tage durchgehen.»
Ich nicke und zücke meinen Terminkalender, einen Ramschartikel mit grünem Plastikeinband, den ich in einer Apotheke beim Kauf von Zahnpflegekaugummis geschenkt bekommen habe. Überall ragen Notizzettel aus dem Büchlein hervor, weil mir der Platz für Notizen im Kalender selbst nicht ausreicht. Bis vor ein paar Monaten kümmerte sich Frau Hoffmann, meine Sekretärin, um sämtliche Termine. Seit sie im Ruhestand ist, mache ich das selbst, allerdings mit mäßigem Erfolg. Ich hab zwar den Überblick noch nicht verloren, das wäre aber der Fall, wenn mein Kalender einem Windstoß zum Opfer fiele. Ein wenig irritiert schaut der junge von Beuten auf den Klumpen Papier in meiner Hand.
Ich sehe jetzt, dass auch er seinen Kalender mitgebracht hat. Es ist ein in Kalbsleder gebundenes Filofax, das neben ausgewählten und akkurat verstauten Visitenkarten einen goldenen Füllfederhalter enthält, den Konstantin nun mit spitzen Fingern hervorzieht.
«Dann legen Sie mal los», sage ich, um ihn von meinem Plastikkalender abzulenken, stelle dabei fest, dass mein Ein-Euro-Kugelschreiber gerade den Geist aufgegeben hat, |33|und glaube zu bemerken, dass Konstantin fast unmerklich die Nase rümpft.
Wenige Minuten später bin ich für die kommenden Tage ausgebucht. Neben diversen innerfamiliären Sitzungen, in denen meine Vorstellungen von der künftigen Verlagspolitik diskutiert werden sollen, gibt es eine Handvoll gesellschaftlicher Anlässe, die dazu dienen, mich Freunden und Verbündeten der Familie vorzustellen. Ob ich an den Tagesausflügen der von Beutens, insbesondere den Bootsausflügen, teilnehme, bleibt mir überlassen. Die noch verbleibende Zeit, schätzungsweise also die Viertelstunde vor dem Abendessen, steht zu meiner freien Verfügung. Ich merke, dass Konstantin ganz in seinem Element ist. In einer perfekten Welt wäre er wahrscheinlich ein glücklicher Buchhalter. Zum Abschluss gibt er mir ein kleines Zettelchen mit den sauber notierten Zugangsdaten für das hauseigene Computernetz. Die ganze Kommunikation laufe über Satellit, erklärt Konstantin, weshalb im Haus auch fast alle Fernsehsender der Welt zu empfangen seien. Bei speziellen Wünschen könne ich mich gerne an Uschi wenden, die kümmere sich nämlich um alles.
Gleich nachdem Konstantin sich verabschiedet hat, logge ich mich ein und versuche im Internet herauszufinden, um welche Rasse es sich bei Elisabeths Windhund handelt. Falls beim Abendessen das Gespräch darauf kommt, möchte ich vorbereitet sein. Nebenbei hoffe ich, dass unser gemeinsames Interesse für Hunde mir helfen wird, bei Elisabeth das Eis zu brechen. Ihr Hund ist ein Saluki, stelle ich fest, ein persischer Windhund. Obwohl er aussieht, als hätte er Bulimie und kreisrunden Haarausfall, ist er ziemlich teuer. Außerdem gilt der Saluki als hochsensibel |34|und schreckhaft. Offenbar also ein angenehmer Hund, besonders wenn ich ihn mit dem Kneipenschläger vergleiche, den ich zu Hause habe.
Was wollte ich denn eben noch? Schamski anrufen, genau. Ich greife zum Handy und drücke die Wahlwiederholung.
«Ich kann jetzt nicht», höre ich Schamski sagen, dann wird das Gespräch einfach weggedrückt.
Ich weiß, dass Schamski sich nach seiner Herzoperation eine längere Auszeit genommen hat. Unwahrscheinlich, dass er gerade in Terminen erstickt. Ich wähle also erneut, die Verbindung wird hergestellt.
«Man schaltet die Mailbox ein oder stellt das Handy ganz aus», sage ich. «Aber man geht nicht ran und sagt dann: Ich kann jetzt nicht.»
«Wart mal kurz», erwidert Schamski, dann höre ich, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wird, gefolgt von einem Knistern und dem Aufflammen eines Feuerzeugs. Schamski inhaliert und atmet geräuschvoll aus.
«Rauchst du etwa?», frage ich.
«Professor Neuberger findet es vernünftiger, wenn ich moderat rauche, statt ständig auf Entzug zu sein.»
«Der Professor ist offenbar ein toleranter Zeitgenosse», sage ich.
«Der Professor ist eine Sie und liegt gerade in meinem Bett», erwidert Schamski. «Deswegen hab ich dich eben weggedrückt.»
«Du hast eine Affäre mit deiner Kardiologin», stelle ich fest.
«So ist es», entgegnet Schamski. «Und es wäre mir deshalb sehr recht, wenn du dich kurz fassen könntest.»
Ich erkläre Schamski in groben Zügen, wie die Verhältnisse |35|in der Familie von Beuten sind, und frage ihn, wie ich strategisch vorgehen soll.
Schamski hört geduldig zu, dann nimmt er einen Zug aus seiner Zigarette und schweigt eine kurze Weile.
«Du bist auf Mallorca mit zwei anstrengenden Frauen, einem Alkoholiker, einem Muttersöhnchen und einer alten Schachtel», konstatiert er. «Das nennt sich Familienurlaub und passiert jedes Jahr millionenfach.»
So kann man es auch sehen.
«Ich würde dir raten, dich ganz normal zu verhalten. Familien sind sowieso unberechenbar. Mit Strategie kommt man da nicht weit.»
Ich überlege. Hört sich ebenso simpel wie logisch an. Vielleicht sollte ich wirklich nicht versuchen, um jeden Preis eine gute Figur zu machen, zumal ich ja auch keine Vorstellung davon habe, wie eine gute Figur in den Augen der von Beutens aussähe.
Da ich Schamski nicht länger als unbedingt nötig davon abhalten möchte, mit Professor Neuberger zu schlafen, mache ich es kurz: «Danke, Guido. Du hast mir sehr geholfen.»
«Gern geschehen», erwidert Schamski. «Ach, und du sollst übrigens Günther anrufen.» Ich höre, wie Schamski Zigarettenrauch in die Luft bläst. «Und zwar über eine gesicherte Verbindung.»
«Aha», erwidere ich tonlos. Keine Ahnung, was Günther mir damit sagen will. «Was meint er denn mit einer gesicherten Verbindung?»
«Weiß ich doch nicht», erwidert Schamski. «Du kennst doch Günther.»
Allerdings. Günther ist mein ältester Freund, ein herzensguter Mensch und ein begnadeter Computerfachmann. |36|Leider wird seine Herzensgüte nur noch übertroffen von seiner Naivität, weshalb Günther sich zu Zeiten des Internetrausches um Firmenanteile im Wert von mehreren Millionen hat prellen lassen und nun arm ist wie eine Kirchenmaus. Immerhin hat er anderweitig Glück gehabt. Vor ein paar Monaten ist es Günther gelungen, in den Hafen der Ehe einzulaufen. Daran habe selbst ich in schwachen Momenten nicht mehr geglaubt, denn Günther war Ende der Neunziger schon länger Single als Helmut Kohl Bundeskanzler. Als Günthers einziger und damit wichtigster Berater in Herzensangelegenheiten habe ich aber nie aufgehört, ihm Mut zu machen. An dem Tag, als Günther seine Auserwählte Iggy vor den Traualtar führte, fühlte ich mich deshalb ein bisschen wie Mahatma Gandhi, weil wir beide ähnlich lange gebraucht haben, um unsere Lieben in ein unabhängiges Leben zu führen.
Günther und Iggy sind für ein halbes Jahr nach Kansas gezogen, wo Günther die amerikanische Regierung in Sachen Computersicherheit beraten soll. Angeblich hat die CIA höchstpersönlich Günther angeheuert, aber es ist gut möglich, dass er da wieder was falsch verstanden hat. Ich vermute, aus ganz ähnlichen Gründen möchte er jetzt nur noch über gesicherte Telefonleitungen kommunizieren. Ich werde ihn einfach mal auf seinem Handy anrufen, und dann wird sich ja zeigen, ob wir beide wegen Plaudereien am Telefon in einem amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis landen.
«Was gibt’s? Schamski hat gesagt, ich soll mich bei dir melden.»
«Ist deine Leitung sicher?»
«Günther, ich hab keine Ahnung, ob die Leitung sicher |37|ist. Ich ruf dich von meinem Handy aus an. So wie immer.»
«Ruf mich wieder von einem öffentlichen Fernsprecher aus an», sagt Günther. Er klingt betont sachlich. «Und du musst deine Mails ab jetzt verschlüsseln.»
«Günther, ich werde sicher keine Agentenausbildung machen, um mit dir übers Wetter zu plaudern. Also lass den Quatsch.»
Indigniertes Schweigen am anderen Ende der Leitung.
«Paul, du sollst einfach nur deine Mails verschlüsseln», erwidert Günther nach einer Weile ein bisschen beleidigt. «Wo ist denn da das Problem?»
«Das Problem ist, ich hab nicht die leiseste Ahnung, wie man Mails verschlüsselt.»
«Ach so! Sag das doch! Mit Kryptographie-Programmen», erklärt Günther und klingt jetzt etwas zugänglicher. «Ich mail dir gleich mal eins.»
So langsam finde ich die Unterhaltung amüsant.
«Dann denk aber bitte dran, es auch zu verschlüsseln», sage ich.
«Aber dann kriegst du es ja nicht auf», erwidert Günther leicht irritiert.
Ich atme durch. «Günther, wenn uns jemand abhören will, dann hatte er dazu gerade alle Zeit der Welt. Möchtest du mir also nicht einfach erzählen, was los ist?»
«Ruf wieder an, wenn die Leitung sicher ist», sagt Günther nachdrücklich.
Dann wird das Gespräch weggedrückt.
Während ich den Nachmittag damit verbringe, mich auf die Sitzungen im Hause von Beuten vorzubereiten, denke ich über Schamskis Ratschlag nach. Schließlich bin ich davon überzeugt, dass er recht hat.
|38|Ich lasse also Anzug und Krawatte im Schrank und ziehe zum Abendessen ein legeres Hemd und eine Jeans an. Ich bin zuversichtlich, dass die Familie von Beuten es zu schätzen wissen wird, dass der neue Verlagsleiter ein unkomplizierter Typ ist. Ein Irrtum, wie ich etwas später feststelle.