Als ich die Terrasse betrete, ist die Familie bereits um den Tisch versammelt. Nur Elisabeth fehlt noch, außerdem bemerke ich zwei überzählige Gedecke, vermutlich sind sie für Iris und Timothy bestimmt.
«Oh, bin ich zu spät?», scherze ich.
«Ja, aber das macht überhaupt nichts», erwidert Konstantin freundlich und bedeutet mir, dass der freie Platz zwischen Melissa und Alphons für mich bestimmt ist. «Wir warten sowieso noch auf Mutter.»
Während ich mich setze, schaue ich unauffällig auf meine Uhr. Ich habe mich tatsächlich verspätet – um ungefähr eine knappe Minute. Das war durchaus beabsichtigt, weil ich nicht wie ein ausgehungerter Pauschaltourist zu früh bei Tisch erscheinen wollte. Dass man im Hause von Beuten offenbar eine Form der Pünktlichkeit pflegt, an der sich so manche Atomuhr ein Beispiel nehmen könnte, hatte ich nicht einkalkuliert. Der kleine Fauxpas spielt aber sowieso keine Rolle, weil sich die Anwesenden mehr für mein Äußeres interessieren als für die Tatsache, dass ich ein paar Sekunden zu spät bei Tisch erschienen bin.
Konstantin und Karl tragen Anzug und Krawatte, Melissa ist in ein zitronengelbes Kostüm gehüllt. Selbst Audrey hat Jeans und Tanktop gegen ein dezentes schwarzes Kleid eingetauscht, und der kleine Alphons trägt ein Tweedsakko |40|mit Einstecktuch. Seine Krawatte harmoniert obendrein farblich mit dem Kopfverband, den er seit seinem Sturz am Mittag trägt. Mit Jeans und Hemd sehe ich inmitten dieser illustren Runde wie der Poolreiniger beim alljährlichen Adventsessen aus.
Gerade überlege ich, ob ich mich kurzerhand für ein paar Minuten entschuldigen soll, um mich doch noch rasch in Schale zu werfen, da kommt Elisabeth durch eine weit geöffnete Flügeltür auf die Terrasse gerauscht. Sie wird begleitet von ihrem cremefarbenen Saluki und trägt ein zum Hund passendes helles Ballkleid mit einer roten Stola.
Instinktiv will ich mich erheben, doch Elisabeth winkt ab. «Bitte behalten Sie Platz, lieber Herr Dr. Schuberth. Wir sind doch heute ganz leger.» Während sie das sagt, lässt sie ihre Stola auf die Rückenlehne eines Thronsessels gleiten, den ihr im nächsten Moment der beflissene Konstantin unter den mit Tüll gepolsterten Hintern schiebt.
Ich nicke Elisabeth lächelnd zu. Dabei sehe ich, dass sie meinen Aufzug mit einem Anflug von Verachtung zur Kenntnis nimmt.
«Timothy und Iris wollten die letzte Maschine nehmen. Wenn alles klappt, sind die beiden in einer knappen Stunde hier», erklärt Konstantin und macht seinem Job als Familienbuchhalter alle Ehre. «Ich dachte, wir lassen uns ein bisschen Zeit mit den Aperitifs und der Vorspeise. Dann schaffen die beiden es noch zum Hauptgang.»
«Gute Idee», wirft der alte von Beuten ein. «Was wollen wir denn trinken?»
Wie auf Kommando fährt das spanische Hausmädchen einen vor Alkoholika berstenden Servierwagen auf die Terrasse.
«Was darf ich Ihnen anbieten, Paul?», fragt der alte von |41|Beuten und erhebt sich geschäftig. «Sekt? Sherry? Oder vielleicht einen Campari?»
«Wir haben auch Bier», wirft Elisabeth ungerührt ein. Die Anspielung gilt eindeutig meiner sozial schwachen Garderobe. Ich merke es daran, dass es am Tisch abrupt still wird.
«Haben Sie denn auch Dosenbier?», frage ich ebenso ungerührt, sehe aus den Augenwinkeln ein Lächeln über Audreys Gesicht huschen und halte derweil Elisabeths Blick stand.
Karl ist sich offenbar nicht ganz sicher, ob meine Bemerkung als Witz gedacht sein sollte, und bemüht sich, sie zu überspielen: «Sie dürfen mich auch gerne herausfordern, Paul. Ich habe als Barkeeper gearbeitet, um mir meine Schauspielausbildung zu finanzieren. Meine Spezialität war der Singapore Sling.»
Ich mag nur sehr wenige Cocktails, weil ich finde, dass die meisten schmecken, als hätte man die Reste einer Party zusammengeschüttet, möchte aber Karl nicht an seiner Lieblingsbeschäftigung hindern und bestelle deshalb einen Bellini.
Elisabeth von Beuten nimmt es mit einem fast unmerklichen Kopfnicken zur Kenntnis, dann sagt sie in entspanntem Tonfall: «Den hätte ich auch gerne, Karl», und während ich ein leichtes Aufatmen bei Konstantin zu bemerken glaube, schließen sich uns Melissa und Audrey an. Der junge von Beuten möchte einen alkoholfreien Drink, der alte von Beuten wird wenig später den so gesparten Schnaps für einen Horse’s Neck verwenden, der fast ohne Ginger Ale auskommt. Im Prinzip ist es purer Brandy, garniert mit einer Zitronenschale.
Derweil wir an unseren Drinks nippen, plaudern wir |42|über Mallorca, das nach einhelliger Meinung aller Anwesenden seine wahre Schönheit erst offenbart, wenn man es vom Meer aus erkundet, weshalb besonders Melissa mir ans Herz legt, doch bitte an den Bootsausflügen der Familie teilzunehmen. Karl, der am schnellsten von uns allen genippt hat, mixt sich noch einen Horse’s Neck und bittet seine Lieben, mich nicht zu sehr zu bedrängen: «Vielleicht geht es Paul ja wie mir und er wird leicht seekrank.» Ich erkläre, dass ich damit eigentlich keine Probleme habe, und nehme Melissas Einladung auf die von Beuten’sche Yacht dankend an.
Wenig später werden Melonenschiffchen mit Serranoschinken serviert. Der kleine Alphons, der bislang noch keinen Ton gesagt hat und insofern entweder ein sehr stilles Kind oder aber das Opfer einer rabiaten Erziehung ist, katapultiert bei dem Versuch, die Melone anzuschneiden, seinen Schinken in hohem Bogen auf die Terrasse. Sofort stürzt sich Elisabeths Saluki darauf und verputzt die Scheibe vor den Augen des sichtlich erschrockenen Jungen, der nun in Tränen ausbricht.
Weil ich Alphons beruhigen will, biete ich ihm meinen Schinken an, woraufhin Konstantin interveniert: «Es wäre kein Problem, neuen Schinken aus der Küche kommen zu lassen, Herr Dr. Schuberth. Aber ich denke, mein Sohn muss lernen, dass man im Leben schnell als Verlierer dasteht, wenn man sich allzu ungeschickt anstellt.»
Was für ein Schwachsinn, denke ich, sage jedoch: «Ich möchte mich keineswegs in Ihre Erziehungsmethoden einmischen, Herr von Beuten. Ich denke aber, dass der Verlust einer Scheibe Schinken Ihren Sohn nicht davor bewahren wird, beispielsweise später mal die falsche Frau zu heiraten.» Eigentlich will ich damit ausdrücken, dass ich es |43|Unfug finde, Kindern abstrakte Sachverhalte durch abstrakte Erziehungsmaßnahmen nahebringen zu wollen, merke aber im gleichen Moment, dass das von mir gewählte Beispiel für heftige Irritationen sorgt. Konstantin blickt leicht verstört in die Runde, während sich Karl am anderen Ende des Tisches an seinem vierten Brandy verschluckt. Elisabeths ungnädiger Blick ruht derweil auf mir wie Lehmboden auf einem Sargdeckel. Nur Audrey grinst, wie nur eine Frau grinsen kann, die ihre Tage mit Unterwäschemodels verbringt.
Ich überlege noch, wie ich die Situation entschärfen kann, da hört man von draußen ein Motorengeräusch. Der Geländewagen fährt vor.
«Ah! Da kommen sicher Iris und Timothy», frohlockt Karl und schüttet sich auf dieses erfreuliche Ereignis Brandy nach.
Ich merke, dass mein Herz ein wenig schneller schlägt. Gleich werde ich Iris wiedersehen. Ich hatte gehofft, dass es sich irgendwie ergeben würde, wenigstens kurz mit ihr allein zu sein. Jetzt sitze ich inmitten ihrer Familie, und wahrscheinlich wird sie mir in ein paar Minuten ihren Ehemann vorstellen. Hätte schlimmer kommen können. Aber eben auch besser.
Timothy erscheint, und er ist … allein. Während er zweimal den Tisch umrundet und zunächst formvollendet Handküsse und Komplimente an die Damen verteilt, um danach die Männer mit kernigem Händedruck zu begrüßen, erzählt er uns, dass Iris noch Termine in London wahrnehmen müsse. Ein wichtiges Charity-Projekt nehme sie so in Anspruch, dass sie leider erst morgen Mittag auf die Insel kommen könne.
Während er das sagt, hebt Timothy bedauernd die Arme, |44|und ich stelle fest, dass sein blauer Zweireiher praktisch keine Falten wirft. Ich vermute, es handelt sich um einen Maßanzug, der direkt auf die Haut genäht wird, denn anders kann ich es mir nicht erklären, dass er trotz eines mehrstündigen Fluges und einer langen Autofahrt noch so perfekt sitzt. Meine Anzüge sehen nach zwei Stunden im Büro immer so aus, als hätte ich damit tagelang auf einer Parkbank übernachtet.
Konstantin zieht sein ledergebundenes Filofax hervor und zückt den goldenen Füllfederhalter. «Wann kommt Iris denn an? Ich schicke dann Uschi zum Flughafen», sagt er und scheint sich darauf zu freuen, gleich einen neuen Termin in seinen Kalender eintragen zu können.
«Vielen Dank», erwidert Timothy. «Aber ich würde es bevorzugen, meine Frau selbst abzuholen.»
Elisabeth scheint zu bemerken, dass ich Timothy aufmerksam mustere, und ich lese einen Anflug von Hochmut in ihrem Gesicht. Sie würde jede Wette eingehen, dass ich ihrem perfekten und stilsicheren Schwiegerenkel in keiner Hinsicht das Wasser reichen kann. Wahrscheinlich hat sie damit sogar recht.
«Ich muss übrigens leider unseren Termin morgen früh absagen», sagt Konstantin und blättert eifrig in seinem Filofax. «Mutter und ich möchten noch etwas besprechen.»
«Wie schade», erwidert Timothy. «Aber das Geschäft geht natürlich vor.»
Er überlegt kurz, blickt dann zu mir. «Spielen Sie eigentlich Tennis?»
Ich bin nicht ganz bei der Sache, deshalb antworte ich, ohne nachzudenken: «Ich hab früher mal gespielt, aber das ist schon …»
|45|«Wunderbar», unterbricht mich Timothy. «Dann können wir beide ja morgen spielen.»
«Gute Idee», wirft Konstantin ein und bringt seinen Füllfederhalter in Position, um den Termin in seinem Kalender zu korrigieren.
Ich habe eigentlich nicht die geringste Lust, mich von Timothy über den Tenniscourt jagen zu lassen. Er wirkt ziemlich fit, wahrscheinlich lässt er mich also alt aussehen. Und das muss ja nicht sein.
«Gerne», höre ich mich sagen, weil ich andererseits auch keine Lust habe zu kneifen. Falscher Stolz, würde ich tippen.
Während wir einen ausgezeichneten Fischeintopf löffeln, erzählt Timothy ein bisschen von sich und seinen Immobiliengeschäften. Seine Unternehmensphilosophie ist schnell erklärt: «Kaufen und verkaufen. Und niemals Kompromisse machen, was die Lage betrifft.»
Die Aufzählung seiner Besitztümer dauert dann allerdings fast bis zum Dessert. Timothy scheint sich halb London zusammenspekuliert zu haben, weshalb er und Iris nun die Qual der Wahl haben, wo sie künftig wohnen werden. Es läuft wohl hinaus auf ein kleines Anwesen vor den Toren von London, einundzwanzig Zimmer, also nicht zu groß, mit fünfeinhalb Hektar Parkfläche, damit man sich auch mal die Füße vertreten kann.
Zum Dessert gibt es Kaffee und Mandelkuchen. Als der kleine Alphons nach einem zweiten Stück greifen möchte, stößt er versehentlich gegen meine Espressotasse, deren Inhalt auf meinem Hemd landet.
Während Alphons erneut den Tränen nahe ist, entschuldigt sich Konstantin wortreich für die Ungeschicklichkeit seines Sohnes. Ich versichere, dass alles nur halb so wild |46|ist. Elisabeth pflichtet mir bei, mit leichter Häme bemerkt sie, dass ja Gott sei Dank nicht meine Abendgarderobe in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Sie betont das Wort «Abendgarderobe». Ich verstehe den Wink und entschuldige mich kurz.
Auf meinem Zimmer tausche ich mein legeres Hemd gegen ein formelles, binde mir eine Krawatte um und ziehe statt der Jeans meinen besten Anzug an. Jetzt fühle ich mich mit den von Beutens zumindest in modischer Hinsicht auf Augenhöhe. Zufrieden will ich das Zimmer verlassen.
Ich habe bereits die Türklinke in der Hand, da frage ich mich, ob ich meinen Job eigentlich auch im Clownskostüm machen würde, falls Elisabeth von Beuten das für eine gute Idee hielte. Warum soll ich mich überhaupt dem Modediktat der Familie beugen? Erstens bin ich nicht hier, um künftig eine Herrenboutique zu leiten, und zweitens hat mir niemand gesagt, dass man sich bei Gucci und Prada eindecken muss, wenn man im Hause von Beuten Melonenschiffchen essen möchte. Außerdem geht mir dieser Dünkel ziemlich auf die Nerven. Ich finde, Menschen werden nicht besser oder schlechter durch ihre Kleidung. Einstein trug keine Socken und erschuf die Relativitätstheorie, Ludwig XVI. lief in Strumpfhosen durch die Gegend und landete auf der Guillotine. Die Weltgeschichte ist gespickt mit begabten Clochards und Vollidioten in Hermelinmänteln.
Ich schließe die Tür. Dann ziehe ich meinen Anzug wieder aus.
Als ich ein paar Minuten später mit Jeans und einem ebenso frischen wie legeren, obendrein ziemlich bunten Hemd an den Tisch zurückkehre, sehe ich eine leichte Bestürzung in den Gesichtern von Karl und Konstantin. Timothy wirkt irritiert, Elisabeth registriert meinen Auftritt |47|mit versteinerter Miene. Audrey amüsiert sich, Melissa wirft mir im Verlauf des Abends einige vielsagende Blicke zu und nutzt das Abtragen des Desserts, um mir unauffällig ein Zettelchen in die Hand zu drücken.
Mein Wecker klingelt um halb sieben. Ich bin um halb acht mit Timothy verabredet, möchte aber zuvor duschen, ein paar Dehnübungen machen und mich etwas aufwärmen. Gestern Abend habe ich nicht geraucht und fast keinen Alkohol getrunken. Ich bin also vorbereitet auf das Match, zumindest soweit das in der Kürze der Zeit machbar war.
Timothys Tenniskleidung muss vom gleichen Schneider stammen wie seine Zweireiher. Ich war nicht auf Tennis vorbereitet und habe lediglich ein paar Laufschuhe eingepackt. Zu denen trage ich jetzt irgendeine kurze Hose und irgendein T-Shirt. Das ist aber auch egal, weil mein Ruf in modischer Hinsicht sowieso ruiniert ist.
«Was halten Sie von einem Match?», fragt Timothy nach ein paar Ballwechseln zum Warmwerden.
«Gerne», antworte ich prompt. Die Frage habe ich schon erwartet, deshalb entgegne ich direkt: «Ihr Aufschlag, Timothy.»
Wir einigen uns darauf, die Seiten nicht während des Matches zu wechseln, ansonsten gelten die offiziellen Regeln.
Timothy schlendert lässig zur Grundlinie: «Möchten Sie vielleicht um einen Einsatz spielen, damit es interessanter wird?»
«Ja, ich würde gern mein Sommerhaus in den Hamptons setzen», erwidere ich und schlendere ebenso lässig zur Aufschlaglinie.
|48|Timothy stutzt, dann erwidert er: «Okay, ich setze ein Londoner Stadthaus dagegen. Ich denke da an eines in Notting Hill. Es wird Ihnen gefallen.»
Jetzt stutze ich. «Das war nur ein Witz. Ich habe überhaupt kein Sommerhaus in den Hamptons», sage ich, während ein Schmetterball an mir vorbeirauscht und hinter mir in den Maschendrahtzaun rasselt.
Timothy grinst. «Das habe ich mir schon gedacht. Ich hätte sowieso kein Interesse an einem Haus in den Hamptons. Ist schon lange keine gute Gegend mehr.» Er zeigt mir den nächsten Ball. Ich nicke und begebe mich leicht verärgert in Position. Ich finde, es reicht, dass Timothy den ersten Punkt gemacht hat, da muss er nicht auch noch das letzte Wort haben.
Eine ganze Weile ist das Spiel ausgeglichen, zumindest sehe ich es so. Wir schenken uns nichts und kämpfen verbissen um jeden Ball. Immer wieder bringe ich Timothy in arge Bedrängnis, aber er schafft es beständig, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich muss zugeben, er spielt ziemlich gut.
Ich habe das Gefühl, wir spielen knapp drei Stunden, weshalb es mich überrascht, dass das Match nach fünfunddreißig Minuten vorbei ist. Timothy gewinnt mit sechs zu null, sechs zu null und sechs zu null. Während ich schweißüberströmt feststelle, dass mein linkes Bein ein bisschen zittert, zieht Timothy einen Kamm hervor und bringt damit eine Haarsträhne, die ihm während des Spiels ins Gesicht gefallen ist, wieder in Form. Er sieht jetzt exakt so aus wie vor dem Match.
«Sind Sie sicher, dass Sie zwei Stunden durchstehen?», fragt er.
Nein. Ich bin sicher, dass man für mich bereits in zehn |49|Minuten eine schöne Seebestattung organisieren kann, wenn ich mich weiterhin so abrackern muss wie in der letzten halben Stunde.
«Selbstverständlich», sage ich. «Seitenwechsel.»
Auf der anderen Seite herrschen wesentlich bessere Lichtverhältnisse, ich bin überzeugt, Timothy hat deshalb gewonnen. Ich komme trotzdem nicht so richtig ins Spiel. Einen Ball verliere ich, weil mich mein zitterndes Bein zu Fall bringt, einen anderen, weil ich aufgrund von Kreislaufproblemen kurzzeitig erblinde.
Beim Stand von sechs zu null und sechs zu null beschließe ich, diesen Vormittag als Erfolg zu werten, wenn es mir gelingt, auch nur ein einziges gottverdammtes Spiel zu gewinnen. Obwohl die Temperatur auf dem Platz beständig steigt und ich mit leichter Besorgnis Lähmungserscheinungen in meinem linken Arm bemerke, kämpfe ich wie ein Löwe.
Es steht fünf zu null im dritten Satz, als mir im sechsten Spiel ein Einstand gelingt, der die alles entscheidende Wende bringen könnte.
Da klingelt plötzlich Timothys Handy. Es ist Iris. Er zuckt bedauernd mit den Schultern: «Entschuldigen Sie bitte, aber das wird länger dauern. Vielen Dank, Sportsmann. Hat Spaß gemacht mit Ihnen.»
Er wirft sich sein unbenutztes Handtuch über die Schulter, verlässt den Platz und schlendert telefonierend in den Garten.
Ich humpele zur Bank und setze mich. Ich könnte die Sache so auslegen, dass Timothy mit dem Verlassen des Platzes nach internationalem Reglement das Spiel aufgegeben hat. Die Wahrheit ist, er hätte keine drei Minuten gebraucht, um auch diesen Satz zu gewinnen. Ich sollte mich |50|deshalb nicht grämen, sondern darüber freuen, dass ich dem Tod nochmal von der Schippe gesprungen bin.
Als ich etwas später mein Zimmer betrete, geht es mir bereits besser. Ich habe noch eine Stunde Zeit bis zur ersten Sitzung, genug für eine kalte Dusche und ein leichtes Frühstück. Ich öffne die Tür zum Bad. Zu meinem großen Erstaunen erblicke ich Audrey. Sie steht nackt vor meinem Spiegel und ist gerade dabei, sich das Gesicht einzucremen.
«Hallo», sagt sie.
«’tschuldigung», erwidere ich und schließe die Tür. Mein erster Gedanke ist, dass ich beim Tennis einen Hirnschlag erlitten habe. Dann komme ich auf die Idee, dass ich mich im Zimmer geirrt haben könnte. Ich sehe mich um und stelle fest, dass das nicht der Fall ist.
Ich überlege. Habe ich da wirklich gerade gesehen, was ich zu sehen geglaubt habe? Vorsichtig öffne ich erneut die Badezimmertür. Kein Zweifel, Audrey steht immer noch nackt vor meinem Spiegel.
«Was ist denn?», will sie wissen.
«Das hier ist ein bisschen merkwürdig», sage ich.
«Was ist merkwürdig?» Sie blickt mich erstaunt an.
«Na, dass Sie in meinem Bad sind.»
Audrey mustert mich lächelnd. «Ich finde es höchstens merkwürdig, dass wir uns siezen. Eine nackte Frau und ein ziemlich verschwitzter Mann könnten auch du zueinander sagen, oder?»
Jetzt muss auch ich lächeln. «Das stimmt», erwidere ich. «Ich frage mich trotzdem, was du in meinem Bad machst.»
Audrey zeigt auf eine Tür, die ich bislang übersehen habe. «Das hier ist nicht nur dein Bad, es ist unser Bad. Das |51|Haus ist so gebaut, dass sich immer zwei Zimmer ein Bad teilen.»
«Aha», sage ich und freue mich einerseits darüber, dass mein Hirn offenbar noch funktioniert. Andererseits ist es mir peinlich, dass ich die Tür nicht schon früher bemerkt habe, denn dann würde ich jetzt hier nicht blöd rumstehen und Audrey bei ihrem Schönheitsprogramm stören.
«Bisher habe ich mir das Bad immer mit Iris geteilt, deshalb hab ich vergessen abzuschließen», erklärt Audrey. «Aber wenn du willst, kannst du gerne duschen. Ist kein Problem für mich.»
«Danke», sage ich. «Ich hab Zeit. Ich werd einfach später …» Ich vollende den Satz nicht, sondern schließe rasch die Tür. Ich mag zwar Audreys unkomplizierte Art, möchte aber einen professionellen Abstand zur gesamten Eigentümerfamilie aufrechterhalten. Den sehe ich nicht gegeben, wenn ich mit ausgewählten Familienmitgliedern Körperpflege betreibe.
Es klopft. Audrey schaut herein. Sie hat sich inzwischen einen Bademantel übergezogen. «Paul, ich weiß, dass du gleich eine Sitzung hast. Ich brauch hier aber noch ein bisschen. Also sei nicht albern und spring unter die Dusche.» Sie schließt die Tür und öffnet sie im nächsten Moment wieder. «Außerdem bringt es mein Job mit sich, dass ich öfter nackte Männer sehe. Unterwäschemodels sehen das nicht so eng, wenn man ihnen beim Umziehen zuschaut. Du kannst also sicher sein, dass dein Anblick mich nicht aus der Fassung bringt.» Sie lächelt und schließt endgültig die Tür.
Tja. Da hat sie nun auch wieder recht. Wir sind schließlich erwachsene Menschen. Und ich will ja auch nicht prüde erscheinen – wobei ich nicht mal sicher bin, ob Audrey das Wort überhaupt kennt.
|52|Ich betrete also das Bad, ziehe mein T-Shirt aus und sehe, dass Audrey mir im Spiegel zulächelt, derweil sie Lotion in ihren Handflächen verteilt.
Ich entledige mich meiner Hose erst, als ich schon in der Dusche stehe und den Vorhang zugezogen habe. Das ist vielleicht ein bisschen albern, aber ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich Audrey unbedingt meinen nackten Körper zeigen möchte. Außerdem scheue ich Vergleiche mit professionellen Unterwäschemodels.
Ich öffne den Hahn. Das Wasser ist angenehm kühl. Eine Weile tue ich nichts und genieße das Gefühl, in einem Sommerregen zu stehen. Ich spüre, dass meine Lebensgeister zurückkehren, und beginne, mich mit einem Duschgel einzuschamponieren, das verspricht, «vitalisierend» zu sein. Mit etwas Glück bin ich in ein paar Minuten also wieder topfit.
Der Vorhang wird nun zur Seite geschoben. Audrey betritt ganz selbstverständlich die Dusche. Ich bin leicht verunsichert, weil ich aussehe wie jemand, der überstürzt eine Schaumparty verlassen hat. Viel mehr verunsichert mich allerdings Audreys Blick. In ihm ist zu lesen, dass sie jetzt gerne Sex mit mir hätte.
«Ich finde das keine gute Idee», sage ich.