«Paul, mir wäre sehr geholfen, wenn du meine Zeitungen nicht immer nur lesen, sondern auch hin und wieder mal kaufen würdest.»
«Sei nicht kindisch, Kostas. Du weißt genau, dass ich arbeitslos bin und kein Geld habe.»
«Schon klar, aber ich bin Zeitschriftenhändler. Wenn es alle so machen wie du, bin ich auch bald arbeitslos.»
Ich falte die Zeitung zusammen, lege sie zurück ins Regal und wende mich zum Tresen. Dort sitzt Kostas mit verschränkten Armen inmitten von Süßigkeiten, Ansichtskarten und Tabakwaren. Er ist eine Seele von Mensch, kaschiert das aber mit einem großen Schnurrbart, der dem kleinen Griechen ein grimmiges Aussehen verleiht.
«Vielleicht musst du deine potenziellen Kunden einfach besser pflegen. Mir ist zum Beispiel heute noch kein Kaffee angeboten worden, damit ich mich in deinem Laden wohl fühle.»
Kostas seufzt, erhebt sich und wendet sich zur Kaffeekanne.
«Viel Milch und Zucker», sage ich.
«Ich weiß», erwidert Kostas genervt und stellt mir die Tasse hin.
Ich nippe. «Nächsten Monat zahle ich meine Schulden», verspreche ich und greife nach einem Paket, das ich eben |255|auf dem Tresen deponiert habe. «Mein bester Anzug, frisch aus der Reinigung. Gleich gehe ich zur Arbeitsagentur.»
Kostas blickt erfreut auf das Paket. «Hört sich gut an. Aber ich dachte, da müsste man frühmorgens erscheinen.»
Ich schüttele den Kopf. «Kurz vor Mittag halte ich für optimal. Der halbe Tag ist schon rum, und alle freuen sich auf die Pause.»
Kostas verzieht skeptisch das Gesicht.
«Ich dachte, du könntest mir vielleicht dein Auto leihen und ein paar Stunden auf Fred gucken, so bis um …»
«Kommt nicht in Frage», unterbricht Kostas. «Letztes Mal hab ich bis weit nach Ladenschluss auf dich gewartet und Ärger mit meiner Frau gekriegt.»
«Dann nicht», sage ich leichthin. «Danke für den Kaffee.»
Ich bin schon in der Tür, da murrt Kostas: «Du kannst Fred hierlassen. Den Wagen brauch ich aber heute selbst.»
«Danke», sage ich und binde Freds Leine an die Heizung. Mein Hund lässt sich gemächlich davor nieder. Er kennt das Procedere bereits.
Ich wohne in einer möblierten Dachkammer.
Nach meiner Rückkehr stattete ich meinem ehemaligen Vermieter einen Besuch ab und bat ihn, mir irgendeines seiner unzähligen Objekte zwei Monate mietfrei zur Verfügung zu stellen.
«Warum sollte ich das tun?», fragte er.
«Weil ich Ihnen in den letzten Jahren sehr viel Geld für Miete bezahlt habe und Sie mir dafür nun einen kleinen Gefallen erweisen könnten.»
«Aha. Und warum noch?»
|256|«Na, weil es eine gute Tat ist!», ereiferte ich mich.
«Ich komme also dafür in den Himmel?», meinte er belustigt.
«Nein, das nicht. Aber man serviert Ihnen in der Hölle ein Erfrischungsgetränk, bevor man Sie ins Fegefeuer wirft.»
Er grinste und rief dann seine Hausverwaltung an.
Meine Bank zeigte sich weniger sportiv. Trotz langer Verhandlung bekam ich keinen Dispo. Kostas gab mir den Tipp, mich beim Großmarkt zu bewerben, seitdem schleppe ich dort hin und wieder stundenweise Kisten. Es läuft wie bei Santos auf Mallorca. Man erledigt den Job, kriegt seine Kohle und macht sich vom Acker.
Die Agentur für Arbeit ist wesentlich größer, als ich gedacht habe. Noch in meiner Eigenschaft als Personalchef hatte ich die verrückte Idee, dass die Behörde dem Verlag Mitarbeiter vermitteln könnte. Da aber nie jemand auf meine vielen Mails und Briefe geantwortet hat, bin ich irgendwann zu der Überzeugung gelangt, dass die Agentur für Arbeit entweder nie besetzt ist oder aber überhaupt nicht existiert.
Ich stehe am Empfang und warte darauf, dass eine Mitarbeiterin, die sich gerade einen Kaffee zubereitet, meine Anwesenheit registriert.
«Ich bin gleich bei Ihnen», sagt sie, und fast im gleichen Moment wendet sie mir ihr Gesicht zu. Es ist Ellen Preez, unsere ehemalige Vorstandsassistentin. Das hätte mir schon eben auffallen können, denn sie trägt eines ihrer vielen mausgrauen Kostüme.
«Oh. Guten Tag, Herr Dr. Schuberth», sagt sie tonlos und wirkt verlegen.
«Guten Tag, Frau Preez», erwidere ich und versuche die etwas klamme Situation zu überspielen, indem ich anfüge: |257|«Das ist ja eine Überraschung, Sie hier zu sehen. Wie geht es Ihnen?»
«Gut, danke.» Sie lächelt unsicher. «Und Ihnen?»
Was soll ich darauf antworten? Wer hier aufkreuzt, steht gewöhnlich nicht auf der Sonnenseite des Lebens.
«Es geht so», antworte ich.
Sie nickt. Wir stehen unschlüssig voreinander.
«Tja. Ich habe ein etwas kompliziertes Problem», beginne ich, um mal zum eigentlichen Grund meines Besuches zu kommen. «Ich war eine Weile im Ausland, und nun bräuchte ich Informationen …»
«Was halten Sie davon, wenn wir eine Kleinigkeit essen gehen?», unterbricht sie. «Hier gibt es eine ganz ordentliche Kantine. Da können wir alles in Ruhe besprechen.»
Die Kantine hat den für Kantinen üblichen Charme einer Wartehalle, aber das Essen ist gut. Frau Preez ist mit meinem fachlichen Anliegen schnell fertig. Sie will mir einen Termin bei einer befreundeten Mitarbeiterin besorgen, die sich um mich kümmern und alles Weitere regeln soll. Diesbezüglich kann ich mich also entspannen. Bleibt die Frage, warum Frau Preez mich zum Essen einlädt.
«Ich möchte mich noch bei Ihnen bedanken.»
«Wofür?», frage ich erstaunt.
Sie lächelt unsicher. «Ich weiß sehr wohl, dass Sie über meine Affäre mit Timothy informiert waren. Ich glaube, es gab im Verlag kaum etwas, das man vor Ihnen geheim halten konnte.»
Da überschätzt sie mich maßlos, aber das muss ich ihr ja nicht auf die Nase binden. Also schweige ich.
«Jedenfalls fand ich es sehr anständig von Ihnen, dass Sie diese Sache diskret behandelt haben. Sie müssen wissen, es |258|war nie meine Absicht, mit Timothy anzubändeln. Die Initiative ging von ihm aus, nicht von mir.»
Und dafür kriegt der Arsch auch noch von Iris eine zweite Chance, denke ich und schiebe meinen Teller zur Seite, weil mir der Appetit vergangen ist.
«Leider habe ich mich Hals über Kopf in Timothy verliebt», fährt Frau Preez fort. «Sonst hätte ich es sicher nicht so weit kommen lassen.»
Ich ziehe meinen Teller wieder zu mir heran. Da das Essen gut ist und ich großen Hunger habe, kann ich auf meinen Appetit momentan keine Rücksicht nehmen.
«Ich wollte nur, dass Sie das wissen», sagt Frau Preez.
«Es ist vorbei», erwidere ich in versöhnlichem Tonfall. «Und es ist lange her.» Das Gespräch mit Iris liegt vielleicht vier Monate zurück. Das ist zwar keine Ewigkeit, aber inzwischen ist so viel passiert, dass es mir dennoch so vorkommt.
Ellen Preez sieht mich mit traurigen Augen an. «Einen Monat würde ich noch nicht als lange bezeichnen», sagt sie gedehnt.
Ich stutze. «Ich dachte, Sie beide wären länger getrennt.»
Sie schüttelt den Kopf. «Nein. Endgültig vorbei war unsere Affäre erst, als Timothy mit seiner Familie nach London zurückgegangen ist. Also vor knapp einem Monat.»
Ich schiebe meinen Teller erneut weg. Die Vorstellung, dass Timothy Iris noch über die Geburt des gemeinsamen Kindes hinaus betrogen hat, ist selbst mir zuwider, obwohl ich mich in Fragen der menschlichen Niedertracht als hartgesotten bezeichnen würde.
Frau Preez scheint meine Gedanken zu erraten. «Timothy hat auch mich betrogen. Bis zum Schluss hat er so getan, |259|als würde er darüber nachdenken, sich scheiden zu lassen und mit mir ein neues Leben anzufangen. Und dann hat er sich nicht mal verabschiedet.» Sie kämpft mit den Tränen.
«Das ist alles sehr traurig», sage ich und denke dabei an Iris.
Frau Preez münzt meine Bemerkung auf sich und nickt wehmütig.
Ich sitze ihr gegenüber, und obwohl mich ihr Leiden nicht kaltlässt, finde ich keine tröstenden Worte. Einerseits habe ich selbst bei dieser Geschichte einen schlimmen Nackenschlag erlitten, andererseits fühle ich mich nicht zuständig. Nebenbei habe ich gerade selbst Probleme. Also rette ich mich in eine Floskel: «Tut mir sehr leid für Sie, Frau Preez.»
«Ellen», sagt sie mit einem schmalen Lächeln.
Ich halte es nicht für nötig, dass wir uns duzen. «Paul», erwidere ich dennoch fügsam, weil Ellen mir schließlich bei der Lösung einiger meiner Probleme helfen soll.
Sie lächelt. Dann faltet sie ihre Serviette sorgfältig zusammen, legt sie neben den Teller und sagt: «Gut, Paul. Dann lass uns mal einen Job für dich finden.»
Zwei Wochen später habe ich zwar noch keinen Job, aber das Amt bewilligt mir finanzielle Unterstützung. Ich kann also meine Schulden bei Kostas bezahlen, und er hat zudem gute Chancen, dass ich eines Tages eine Zeitung bei ihm kaufe. Das Geld reicht auch, um meine Dachkammer und die laufenden Kosten zu finanzieren. Selbst Wein und Zigaretten sind drin, aber irgendwie bin ich trotzdem unzufrieden.
Für Lichtblicke in meinem tristen Leben sorgen Nachrichten aus der Fremde. Günther und Iggy schreiben mir |260|regelmäßig Mails aus Palma, wo er als Programmierer und sie in der Gastronomie arbeitet. Iggy spricht fließend Spanisch, weil sie als junge Frau ein paar Jahre auf Ibiza gekellnert hat. Das Haus im Grünen ist momentan kein Thema, aber die Familienplanung der beiden läuft auf Hochtouren.
«Das Klima hier ist so günstig, dass man bis zum Herbst Sex im Freien haben kann», schrieb Günther mir kürzlich.
«So genau wollte ich es gar nicht wissen», schrieb ich zurück.
Bronko hat mir einen langen Brief aus Zürich geschickt. Er hat noch nicht viel gemalt, wird aber andauernd zu irgendwelchen Partys und Abendessen eingeladen, wo er reiche, gelangweilte Schweizer mit seinen chinesischen und mallorquinischen Abenteuern unterhält. Bei einer dieser Gelegenheiten ist er in eine Affäre mit der Gattin eines Diplomaten geschlittert und weiß jetzt nicht, wie er da halbwegs diplomatisch wieder rauskommen soll.
Alle paar Tage telefoniere ich mit Schamski. Er und Melissa sind in London und bemühen sich, die Reste von Melissas Firmenimperium zusammenzukehren. Viel wird nicht übrig bleiben, das ist abzusehen, aber die beiden müssen auch nicht darben. Schamski hat Lust, wieder ganz unten anzufangen. Am besten als Verkäufer in einer kleinen Bude, wo er kein Personal führen muss und allein für sich und seine Umsätze verantwortlich ist. Momentan schwankt er noch, ob er Luxuskarossen in London, Immobilien auf Mallorca oder Fernsehwerbung in Deutschland verticken möchte.
«Du könntest auch Schwiegermütter nach Übersee verkaufen», witzelte ich.
«Vergiss es. Der Markt ist dicht», gab Schamski zurück.
|261|Sosehr es mich einerseits freut, von Bronko, Günther und Schamski zu hören, so frustrierend ist es andererseits. Während meine Freunde zielstrebig ihr Leben in die Hand nehmen, dümpelt meines ziellos dahin.
Der Sommer ist durchwachsen. Die wenigen schönen Tage, die er sich abringt, versuche ich zu genießen, indem ich lange Spaziergänge mit Fred unternehme. Ich möchte allein sein. Bislang habe ich weder Lisa noch sonst jemandem, den ich kenne, gesagt, dass ich in der Stadt bin. Der tägliche Plausch mit Kostas und regelmäßige Anstandsbesuche bei der Arbeitsagentur sind die kommunikativen Höhepunkte meines Lebens. Ich rede mit Kostas übers Wetter, ich trinke mit Ellen einen Kaffee und höre mir dabei an, dass ich den Kopf nicht hängen lassen soll. Sie denkt, dass ich zerknirscht darüber bin, noch immer arbeitslos zu sein.
Dabei hab ich es nicht eilig, einen Job zu finden. Selbst wenn ich morgen in mein altes Leben zurückkehren könnte, wenn ich wieder eine große Wohnung, viel Geld, Verantwortung und einen Dienstwagen hätte, wäre mein eigentliches Problem dadurch nicht vom Tisch.
«Willst du wissen, was mein eigentliches Problem ist?», frage ich. Fred, der gerade noch auf eine nahegelegene Wiese laufen wollte, hält inne, dreht sich um und hockt sich vor meine Bank wie ein alter Kumpel, der sich Zeit zum Zuhören nimmt.
«Okay, wenn du es wirklich wissen willst, sage ich es dir.» Fred spitzt seine anderthalb Ohren. «Mein eigentliches Problem ist, dass ich mich völlig überflüssig fühle.»
Mein Hund sieht mich ratlos an. Ich nicke. «Ja. Ich weiß nicht, was ich auf diesem Planeten verloren habe.»
Fred hockt unbeweglich da und wartet. Ich lasse mich |262|auf die Bank sinken, strecke die Beine aus, schiebe eine Hand unter den Hinterkopf und blicke durch eine Baumkrone in die Nachmittagssonne.
«In der Liebe hab ich kein Glück. Im Job auch nicht. Ich habe keine besonderen Fähigkeiten und nichts, wofür ich mich wirklich begeistere. Ich bin einer von Milliarden Mittelmäßigen, die in irgendeinem Büro irgendeinen Job erledigen, den ein anderer ebenso gut machen könnte. Eines Tages werde ich vielleicht eine Frau heiraten, die auch mit einem anderen glücklich geworden wäre. Ich bin völlig austauschbar. Ich könnte mein Leben auch damit verbringen, auf dieser Parkbank zu liegen und mit einem Hund zu reden. Versteh mich nicht falsch, Fred.» Ich schaue zur Seite. «Das ist nichts gegen dich persön …» Ich stutze. «Fred?» Fred ist nicht mehr da.
Ich erhebe mich, blicke über die Wiese und sehe, dass mein Hund inzwischen mit irgendwelchen Pudeldamen herumtollt.
«Danke fürs Gespräch, du Arsch!», rufe ich über die Wiese und kassiere indignierte Blicke von einem vorbeispazierenden Rentnerpaar.
Ich beschließe, meine Tage von nun an optimistisch zu beginnen. Dazu gehört, dass ich mich darüber informiere, was in der Welt passiert.
«Du willst wirklich eine Zeitung bei mir kaufen?», fragt Kostas ungläubig.
Ich lege das Geld auf den Tresen, er greift zum Handy. «Das muss ich gleich meinem Bankberater erzählen.»
Mit einem starken Kaffee lasse ich mich am Küchentisch nieder und breite die Zeitung vor mir aus. Meine Laune verschlechtert sich. Es wimmelt von Katastrophen, Kriegen, Unfällen, Krisen, Familiendramen und anderen Grausamkeiten. |263|Ein Artikel erregt mein Interesse. Auf einem Jahrmarkt ist die Gondel eines Riesenrads abgerissen und dreißig Meter in die Tiefe gestürzt, aber wie durch ein Wunder hat der einzige Insasse unverletzt überlebt. Auf dem Foto ist der kleine Alphons zu erkennen, der von einem sichtlich schockierten Konstantin auf den Armen gehalten wird.
Mit einem Lächeln schiebe ich die Zeitung zur Seite und blicke zu Fred, der gelangweilt in einer Ecke liegt. «Hast du eigentlich auch das Gefühl, dass heute ein besonderer Tag ist?», scherze ich. Keine Reaktion.
Es klingelt.
«Siehst du?», sage ich zu Fred und erhebe mich.
Ich öffne. Es ist Audrey.
«Musstest du unbedingt in ein Haus ohne Aufzug ziehen?», fragt sie schnaufend. Sie ist schwanger.
«Komm rein», sage ich erstaunt.
«Nein. Wir können das auch gleich hier …» Sie unterbricht sich, umfasst ihren Bauch und verzieht dabei schmerzvoll das Gesicht. Dann drängt sie sich an mir vorbei, setzt sich auf einen Stuhl und atmet ein paarmal durch.
«Möchtest du ein Glas Wasser oder so?», frage ich hilflos.
Sie schüttelt den Kopf. «Geht schon wieder.»
Ich setze mich. «Okay. Was ist los?»
«Ich wollte unser Kind eigentlich zur Adoption freigeben», beginnt sie.
«Aha», sage ich, ohne wirklich zu begreifen, was sie da gerade gesagt hat.
Sie atmet hörbar aus. «Ich hab gedacht, es wäre unmöglich, um die Welt zu fliegen und nebenbei ein Kind großzuziehen. Andererseits kann ich meinen Job nicht aufgeben. Ich würde depressiv werden. Oder wahnsinnig.»
|264|«Unser Kind?», rekapituliere ich wie jemand, der vom Dach gefallen ist und jetzt überlegen muss, wie er heißt und wo er wohnt.
«Ja», erwidert sie und blickt auf ihren Bauch. «Unser Sohn. Ein Quickie unter der Dusche hat offenbar gereicht. Soll ja vorkommen.»
«Aha», sage ich erneut und beginne nun langsam, die Dimension dieser Nachricht zu begreifen.
«Ich weiß, was du denkst», sagt sie. «Aber es ist definitiv von dir. Ich rede zwar viel über Sex, das gehört zu meinem Job. Aber eigentlich führe ich das unspektakuläre Liebesleben eines ganz normalen Singles. Außerdem hatte ich damals eine Krise mit Shawn. Du bist jedenfalls der Einzige, der als Vater in Frage kommt.»
«Die Frage hab ich mir gar nicht gestellt», bemerke ich.
«Egal», fährt sie fort. «Jedenfalls hatte ich ursprünglich geplant, dass du es nie erfährst. Aber in den letzten Wochen habe ich meine Meinung geändert.»
Die Gedanken rauschen durch meinen Kopf wie ein reißender Gebirgsfluss. «Ja, das merke ich gerade», erwidere ich hilflos.
Sie sieht mich mit ernster Miene an. «Paul, ich bin nicht hier, weil ich irgendetwas von dir erwarte. Ich kann unser Kind allein aufziehen. Ich hab mit Lissy gesprochen, und sie wird mich unterstützen.»
«War sie begeistert, dass ich der Vater bin?», werfe ich ein.
«Großmutter sieht die Sache pragmatisch», erwidert Audrey. «Und sie hat mir versichert, dass ich mich auf meine Familie verlassen kann.»
«Ach? Und auf mich kannst du dich nicht verlassen.»
«So habe ich das nicht gemeint, Paul. Ich möchte dir |265|nur erklären, dass ich keinen Ernährer brauche. Und ich möchte auch nicht, dass du dich nur aus irgendwelchen moralischen Gründen um deinen Sohn kümmerst. Wenn du ihm ein Vater sein willst, dann solltest du das aus freien Stücken tun.»
Ich überlege kurz, dann nicke ich. «Ja, ich möchte ihm ein Vater sein.»
Es ist keine rationale Entscheidung, sondern ein Gefühl, das leicht und klar durch meinen Gedankenwust hindurchscheint und merkwürdigerweise keine andere Antwort zulässt.
Audrey zieht die Stirn kraus. «Du musst das nicht sofort entscheiden. Überleg es dir in aller Ruhe.»
«Nein, nicht nötig», erwidere ich. «Ich möchte für ihn da sein.»
«Paul!» Audrey klingt nun leicht verärgert. «Schlaf wenigstens eine Nacht drüber. Es ist eine weitreichende Entscheidung. Wenn du sie in einer Minute triffst und in der nächsten bereust, dann hat niemand was davon.»
«Aber ich bin mir sicher», insistiere ich. «Ich muss nicht überlegen.»
«Ich hab monatelang überlegen müssen», erwidert sie.
«Aber ich weiß es einfach», versuche ich einen weiteren Anlauf.
Audrey erhebt sich mühsam, sie wirkt verstimmt. «Ich nehme den nächsten Zug zurück nach London. Bis zur Geburt wohne ich bei Iris und Timothy.» Sie legt einen Zettel auf den Tisch. «Hier ist die Adresse, es ist ein kleines Cottage, etwas außerhalb. Denk in Ruhe über alles nach. Und wenn du dann immer noch der gleichen Meinung bist, dann komm nach London, und wir besprechen alles.»
|266|«Bei Iris und Timothy?», frage ich. «Wissen die beiden Bescheid?»
«Klar», erwidert Audrey. «Das Kind wird wahrscheinlich in London aufwachsen. Wie du weißt, wohnen da meine Schwester und meine Tante. Und vielleicht auch bald meine Großmutter. Außerdem habe ich viele Freunde in London.»
«London, aha. Und ich habe in dieser Frage nichts zu melden?»
Audrey seufzt ungehalten, es ist mehr ein Schnaufen. «Willst du dich hier als alleinerziehender Vater durchschlagen, oder was?»
«Warum nicht?», erwidere ich trotzig.
Audrey sieht mich an, und in ihrem Gesicht lese ich, dass das Gespräch nun beendet ist. «Bitte. Denk in Ruhe über alles nach, Paul. Und dann sehen wir weiter. Okay?»
Ich überlege. Sie hat recht. Kann ja durchaus sein, dass ich mich gerade in etwas hineinsteigere, was ich schon morgen völlig anders sehe.
«Okay», nicke ich.
In der folgenden Nacht finde ich kaum Schlaf. Ich wälze mich im Bett hin und her und stelle irgendwann fest, dass die rechte Seite für Euphorie und die linke für Depression steht. Das System gefällt mir ganz gut, und so beginne ich, damit zu arbeiten. Ich rolle mich also nach links und sehe einen abgehalfterten Paul Schuberth, der mit einer Drehorgel durch die Straßen zieht, während sein schäbig gekleidetes Kind von den Passanten Kleingeld erbittet. Dann rolle ich mich nach rechts und erblicke ein gemütliches Haus im Herzen von London, in dessen Garten ein glückliches Kind spielt, während Audrey und ich auf der großzügigen Terrasse ein Tässchen Tee genießen. Ich rolle mich |267|nach links und klopfe an wildfremde Häuser, um ein Stück Brot zu erbetteln, ich rolle mich nach rechts und klatsche Beifall zum Universitätsabschluss meines Sohnes. Links: Ich werde im Tower in Ketten gelegt, weil ich einen Apfel gestohlen habe. Rechts: Mein Sohn gewinnt den America’s Cup. So geht das bis zum Morgengrauen.
«In welcher Zeitung werden billige Reisen angeboten?», frage ich.
Kostas hebt den Kopf. «Ich dachte, du wolltest arbeiten. Das klingt aber eher nach Urlaub.»
«Ich muss für ein paar Tage nach London. Könntest du übrigens auf Fred aufpassen?»
«Jaja», knurrt Kostas, kommt um den Tresen herum und greift nach einer Illustrierten. Er blättert darin und findet, was er sucht. «Hier. Busreisen nach London.»
«Busreisen?», frage ich erstaunt.
«Ist am billigsten. Brauchst du ein Hotel?»
Ich schüttele den Kopf.
Er zeigt auf eine Werbung. «Dann ist das hier das Richtige. Hin- und Rückfahrt für neunundzwanzig Euro.»
«Kannst du mir was pumpen?»
«Ach, Paul!»
«Bitte, Kostas! Es ist wirklich wichtig.»
Er sieht mich an, und mein Gesichtsausdruck scheint ihn davon zu überzeugen, dass ich tatsächlich in Not bin. Kostas schüttelt bedächtig den Kopf, dann geht er zum Tresen und öffnet die Kasse.
Ein paar Stunden später sitze ich in einem uralten Bus, dessen Fahrgeräusche entfernt an «Let’s spend the night together» von den Stones erinnern. Passenderweise wird es langsam dunkel. Der Fahrer hat uns eben mit schwerer Zunge |268|eine gute Nacht gewünscht. Auf den durchgesessenen Sitzen kann man mit dem Hintern die Sprungfedern zählen, die Rückenlehnen lassen sich keinen Millimeter nach hinten stellen. Deshalb denkt auch niemand an Schlaf. Wer das Glück hat, eine funktionierende Leselampe erwischt zu haben, der hält sich damit wach, die anderen plaudern oder spielen Karten. Wir alle wissen, dass diese Fahrt nicht ewig dauert, sondern lediglich elendige fünfzehn Stunden.
Ich ziehe mein Handy hervor und wähle Schamskis Nummer.
«Paul! Wie geht’s?»
«Ging schon besser. Ich bin auf dem Weg nach London. Audrey hat mir gestern einen Besuch abgestattet.»
Ein kurzes Schweigen.
«Dann weißt du es also», erwidert Schamski.
Ich stutze. «Du warst im Bilde und hast mir nichts gesagt?»
«Ich weiß es auch erst seit ein paar Tagen. Das wurde alles im engsten Familienkreis verhandelt. Aber lass uns doch gleich reden. Ich hol dich ab. Sag mir, wann du ankommst.»
«Morgen, am späten Vormittag», erwidere ich.
«Womit bist du unterwegs?», fragt er. «Mit dem Fahrrad?»
«Nein, mit ’nem Bus», sage ich und will nicht weiter drüber reden.
«Okay», sagt Schamski gedehnt.
«Kannst du mir in London einen Job besorgen?», frage ich.
«Du willst wirklich nach London ziehen?»
«Ich weiß noch nicht. Vielleicht erst mal für ’ne Weile.»
Schamski atmet hörbar aus. «Da du ja jetzt zur Familie |269|gehörst, könntest du dich um die Familienangelegenheiten kümmern. Da gibt es genug zu tun.»
«Ja, guter Witz», erwidere ich matt. «Kannst du mir jetzt einen Job besorgen oder nicht?»
«Ich meine es ernst», sagt Schamski. «Im Moment arbeiten alle daran, zu retten, was zu retten ist. Vielleicht reicht es für einen Neuanfang. Wir könnten deine Hilfe gebrauchen.»
«Elisabeth würde eher ins Armenhaus gehen, als mir einen Job zu geben.»
«Ach was! Großmutter ist Pragmatikerin …»
«Großmutter?», wiederhole ich entrüstet. «Du nennst sie Großmutter?»
«Klar», erwidert Schamski. «Solltest du übrigens auch tun. Sie mag das.»
«Verstehe. Du erwartest, dass ich bei ihr zu Kreuze krieche.»
«Deine Entscheidung», sagt Schamski. «Aber es wäre in jeder Hinsicht besser. Außerdem hast du ja schon einen ziemlich guten Rückhalt in der Familie. Timothy steht auf deiner Seite, ich sowieso …»
«Moment!», sage ich entschieden. «Ich gehöre überhaupt nicht zu dieser Familie …»
«Tust du doch», geht Schamski dazwischen. «Wenn du deinem Kind helfen willst, dann musst du dich mit der Familie arrangieren. So einfach ist das.»
Ich schweige abrupt. Er hat, verdammt nochmal, recht.
«Ich kann dir aber gerne einen anderen Job besorgen», fährt Schamski fort. «Sicher nichts Tolles, aber irgendwas, wovon man leben kann.»
«Nein», sage ich. «Ich überleg mir das alles nochmal. Du hast wahrscheinlich recht.»
|270|«Natürlich hab ich recht!», sagt Schamski gutgelaunt. «Ich bin ja auch quasi dein Schwiegeronkel.»
«Danke für deine Hilfe, Schwiegeronkel. Wir sehen uns morgen.»
«Ruf einfach an», sagt Schamski und beendet das Gespräch.
Ich stecke mein Handy weg, wende den Kopf zum Fenster und blicke nachdenklich in die Dunkelheit. Dann bemerke ich, dass mein Sitznachbar mich beobachtet, ein älterer Herr mit einem feinen Oberlippenbart und einem freundlichen Gesicht.
«Ärger mit der lieben Familie?», fragt er und lächelt verständnisvoll.
«Ja», antworte ich. «Dabei hab ich sie erst seit gestern.»