Ich hatte eben Sex mit Audrey. Erstaunlich, dass mein Körper das hinbekommen hat, obwohl ich nach dem Match mit Timothy bereits klinisch tot war. Die vergangenen Monate haben mir viel Arbeit und wenig Sex beschert. Deshalb wollte mein Lustzentrum die günstige Gelegenheit wohl nicht verstreichen lassen und hat alle körperlichen Reserven mobilisiert.
Wobei Audrey auch ziemlich mobilisierend wirkt, denn sie ist nicht nur jung und schön, sondern auch ansprechend verludert. Jetzt ist mein Duschgel leer, der Vorhang hat an einer Ecke einen Riss, und ich weiß, wie ihr Tattoo aussieht. Vielleicht gibt es ja da draußen doch einen Gott, der mir als Trost für meine schändlichen Leistungen auf dem Tenniscourt einen Quickie mit einem Hippiemädchen spendiert hat.
Obwohl ich mich im Moment ziemlich gut fühle, weil mein Gehirn in Hormonen badet, ärgert mich, dass ich meinen Prinzipien untreu geworden bin. Das ist zwar nichts Neues, aber ich dachte, mit zunehmendem Alter wäre es einfacher, seinen Prinzipien zu folgen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Zum einen ist mein professioneller Plan im Eimer. Zum anderen habe ich immer noch eine Schwäche für Iris, was mich aber nicht daran gehindert hat, mit ihrer Schwester unter die Dusche zu |54|steigen. Ein moralisch akzeptables Verhalten sieht definitiv anders aus. Da würde mir wohl auch die Familie von Beuten zustimmen. Wenn herauskäme, dass ich mit Audrey geschlafen habe, wäre meine Zeit als Vorstandschef zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hätte. Elisabeth mag mich sowieso nicht, für sie wäre die Gelegenheit ideal, mich abzuschießen. Timothy und Konstantin würden sich auf die Seite der Patriarchin schlagen, gefolgt von Melissa, die bestätigt fände, dass Männer meines Alters entweder beziehungsunfähig, suchtkrank oder verhaltensauffällig sind. In gewisser Weise hat sie sogar recht, ich hätte mich unter der Dusche ja auch anders entscheiden können. Ich habe mich also moralisch zweifelhaft verhalten, was mich nun politisch in große Schwierigkeiten bringen könnte. Kurz gesagt: der Klassiker.
«Dr. Schuberth?» Konstantin reißt mich aus meinen Gedanken. Seit mehr als zwei Stunden reden wir über die künftige Geschäftspolitik, und er wird nicht müde, sich als Traditionalist in Szene zu setzen. Jeder seiner Diskussionsbeiträge dreht sich um das Bewahren des Erreichten durch effizientes Kostenmanagement und einen umfassenden Investitionsstopp. Wäre Konstantin ein hanseatischer Kaufmann, würde er sich zum einen weigern, die alten Windjammer durch moderne Containerschiffe zu ersetzen, und zum anderen bei den Segeln sparen.
Da es sich heute um unser erstes Treffen handelt, halte ich mich mit meiner Meinung zurück. Morgen möchte ich eine Analyse der massiven Verluste in unseren Printprodukten durch konkurrierende Online-Dienste vorstellen, danach müsste auch Konstantin einsehen, dass man eine Sturmflut nicht verhindert, indem man seine Gummistiefel verscherbelt.
|55|«Entschuldigung, ich war gerade in Gedanken. Wie war Ihre Frage?»
Konstantin streckt sich in seinem Sessel, man merkt, er fühlt sich ungeheuer kreativ und effizient. «Ich habe angeregt, die Porto-Politik im Verlag genau unter die Lupe zu nehmen, und wollte wissen, was Sie davon halten, Dr. Schuberth.»
Ratlos schaue ich in die Runde. Timothy blickt zur Decke, er scheint die Sitzung auch etwas zäh zu finden. Der alte von Beuten wirkt schon seit einer Stunde teilnahmslos. Wahrscheinlich ist ihm ebenso langweilig wie mir, weshalb er im Geiste die Alkoholvorräte durchgeht oder neue Cocktails kreiert.
«Die Porto-Politik», sage ich und habe keinen blassen Schimmer, was Konstantin meinen könnte.
«Genau», erwidert der beflissen. «Wir verschicken täglich Briefe, Zeitungen und Pakete. Ich vermute, da gibt es ein enormes Einsparpotenzial.»
«Ich werde das überprüfen», erwidere ich und kritzele «Porto-Politik» auf meinen Block. Dort stehen inzwischen rund ein halbes Dutzend Vorschläge von Konstantin. So regt er beispielsweise an, die im Verlag verwendeten Seifen- und Papierhandtuchspender mit dem Hinweis «Sei sparsam» zu versehen oder die Firmenwagen nur noch vierzehntäglich statt wöchentlich zu waschen. Außerdem hat Konstantin die bahnbrechende Idee, künftig im Verlag keine Heißgetränke mehr auszuschenken. Mal abgesehen davon, dass es Kunden und Bankvertretern großes Vertrauen in die Zukunft eines Unternehmens gibt, wenn man ihnen Leitungswasser vorsetzt, hat Konstantin übersehen, dass die Mitarbeiter längst für ihren Kaffee zahlen. Es gibt mehrere Münzautomaten im Haus, am Ende des Monats |56|bleibt nach Abzug der Kosten sogar noch etwas Geld übrig, davon macht die Belegschaft einmal im Jahr einen Ausflug oder ein Grillfest.
«Müssen wir das denn machen mit dem Grillfest?», hatte Konstantin auf meine Erklärung hin ebenso forsch wie investigativ nachgehakt.
«Wir könnten beim Grillfest auf das Grillen verzichten», hatte ich gescherzt, was Konstantin aber wohl für einen ernsthaften Vorschlag hielt, denn er nickte und machte sich Notizen.
In diesem Moment begann meine innere Emigration. Ich bin mir im Klaren darüber, dass Unternehmen effiziente Strukturen brauchen und deshalb Kosten reduziert werden müssen, wo immer das möglich ist. Trotzdem finde ich es ziemlich widerlich, wenn millionenschwere Eigentümer auf ihren Yachten und mallorquinischen Sommerresidenzen darüber grübeln, wie sie in ihren Unternehmen Toilettengebühren einführen oder den Mitarbeitern die Pinkelpausen vom Gehalt abziehen können.
Zum Glück muss ich mich nicht länger aufregen, denn unsere Erbsenzählerrunde neigt sich dem Ende zu. Konstantin dankt den Anwesenden für den konstruktiven Vormittag und beschließt die Sitzung.
«Ach, eine Kleinigkeit noch, Dr. Schuberth», sagt er, als wir schon im Aufbruch begriffen sind. «Ich hatte heute Morgen Gelegenheit, mit Mutter über Ihre Vorschläge für die personelle Besetzung des Vorstands zu sprechen. Dr. Raakers scheidet ja aufgrund seiner Probleme leider als Ihr Stellvertreter aus …»
Raakers hat sich kürzlich von seiner Frau getrennt und sich zu seiner Homosexualität bekannt. Mag sein, dass er momentan Probleme hat, die sind aber wahrscheinlich |57|kleiner als jenes, ständig mit dem falschen Geschlechtspartner im Bett zu liegen.
«Es ist ja sowieso fraglich, ob er seine Aufgaben perspektivisch überhaupt noch erfüllen kann …»
Görges, mein Vorgänger, hat mich bereits davor gewarnt, dass die konservative Familie von Beuten enorme Schwierigkeiten mit einem schwulen Finanzchef haben wird. Konstantins Attacke trifft mich also nicht ganz unvorbereitet.
«Was aber nun Ihren Wunsch betrifft, Herrn Schamski zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden zu machen, so möchte Mutter in dieser Sache ihr Veto einlegen.»
Jetzt bin ich doch baff. Elisabeth von Beuten akzeptiert Schamski nicht als meinen Stellvertreter. Das freundlich formulierte Veto ist nichts anderes als ein klares Nein.
«Das wundert mich. Ich habe Herrn Schamski nicht nur ausgewählt, weil er viele Jahre im Verlag tätig ist, sondern auch, weil er …»
Weiter komme ich nicht, denn Konstantin fällt mir ins Wort. «Herr Schamski hat mit Sicherheit eine Menge Qualitäten, Dr. Schuberth. Mutter glaubt aber nicht, dass er die politischen Fähigkeiten besitzt, den Verlag alleine zu führen, falls Sie längerfristig verhindert sind.» Konstantin sagt es mit einer Verbindlichkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte. «Und ich muss gestehen, ich stimme Mutter zu. Herr Schamski ist gelernter Automechaniker, hat dann eine Umschulung gemacht, war mal selbständig und ist schließlich als Anzeigenverkäufer bei uns gelandet.»
«Und hat sich zum Vertriebschef hochgearbeitet», hake ich ein.
«Trotzdem ist sein Lebenslauf alles andere als vertrauenerweckend», erwidert Konstantin ungerührt. «Außerdem |58|verfügt Herr Schamski nicht mal über eine akademische Ausbildung.»
Da liegt also der Hase im Pfeffer. Im Hause von Beuten umgibt man sich mit Aristokraten und Akademikern. Alle anderen dürfen Hecken schneiden oder die Küche in Ordnung halten.
Für einen Moment habe ich große Lust, Konstantin zu sagen, dass er seinen Scheiß allein machen kann. Ich besinne mich aber und erwidere: «Ich möchte mir das gerne durch den Kopf gehen lassen.»
«Tun Sie das», erwidert Konstantin jovial. «Wir können ja später nochmal darüber sprechen, welche Kandidaten sonst noch in Frage kommen.»
Bevor ich etwas erwidern kann, hat er zusammen mit Timothy das Zimmer verlassen. Der alte von Beuten erhebt sich, klopft mir kurz auf die Schulter und sieht mich mit einem verständnisvollen Blick an, der zu sagen scheint: Nimm es nicht allzu tragisch, alter Junge. Elisabeth hat schon ganz anderen Leuten den Vormittag versaut – und mir das ganze Leben.
Für den mittäglichen Bootsauflug nebst Picknick in einer einsamen Bucht habe ich mich bereits beim Frühstück abgemeldet. Ich möchte die morgige Präsentation nochmal durchgehen und muss ein paar Telefonate führen. Ich hätte jetzt sowieso keine Lust, mit den von Beutens Höflichkeiten auszutauschen. Konstantins Blasiertheit und Elisabeths Selbstherrlichkeit gehen mir wahnsinnig auf den Senkel. Um mich zu beruhigen, mache ich einen Spaziergang. Leider falle ich dabei Melissa in die Hände.
«Mr. Schuberth! Wie schade, dass Sie nicht an unserem kleinen Ausflug teilnehmen können.» Sie hakt sich geschmeidig bei mir ein.
|59|Wir gehen ein paar Meter, derweil sie sich umsieht, ob jemand in Hörweite ist. «Warum bist du gestern Nacht nicht gekommen?», fragt sie und fügt in gespielt tadelndem Ton hinzu: «Das ist keine Art für einen Gentleman. Ich habe auf dich gewartet.»
Zum einen bin ich kein Gentleman, zum anderen hatte ich gehofft, Melissa würde den Plan, mit mir eine Familie zu gründen, noch einmal überdenken, wenn ich dem Rendezvous unhöflicherweise einfach fernbliebe.
«Ich hatte uns eine Flasche Champagner mitgebracht», sagt sie und flirtet. «Ich dachte, wir würden mit dem Boot ein Stück rausfahren und den Sternenhimmel betrachten.»
Was Frauen Männern in den letzten Jahrzehnten so alles abgeguckt haben, ist wirklich beängstigend.
«Melissa, du bist eine attraktive Frau …», beginne ich, aber sie winkt ab.
«Paul, das weiß ich. Ich bin attraktiv, ich habe Geld, ich mag gutes Essen, edle Weine und luxuriöse Hotels. Außerdem bin ich gebildet, und man kann sich ausgezeichnet mit mir unterhalten.» Sie sieht mir direkt in die Augen und bellt: «Was, zur Hölle, spricht also gegen ein Rendezvous mit mir?»
«Nichts», erwidere ich kleinlaut.
Allenfalls die Tatsache, dass Melissa mir Angst einjagt.
«Aber …?», fragt sie bedrohlich.
Ich überlege angestrengt. «Ich wollte Berufliches und Privates nicht vermischen», versuche ich mich zu retten.
Ich bin nicht eben stolz auf diese Finte.
Sie mustert mich, überlegt nun ihrerseits. «Und das ist keine Ausrede?»
«Nein!», lüge ich wie aus der Pistole geschossen.
|60|Sie sieht mich immer noch an und scheint sich etwas zu entspannen.
«Gib uns einfach ein paar Tage Zeit», sage ich und mache einen leicht zerknirschten Eindruck, als sei ich selbst unglücklich darüber, unsere Romanze kurzzeitig aufschieben zu müssen. «Lassen wir es ruhig angehen, was hältst du davon?»
Sie überlegt, während ich mich angemessen dafür schäme, was für ein Schmierentheater ich ihr da gerade vorspiele.
«Okay», sagt sie mit einem Lächeln. «Ich warte.» Sie küsst mich kurz auf die Wange und wendet sich ab. Im nächsten Moment dreht sie sich noch einmal um und wirft mir einen koketten Blick zu: «Aber ich warte nicht zu lange, Mr. Schuberth.»
Sie flaniert Richtung Bootssteg, ich sehe ihr nach. Sollte sie rauskriegen, dass ich heute Morgen mit Audrey gevögelt habe, wird Melissa von Beuten nicht eher ruhen, bis ich mit einem Anker um den Hals auf dem Grund des Meeres liege. So viel ist sicher.
Als ich etwas später die Unterlagen für meine morgige Präsentation studiere, kann ich mich nicht richtig konzentrieren. Ich ärgere mich. Es war eine idiotische Idee, mit Audrey zu schlafen. Ich hätte das wissen müssen. Die größten Komplikationen auf der Welt entstehen durch unkomplizierten Sex. Wenn Audrey unser Tête-à-Tête ausplaudert, was nicht unwahrscheinlich ist, weil sie sowieso das Herz auf der Zunge trägt, dann kann ich meine Koffer packen. Außerdem regt es mich auf, dass Elisabeth Schamski nicht im Vorstand duldet. Ich möchte um keinen Preis auf ihn als meinen Stellvertreter verzichten. Wenn nicht die Affäre mit Audrey gegen den Job spricht, dann die Personalie |61|Schamski. Im Prinzip kann ich den Kram also auch hinschmeißen. Ich überlege und merke dabei, dass ich noch keine Lust habe, jetzt schon die Flinte ins Korn zu werfen. Ich muss mit Audrey reden. Und ich muss Schamski anrufen.
Ich greife zum Handy und wähle seine Nummer.
«Wie läuft’s im Circus Maximus?» Er ist bester Laune.
«Geht so. Ich hab mit der jungen von Beuten geschlafen. Und deren Tante stellt mir nach. Außerdem hassen mich alle, ich soll Raakers feuern, und sie wollen dich nicht als meinen Stellvertreter. Ob ich den Job überhaupt bekomme, ist mehr als fraglich.»
Eine kurze Pause entsteht.
«Na, das klingt doch alles lösbar», sagt Schamski gemütlich.
«Kannst du nach Mallorca kommen?»
«Klar. Wann?»
«Morgen früh. Zur Sitzung. Ich möchte, dass sie dich kennenlernen. Wenn sie dann immer noch der Meinung sind, du bist der Falsche für den Job, dann sehen wir weiter.»
«Die Kavallerie ist unterwegs», sagt Schamski sonnig.
«Die Kavallerie soll Anzug und Krawatte mitbringen», erwidere ich.
«Ich lasse mir nichts von Zivilisten befehlen», sagt Schamski und legt auf.
Etwas später stehe ich vor dem Gartenhaus von Uschi und Jupp. Ich möchte fragen, ob ich einen Wagen bekommen kann, um in die Stadt zu fahren. Einerseits schulde ich Günther noch einen Anruf, den ich aus Gründen der internationalen Sicherheit von einem öffentlichen Telefon aus führen muss, andererseits würde ich wahnsinnig gern |62|normale Menschen sehen und einen Drink in einem normalen Café nehmen.
Ich klopfe.
«Ja!», ruft Uschi fast im selben Moment.
Ich öffne die Tür und stoße dabei gegen eine leere Flasche. Sie rollt laut klackernd über die Terrakottafliesen.
Jetzt sehe ich den Hinterkopf von Uschi. Sie liegt im Bett, ihre blonden Haare sind zerzaust. Dahinter ragen ihre großen, nackten Brüste unter der Bettdecke hervor.
Ich will gerade eine Entschuldigung stammeln, weil ich offenbar etwas falsch verstanden habe, da taucht zwischen Uschis Brüsten der Kopf des alten von Beuten auf.
«Es ist nicht so, wie Sie denken, Paul», sagt er leicht lallend.
«Genau! Der Karl und isch, wir lieben uns!», ruft Uschi.
Binnen der nächsten Minuten erfahre ich, dass Karl und Uschi seit fast zwanzig Jahren ein heimliches Liebespaar sind. Sie kannten sich schon, als Uschi und Jupp noch ihren Suppenimbiss betrieben. Karl hat es arrangiert, dass die beiden auf das Anwesen der von Beutens ziehen konnten. Jupp ist nicht Uschis Mann, sondern ihr Bruder. Er kam auf die Insel, weil er sich in eine Kneipiersgattin aus Palma verliebte. Nachdem er deren Ehemann überlebt hatte, hätte Jupp eigentlich bei der Witwe einziehen können, behielt aber seinen Wohnsitz im Gartenhäuschen bei, um Uschis Tarnung nicht zu gefährden. Gäbe es in der ganzen Geschichte noch eine verscharrte Leiche und einen diabolischen Staatsanwalt, könnte man einen prima Groschenroman daraus machen.
Ich gönne Elisabeth von Herzen, dass ihr Mann sie mit Uschi betrügt. Und ich gönne der frostigen Patriarchin |63|auch, dass es sich bei ihrer Nebenbuhlerin um eine Frau aus dem Volk handelt, die obendrein zum Personal gehört und keine akademische Ausbildung hat, weil Uschi damit nämlich all das in sich vereint, was Elisabeth zutiefst verachtet.
Mehr noch gönne ich Karl und Uschi ihre heimliche Romanze. Ich verspreche deshalb, bei niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren. Die beiden wollen mich für mein Schweigen bezahlen, aber ich lehne selbstredend kategorisch ab. Außerdem finde ich es rührend, dass sie seit Ende der Achtziger darauf sparen, eines Tages ein neues Leben anzufangen. Uschis bescheidene Ersparnisse und Karls noch bescheideneres Taschengeld werden aber wohl erst nach Karls neunzigstem Geburtstag für einen Neuanfang reichen. Wenn überhaupt.
Auf dem Weg in die Stadt bin ich bester Laune. Das Cabrio schnurrt die Serpentinen entlang, ein warmer Wind streicht durch mein Haar, in der Ferne glitzert das Meer. Ein schöner Tag, und das in doppelter Hinsicht, denn ich habe gerade neue Verbündete gefunden.
Das Städtchen wirkt verschlafen und wenig touristisch. Im Zentrum gibt es einen kleinen Marktplatz mit einem Brunnen. Wie ich richtig vermutet habe, befindet sich dort auch ein Café. Es ist bunt eingerichtet und macht einen freundlichen Eindruck. Die meisten Gäste sitzen plaudernd und trinkend im Freien, drinnen ist es fast leer.
Ich stehe an der Theke, nippe abwechselnd an meinem Café con leche und meinem Mineralwasser und wähle mit dem Hausapparat Günthers Nummer in Kansas. Die Verbindung ist jetzt in seinem Sinne zwar sicher, dafür kann das halbe Städtchen unser Gespräch mitverfolgen. Das werde ich ihm aber dezent verschweigen.
|64|«Okay, ich rufe dich gerade von einem öffentlichen Fernsprecher aus an. So, wie du es wolltest. Also, was gibt’s?»
«Das erklär ich dir später. Ich brauch deine Hilfe.»
Ich spüre, dass ihn etwas beunruhigt.
«Hast du Ärger mit der Polizei oder so?»
«Nein!», erwidert Günther entschieden. «Überhaupt nicht! Aber hör auf, mich zu löchern. Sag einfach, ob du mir hilfst.»
Oft entpuppen sich Günthers gewaltige Probleme bei näherem Hinsehen als mikroskopisch kleine Schwierigkeiten. Ich weiß das aus Erfahrung. Mir ist aber auch klar, dass Günther nicht eher Ruhe gibt, bis er das selbst herausgefunden hat. Ich stecke also mal wieder mitten in einem von seinen bekloppten Plänen zur Lösung eines wahrscheinlich bekloppten Problems.
«Klar helfe ich dir», seufze ich. «Was soll ich tun?»
«Im Moment noch gar nichts», sagt Günther. «Aber ich werde dir eine Botschaft zukommen lassen. Und dann musst du dich bereithalten.»
«Ausgezeichnet», sage ich. «Soll ich uns denn schon mal Waffen besorgen? Und falsche Pässe?»
Günther atmet geräuschvoll aus. «Paul, ich hab hier ’n Problem. Da musst du mich nicht auch noch verarschen.»
«Günther», sage ich freundschaftlich. «Jetzt rück doch mal raus mit der Sprache. Vielleicht ist die Sache gar nicht so kompliziert, wie du denkst.»
«Doch, ist sie», erwidert Günther. «Ich meld mich.» Dann wird das Gespräch beendet.
Ich lege auf und nehme meinen Kaffee nebst Wasser, um mich ins Freie zu setzen. In diesem Moment tritt eine Frau an die Theke. Ich erstarre. Es ist Iris. Fast hätte ich sie nicht erkannt, denn statt ihrer dunklen Locken trägt |65|sie eine blonde Hochsteckfrisur. Überhaupt wirkt sie völlig verändert. Früher habe ich sie fast nur in Jeans und Pulli gesehen, jetzt ist sie in ein Haute-Couture-Kleid in sommerlichem Gelb und Rot gehüllt. Nichts erinnert mehr an die Tierärztin im schmutzig grauen Kittel, die vor ein paar Monaten meinem Hund das Leben gerettet und mir das Herz gestohlen hat. Aus dem zarten Engel ist eine mondäne Frau von Welt geworden.
Sie bemerkt mich und scheint überrascht, aber auch ein bisschen erfreut. «Paul», sagt sie und versucht, entspannt zu wirken, aber das gelingt ihr nicht ganz.
«Hallo, Iris», erwidere ich und merke, dass meine Stimme weich klingt, fast ein wenig sehnsüchtig.
Sie lächelt, und ich habe plötzlich das Gefühl, unser letztes Treffen läge nur ein paar Tage zurück und nicht schon Monate. Für einen kurzen Moment sehe ich jene Frau vor mir, mit der ich ein gemeinsames Leben gewagt hätte, die sich aber entschieden hat, einen anderen zu heiraten.
Erinnerungen blitzen auf. Ein Abendessen, leidenschaftlicher Sex, eine Hochzeitsgesellschaft. Dann ist Iris aus meinem Leben verschwunden. Ich sitze mit einer Flasche Wein in meiner Küche und beschließe, von nun an nicht mehr dem Glück hinterherzulaufen.
Gut vier Monate ist das her. Bislang habe ich mich an den Entschluss gehalten. Erst im Flugzeug, als ich das Foto von Iris sah und mir klar wurde, dass der Zufall uns wieder zusammenführen würde, war ich versucht, meinen Vorsatz über Bord zu werfen. Jetzt, wo sie mir gegenübersteht, merke ich, dass ich mich seit diesem Moment innerlich warm laufe, um dem Glück doch noch einmal hinterherzusprinten.
«Magst du dich setzen? Vielleicht was trinken?» Ich sage |66|es in einem möglichst lockeren Tonfall, obwohl ich ein wenig nervös bin.
Sie lächelt scheu. «Timothy hat mich vom Flughafen abgeholt. Er wollte noch ein paar Besorgungen machen. Sicher ist er gleich hier.»
Verstehe. Sie hat nicht erwähnt, dass wir uns kennen. Weder ihrer Familie noch ihrem Mann gegenüber. Das war zu erwarten. Trotzdem bin ich ein bisschen enttäuscht.
«Sicher», sage ich. «Ich wollte auch nicht …»
«Schon okay», erwidert Iris. «Vielleicht tun wir einfach so, als hätten wir uns nicht getroffen.»
Im gleichen Moment sehe ich in dem großen Spiegel hinter der Bar das Profil von Timothy, der gerade das Café betritt. Ohne ein weiteres Wort wende ich mich von Iris ab und tue so, als würde ich meinen Terminkalender studieren.
«Darling! Da bist du ja», höre ich in der nächsten Sekunde Timothy rufen.
Er kommt näher: «Hast du schon was bestellt?»
«Noch nicht», erwidert Iris.
«Wollen wir dann nicht lieber gleich fahren? Wir sind sowieso schon ein bisschen knapp …» Er unterbricht sich. «Paul? Sind Sie das?»
Ich drehe mich um, spiele den Überraschten. «Timothy. Hallo.»
Die Situation behagt Iris nicht, das lese ich in ihren Augen.
«Was für ein Zufall», stellt Timothy amüsiert fest. «Darling, darf ich dir unseren Gast Dr. Paul Schuberth vorstellen? Ich hab dir schon von ihm erzählt. Er ist der kommende Mann im Verlag, muss aber noch ein kleines bisschen an seiner Rückhand arbeiten.» Er grinst breit.
|67|Danke, Sportsmann, dass du Iris gleich mal meine Blamage beim Tennis auf die Nase gebunden hast.
«Freut mich», sage ich und reiche Iris die Hand.
«Ganz meinerseits», erwidert sie und lächelt leicht gequält.
«Entschuldigen Sie, Paul», sagt Timothy. «Aber wir wollten gerade los.»
«Lassen Sie sich nicht aufhalten», erwidere ich. «Wir sehen uns ja später beim Abendessen.»
«Genau.» Timothy zieht Iris sanft mit sich, und die beiden streben dem Ausgang zu. Ich sehe ihnen hinterher und habe die leise Hoffnung, dass Iris sich noch einmal kurz zu mir umschauen könnte. Aber sie tut nichts dergleichen, sie vermeidet sogar, mich anzusehen, als sie mit Timothy an dem Fenster vorbeigeht, hinter dem ich an der Bar stehe.