DIE TÜRME

10. September 2001

Am Montag verließ Maggie die Wohnung in aller Frühe. Gorham blieb noch so lange, bis die Kinder den Schulbus genommen hatten. Er wollte selbst gerade gehen, als Katie Keller mit einem ihrer Mitarbeiter über den Serviceaufzug heraufkam. Sie wollte die Behälter und Tabletts abholen, die sie zuvor ordentlich in einer Ecke der Küche aufgestapelt hatte.

»Irgendwelche großen Partys in Aussicht?«, fragte er.

»Möglicherweise etwas noch Besseres«, sagte sie. »Da gibt’s eine Firma, die von einem Vertrag für ein ganzes Bündel Geschäftsessen und sonstige Events spricht – wenn ich den bekäme, wäre das ein ziemlicher Sprung nach vorn. Ich treff mich morgen vormittag mit den Leuten. Ihr Büro ist in Downtown, im Financial District.«

»Das klingt ja großartig. Viel Glück!«, sagte er.

Dann fuhr er in die Bank. Er hatte einen vollen Tag vor sich.

Am Sonntag war es ihm gelungen, mit einem der anderen Komiteemitglieder über Dr. Caruso zu sprechen, und er hatte betont, dass Caruso ein ausgezeichneter Kandidat sei. Nicht reich, zugegeben, aber finanziell solide und durch und durch respektabel. »Maggie und ich kennen ihn seit fast zwanzig Jahren.« Eine geringfügige Übertreibung. Sobald er in der Bank war, rief er das andere Mitglied an und erhielt von ihm das Versprechen: »Wir werden ihn zu einem Gespräch einladen.«

Das war immerhin etwas. Aber er fragte sich, ob er Caruso nicht besser darauf vorbereiten sollte, dass er sich auf dem Prüfstand befand. Es wäre vielleicht ein Akt der Freundlichkeit. Aber wahrscheinlich gar nicht nötig. Vorpal hatte in der Hoffnung, den Deal schon im Vorfeld platzen zu lassen, den gegenwärtigen Eigentümer von 7B – und ebenso die Maklerin – bestimmt schon wissen lassen, dass er mit diesem speziellen Interessenten nicht glücklich sei. Also besser nicht daran rühren. Empörend fand er die Sache allerdings nach wie vor.

*

Der Anruf des Headhunters erreichte ihn um halb elf. Das Gespräch dauerte nur ein paar Minuten, und als es vorbei war, sagte Gorham seinen Mittagstermin ab und erklärte seiner Assistentin, er würde zum Lunch außer Hauses sein. Dann schloss er seine Tür, setzte sich hin und starrte, ziemlich aufgeregt, aus dem Fenster.

Um zwanzig nach zwölf verließ er sein Büro und fuhr mit dem Taxi nach Downtown. Erst um drei Uhr kehrte er wieder zurück.

*

Es war schon vier, als er sich an die alte Dame erinnerte. Er verfluchte sich dafür, dass er ihr versprochen hatte, sich bei ihr zu melden, aber versprochen war versprochen, und außerdem würde er in den kommenden Tagen so viel zu tun haben, dass es besser wäre, die Angelegenheit so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Er wählte die Nummer der Galerie.

Sie schien sich über seinen Anruf sehr zu freuen. »Ich hatte schon Angst, sie würden vergessen, sich zu melden.«

»Wie könnte ich es vergessen?«

»Ich habe etwas für Sie. Hätten Sie heute Nachmittag Zeit?«

»Leider nein«, sagte er zu ihr. Das außerplanmäßige Treffen mit dem Headhunter hatte ihm einen beachtlichen Arbeitsrückstand beschert. Sie wirkte enttäuscht.

»Meine Tochter hat heute angerufen. Ich muss im Laufe der Woche zu ihr fahren und ihr helfen, und anschließend bin ich mit meinem Mann in Urlaub. Ich bin immer dafür, alles sofort zu erledigen, ehe ich’s vergesse. Sehen Sie das nicht auch so?«

Er dachte schuldbewusst an die dreiunddreißig Jahre, die er mittlerweile hatte verstreichen lassen, ohne ihr die Motherwell-Zeichnung zu bringen.

»Absolut«, sagte er.

»Stehen Sie normalerweise früh auf?«, fragte sie.

»Oft.«

»Ich habe morgen Vormittag einen Termin«, sagte sie. »Aber wir könnten uns, wenn Sie möchten, zu einem frühen Frühstück treffen.«

»Tut mir leid, ich bin schon um halb neun verabredet.«

»Perfekt – da habe ich mein Meeting. Wollen wir sieben sagen? Im Regency an der Park wird ab sieben Frühstück serviert. Das ist doch nicht weit von Ihnen, oder?«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Eine über siebzigjährige Frau versuchte, ihn zu einem Frühstück zu einer unchristlichen Zeit zu beschwatzen, und es war praktisch unmöglich, sich da noch herauswinden. Er konnte sich bildlich vorstellen, wie sie ihre Galerie managte.

»Das würde mir prima passen«, hörte er sich selbst sagen.

Er arbeitete bis halb sieben und rief dann Maggie an, um zu hören, wann sie zu Hause sein würde. Sie sagte Viertel nach sieben.

»Nach dem Essen«, sagte er, »muss ich mit dir reden.«

»Ach?« Sie klang angespannt. »Worüber?«

»Geschäftliches«, sagte er. »Ich kann’s dir nicht am Telefon sagen. Es hat sich was ergeben.«

Sie aßen wie gewöhnlich mit den Kindern zu Abend und schickten sie anschließend an ihre Hausaufgaben. Es war schon neun, als die Kinder ins Schlafzimmer gingen und die Tür schlossen. Maggie beobachtete ihn mit einem lauernden Ausdruck im Gesicht.

»Okay«, sagte er, »heute hat mich ein Headhunter, den ich kenne, angerufen. Ich habe mich mittags mit ihm in Downtown getroffen. Es besteht die reelle Chance, dass ich einen Posten angeboten bekomme.«

»Was für einen Posten?« Sie gab sich nicht die geringste Blöße.

»Als Chief Operating Officer in einer Bank. Einer kleineren Bank natürlich. Aber sie bieten mir ein sehr verlockendes Paket an. Konkret würden sie mich aus meiner Bank freikaufen und mir ein sehr attraktives, leistungsbezogenes Gehalt anbieten. Es könnte viel Geld dabei herausspringen.« Er schwieg kurz. »Der Plan ist, dass ich in drei oder vier Jahren zum CEO aufrücken würde. Sie glauben, dass ich die nötige Erfahrung habe, um den Betrieb auf eine ganz neue Ebene zu bringen. Und nach dem, was ich gehört habe, liegen sie da nicht falsch.«

Sie hatte schon gemerkt, worauf das Ganze hinauslief.

»Wo ist die Bank?«

»In Boston. Ich würde wöchentlich pendeln. Es könnte funktionieren.«

»Dann würden wir dich also am Wochenende sehen.«

»Genau.«

»Vielleicht.«

»Am Wochenende wäre ich da.«

»Und was hältst du rein gefühlsmäßig von der ganzen Sache?«

»Lieber wär’s mir natürlich, wenn es etwas hier in New York wäre. Doch ich glaube, darauf kann ich lange warten. Rein beruflich ist es genau das, was ich schon immer gewollt habe.«

»Aber du hast drei Kinder, die dich brauchen. Willst du sie – und mich – wirklich im Stich lassen?«

»Das ist absolut unfair. Ich möchte weder sie noch dich je im Stich lassen, und das würde ich damit auch nicht tun.«

»Vielleicht theoretisch nicht, vielleicht deiner Meinung nach nicht – so, wie du die Dinge jetzt siehst. Praktisch wäre es allerdings genau das, was du tun würdest.«

»Es geht nicht darum, wie ich ›die Dinge sehe‹, Maggie. Und es besteht auch kein Grund, mich gönnerhaft zu behandeln.«

»Okay, ich werde dich nicht gönnerhaft behandeln. Wenn das absolut notwendig und für dich die einzige Möglichkeit wäre, Geld zu verdienen und uns durchzubringen, dann würde ich nichts sagen. Aber es ist völlig unnötig. Wir kommen schon so ausgezeichnet zurecht, und trotzdem willst du Frau und Kinder im Stich lassen.«

»Ich komme nicht ›schon so ausgezeichnet zurecht‹, Maggie. Ich habe die Chance, eine Bank zu leiten.«

Das war zu viel. Sie verlor die Beherrschung.

»Na, ist ja großartig, Gorham! Toll für dein Ego! Ob du damit so glücklich werden würdest, steht auf einem ganz anderen Blatt. Denn ich habe nicht den Eindruck, dass du wirklich gern Banker bist, wenn du es genau wissen willst.«

»Du willst also behaupten, ich mache meine Sache nicht gut!«

»Du machst sie vermutlich ganz ordentlich.« Sie betrat allmählich gefährliches Terrain – das musste ihr selbst klar sein –, aber jetzt war sie wütend. »Ich glaube, du siehst dich einfach gern als Banker. Das ist nicht ganz dasselbe!«

»Nun, morgen Vormittag habe ich ein Meeting mit dem Präsidenten der Bank im World Trade Center – da hat der Headhunter sein Büro. Wenn die Sache gut läuft und wir das Gefühl haben, dass wir miteinander können, dann fahre ich Anfang nächster Woche rauf nach Boston und treffe mich mit ein paar weiteren Leuten. Und wenn ich zu dem Schluss gelange, dass es eine gute Idee wäre, diese Stelle anzunehmen, dann werde ich das tun!«

»Und ich werde mir überlegen, was ich tun werde, Gorham. Denn ich glaube, dass du drauf und dran bist, dieser Ehe etwas mehr zuzumuten, als sie ertragen kann. Vielleicht solltest du auch mal darüber nachdenken!«

»Du willst unsere Ehe abschreiben? Das willst du den Kindern antun?«

»Das ist jetzt ja wohl völlig daneben!«

»Ach ja? Da bin ich mir nicht so sicher, Maggie! Du hast den beruflichen Erfolg und den Lifestyle und die Kinder. Vielleicht brauchst du ja gar keinen Mann mehr. Du könntest meinen Sitz im Vorstand neben John Vorpal übernehmen und für ewig und immerdar glücklich und zufrieden leben.«

»Erspar mir wenigstens die jämmerlicheren Aspekte deiner Midlifecrisis!«

»Weißt du was, Maggie? Du hast recht. Du hast immer recht. Du bist die perfekte Branch-&-Cabell-Anwältin, die es immer am besten weiß. Vielleicht sollte ich meine Midlifecrisis einfach für mich behalten. Man weiß ja nie – gut möglich, dass ich ein echtes Talent fürs Midlifecrisis-Haben besitze! Ich könnte am Ende einen Haufen Geld damit verdienen!«

»Ich denke, wir sollten diese Diskussion beenden.«

»Da sind wir ja ausnahmsweise mal einer Meinung!«

*

Es war ein klarer, strahlender Septembertag. Dr. Caruso verließ seine Wohnung an der West End Avenue schon früh.

Er hatte erfahren, dass es mit dem Eigentümervorstand in der Park Avenue möglicherweise Schwierigkeiten geben würde, und war gekränkt. »Liegt’s daran, dass ich einen italienischen Namen habe?«, hatte er die Maklerin gefragt. Die Erinnerungen aus seiner Kindheit waren noch sehr lebendig.

»Absolut nicht«, versicherte sie ihm. »Vielleicht hätten sie sich über etwas mehr gesellschaftliche Referenzen gefreut, aber es geht mehr ums Geld. Der neue Vorstandsvorsitzende will reichere Leute.«

Na ja, wenn das alles war, machte das Caruso nicht allzu viel aus. Er hätte es lediglich nicht gut gefunden, seine Frau gedemütigt und beschämt zu sehen. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, mit den Masters über die Sache zu reden, doch er wollte sie nicht in eine peinliche Situation bringen.

»Ich denke, wir sollten einfach zum Vorstellungsgespräch gehen«, sagte er zu seiner Frau. »Ich werde sie fragen, was sie eigentlich genau wollen, und wenn wir ihnen nicht passen, auch gut, dann sage ich denen direkt ins Gesicht, dass wir in deren Haus nicht begraben sein möchten. Höflich natürlich. Aber Unverschämtheiten lasse ich mir von denen nicht bieten!«

Nachdem er das gesagt hatte, fühlte er sich schon besser.

Außerdem musste er an diesem Dienstagvormittag zu einem Termin bei seinem Versicherungsagenten. Der Mann redete ihm seit Jahren zu, eine alte Risikolebensversicherung, die er bereits besaß, umzuwandeln. Am Ende willigte er ein. Zeitlich befristete Policen waren anfangs billiger, aber der Mann hatte schon recht, mit der Zeit wurden sie teuer. Er ließ sich einen frühen Termin geben, sodass er rechtzeitig wieder in Uptown sein würde, um seine Praxis zur gewohnten Uhrzeit öffnen zu können.

Es war ein schöner Tag. Die Versicherungsagentur lag ziemlich weit oben im Südturm des World Trade Center. Die Aussicht von da oben würde sagenhaft sein.

*

Katie Keller war von einer ruhigen Zuversicht erfüllt. Man musste aber auch zugeben, dass ihr Präsentationsbuch fantastisch war. Vielleicht hatte sie ja ein paar von Theodor Kellers Künstlergenen geerbt. Fotos von Dinnerpartys und Banketten, Geschäftsessen und -büffets wechselten sich geschmackvoll mit Speisekarten und Dankesbriefen ab. Eine Aufnahme zeigte sogar einen namhaften Finanzier, der einen Vortrag hielt, während auf einer Seite – unaufdringlich, jedoch sichtbar – ein Tisch mit ihren Erfrischungen stand.

Sie hatte Fotos von ihren Teams, unter anderem bei einem Geschäftsessen, zu dem sie ein Dutzend Kellnerinnen und Kellner hatte stellen müssen – eigentlich die Besetzung eines Off-Broadway-Musicals. Das war ein Mordsspaß gewesen. Und dann gab es noch Aufnahmen von ihrer Küche, die scheinbar bis ins kleinste in Edelstahl glänzte. Okay, ein bisschen davon war gefakt.

Ach ja, und die Blumenarrangements sahen ebenfalls ganz fantastisch aus.

Sie hatte Preislisten und Balkendiagramme dabei und ein Schaubild, das zeigte, dass ihre Kostenentwicklung immer knapp unter derjenigen der wichtigsten Konkurrenz lag. Geschäftskunden liebten solchen Schnickschnack.

Und so war Katie Keller bester Stimmung. Sie trug ein Kleid, in dem sie ebenso hübsch wie seriös aussah. Immer beide Köder auswerfen.

Am Steuer saß ihr Verlobter Rick. Als sie über die George Washington Bridge fuhren, konnte sie stromaufwärts bis hinter die Palisades schauen und hinunter zur fernen glitzernden Fläche des New York Harbour. Es war wunderschön.

Während sie den Henry Hudson Parkway den Fluss entlang hinunterfuhren, blickte sie aufs Wasser. Sie passierten den Jachthafen an der 79th Street, und in den unteren Fifties erreichten sie die großen Piers, an denen noch immer die Luxusschiffe der Cunard Line anlegten.

Auf der linken Seite standen vor allem große, lagerhausähnliche Gebäude. Katie war ausreichend mit Theodor Kellers Werk vertraut, um zu erkennen, dass er seine berühmte Fotografie von den Männern, die die Eisenbahngleise entlanggehen, irgendwo hier unten aufgenommen haben musste.

Der Verkehr hielt sich in Grenzen, und schon bald ragten die Türme des World Trade Center eindrucksvoll vor ihnen auf.

Katie Keller liebte diese Türme. Als sie dreißig Jahre zuvor errichtet worden waren, hatten manche sie, wie sie wusste, als architektonisch langweilig bezeichnet. Doch sie fand das gar nicht. Manche der glänzenden Glasbauklötze, die seitdem entstanden waren, mochten ein bisschen oberflächlich und ohne Charakter sein, nicht aber diese Türme. Die breiten horizontalen Bänder gliederten ihre strenge Vertikalität, was ihnen seltsamerweise eine schlanke Intimität verlieh. Und die dünnen, senkrechten silbergrauen Linien, die alle Fassaden schraffierten, fingen das wechselnde Licht des Himmels auf, wodurch die Gesichter der Türme einem ebenso ständigen Wandel unterworfen waren wie die weiten Wasserflächen der Bucht und des gewaltigen nordwärts gerichteten Hudson zu ihren Füßen. Manchmal schimmerten sie in einem weichen Silberton, manchmal waren sie von einem körnigen Grau. Gelegentlich blitzte sogar eine Kante einen unbeschreiblichen Augenblick lang wie ein Schwert im gleißenden Sonnenlicht auf.

Wenn man durch SoHo schlenderte, sah man die Türme über die Linie der Dächer emporragen, so anmutig wie die Türme einer Kathedrale, ein Anblick, den Katie liebte.

Zu ihrer Rechten näherten sie sich jetzt dem World Financial Center, und gleich würden sie die Liberty Street erreichen. Rick verlangsamte die Fahrt, um sie abzusetzen.

*

An diesem Morgen ging Gorham um 6:45 Uhr ins Wohnzimmer. Er breitete einen Bogen Packpapier auf dem Boden aus, hängte den Motherwell von der Wand ab, wickelte ihn sorgfältig ein und verschloss das Paket mit Klebeband. Maggie war noch unter der Dusche. Er fragte sich, ob sie das Fehlen der Zeichnung schon heute Morgen, bevor sie in die Kanzlei ging, bemerkte. Sie würde wahrscheinlich nicht besonders erfreut sein, aber diese Zeichnung gehörte ihnen nicht. Er klemmte sich das Paket unter den Arm und verließ das Haus.

Sarah Adler erwartete ihn schon im Regency, und sie machten sich direkt ans Frühstück. In ihrem sehr schlichten und eleganten cremefarbenen Kostüm, den Aktenkoffer an ihrer Seite, sah sie sehr frisch und geschäftsmäßig aus.

Sie hatte einen Termin bei einer Finanzierungsgesellschaft, die beabsichtigte, eine Kunstsammlung anzulegen und in ihren Geschäftsräumen auszustellen. Sie sollte sie beraten und ein Angebot unterbreiten. Bevor sie den Deal ernsthaft in Betracht zog, musste Sarah sich die Räumlichkeiten – und die Partner – ansehen.

»Worauf werden Sie dabei speziell achten?«, fragte er.

»Ob sie gut genug für meine Künstler sind«, antwortete sie bestimmt.

Als er ihr das Paket übergab und mit einiger Verlegenheit gestand, dass der Motherwell mehr als dreißig Jahre lang die Wand seines Wohnzimmers geschmückt hatte, war sie höchst amüsiert.

»Natürlich wollten Sie sich nicht von ihm trennen!«, sagte sie. »Es freut mich sehr, dass er Ihnen auch gefallen hat. Wussten Sie, dass die Zeichnung ursprünglich mein Geschenk an Ihren Vater war?«

Nein, musste er zugeben, das hatte er nicht gewusst.

»Und Sie wissen auch nichts über meine Beziehung zu Ihrem Vater?«

Wieder musste et seine Unwissenheit eingestehen.

»Erinnern Sie sich an das Mädchen aus Brooklyn in seinem Buch Verrazano Narrows’?«

»Aber sicher.«

»Nun, das war ich.«

Sarah brauchte nicht lang, um ihm die Geschichte zu erzählen. »Ich habe es meinem Mann nie erzählt. Ich führe eine sehr glückliche Ehe, aber jede Frau hat ihre Geheimnisse. Und dann, als das Buch so berühmt wurde, wollte ich nicht, dass die Patienten meines Mannes sagen würden: ›Aha, seine Frau ist das Mädchen in dem Buch.‹ Zumindest zur damaligen Zeit wäre es nicht gut gewesen. Ihr Vater war ebenfalls sehr diskret. Er war ein guter Mann.«

»Nach dem Buch zu urteilen, standen Sie sich sehr nah.«

»Er wollte mich heiraten, und um ein Haar hätte ich ja gesagt. Ich wäre dann Ihre Stiefmutter geworden. Wie finden Sie diese Vorstellung?«

»Ich glaube, das wäre wunderbar gewesen.«

»Vielleicht. Es war nicht leicht in diesen Zeiten.« Sie schaute nachdenklich drein. »Ihr Vater war auf seine Weise ein bemerkenswerter Mann. Dass jemand wie Charlie ein Mädchen aus Brooklyn heiraten wollte, und dazu noch aus einer konservativ-jüdischen Familie, dazu gehörte damals schon was … Charlie war ein sehr aufgeschlossener Mensch.«

»Das war er wohl. Ich habe meinen Vater geliebt, aber ich schätze, ich war auch ein wenig von ihm enttäuscht. Ich fand, dass er nicht genug aus seinem Leben gemacht hat. Vielleicht wäre es ihm gelungen, wenn er Sie geheiratet hätte.«

»Wer kann das schon wissen?« Sarah Adler zuckte die Achseln. »Ich habe zu lang gelebt, um noch glauben zu können, dass sich voraussagen lässt, was ein Mensch tun wird. Aber das Buch Ihres Vaters wird noch lange gelesen werden. Man wird sich an ihn erinnern. Erinnert man sich an einen anderen Ihrer Vorfahren?«

»Vielleicht nicht.«

»Sie sind ihm ähnlich, wissen Sie. Sie erinnern mich sehr an ihn.«

»Ich glaube, wir sind sehr verschieden.«

Sarah Adler griff nach ihrem Aktenkoffer. Sie öffnete ihn und holte etwas heraus.

»Wissen Sie, was das ist?«, fragte sie.

»Sieht aus wie ein indianischer Gürtel.«

»Richtig. Ein Wampum-Gürtel.« Sie rollte ihn auseinander. »Schauen Sie sich das Muster an. Ist es nicht herrlich?« Sie betrachtete es. »Das Muster hat eine ganz bestimmte Bedeutung – auch wenn wir sie nicht verstehen –, und gleichzeitig ist es ein reines, abstraktes Kunstwerk. Wissen Sie, das war ein altes Familienerbstück. Und trotzdem hat Charlie es mir geschenkt. Er ließ es rahmen, aber der Rahmen ist ziemlich sperrig, deswegen habe ich den Gürtel herausgenommen, um ihn Ihnen heute Morgen mitzubringen. Ich finde, Sie sollten ihn haben.«

»Ich kann ihn unmöglich annehmen – es müssen ja so viele Erinnerungen für Sie daranhängen!«

»Tun sie auch. Trotzdem möchte ich, dass Sie ihn annehmen. Ich gebe ihn der Familie zurück, genauso wie Sie mir die Zeichnung zurückgeben.« Sie lächelte. »Der Kreis schließt sich.«

Gorham sagte nichts. Er musste plötzlich an die Lücke denken, die der Motherwell an der Wohnzimmerwand hinterlassen hatte, und fragte sich, ob der Wampum-Gürtel dort hinpassen würde. Er hatte da seine Zweifel. Dann kam ihm der Gedanke, dass er, sollte seine Ehe tatsächlich auseinanderbrechen, ohnehin nicht mehr viel von dieser Wohnzimmerwand zu sehen bekommen würde.

Sarah Adler betrachtete Gorham aufmerksam.

»Sie sehen nicht glücklich aus. Etwas in Ihrem Leben macht Ihnen zu schaffen.«

»Vielleicht.«

»Möchten Sie mit mir darüber reden? Schließlich wäre ich um ein Haar Ihre Stiefmutter geworden.«

Gorham sagte sich, dass er – wenn er schon jemandem davon erzählen sollte – wahrscheinlich keinen besseren Zuhörer finden würde als diese kluge alte Frau, die seinen Vater geliebt hatte. Er brauchte nicht lang, um seine Situation zu schildern. Als er fertig war, schwieg Sarah eine Weile. Dann lächelte sie ihn an.

»Offenbar«, sagte sie freundlich, »hat Charlie also versagt.«

»Das Gefühl hatte ich schon immer. Nur: Haben Sie mir nicht gerade gesagt, dass er im Gegenteil erfolgreich gewesen sei?«

»Nein, ich meine damit nicht, dass er es nicht geschafft hat, Banker zu werden, oder was immer Sie meinen, das er hätte werden sollen. Ich meine, dass er es nicht geschafft hat, Ihnen irgendetwas beizubringen.« Sie seufzte. »Die vielen, vielen Wochenenden, wo er Sie regelmäßig von Staten Island abgeholt und Ihnen New York gezeigt hat. All die Mühe, die er sich gegeben hat, und Sie haben nicht das Geringste von der Stadt kapiert. Das ist traurig. Armer Charlie.«

»Ich verstehe nicht.«

»Der ganze Reichtum dieser Stadt. All das Leben. Die Zeitungen, die Theater, die Galerien, der Jazz, die verschiedensten Geschäfte und Aktivitäten. Es gibt fast nichts, was man in New York nicht finden könnte, und er wollte Ihnen das alles zeigen. Es kommen Menschen aus der ganzen Welt hierher, es gibt die verschiedensten ethnischen Gruppen und Kulturen, und von all diesem Überfluss interessiert Sie nur eine winzige Kleinigkeit: eine Bank zu leiten. Das ist nicht so interessant.«

»Was ich wohl von jeher gewollt habe, ist der finanzielle Erfolg, den man in New York findet. Das ist ein starker Antrieb.«

»Sie wissen sicher, dass es einen Dotcom-Boom gegeben hat – nur, dass er dabei ist, sich als eine Blase zu erweisen.«

»Wahrscheinlich.«

»Wissen Sie nicht, dass es noch eine weitere Blase gibt? Die der überzogenen Erwartungen. Immer protzigere Häuser, Privatflugzeuge, Jachten … schwindelerregende Gehälter und Boni. Erst wünschen sich die Menschen diese Dinge, dann fangen sie an, sie zu erwarten. Aber die Erwartungsblase wird ebenfalls platzen, wie alle Blasen das zu tun pflegen.«

»Dann werden Sie die großen Picassos nicht mehr verkaufen können.«

»Kommen Sie in meine Galerie, und ich werde Ihnen schöne Dinge zu einem vernünftigeren Preis verkaufen. Aber die Hauptsache ist, dass sie einen Wert haben. Wirklich schöne Dinge, Dinge mit Geist. Das ist Kunst. New York ist voll von Menschen wie mir, und Sie haben uns nicht wahrgenommen. Sie sehen nur Dollar.«

»Als ich ein Junge war«, sagte Gorham, »hat mir meine Großmutter einmal einen Silberdollar geschenkt. Ich vermute, das war für mich ein Symbol für all das, was die Familie einst darstellte, als wir noch Geld besaßen. Ich trage ihn noch heute ständig bei mir in der Tasche, als Erinnerung daran, woher ich stamme. Von der alten Familie Master, so wie sie war, bevor mein Großvater sein Geld verlor – und mein Vater andere Wege ging. Sie finden es wahrscheinlich albern, aber mir kommt es so vor, als habe meine Großmutter damit das alles symbolisch an mich weitergegeben.«

»Wirklich? Dann ist es bestimmt ein Morgan-Dollar.«

»Ja. Woher wussten Sie das?«

»Weil ich zu der Zeit mit Ihrem Vater zusammen war und er mir davon erzählt hat. Ihre Großmutter wollte Ihnen ein Geschenk machen, und sie fragte Charlie um Rat. Also gab er ihr den Dollar, den er von einem Münzsammler gekauft hatte, damit sie ihn Ihnen schenkte. Ihr Silberdollar kam in Wirklichkeit von Charlie. Alles Übrige ist lediglich Ihre Konstruktion.«

Gorham blieb ein paar Augenblicke stumm, schüttelte dann den Kopf. »Sie wollen damit sagen, ich habe mir etwas vorgemacht.«

»Die Menschen kommen nach New York, um frei zu sein, doch Sie haben sich ein Gefängnis für sich selbst gebaut.« Sie seufzte. »Ich habe Ihren Vater geliebt, Gorham, aber ich bin froh, dass es mein Mann war, den ich dann heiratete. Und wissen Sie, wie wir unsere Ehe aufbauten? Schicht für Schicht. Gemeinsame Erfahrungen, Kinder, Treue. Schicht für Schicht. Bis wir etwas hatten, das wertvoller ist als alles, was ich mir vorstellen kann. Und wir haben versucht, das an unsere Kinder weiterzugeben. Mehr können Eltern nicht tun – als ihren Kindern beizubringen versuchen, wie man leben soll. Ich glaube nicht, dass Sie das erreichen, indem Sie nach Boston gehen.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Ich muss weg.«

»Ich wohl auch.«

Sarah Adler stand auf. »Ich habe Ihnen eine Predigt gehalten. Nun werde ich Ihnen etwas schenken. Ich weiß, dass sie Ihnen gefällt. Früher einmal habe ich sie Ihrem Vater geschenkt, jetzt schenke ich sie Ihnen.« Sie reichte ihm die Motherwell-Zeichnung. »Bitte kehren Sie zu Ihrer Familie zurück und bauen Sie sich ein gutes Leben auf, Gorham. Das würde mich sehr glücklich machen.« Sie lächelte ihn flüchtig an. »Fürs Frühstück dürfen Sie bezahlen.«

Und schon entfernte sie sich mit schnellem Schritt.

Er wartete gerade auf die Rechnung, als ihm eine Idee kam. Er eilte aus dem Restaurant.

Als er Sarah Adler einholte, war sie gerade dabei, auf der Park in ein Taxi einzusteigen.

»Ich möchte Ihnen auch etwas geben.« Er überreichte ihr den Wampum-Gürtel. »Mein Vater hätte gewollt, dass Sie ihn behalten – das weiß ich –, aber Sie können ihn ebenso als ein Geschenk von mir betrachten.«

»Tja, dann danke.« Sie heftete den Blick auf ihn. »Denken Sie über das nach, was ich Ihnen gesagt habe.« Dann legte sie sich den Gürtel mit einem spitzbübischen Lächeln um die Taille und knotete ihn zusammen. »Wie sehe ich aus?«

»Umwerfend.«

»Tja, dann bin ich das wohl.« Sie stieg ein, und das Taxi fuhr los, während er wieder hineinging, um die Rechnung zu bezahlen.

»Wohin?«, fragte der Fahrer Sarah Adler.

»Zum World Trade Center«, erwiderte sie.

*

Gorham blieb mehrere Minuten lang an ihrem Tisch sitzen. Er überlegte, was er tun sollte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Wenn er rechtzeitig zu seinem Termin mit dem Headhunter kommen wollte, dann sollte er sich besser auf den Weg machen. Die Zeichnung unter dem Arm trat er hinaus auf die Straße, und schon Augenblicke später saß er in einem Taxi in Richtung Süden.

Auf dem FDR Drive floss der Verkehr reibungslos. Das Taxi umrundete die Ausbuchtung der Lower East Side an der Williamsburg Bridge. Als nächstes kam die Manhattan Bridge, dann die Brooklyn Bridge und gleich dahinter, direkt am Wasser, der South Street Seaport.

Und hier traf er seine Entscheidung. Als das Taxi die South Street erreichte und nach rechts in die Whitehall einbog, holte er sein Handy heraus. Er würde nicht zu dem Meeting gehen.

Allerdings hatte er auch keine Lust, direkt wieder in die Bank zu fahren. Er stieg aus dem Taxi aus und beschloss, Maggie anzurufen.

*

Gegen 7:59 Uhr am Morgen des 11. September 2001 hatte Flug American Airlines 11 von Boston nach Los Angeles vom Logan International Airport abgehoben. Das Flugzeug war eine Boeing 767 mit zweiundneunzig Personen an Bord, einschließlich Besatzung. Kurz nach 8:16 Uhr wich die Maschine, die sich jetzt auf 29000 Fuß Höhe befand, von ihrem Kurs ab, und mehrere Funksprüche des Bostoner Tower blieben unbeantwortet. Eine Zeitlang war unklar, wo sich die Maschine überhaupt befand.

Um 8:26 Uhr nahm Flug AA 11 einen Kurswechsel nach Süden vor. Mittlerweile hatte die Bostoner Flugkontrolle mitgehört, wie einer der Entführer den Passagieren Anweisungen erteilte. Um 8:37 Uhr wurde das Flugzeug auf dem Radar ausgemacht. Es flog in südlicher Richtung, mehr oder weniger dem Lauf des Hudson River folgend. NORAD wurde informiert, und auf der Luftwaffenbasis Otis in Massachusetts wurden zwei F-15-Jäger startklar gemacht.

Um 8:43 Uhr nahm AA 11 einen letzten Kurswechsel vor: Richtung Manhattan.

Nur sehr wenige Menschen bemerkten die Maschine, als sie sich der Stadt näherte. Zunächst einmal war die Zeit zu knapp. Der Anblick eines in geringer Höhe auf Manhattan zukommenden Flugzeugs war für sich genommen nichts Ungewöhnliches. Jede Menge Maschinen überflogen Manhattan in geringer Höhe auf ihrem Weg zum La Guardia Airport – wenn auch nicht ganz auf dieser Flugbahn. Und als es über die City zog, konnten es von den tiefen Straßenschluchten aus ohnehin nur wenige sehen.

Wer sich jedoch im Hafenviertel befand oder jenseits des Flusses in New Jersey, der sah es. Die Maschine schien zwar nicht außer Kontrolle zu sein, aber sie flog eindeutig viel zu niedrig. Manche Augenzeugen vermuteten, der Pilot habe Probleme und hoffe möglicherweise auf dem Hudson notwassern zu können.

Erst im letzten Moment beendete die Maschine ihren Sinkflug, schien zu beschleunigen und direkten Kurs auf den Nordturm des World Trade Center zu nehmen. Es kam niemandem in den Sinn, dass diese ungewöhnliche Flugbahn bewusst gewählt sein könnte.

Um 8:46 Uhr krachte das Flugzeug in den Nordturm, direkt über dem 93. Stockwerk, und bohrte sich mit einer gigantischen Explosion tief in das Gebäude. Es hatte zuletzt eine Fluggeschwindigkeit von vierhundertvier Knoten gehabt und war mit zehntausend Gallonen Treibstoffbetankt.

*

Um 8:35 Uhr war Dr. Caruso ins Büro geführt worden. Die Versicherungsagentur befand sich zwar nur in den Zwanzigergeschossen des Südturms, doch der Blick über das Wasser war atemberaubend. Der Agent Doug, ein alter Freund, hatte gesagt, dass er in einer Minute bei ihm sein würde. Caruso trat ans Fenster und schaute nach draußen.

Der Nordturm ragte in geringer Entfernung vor ihm auf. Ganz oben, im 106. und 107. Stockwerk, befand sich das Restaurant Windows on the World. Es war ein prächtiges Lokal und das umsatzstärkste Restaurant in den Vereinigten Staaten. Wenn Freunde von auswärts in die Stadt kamen, lud er sie gern dorthin ein. Das passierte ein paarmal im Jahr. Und es wurde ihm nie über. Man konnte im Barbereich herumschlendern und hatte auf der einen Seite einen weiten Blick über Brooklyn, auf der anderen über New Jersey, nach Norden den Hudson hinauf und nach Süden bis zum anderen Ende der Bucht. Man konnte zwanzig Meilen weit sehen. Manchmal zogen sogar niedrige Wolken unter einem vorbei und verdeckten Teile der Stadt wie ein dünner Schleier. Er lächelte.

Doug kam eilig herein und entschuldigte sich dafür, dass er ihn hatte warten lassen. »Ich habe einen ganzen Packen Material für Sie zum durchsehen«, sagte er mit einem Grinsen. »Anschließend sage ich Ihnen, was Sie meiner Meinung nach tun sollten.«

»Großartig«, sagte Dr. Caruso und setzte sich. »Gegenvorschlag: Warum sagen Sie mir nicht gleich, was ich tun soll? Und wenn ich die Diagnose habe, schaue ich mir gern den Patienten an.«

»Einverstanden.« Und er begann einen kurzen Vortrag über Carusos versicherungsstatistische Lebenserwartung und was sie für seine künftigen Prämien bedeutete. Dann verbreitete er sich darüber, wie Caruso – langfristig – Geld sparen könnte.

Er hatte gerade angefangen, sein Angebot zu erläutern, als er zusammenfuhr, den Blick auf den Nordturm richtete und dann die Augen aufriss.

»Was zum Teufel ist das?«, sagte er.

*

»Ms O’Donnells Büro.«

»Hier spricht ihr Mann. Ist sie da?«

»Tut mir leid, Mr Master. Sie ist wegen einer Besprechung außer Hauses. Sie könnten es auf ihrem Handy versuchen, aber wahrscheinlich hat sie es momentan ausgeschaltet. Kann ich etwas ausrichten?«

»Sagen Sie ihr bitte, dass ich später noch einmal anrufe. Oder nein, sagen Sie ihr, dass ich mich gegen Boston entschieden habe. Sie weiß dann schon, was gemeint ist.«

Er legte auf. Und fragte sich gerade, ob er noch ein paar Blocks weit gehen sollte, bevor er ins Büro fuhr, als ein ohrenbetäubender Knall ihn veranlasste, nach oben zu schauen. Hoch oben im Nordturm des World Trade Center war gerade ein gewaltiges Feuer ausgebrochen, und Rauchschwaden quollen aus dem Gebäude hervor.

»Was ist passiert?«, fragte er einen Passanten, der ebenfalls stehen geblieben war.

»Sieht nach einer Bombe aus«, sagte der Mann.

»Ein Flugzeug ist voll reingekracht«, sagte eine junge Frau. »Ich hab’s gesehen. Muss außer Kontrolle geraten sein.«

*

»Die sagen, wir müssen das Gebäude räumen«, sagte Doug. »Ich weiß auch nicht, warum. Das Feuer ist doch im anderen Turm.«

Sie gingen hinaus zu den Fahrstühlen. Dort hatte sich schon eine Menschenmenge versammelt.

»Wollen wir die Treppe nehmen?«, fragte Caruso.

»Zwanzig Stockwerke und ein paar mehr laufen?«, sagte Doug. »Nicht so gern.«

»Dann heißt es wohl Geduld aufbringen«, sagte Caruso. »Können wir das Beratungsgespräch unten auf dem Bürgersteig beenden?«

»Ich kann ein Beratungsgespräch an jedem Ort der Welt beenden«, sagte Doug, »einschließlich zahlreicher Bars. Aber lieber wäre mir mein Büro.«

Die Fahrstühle waren alle voll. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das wirklich nötig ist«, sagte jemand.

Ein paar Minuten später kam eine Vorzimmerdame aus einem Büro.

»Es kam gerade der Anruf, dass das Gebäude doch nicht evakuiert werden muss«, teilte sie mit. »Hier ist alles in Ordnung. Das Gebäude ist sicher. Sie können alle wieder an die Arbeit gehen.«

Ein kollektives Aufatmen und alle machten sich auf den Weg zurück in ihre jeweiligen Büros.

»Okay«, sagte Doug, als sie wieder in seinem Zimmer saßen, »zurück zu Ihrer Lebenserwartung.«

*

Gorham starrte noch immer auf das Feuer im Nordturm, als das zweite Flugzeug einschlug. Von der ihm abgewandten Kante des Gebäudes, weit oben, vielleicht achtzig Stockwerke hoch, ertönte ein Knall wie von einem Donner. Nahezu zeitgleich schoss ein riesiger Feuerball aus der Seite des Gebäudes. Fast ohne nachzudenken, rannte er zu einem Hauseingang, um sich vor fallenden Trümmerteilen in Sicherheit zu bringen.

Er hörte Angstschreie. Leute, die schon der ersten Aufforderung zur Räumung des Gebäudes gefolgt waren, kamen jetzt aus einem der Fahrstühle heraus. Er dachte angestrengt nach.

Das konnte kein Unfall sein. Zwei solche Zufälle? Unmöglich. Vorsichtig trat er aus dem Hauseingang. Aus beiden Türmen schlugen schwarzer Rauch und Flammen und bildeten blutfarbene, ölige Wolken am blassblauen Himmel.

Er rannte los.

Als er drei- oder vierhundert Yard die Church Street hinaufgelaufen war, blieb er stehen, um die Situation zu überdenken. Ihm schien es nur eine mögliche Erklärung zu geben: Es war ein Terrorangriff. Was konnte es sonst sein? Schließlich hatten Terroristen 1993 in der Tiefgarage des World Trade Center eine Autobombe gezündet, die gewaltige Schäden verursacht und über tausend Menschen verletzt hatte und die sogar beide Zwillingstürme zum Einsturz hätte bringen können. Das sah jetzt wie ein zweiter Anschlag dieser Art aus. Und wenn es so war, was würde als Nächstes passieren?

Menschenmassen strömten die Straße herauf. Es schien so, als habe jeder beschlossen, das Gebiet zu verlassen.

Sein Handy klingelte.

»Mr Master?« Es war wieder Maggies Sekretärin. »Wo sind Sie?«

»Nicht weit vom World Trade Center. Aber mir geht’s gut, ich bin nicht im Gebäude.«

»Wir haben gerade den Fernseher angeschaltet und gesehen, was passiert ist. Auch das zweite Flugzeug.«

»Ich habe es auch gesehen. Haben Sie mit meiner Frau gesprochen?«

»Deswegen rufe ich ja an. Ich dachte, Sie hätten vielleicht mit ihr Kontakt.«

»Nein. Sie hat ihr Handy wahrscheinlich für die Dauer ihrer Besprechung ausgeschaltet.«

»Bloß …« Maggies Sekretärin schien kurz zu zögern. »Mr Master, genau dort ist sie.«

»Was wollen Sie damit sagen? Das Treffen ist ins World Trade Center verlegt worden?«

»Das hat sie jedenfalls ihrer Rechtsassistentin gesagt, direkt bevor sie ging. Ach, es tut mir so leid, Mr Master, ich mach mir schreckliche Sorgen!«

»Welcher Turm?«

»Wir wissen es nicht.«

»Wie heißt die Firma?«

»Wir versuchen, das gerade zu ermitteln.«

»Herrgott, Sie müssen doch wissen, mit wem sie sich trifft!«

»Das überprüfen wir noch. Einer der anderen Partner weiß es, aber er ist ebenfalls in einer Besprechung.«

»Dann unterbrechen Sie die Besprechung! Sofort! Und rufen Sie dann bitte zurück.« Es war ein Befehl.

»Ja, Mr Master.«

»Rufen Sie zurück!« Gottverdammt! Mit einem Mal raste sein Puls. Wenn nötig würde er die Feuerwehrleiter hinaufsteigen oder an der Fassade des Gebäudes hochklettern, aber er würde Maggie da rausholen. Keine Frage. Nur musste er wissen, aus welchem Gebäude.

Er probierte es auf Maggies Handy. Nichts. Er machte sich auf den Weg zurück zum World Trade Center. Minuten vergingen. Immer mehr Menschen kamen ihm auf der Straße entgegen. Er würde Maggies Sekretärin noch ein paar Minuten geben, mehr nicht.

Wieder klingelte sein Handy.

»Daddy?« Es war Emma.

»Hi, Schätzchen.« Er bemühte sich, unbekümmert zu klingen. »Bist du nicht im Unterricht?«

»Ich geh gleich wieder rein. Daddy, ist alles in Ordnung? Bist du irgendwie in der Nähe von Downtown? Was passiert da unten?«

»Ich bin auf der Straße, Süße. Irgendwie brennt’s im World Trade Center. Aber mit mir ist alles in Ordnung.«

»Ist das also eine Bombe oder so?«

»Möglich.«

»Wo ist Mommy?«

»In einer Besprechung.«

»Sie ist nicht da unten, oder?«

Er zögerte eine Sekunde. »Wie kommst du denn bloß auf die Idee?«

»Ich weiß nicht. Ich hab sie auf dem Handy angerufen, und sie hat nicht geantwortet.«

»Du weißt doch, dass sie ihr Handy immer ausschaltet, wenn sie in einer wichtigen Besprechung ist.«

»Ich weiß. Es ist nur …«

»Sie ist irgendwo in Midtown, Schätzchen. Es ist alles bestens, geh wieder ins Klassenzimmer.«

»Okay, Daddy.«

Sie legte auf. Er wählte augenblicklich wieder Maggies Büro an.

»Es tut mir leid, Mr Master, wir sind noch immer an der Sache dran.«

»Jetzt möchte ich, dass Sie mir ganz genau zuhören«, sagte Gorham. »Sollte eines der Kinder anrufen, darf niemand ihnen sagen, dass ihre Mutter im World Trade Center ist. Das ist wirklich wichtig. Sie müssen ihnen sagen, dass sie irgendwo in Midtown ist. Ich will nicht, dass die Kinder in der Schule durchdrehen, wenn wahrscheinlich keinerlei Grund dazu besteht. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Mr Master. Kapiert«, sagte sie.

»Melden Sie sich, sobald Sie wissen, wo sie ist«, schärfte er ihr ein. »Ich muss es wissen.« Dann legte er auf.

Es vergingen zehn Minuten oder mehr, und es kam immer noch kein Anruf.

*

Dr. Caruso war froh, aus Dougs Büro heraus zu sein. Er hatte seine Meinung geändert, sich weiter mit Versicherungspolicen zu beschäftigen. Nicht dass er sich um seine persönliche Sicherheit gesorgt hätte, nur war ihm plötzlich bewusst geworden, dass es im Nordturm eine Menge Verletzte geben musste. Die Rettungsdienste würden mit Sicherheit ihren Job tun, doch er war schließlich Arzt. Na gut, Geburtshelfer, aber trotzdem Arzt. Er beschloss, hinunterzugehen und nachzusehen, ob er sich nicht irgendwie nützlich machen könnte.

Er brauchte nicht lange, um einen Einsatzleiter der Feuerwehr zu finden.

»Danke, Doktor. Würden Sie hier warten?«

»Klar.« Sie waren im unteren Foyer.

»Ich komme auf Sie zurück.«

In dem Moment schlug das zweite Flugzeug ein.

Er wartete inzwischen seit einer ganzen Weile. Feuerwehrleute kamen und gingen. Das waren mutige Burschen, obwohl es so aussah, als stellte die Situation sie vor gewaltige Probleme. Den Chief hatte er bislang nicht wiedergesehen.

*

Es war, als sein Handy abermals klingelte. Eine Nummer, die er nicht kannte. Er nahm den Anruf ungeduldig entgegen, von vornherein entschlossen, den Unbekannten so schnell wie möglich wieder abzuwimmeln.

»Schatz? Kannst du mich hören?«

»Maggie! Wo bist du?«

»Im World Trade Center.«

»Ich weiß. In welchem Turm?«

»Süd. Ich hätte dich schon vorher angerufen, aber mein Scheißhandy hat den Geist aufgegeben – ein netter Mann hat mir seins geliehen. Wo bist du?«

»Auf der Church Street, Ecke Chambers. Maggie, ich gehe nicht nach Boston, okay? Das war eine blödsinnige Idee. Ich liebe dich.«

»Ach, Gott sei Dank, Gorham! Ich liebe dich auch. Ich komme über die Treppe runter, aber das zieht sich noch hin. Ein Teil des Turms hat sich ein bisschen verdreht.«

»Ich komme rein und hole dich.«

»Tu das nicht, Schatz! Bitte. Ich weiß nicht mal, wo ich bin. Du würdest mich niemals finden, und bestimmt verpassen wir uns, und dann finde ich dich nicht. Bleib einfach nur dort. Ich bin auf dem Weg. Der Turm wird ja nicht gleich einstürzen.«

»Dann rede weiter mit mir.«

»Schatz, der Mann braucht sein Handy zurück. Ich melde mich. Warte einfach da, wo du gerade bist, und drück mich ganz fest, sobald ich draußen bin!«

»Okay. Aber Maggie …« Sie hatte aufgelegt. »Ich liebe dich«, sagte er ins Handy.

*

Um 9:40 Uhr gelangte Dr. Caruso zu dem Schluss, dass es, wenn er überhaupt jemandem nützen wollte, höchste Zeit war, selbst die Initiative zu ergreifen. Er befand sich in der oberen Lobby, als er den ersten Aufschlag hörte. Im ersten Moment begriff er nicht, was es war. Ein paar Augenblicke später folgten zwei weitere.

Körper. Sie fielen vom Nordturm. Er verstand, was das bedeutete. Offenbar saßen da Menschen in der Falle, und die Hitze wurde langsam unerträglich. Da blieb ihnen eine einzige Wahl: bei lebendigem Leibe zu verbrennen oder zu springen. Er hatte schon von Fällen gelesen, wo Menschen aus brennenden Häusern gesprungen waren, aber hier lag die Sache anders – es ging tausend Fuß in die Tiefe. Bei einer Beschleunigung von zweiunddreißig Fuß pro Sekunde und einer Fallhöhe von tausend Fuß schlägt ein Körper sehr hart auf. Er war sich nicht sicher, ob man unmittelbar vor dem Aufprall überhaupt noch bei Bewusstsein war, aber der Tod würde buchstäblich schlagartig eintreten. Wenn das seine einzigen Optionen wären, würde er selbst sich vermutlich ebenso fürs Springen entscheiden. Doch das Geräusch, das der Aufprall verursachte … Er versuchte, nicht hinzuhören, was für ein Geräusch es genau war.

»Na, da ist ja mein Arzt! Sie dachten wohl, ich hätte Sie vergessen.« Das irische Gesicht des Einsatzleiters sah leicht erhitzt aus. »Wollen Sie mir einen Gefallen tun?«

»Natürlich.«

»Na gut, Doc, dann würde ich Sie bitten, rüber zur Trinity zu gehen. Da könnte es ein paar Leute geben, die ein bisschen Aufmerksamkeit brauchen, und ich glaube, ein paar meiner Jungs sind ebenfalls dort. Würden Sie das machen?«

»Bin schon unterwegs.«

Er trat hinaus auf die Liberty, bog auf den Broadway und ging in südlicher Richtung, froh, eine Aufgabe zu haben. Er sollte wohl seine Frau anrufen und sie beruhigen. Sie konnte dann in der Praxis Bescheid geben. Und wenn sie schon mal dabei war, fiel ihm plötzlich ein, sollte sie dann nicht auch die Maklerin anrufen und ihr sagen, dass sie es sich wegen der verdammten Wohnung in der Park Avenue anders überlegt hatten? Er verspürte nicht mehr die geringste Lust, dort hinzuziehen.

*

Es war schon fast zehn. Warum brauchte sie nur so lang? Gorham starrte auf den Turm. Während aus dem Nordturm nach wie vor helle Flammen schlugen, schien der Südturm in eine rauchigere, düsterere Stimmung verfallen zu sein. Es waren schon mehrere Explosionen von weiter unten in den Türmen zu hören gewesen. Gasbehälter, Elektrogeräte? Oder vielleicht, überlegte er, war Flugzeugtreibstoff in den Gebäuden nach unten geflossen, hatte sich irgendwo gesammelt, um plötzlich zu explodieren. Wer konnte das schon wissen? Aber was immer die Ursachen dieser anderen Geräusche sein mochten – was man jetzt aus dem Südturm hervorquellen sah, war kein Feuer, sondern Rauch.

Fast zehn. Jetzt musste sie doch wirklich jeden Augenblick herauskommen!

Sein Handy klingelte.

»Hi, Schatz, ich bin’s.«

»Gott sei Dank!«

»Das war eine ziemliche Lauferei hier runter.«

»Maggie …«

»Was ist?«

Seine Augen waren auf den oberen Teil des Südturms geheftet. Irgendetwas passierte da gerade. Die Spitze des Turms schien sich zu neigen, zu winden.

»Maggie, wo bist du?«

Jetzt schien sich der Turm wieder aufzurichten, jedoch nur weil weiter unten irgendetwas weggebrochen war oder sich verschoben hatte. Denn plötzlich begann sich das Dach des großen Turms zu senken.

»Es ist okay, Gorham. Ich bin unten, und …«

»Maggie …«

Nichts. Totenstille. Der obere Teil des gigantischen Turms fing an, nach unten zu sacken. Er hatte noch nie etwas Derartiges gesehen – außer in Filmen oder alten Wochenschauen. Die kontrollierte Sprengung von Hochhäusern. Es war verblüffend, wie die einfach so in sich zusammenfallen konnten, fast wie eine Ziehharmonika. Und genau das passierte jetzt gerade. Der Südturm stürzte in sich zusammen.

Ganz, ganz langsam. Er konnte gar nicht glauben, wie langsam. Sekunde um Sekunde, wie in Zeitlupe, ging der Turm nach unten. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier … Mit majestätischem, gezügeltem, gemäßigtem Tempo senkte sich der oberste Teil des Turms, während unten, von einem langsamen Grollen wie von einem donnernden Wasserfall begleitet, eine riesige, schmutziggraue Staubwolke auseinanderwallte.

»Maggie!« Nichts.

Jetzt zitterte die Erde. Er spürte das Beben unter den Füßen. Die wogende Flutwelle aus Staub wälzte sich die Straße herauf wie ein Lavastrom, kam ihm entgegen. Er musste weg, musste fliehen. Er hatte keine andere Wahl. Er zog sich in die Chambers Street zurück und hoffte, die Staubwelle würde nicht über die Dächer schwappen und ihn ersticken. Aber das Donnern hörte nicht auf, zog sich neun nicht enden wollende Sekunden hin, während der Turm in sich zusammenbrach und die Staubwolke ein Eigenleben anzunehmen schien und wuchs und strudelte und wieder wuchs, bis auf allen umliegenden Straßen jegliches Licht ausgelöscht war.

Er hörte Menschen, viele Menschen, nach Luft ringend in Richtung Norden rennen. Nach einer Weile knöpfte er sich das Hemd oben auf, zog es sich wie eine Atemschutzmaske vor den Mund und versuchte sich wieder nach Süden, in den Staubsturm hinein, vorzukämpfen. Aber es hatte überhaupt keinen Sinn. Er bekam keine Luft, und er konnte nichts sehen. Schließlich zog er sich wie alle anderen auf der Straße zurück, bis die Luft etwas klarer wurde. Dann setzte er sich auf den Bürgersteig und musterte die grau bestäubten Gestalten, die wie Schatten aus dem Hades an ihm vorüberzogen, in der kaum realistischen Hoffnung, eine von ihnen könnte vielleicht seine Frau sein.

Und dann, nach zehn Minuten, kam sie tatsächlich auf ihn zu.

»Ich hatte gehofft, dich hier zu finden«, sagte sie.

»Ich dachte …«

»Ich war gerade im Freien, als das Gebäude angefangen hat einzustürzen. Dadurch ist wahrscheinlich die Funkverbindung abgerissen. Viele von uns sind in ein Café gerannt, um dem Staub zu entgehen. Doch sobald ich konnte, bin ich hergekommen. Du siehst furchtbar aus.«

»Und du siehst wunderschön aus.« Er nahm sie in die Arme.

»Vielleicht ein bisschen angestaubt.«

»Du bist am Leben!«

»Ich glaube, die meisten haben es rausgeschafft. Was die Leute weiter oben angeht, oberhalb des Brandes, bin ich mir allerdings nicht so sicher.«

»O mein Gott!«

»Was ist?«

»Katie Keller. Sie hat mir gesagt, sie hätte heute Morgen eine Besprechung irgendwo im Financial District. Hast du ihre Handynummer?«

»Ich glaube schon.«

»Dann versuch sie zu erreichen.«

Niemand nahm ab.

*

Als das Flugzeug einschlug, befand Sarah Adler sich im obersten Geschoss des Turms. Vorher hatte der Wampum-Gürtel, der sich an ihrer Taille hin und her bewegte, sehr schön ausgesehen. Seine kleinen weißen und dunklen Muschelperlen leuchteten noch so klar wie an dem Tag, als sie aufgefädelt worden waren. Für den, der seine mit so viel Liebe eingewobene Botschaft zu lesen verstand, verkündete der Gürtel: »Vater von Bleiche Feder.«

Doch als die große Feuersbrunst höher und höher stieg und der riesige Turm wankte und dann einstürzte, war die Hitze so gewaltig und der Druck so unvorstellbar hoch, dass der Wampum-Gürtel wie alles um ihn herum zu einem puderfeinen, kaum noch sichtbaren Pulver zermahlen wurde. Eine kurze Zeit schwebte dieser Staub noch um die Stelle, wo der verschwundene Turm gestanden hatte. Bis ihn der Wind, freundlicher als der Mensch, in einer Wolke emporhob – hoch, hoch über das Wasser der Bucht und die Stadt und den gewaltigen Strom, der nach Norden führte.