CRYSTAL PALACE

1853

Im Sommer 1853 sah sich Frank Master mit der einfachsten Entschei dung konfrontiert, die er in seinem ganzen Leben als Geschäftsmann zu fällen hatte. Er stand in seinem Kontor. Es war ein schönes altes Backsteingebäude, an das sich hinten ein Speicher anschloss und das vorn auf die South Street ging. Die Sonne strahlte hell auf die zahllosen Schiffe, die sich jenseits davon auf dem East River wiegten. Zwei dieser Schiffe gehörten ihm – das eine ein Segler, ein nach China bestimmter schnittiger Clipper, das andere ein Raddampfer, der bald in Richtung Panama ablegen würde. Die Fracht, die dieser an Bord hatte, Kleidungsstücke, würde über die Landenge transportiert und dann von einem anderen Dampfer nach Kalifornien gebracht werden. Ob die Männer, die in den letzten Jahren in die Goldgräberstädte geströmt waren, Gold finden würden, stand in den Sternen. Sicher aber war, dass sie die widerstandsfähige, haltbare Kleidung brauchten, die in New York hergestellt wurde, und Frank Master hatte mit deren Transport einen Haufen Geld verdient.

Master handelte mit Baumwolle, Tee, Fleischkonserven und Immobilien. Aber auf diesen Handel würde er sich nicht einlassen.

»Meine Herren«, sagte er, »ich will nichts damit zu tun haben. Und wenn Sie auf meinen Rat hören, geben Sie dieses Projekt auf, bevor der Kommodore zurückkommt. Denn ist er erst wieder da, glauben Sie mir, zieht er Ihnen die Haut bei lebendigem Leibe ab.«

»Viel wird er nicht unternehmen können«, meinte der eine.

»So tough ist er gar nicht«, meinte der andere.

»Falsch«, sagte Master. »In beiden Punkten.«

Cornelius Vanderbilt konnte immer etwas unternehmen.

Auf dem Hudson verkehrten Dampfer schon seit über dreißig Jahren, aber es hatte erstaunlich lang gedauert, bis das Dampfschiff in den Atlantikhandel Eingang gefunden hatte. Eine britische Eisenbahngesellschaft hatte den Anfang gemacht, aber es war eine geschäftstüchtige loyalistische Familie namens Cunard, die ein paar Generationen zuvor nach Kanada geflohen war, die als erste erfolgreich Dampfschiffe im Transatlantikverkehr eingesetzt hatte. Die New Yorker bemühten sich allerdings, den Rückstand so schnell wie möglich aufzuholen. Und niemand war dabei kühner gewesen als Vanderbilt.

Er stammte aus einer alten englisch-niederländischen New Yorker Familie, hatte aber arm angefangen – sogar noch ärmer als Astor. Hetty Master konnte ihn nicht leiden. »Dieser unflätige Fährmann« nannte sie ihn. Es stimmte, dass er seine berufliche Laufbahn auf einem Ruderboot begonnen hatte, und seine Ausdrucksweise war unbestreitbar grobschlächtig und ungeschliffen, aber als Geschäftsmann war er ein Genie und rücksichtslos obendrein. Durch seine Dampfschiffe war er zu einem der reichsten Männer der Stadt aufgestiegen. Den Kommodore zu verärgern war keine gute Idee.

Frank Master hatte Vanderbilt nie verärgert. Er hatte sich mit ihm angefreundet. Als Master den Plan gefasst hatte, für den Kalifornienhandel, in dem Vanderbilt stark engagiert war, Dampfschiffe nach Panama zu schicken, war er zum Kommodore gegangen und hatte ihn nach seiner Meinung gefragt.

»Wie viele Schiffe?«, hatte der Kommodore gefragt.

»Zwei vielleicht.«

»In Ordnung.« Vanderbilt hatte ihm mit einem knappen Nicken seinen Segen erteilt.

»Du hast ihn um Erlaubnis gebeten?«, hatte Hetty entrüstet gesagt.

»Besser, als aus dem Geschäft gedrängt zu werden.«

Dennoch planten diese zwei Männer, beide Angestellte Vanderbilts, jetzt, da der Kommodore gerade nicht in der Stadt war, ihm ein Stück seines Imperiums abzujagen.

Man musste die Dreistigkeit ihres Plans schon bewundern. Anstatt seine Waren über Panama zu befördern, hatte der Kommodore eine preisgünstigere Route quer durch Nicaragua eröffnet und damit die Schiffsreise um tausend Meilen verkürzt.

»Aber die Regierung von Nicaragua ist nicht eben stark«, erklärten die zwei Männer. »Was, wenn wir dort eine Revolution finanzieren würden? Dann unseren eigenen Mann als Präsidenten einsetzen, von ihm einen Exklusivvertrag für den Warentransport durch das Land erhalten und Vanderbilt außen vor lassen?«

»Sie glauben wirklich, das wäre machbar?«

»Ja, und ohne große Auslagen. Sind Sie dabei?«

»Gentlemen«, sagte Master lachend, »ich habe keine Angst, die Regierung von Nicaragua zu stürzen, aber Cornelius Vanderbilt auf die Zehen zu treten? Das macht mir Angst. Bitte schließen Sie mich nicht in Ihre Pläne ein.«

Er schmunzelte noch immer über die zwei Gauner, als er eine Stunde später stadtaufwärts ging, um sich mit seiner Frau zu treffen.

*

Hetty Master stand an der Ecke 5th Avenue und 40th Street, hinter sich das gewaltige festungsartige Speicherbecken. Die halbe Stadt strömte hier heute vorbei, also hätte man erwarten können, dass sie den Passanten eine gewisse Beachtung schenkte. Zumindest konnte man annehmen, dass sie nach ihrem treuen Ehemann, mit dem sie dort verabredet war, Ausschau hielt.

Stattdessen stand sie einfach da wie eine Statue unter ihrem Sonnenschirm und las.

So kam ihr auch nicht der Gedanke, dass fast achtzig Jahre zuvor unweit von hier der arme George Washington mit der flachen Klinge seines Degens auf seine Soldaten eingeschlagen hatte, um sie davon abzubringen, vor den Rotröcken zu fliehen. Und sie dachte auch nicht daran, dass dies genau der Ort war, an dem Frank ihr seinen Heiratsantrag gemacht hatte. Sie las lediglich ihr Buch.

Natürlich hatte sie schon immer für ihr Leben gern gelesen. In der Zeit vor ihrer Heirat war der große Charles Dickens nach New York gekommen, um dort seine – triumphale – Amerikatournee zu beginnen. Die Leute strömten zu Tausenden zu seinen Lesungen, und sie schleppte Frank zu sage und schreibe drei solchen Veranstaltungen, um ihren Lieblingsautor zu sehen und lesen zu hören. »Ich liebe seine Charaktere und Geschichten«, erklärte sie Frank, »und sein Eintreten für soziale Gerechtigkeit ist nicht genug zu rühmen.« Seine Erzählungen über die Londoner Unterschicht fanden in New York ein breites Echo. Doch es war nichts von Charles Dickens, was sie an dem Tag las.

Es war etwas Gefährlicheres.

Frank sah sie im ersten Moment nicht. Aber schließlich gab es so viele andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit beanspruchten. Das vorrangigste war das Latting Observatory, ein konischer Turm aus eisenverstärktem Holz, der sich, mit insgesamt drei Aussichtsplattformen, bis zu einer Höhe von 96 Metern über der 42nd Street erhob. Die ersten zwei Plattformen ließen sich mit einer erstaunlichen neuen Maschine erreichen, die »Aufzug« genannt wurde. Master war begierig, sie auszuprobieren. Aber das »Observatorium« war nur Beiwerk zur eigentlichen Hauptattraktion – deren obere Teile, wie beim Näherkommen zu erkennen, hinter dem Reservoir deutlich sichtbar in die Höhe ragten.

Der Crystal Palace.

Zwei Jahre zuvor, als die Briten in einem gigantischen Gebäude aus Glas und Gusseisen mitten in London die erste Weltausstellung durchgeführt hatten, waren sechs Millionen Menschen gekommen, um die ausgestellten Industrieprodukte aus England und der ganzen Welt zu bestaunen. Der Kristallpalast im Hyde Park, eine Art riesiges Gewächshaus, hatte eine Länge von über sechshundert Yard und überdeckte eine Fläche von gut neun Hektar. Also hatte New York beschlossen, sich ebenfalls einen solchen Prunkbau zuzulegen. Und auch wenn der Crystal Palace an der 40th Street nicht ganz an die Ausmaße seines Vorbilds in der Hauptstadt des britischen Empire heranreichte, war er dennoch ein eindrucksvolles Bauwerk, mit einer prächtigen 41 Meter hohen Kuppel.

Er war erst am Vortag eröffnet worden, und Frank Master konnte nicht erwarten zu sehen, was sich im Inneren befand.

Dann entdeckte er seine Frau und stöhnte innerlich auf: Sie las schon wieder in diesem verdammten Buch.

»Pack jetzt das Buch weg«, sagte er sanft, während er sie am Arm nahm. »Wir wollen uns die Ausstellung ansehen.«

Der Haupteingang an der 6th Avenue war überwältigend. Mit seinem klassizistischen überkuppelten Portikus glich er einem venezianischen Dom aus Glas. Links und rechts davon flatterten die französische und die britische Flagge und über der Mitte ein riesiges Sternenbanner. Frank kannte die meisten Organisatoren, besonders William Cullen. Bryant und August Belmont. Sie hatten eine Ausstellung der industriellen Produkte aller Nationen angekündigt, und Frank gewann den Eindruck, dass sie ihre Sache recht gut gemacht hatten. Während er Hetty herumführte, sahen sie wissenschaftliche Instrumente und Schusswaffen, Wasserpumpen und Eiscrememaschinen, Geräte zum Anfertigen von Fotografien und zum Versenden von Telegrammen – und nicht zuletzt das gigantische Reiterstandbild George Washingtons. Der Kristallpalast war der Maschinenraum des neuen Industriezeitalters, und Frank fühlte sich darin wie zu Hause.

»Schau dir diese Uhr an«, forderte er etwa Hetty auf. »Wir sollten uns so eine kaufen.« Sie lächelte und nickte. »Oder wie wäre es mit dieser Nähmaschine?«, probierte er als Nächstes. »Ja, Liebster«, sagte sie.

Aber obwohl sie eine Stunde lang die Halle abgingen und sie sich pflichtbewusst alles ansah, wusste er, dass sie mit ihren Gedanken woanders war. »Gehen wir zum Aussichtsturm«, schlug er vor.

Von der obersten Plattform aus hatte man eine sehr schöne Aussicht. Nach Osten überblickte man Queens, nach Westen, über den Hudson hinweg, sah man bis nach New Jersey und nordwärts weit in die ländlichen Bezirke Manhattans, in die sich, wie Kolonnen von Infanteristen, die senkrechten Rasterlinien der Avenues allmählich vorankämpften.

Die Masters genossen beide die Fahrt mit dem Aufzug, der die zwei unteren Plattformen ansteuerte. Doch als sie wieder herauskamen, erregte ein weiteres Ausstellungsobjekt Franks Aufmerksamkeit. Hetty wollte sich lieber ein Weilchen ausruhen, also zog Frank allein los.

»Eine ganz unglaubliche Sache«, berichtete er anschließend. »Ein Bursche namens Otis. Er hat einen Aufzug entworfen wie den, mit dem wir gerade gefahren sind, aber er hat zusätzlich ein System von Sperrklinken eingebaut, sodass die Fahrzelle, sollte das Kabel reißen, nicht abstürzt. Ich glaube, man könnte so etwas in einem großen Kaufhaus installieren oder sogar in einem Wohnhaus.« Frank nickte. »Er gründet ein Unternehmen. Könnte eine interessante Investition sein, würde ich sagen.«

»Ja, Liebster«, sagte Hetty.

»Gehen wir heim«, sagte er endlich mit einem Seufzer.

Er wusste, worüber sie gleich sprechen würde. Sie fing nicht sofort damit an; sie wartete einen ganzen Block ab und begann dann an der 39th Street.

»Frank«, sagte sie, »etwas muss geschehen. Ich möchte, dass du dieses Buch liest.«

»Gottverdammt, Hetty«, sagte er, »das werde ich nicht tun!« Und dann lächelte er, um seinen Ausbruch zu entschärfen. »Ist ja auch gar nicht nötig, wo du mir doch schon den ganzen Inhalt erzählt hast!«

Die Autorin, Harriet Beecher Stowe, war zweifelsohne eine herzensgute und ehrenwerte Frau, aber es wäre ihm verdammt viel lieber, wenn sie sich irgendeinen anderen Zeitvertreib aussuchen würde, als Bücher zu schreiben. Denn ihr Onkel Toms Hütte wirkte sich in seinem Haus seit bald einer Woche wie eine ägyptische Plage aus. Und zwar eine Plage für das ganze Land, soweit er feststellen konnte.

Ein Fluch für die Sklavenhalter des Südens, so viel war jedenfalls sicher.

Dabei hatte es harmlos angefangen: als ein in Lieferungen erscheinendes Romänchen in einer kleinen Zeitschrift, die sowieso nur von Abolitionisten gelesen wurde. Bis dann, vergangenes Jahr, irgend so ein dämlicher Verleger die Erzählung als Buch herausbrachte und damit alle Verkaufsrekorde brach. Inzwischen waren in Amerika schon dreihunderttausend Exemplare verkauft worden, und weitere zweihunderttausend, so hatte er gehört, in England. Ein gerade aus London zurückgekehrter Freund hatte ihm allerdings erklärt: »Die Engländer verschlingen das Buch geradezu, aber nicht wegen der Sklavenfrage, sondern weil sie sagen, es zeige, was für eine Horde von Wilden die hochnäsigen Amerikaner in Wirklichkeit seien.« Und auch in Amerika war ein Ende des Erfolgs nicht abzusehen. Der Verlag bot jetzt eine Luxusausgabe mit fast hundertzwanzig Illustrationen an. Obendrein hatte Harriet Beecher Stowe ein zweites Werk herausgebracht, in dem sie schilderte, wie sie überhaupt auf die Idee gekommen war, das erste zu schreiben: Es hieß A Key to Uncle Tom’s Cabin. Das würde mit Sicherheit ebenfalls ein Bestseller werden.

Und was war Onkel Tom’s Hütte überhaupt? Die Geschichte einer Sklavenfamilie und ihrer Leiden und Beschwernisse. Insoweit nichts Neues. Aber das Buch war hochgradig sentimental geschrieben, es gab da eine schwarze Mammy und süße kleine Negerlein und eine Sklavenfamilie, die auseinandergerissen wurde, und den lieben alten Onkel Tom, den treuen, väterlichen, leidenden Sklaven, der am Ende zu allem Überfluss auch noch starb. Kein Wunder, dass alle Frauen so verrückt nach dem Machwerk waren.

»Unsere Familie hatte früher so einen Sklaven wie Onkel Tom«, bemerkte er. »Hudson hieß er. Mein Großvater hat ihn noch gekannt. Soweit ich weiß, war er mit seinem Los durchaus zufrieden. Ich habe jedenfalls nie etwas davon gehört, dass er sich beklagt hätte.«

»Er war kein Sklave, er war frei«, korrigierte ihn Hetty. »Und er verlor seinen einzigen Sohn, der gefangen genommen und wahrscheinlich als Sklave in den Süden verkauft wurde. Deine Familie versuchte jahrelang, den Jungen zu finden, allerdings ohne Erfolg. Dein Vater hat mir die ganze Geschichte erzählt.«

»Das mag alles sein«, räumte er ein. »Aber das Buch ist einfach ein sentimentales Märchen um einen alten Sklaven, der jeden liebt. Im wirklichen Leben gibt es keine Onkel Toms.«

»Das zeigt nur, dass du es nicht gelesen hast, Liebster«, sagte sie. »Onkel Tom ist so real wie du und ich und ganz und gar nicht sentimental. Wenn es nötig ist, ermutigt er Sklaven dazu wegzulaufen. Und ansonsten werden Sklaven tatsächlich von ihren Kindern getrennt, ausgepeitscht und in den Süden verkauft. Willst du das etwa abstreiten?«

»Das nicht«, sagte Frank.

»Alle sind der einhelligen Meinung, dass es ein wunderschönes Buch ist.«

»Im Süden wohl kaum, dort nicht. Ich habe gehört, dass in Arkansas ein Mann, der es verkaufen wollte, aus der Stadt gejagt wurde. Im Süden sagen die Leute, das Buch sei eine einzige böswillige Verleumdung. Sie schäumen vor Wut.«

»Sie täten besser daran, sich zu schämen.«

»Nun, verwunderlich ist das ja nicht«, fuhr er versöhnlich fort. »Schließlich ist der Schurke im Buch ein typischer Sklavenhalter aus dem Süden.«

»Wenn du das Buch gelesen hättest«, sagte Hetty, »dann wüsstest du, dass es sich um einen Yankee handelt, der in den Süden gezogen ist. Der Südstaatengentleman, der im Buch vorkommt, ist ein gütiger Mann.«

»Wie auch immer, im Süden mag niemand das Buch.«

»Die Sache, Frank, ist die, dass es darin nicht um irgendwelche Personen geht, sondern um ein System.«

Inzwischen hatten sie die 36th Street erreicht. Als er eine Droschke sah, winkte Frank sie heran in der Hoffnung, dass das aufwändige Unterfangen des Einsteigens seine Frau von ihrem Thema ablenken würde. Vergebens.

»Das System, Frank«, fuhr sie fort, sobald sie Platz genommen hatten, »das einem Menschen gestattet, einen anderen wie eine Sache zu besitzen. Dieses Buch« – sie holte es heraus und hatte sichtlich vor, es ihm in die Hand zu drücken – »ist ein christliches Buch, Frank. Es ist ein Weckruf an alle Christen. Wie können wir ein solches Übel in unserem Land dulden?«

»Und was«, fragte er müde, »sollte ich deiner Meinung nach dagegen unternehmen?«

Sie schwieg kurz. Offensichtlich hatte sie schon darüber nachgedacht.

»Ich glaube, Frank«, sagte sie dann leise, »wir sollten uns überlegen, ob wir weiterhin Geschäfte mit Sklavenhaltern machen wollen.«

 

Um ein Haar hätte er losgeschrien: »Bist du verrückt geworden?!« Doch glücklicherweise fing er sich rechtzeitig und wartete ein paar Sekunden ab, ehe er antwortete.

»Nicht leicht, ein New Yorker Kaufmann zu sein und nichts mit dem Baumwollhandel zu tun zu haben.«

Das war noch stark untertrieben. Generationen von New Yorkern hatten eifrig die Baumwollpflanzer hofiert – erst kauften sie den Südstaatlern ihre Rohbaumwolle ab und verschickten sie nach England (was die Plantagenbesitzer mit etwas mehr Grips selbst hätten organisieren und damit den New Yorker Zwischenhandel umgehen können), und dann machten sie sich mit ihren eigenen vielfältigsten Exporten in den Süden so unentbehrlich und gingen enge finanzielle Verbindungen ein, sodass es schwer war, sich die einen ohne den anderen vorzustellen. Frank Master verschiffte Baumwolle; und er verkaufte Waren und Kredite in den Süden. Das alles machte einen bedeutenden Anteil seines Umsatzes aus.

Sie legte ihren Arm auf den seinen. »Ich weiß, Frank. Mir ist klar, dass es nicht leicht wäre. Aber du bist auch ein guter Christ. Ich habe dich nicht nur wegen deines Geldes geheiratet«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

Und ich, dachte er bei sich, habe dich nicht geheiratet, damit du mir reinredest, wie ich es verdienen soll. Bis sie zu Hause anlangten, sagte er nichts mehr, doch er spürte, dass seine Frau ihren Entschluss gefasst hatte. In ihrer mehr als zehnjährigen Ehe gab es zwischen ihm und Hetty nie eine ernste Auseinandersetzung, und er wusste nicht, wie es ausgehen würde, sollte es jetzt zum ersten Mal passieren.

*

Ungefähr zur selben Zeit, als Frank und Hetty Master den Aussichtsturm bestiegen, verabschiedete Mary O’Donnell sich von ihren deutschen Freunden. Sie – Mary und Gretchen, Gretchens kleiner Bruder Theodor und Cousin Hans – hatten einen sehr angenehmen Nachmittag zu viert verbracht.

Mary mochte den kleinen Theodor sehr. Er war fünf Jahre jünger als Gretchen, und seine blauen Augen waren dunkler als ihre und standen sehr weit auseinander. Anders als seine blonde Schwester hatte er die braunen Locken seines Vaters geerbt. Und von früh auf ein bemerkenswertes Bewusstsein seiner eigenen Individualität gehabt. Als er fünf war, fragte eine Kundin ihn in der allerfreundlichsten Absicht einmal: »Wirst du Teddy genannt?« Theodor schüttelte den Kopf. »Und warum nicht, mein Lieber?«, hakte sie nach. »Weil ich es nicht möchte«, gab er würdevoll zur Antwort. Bereits im Alter von zehn ließ er alle wissen, dass er nicht beabsichtige, das Schokoladengeschäft seines Vaters fortzuführen. »Was willst du denn stattdessen machen, Theodor?«, fragte die Familie ihn. »Irgendetwas ohne Schokolade«, erwiderte er. Seiner Mutter hatte dies erheblich missfallen, aber sein Vater war verständnisvoller gewesen. »Lass ihn nur«, meinte er. »Dies ist sowieso keine besonders einträgliche Branche.« Gretchen und Mary nahmen Theodor, obwohl er so viel jünger war, gewöhnlich auf ihre Spaziergänge mit.

Mit Hans dagegen verhielt es sich anders. In Marys Kindheit war er eine ferne, verschwommene Gestalt gewesen, auch wenn Gretchen durchaus von ihm erzählte und Mary wusste, dass er ein ernster junger Mann war, der immer bis in den späten Abend für den Klavierbauer arbeitete. Ein- oder zweimal hatte sie ihn gesehen, aber es bestand für sie beide kaum Anlass, sich zu treffen, und Gretchen brachte ihn ganz bestimmt nicht mit, wenn sie Mary zu Hause besuchte.

Eines Tages, als sie schon ein paar Monate bei den Masters arbeitete, ging Mary mit Gretchen gerade spazieren, als ihre Freundin sagte, sie wolle ihren Cousin in der Werkstatt besuchen. Sie blieben nicht lange, aber Mary bekam ausgiebig Gelegenheit, ihn zu beobachten. Hans war erst Anfang zwanzig, ein hochgewachsener, schmaler junger Mann, dessen sandfarbenes Haar sich bereits zu lichten begann und der eine kleine, goldgefasste Brille trug. Er hatte offenbar viel zu tun, empfing sie aber durchaus freundlich. Gretchen bat ihn, auf einem der Klaviere etwas für sie zu spielen. »Er spielt sehr gut«, sagte sie. »Er muss den Kunden immer die Klaviere vorführen.« Doch Hans sagte, er könne jetzt gerade nicht, und so waren sie wieder gegangen. Er nahm seine Arbeit offensichtlich sehr ernst. Das gefiel Mary.

Eine Woche darauf kam sie rein zufällig an dem Klaviergeschäft vorbei und beschloss, kurz hineinzuschauen. Im ersten Moment erinnerte sich Hans nicht an sie, aber als sie ihm sagte, wer sie war, lächelte er und zeigte ihr das Klavier, an dem er gerade arbeitete. Sie stellte ihm ein paar Fragen, und er erklärte, was für Holz verwendet, wie es geformt und zusammengefügt wurde. Dann führte er sie zu einem anderen, schon fertigen Instrument und zeigte ihr, wie man es stimmte.

Er sprach sehr leise und sah sie dabei von Zeit zu Zeit ernsthaft durch seine Brille an. Und vielleicht wollte er sie nur auf höfliche Weise loswerden, doch am Ende ging er zum besten Pianoforte im Laden, setzte sich daran und begann zu spielen.

Mary verstand nicht viel von Musik, auch wenn sie gern sang. Sie hatte schon Leute im Theater Klavier spielen hören, und natürlich in einigen Lokalen, aber so etwas war ihr noch nie zu Ohren gekommen. Er spielte eine Sonate von Beethoven, und sie lauschte gebannt von der Schönheit und der Kraft der Musik. Und betrachtete außerdem Hans fasziniert. Sein Können war bemerkenswert, und seine Hände waren schön – noch verblüffender indes fand sie die Verwandlung, die sich in seinem Gesicht ereignete. Sie sah Konzentration, absolute Konzentration, Intelligenz – und etwas wie Entrückung. Denn wenn er spielte, begriff sie, wechselte er in eine andere Welt über. In eine Welt, von der sie nichts wusste, aber sie konnte erkennen, dass Hans sie gerade, direkt vor ihren Augen, betreten hatte, und sie war bezaubert. Bislang hatte sie gar nicht bemerkt, wie schön er war.

Und plötzlich kam ihr ein Gedanke. Ihre ganze Kindheit lang hatte sie die Priester von Engeln sprechen hören und sie sich immer so vorgestellt wie die, die sie von Gemälden her kannte, mit ausdrucksleeren Gesichtern und unglaubwürdigen Flügeln. Doch als sie jetzt sein Gesicht sah, dachte sie: Nein – so musste ein Engel aussehen, voller Schönheit, Intelligenz und Kraft!

»Sie sollten das Musizieren zu Ihrem Beruf machen«, sagte sie zu ihm, als er zu Ende gespielt hatte und in die Menschenwelt zurückgekehrt war.

»Ach nein«, sagte er mit einem Anflug von Traurigkeit in der Stimme, »Sie müssten einen richtigen Pianisten hören.« Er lächelte sanft. »Ich muss mich jetzt wieder an die Arbeit machen, Mary.«

Zehn Tage später fuhren sie und Gretchen mit einem Vergnügungsboot in die Bucht hinausgefahren, und er begleitete sie. Ob es seine oder Gretchens Idee gewesen war, wusste sie nicht, aber er gab sich sehr ungezwungen und freundlich, und sie amüsierten sich alle prächtig.

Einige Zeit später, als Gretchen sie beiläufig fragte, was sie von ihrem Cousin hielt, lachte Mary und sagte: »Ich würde ihn glatt heiraten!« Doch das tat ihr dann sofort leid, während Gretchen die Stirn runzelte und zu Boden schaute, und Mary erkannte die Wahrheit. Was bin ich für eine Närrin, dachte sie, von so etwas auch nur zu träumen, wo ich nicht einen Cent besitze! Ein gescheiter junger Mann wie der brauchte eine Frau mit Geld.

Das Problem war, dass ihr jeder andere junge Mann, den sie danach kennenlernte, verglichen mit ihm furchtbar grob und ungehobelt erschien.

Und dann kam der Mann, den Sean vorgeschlagen hatte.

Alles in allem musste sie zugeben, dass Sean sich gut benahm, seit sie bei den Masters war. Erwartungsgemäß brachte der Teufel im Handumdrehen alles über ihre Herrschaft in Erfahrung. »Ich bin sehr beeindruckt, Mary«, sagte er zu ihr. »Du hast da wirklich einen Glücksgriff getan.« Und er hielt sich von dem Haus fern. »Solange ich weiß, dass es dir gutgeht …«, sagte er zu ihr. »Natürlich«, fügte er mit einem beruhigenden Lächeln hinzu, »schneide ich ihm die Kehle durch, wenn er dich auch nur anrührt.«

Auch ihrem Vater gegenüber war er sehr anständig gewesen, denn nachdem sie das Haus verlassen hatte, ging es mit John O’Donnell recht schnell bergab. Sean kümmerte sich an ihrer Stelle um ihn, aber viel genützt hatte es nicht. Sie fühlte sich so schuldig, dass sie sich überlegte, ob sie nicht ihre Stellung aufgeben sollte, um ihn vielleicht doch noch retten zu können. Doch Sean blieb eisern.

»Ich hab schon Dutzende wie ihn gesehen, Mary«, sagte er ihr. »Er wird genau wie die enden, ob du nun da bist oder nicht.«

Als ihr Vater dann starb, hatte Sean einen Jungen mit der schriftlichen Nachricht zu ihr geschickt.

Das Begräbnis wurde mit allem gebotenen Zeremoniell durchgeführt. Obwohl Schnee lag, kamen erstaunlich viele Leute. Sean war mit einer kleinen schwarzen Schachtel erschienen, die er, nach einer kurzen Beratung mit dem Priester, Father Declan, ehrfurchtsvoll auf den Sarg legte, als dieser hinuntergelassen wurde. Dann begab sich die ganze Trauergesellschaft zur Wohnung, die Mary vorher energisch gesäubert hatte.

»Was war das für eine Schachtel, die du ins Grab gelegt hast?«, fragte sie ihn auf dem Rückweg.

»Die Überreste vom Hund.«

»Brian Boru?«

»Ich habe ihn letzte Nacht ausgegraben.«

»Herrjemine, Sean, hast du denn gar keinen Respekt vor den Toten?«, rief sie aus. »Das ist wahrscheinlich ein Sakrileg.«

»Das hätte unser Vater sich so gewünscht«, sagte er ungerührt. »Ich hab Father Declan gefragt, und er war ganz meiner Meinung.«

Er hatte dafür gesorgt, dass es zu essen gab, und einen Fiedler geordert, und jede Menge zu trinken. Sie veranstalteten für John O’Donnell eine Totenwache, die sich gewaschen hatte.

Und bei diesem Anlass machte er sie mit Paddy Nolan bekannt.

Überraschenderweise gefiel er ihr. »Überraschenderweise«, weil sie natürlich gegenüber jedem argwöhnisch war, der etwas mit ihrem Bruder zu tun hatte. Nolan war ein ruhiger Mann um die dreißig mit dunklem Haar und einem ordentlich gestutzten Bart. Er war ihr gegenüber sehr höflich, fast förmlich, sprach sie mit Miss Mary an. Er schien ihr großen Respekt entgegenzubringen, und das gefiel ihr ziemlich. Offensichtlich betrachtete er ihren Bruder als einen nicht unbedeutenden Mann. Nach einer Weile fragte er sie, ob er die Ehre haben dürfte, sie einmal zu besuchen, und da sie nicht unhöflich sein wollte, sagte sie Ja.

»Er ist ein sehr achtbarer Mann, weißt du«, sagte Sean später zu ihr. »Und er hat Geld. Ihm gehört eine Schankwirtschaft – er selbst trinkt aber nie einen Tropfen.«

»Und du kennst ihn schon länger?«

»Wir hatten geschäftlich miteinander zu tun.« Er lächelte. »Er mag dich, Mary. Das habe ich ihm angesehen. Und Gott weiß, bei dem Lokal, das ihm gehört, hätte er, was Frauen angeht, die freie Auswahl.«

Zehn Tage später ging sie mit Paddy Nolan aus. Er lud sie zum Essen ein, und anschließend begleitete sie ihn in seinen Saloon, der an der Beekman Street lag.

Ein Saloon war normalerweise kein Ort, den Frauen frequentierten. Doch als sie sie in Begleitung des Eigentümers sahen, nickten ihr die Gäste höflich zu. Das Lokal war ohne Frage eine ganze Klasse besser als die üblichen Etablissements dieser Art und wurde von Herren besucht, die für die nahe gelegenen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, wie der New York Tribune und The Knickerbocker, arbeiteten oder schrieben.

»Zu meinen Gästen zählen die verschiedensten Literaten«, erzählte Nolan ihr mit ruhigem Stolz. »Mr Lewis Gaylord Clark, Mr William Cullen Bryant, Mr Herman Melville.« Er zeigte ihr einen Tisch in einer Ecke, der mit Stößen von neuen Publikationen bedeckt war. »Die Herren von den Zeitungen lassen ihre Blätter für andere Gäste liegen«, erklärte er ihr. Es war offenkundig, dass er dem Lokal die Atmosphäre eines Clubs verleihen wollte, und sie musste zugeben, dass es ihm gelang.

Anschließend fuhren sie mit der Straßenbahn die 4th Avenue hinauf, und er begleitete sie höflich bis an die Tür des masterschen Hauses.

Sonntags hatte sie normalerweise frei, und sie gingen mehrmals zusammen aus. Nach einem Monat gestattete sie ihm, sie zu küssen. Einmal trafen sie Freunde von ihm, und sie waren sehr reizend zu ihr. Als einzig unbehaglichen Moment empfand sie es, als er im Zusammenhang mit der Ehe eines Bekannten bemerkte: »Behandle eine Frau richtig, sag ich immer, und sie tut alles, was du willst.« Die Männer lachten, und die Frauen warfen ihr Blicke zu, aber Nolan hatte sie freundlich angelächelt und hinzugefügt: »Ein Mann sollte nie eine Frau für selbstverständlich nehmen, habe ich recht, Mary?«

Es war eigentlich eine ganz harmlose Bemerkung gewesen. Dennoch blieb ein leichtes Unbehagen in ihr zurück, auch wenn sie selbst nicht wusste, warum.

Als sie das nächste Mal ausgingen und gerade die Uferstraße entlangschlenderten, sagte er etwas über den Baumwollhandel. Da sie im Haus der Masters die Gespräche des Kaufmanns mit anhörte, hatte sie einiges über diesen Geschäftszweig aufgeschnappt. Und ohne nachzudenken, sagte sie Nolan, dass er sich irrte. Für einen kurzen Moment zog eine Wolke über sein Gesicht. Dann produzierte er, ohne sie anzusehen, ein verkniffenes Lächeln. »Widersprich mir nicht«, sagte er leise. Und sie sah ihm an, dass er es ernst meinte.

Sie wusste, dass sie auf solche Dinge nicht zu viel Gewicht legen sollte. Die meisten Männer waren eben so. Und man musste zugeben, dass Nolan vieles hatte, was für ihn sprach. Als der Frühling sich zum Ende neigte, gewann sie den Eindruck, dass er sie bald bitten würde, ihn zu heiraten.

Natürlich hatte sie mit Gretchen über Nolan gesprochen. Denn die Freundin war mittlerweile selbst verlobt. Ihre Eltern arrangierten die Sache mit dem deutschen Jungen, einem entfernten Cousin mit demselben Familiennamen, dessen Vater eine Bäckerei und Konditorei besaß und der als einziges Kind einmal das Geschäft erben würde. Er hieß Henry, und Mary fand ihn durchaus nett. Er trug ein Schnurrbärtchen und redete gern über Konditorwaren.

Mary wurde aus der Natur von Gretchens Verlobung nicht recht klug. Ihre Freundin schien nicht viel Zeit mit ihrem Verlobten zu verbringen, wirkte dabei aber völlig zufrieden, als sei sie froh darüber, dass eine Angelegenheit, die ihr ansonsten hätte Probleme bereiten können, ohne Schwierigkeiten für sie geregelt worden war. »Ich brauche nicht mal meinen Namen zu ändern«, bemerkte sie vergnügt. »Ich bleibe Gretchen Keller.«

»Liebst du ihn?«, hatte Mary einmal ihre Freundin gefragt. »Doch, ja, ich mag ihn«, gab Gretchen gleichmütig zur Antwort, aber irgendwie nahm sie ihn nie mit, wenn sie und Mary zusammen ausgingen. Gretchen und Henry sollten Ende des Jahres heiraten.

Wenn sie über Nolan sprachen, fragte Gretchen nie, ob sie ihn liebte. Hingegen wollte sie wissen, ob er aufmerksam und freundlich war und ob sein Geschäft gut ging. Als die Wochen vergingen und sie Muße hatte, über ihre Situation nachzudenken, und sie den soliden, ehrbaren Haushalt der Kellers mit dem Chaos von Five Points verglich, gelangte Mary zu dem Schluss, dass Gretchens Einstellung die klügere sein könnte. Als Gretchen sie Ende Mai gefragt hatte, ob sie, wenn Nolan ihr einen Antrag machen sollte, diesen annehmen würde, antwortete sie: »Ich könnte mir vorstellen, ja.«

Im Juni unternahm Nolan seinen Vorstoß. Eines Sonntagmittags holte er sie vom Haus am Gramercy Park ab. Es war ein warmer Sommertag, kein Wölkchen am Himmel. Er hatte einen hübschen kleinen Einspänner gemietet, und er kutschierte sie, eine Decke und einen Picknickkorb hinter der Sitzbank, den Broadway hinauf und dann weiter die alte Bloomingdale-Street entlang. Nicht lange und die städtischen Straßen wichen unbebauten Grundstücken und offenen Feldern. Sie waren ungefähr drei Meilen weit gefahren, und sie hatte angenommen, ihr Ziel würde ein hübsches Fleckchen mit Aussicht auf den Hudson sein, aber stattdessen bog er nach rechts ab, vom Fluss weg, und fuhr noch ein Stückchen weiter, bis sie eine wilde Gegend mit kleinen Hügeln und felsigen Buckeln erreichten. Er zügelte das Pferd und band es an, nahm Korb und Decke und führte sie einen Pfad entlang.

»Wo in aller Welt bringst du mich hin?«, fragte sie.

»Zu einer Stelle, die ich vor einiger Zeit entdeckt habe«, sagte er. »Du wirst sehen.« Sie gingen an einer halb hinter Bäumen und Büschen verborgenen Felsnase vorbei. »Nur noch ein Schritt«, sagte er, während er sie bei der Hand nahm und zwischen die Bäume führte. »Da.«

Sie musste zugeben, dass es wirklich ein entzückendes Fleckchen Erde war. Eine kleine Talsenke, dessen von der Sonne sanft beschienenen Hang malerisch Mengen roter Walderdbeeren sprenkelten.

»Ideale Stelle für ein Picknick«, sagte er.

Er hatte eine Flasche Wein eingepackt, frischen Lachs, Hühnchen in Aspik, Brot, das wie frisch aus dem Ofen duftete, Zuckerwerk, frisches Obst. Noch nie war ihr so eine köstliche Mahlzeit vorgesetzt worden. Und während des Essens plauderte er heiter über dies und das und machte sogar einige witzige Bemerkungen, was er, wie ihr schon aufgefallen war, normalerweise eher selten tat.

Als er sie küsste, war sie also darauf vorbereitet und erhob keine Einwände. Und als er, neben ihr im Gras liegend, begann, sie leidenschaftlicher zu küssen, erwiderte sie seine Leidenschaft. Und als seine Hände anfingen, sie zu liebkosen, keuchte sie leicht. Aber als er weiter gehen wollte und sich auf sie legte, stellte sie fest, dass sie nicht dazu bereit war, und leistete Widerstand und bat ihn aufzuhören.

Er gehorchte, aber es war klar, dass er ihre Weigerung nicht ernst nahm, und wirklich fing er auch bald wieder an.

»Nein, Paddy«, sagte sie. »Bitte.« Sie setzte sich auf und sah ihn tadelnd an. »Ich bin nicht deine Frau.«

Er drehte sich auf den Rücken und sah in den Himmel, und sie fragte sich, ob er sie jetzt bitten würde, ihn zu heiraten. Und tatsächlich hatte sie den deutlichen Eindruck, dass er darüber nachdachte. Doch dann, nach einer Weile, setzte er sich wortlos auf. Er sah ziemlich geistesabwesend aus.

Er schenkte ihr ein Glas Wein ein, reichte es ihr und goss sich dann selbst ein. Dann lächelte er.

»Es ist ein wunderschöner Tag, Mary«, sagte er. »Ich weiß wirklich nicht, was über mich gekommen ist.«

Viel mehr sagte er nicht. Etwas später fing er an, die Essensreste einzusammeln, und verstaute sie im Korb. Dann meinte er seufzend, er wünschte, er hätte nicht noch einiges im Lokal zu erledigen. »Doch die Pflicht ruft.«

Also führte er sie zurück zum Einspänner und fuhr sie heim.

Nachdem er gegangen war, saß sie ein paar Stunden in ihrem Zimmer und versuchte, die Situation zu bewerten. Was bedeutete das? Meinte er es mit ihr am Ende doch nicht ernst, sondern wollte sie lediglich verführen? Mit Gewalt würde er sich ihr niemals aufdrängen, da war sie sich sicher – er wusste ohne Zweifel, dass Sean ihm in dem Fall ein Messer in den Rücken rammen würde. Und er hätte sich mit Sicherheit nicht so lange um sie bemüht, wenn es ihm lediglich um eine schnelle Affäre gegangen wäre, denn dafür standen ihm jede Menge lockere Frauenspersonen zur Auswahl. Nein, aus allem, was sich zwischen ihnen begeben hatte, konnte sie nur schließen, dass er sie als Ehefrau im Auge hatte.

Sie wünschte, sie hätte die Sache mit Gretchen bereden können, aber Gretchen und ihre Angehörigen waren diese Woche weggefahren, um Verwandte in New Jersey zu besuchen. Andererseits, sagte sie sich, hatte sie schließlich einen eigenen Kopf und konnte die Sache auch allein zu Ende durchdenken.

Was trieb er also für ein Spiel? Ganz einfach, vermutlich: Er wollte die Katze nicht im Sack kaufen. Sie konnte es ihm eigentlich nicht verdenken. Auf dem Land galt so was nicht als unanständig, solange man vor der Geburt des ersten Kindes heiratete.

Und sie hatte ihn zurückgewiesen. Warum? Aus Angst um ihren Ruf? Die Stelle, die er ausgesucht hatte, war ja mehr als abgeschieden gewesen. Hatte sie ihn gewollt? Vielleicht nicht. Nicht in dem Moment. Sie wusste es selbst nicht. War das so ein guter Grund, sich zu verweigern? War er enttäuscht? War er verärgert? Hatte sie ihn verloren?

Gegen Abend ging sie aus dem Haus. Es war noch immer ihr freier Tag. Sie ging den Irving Place hinunter bis zur 14th Street, dann nach rechts zur Fourth Avenue, wo sie in die Straßenbahn zur City Hall einstieg. Von dort waren es nur noch wenige Schritte bis zur Beekman Street.

Sie war sich noch etwas unschlüssig, was sie, wenn sie erst einmal im Lokal wäre, sagen oder tun würde. Aber zumindest würde sie mit ihm sprechen, ihn wissen lassen, dass es ihr leid tat, ihn enttäuscht zu haben. Mehr als das hatte sie sich noch nicht überlegt. Sie würde sehen, wie sie aufgenommen wurde, und sich dann entsprechend weiter verhalten.

Sie war schon fast am Ziel, als sie ihn sah. Er war gerade aus dem Saloon herausgekommen, und er sah ärgerlich aus. Sie hielt nervös im Gehen inne, und ihr erster Gedanke war, dass wahrscheinlich sie schuld an seiner schlechten Laune war. Er begann, die Straße in dieselbe Richtung wie sie entlang zu gehen. Auch wenn nicht viele Leute unterwegs waren, wollte sie ihm nicht hinterherrufen, also setzte sie sich schnell in Bewegung, um ihn einzuholen.

Sie sah, dass in einiger Entfernung ein zerlumpter kleiner Straßenjunge, dem Aussehen nach sieben, acht Jahre alt, in seinen Weg getreten war. Er stand da und hielt bettelnd die Hand ausgestreckt. Als er näher kam, bedeutete ihm Nolan mit einer unwirschen Handbewegung, beiseitezugehen. Doch der kleine Bursche hielt unbeirrt die Stellung. Nolan erreichte ihn und blieb stehen. Er schien eine Münze aus der Tasche holen zu wollen. Und dann verpasste er dem Bengel, wortlos und wohlüberlegt, eine so kräftige Ohrfeige, dass der kleine Junge förmlich durch die Luft flog und in der Gosse landete. Bei dem Geräusch drehten sich mehrere Leute um. Der kleine Junge lag auf der Straße, so verdattert, dass er nicht einmal weinte. Und Nolan ging weiter, als sei gar nichts passiert.

Sie blieb stehen und erstarrte. Normalerweise wäre sie zu dem Jungen hingerannt, aber es kümmerten sich schon andere um ihn – und außerdem konnte sie das aus irgendeinem Grunde nicht. Sie machte kehrt und entfernte sich hastig. Dabei verspürte sie nicht nur Erschütterung, sondern auch etwas wie Übelkeit.

Sie bog nach Norden ab, in Richtung City Hall. Eine Straßenbahn fuhr gerade los, und sie stieg schnell ein. Sie hatte nicht nur das Bedürfnis, sich hinzusetzen, sondern irgendwie von der Straße wegzukommen. Während die Bahn langsam die Bowery entlang rumpelte, versuchte sie zu begreifen, was gerade geschehen war.

Sie hatte Nolan beobachtet. Ihn in einem Augenblick, ada er sich unbeobachtet wähnte. Ihn gewissermaßen ohne Maske gesehen. Ihn zornig gesehen. Aber kein Zorn der Welt – und selbst, wenn sie dessen Ursache war – gab ihm das Recht, das zu tun, was er gerade getan hatte. Es war nicht nur die Heftigkeit der Ohrfeige – in den Five Points bekam man tagtäglich Schlimmeres zu sehen. Es war die Kaltherzigkeit, die da zum Vorschein gekommen war.

Und das war der Mann, den sie als möglichen Heiratskandidaten in Betracht gezogen hatte, der Mann, der sie geküsst hatte, der Mann, der erst Stunden zuvor seinen Körper gegen den ihren gepresst hatte? Und so albern es auch sein mochte – und obwohl er den Jungen und nicht etwa sie geschlagen hatte –, überschwemmte sie ein grauenvolles, Übelkeit erregendes Gefühl, als sei sie geschändet worden.

Als er sie eine Woche darauf wieder abholen wollte, ließ sie ihm ausrichten, sie sei unpässlich. Ein paar Tage später bat sie Mrs Master um Hilfe. Sie ging nicht ins Detail, sagte ihr lediglich, Nolan habe ihr den Hof gemacht und jetzt habe sie etwas Schlimmes über ihn erfahren. Und nach ein paar sanften Fragen versprach Mrs Master ihr, dass sie sich um die Angelegenheit kümmern würde. Als Nolan am folgenden Sonntag wieder vorbeikam, um sich nach Marys Befinden zu erkundigen, erklärte ihm Hetty Master persönlich, dass Mary ihn nicht wiederzusehen wünschte und dass er nicht mehr kommen sollte.

»Er war nicht sonderlich erfreut«, erzählte sie Mary anschließend mit einiger Befriedigung.

Marys einzige Angst war, dass Nolan sich bei ihrem Bruder beschweren und dass dies Sean veranlassen könnte, selbst zum Haus der Masters zu kommen, aber glücklicherweise passierte das nicht. Als sie allerdings am Sonntag darauf Gretchen besuchen wollte, war es für sie keine Überraschung, dass Sean sie auf der Straße abpasste.

»Was hast du mit Nolan angestellt?«, fragte er. »Du hast mich in Verlegenheit gebracht.«

»Ich ertrage es nicht mehr, den Mann in meiner Nähe zu haben«, sagte sie. Und sie erzählte ihm ohne jede Auslassung, was sie gesehen hatte.

»In Ordnung, Mary«, sagte Sean. Und seitdem hatte er Nolan nie wieder erwähnt.

Heute aber war es ihr gelungen, Nolan vollkommen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Sie hatte Gretchen im Laden abgeholt, und sie waren, zusammen mit Theodor, Arm in Arm losgezogen.

»Wo gehen wir hin?«, hatte sie gefragt.

»Ach, wir holen bloß Hans ab«, hatte Gretchen munter geantwortet.

Ihr Herz hatte einen Schlag ausgesetzt, aber sie nahm nicht an, dass ihr das anzusehen gewesen war.

»Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen«, hatte sie gesagt.

Also hatten sie ihn am Klaviergeschäft abgeholt, und sie waren den East River entlang bis hinunter zum Battery Park spaziert. Sie hatten bei der großen Vergnügungshalle Eiscreme gegessen und hatten über die Bucht nach Staten Island hinübergeschaut. Jemand hatte eine kleine Kegelbahn aufgebaut, also hatten sie eine Weile gekegelt, und Hans hatte dabei am besten abgeschnitten. Und sie hatte ihn die ganze Zeit beobachtet, ohne dass er es merkte. Danach umrundeten sie die Südspitze der Insel und blickten den Hudson hinauf. Einmal, als er sie am Arm berührte, um sie auf ein Boot aufmerksam zu machen, blieb ihr fast der Atem stehen, aber sie hielt ganz still, damit er nichts merkte.

Auf dem Rückweg erwähnte er, dass er ihnen bei ihrem nächsten Treffen gern eine junge Dame vorstellen würde. Und Gretchen flüsterte ihr zu, sie wüsste bereits, dass Hans und das Mädchen wahrscheinlich heiraten würden. Nachdem Mary also gelächelt und gesagt hatte, sie freue sich schon darauf, und das plötzliche Kältegefühl in ihrem Magen abgeklungen war, sagte sie sich, dass es wunderbar sei und sie sich für ihn freue.

Sie näherte sich gerade dem Haus am Gramercy Park, als sie einen Mann sah, der durch den Haupteingang eintrat. Sie sah ihn nur flüchtig, aber sie hätte schwören können, dass es ihr Bruder Sean war.

Aber warum in aller Welt, fragte sie sich bang, sollte Sean Mr Master aufsuchen?

*

Nach der anstrengenden Diskussion mit seiner Frau über die Sklaverei war Frank Master froh gewesen, sich in die Bibliothek zurückzuziehen. Er setzte sich mit der neusten Ausgabe der New York Tribune in einen Ledersessel, fand einen Artikel des neuen Londoner Korrespondenten der Zeitung, eines gewissen Karl Marx, und fing an zu lesen.

Er war ziemlich überrascht, als der Butler eine Visitenkarte mit dem Namen Fernando Wood hereinbrachte. Und noch überraschter, als er erfuhr, dass es sich bei dem Gentleman nicht um Mr Wood, von Tammany Hall selbst handelte, sondern um seinen Bevollmächtigten.

Ein Besuch vom Feind. Er runzelte die Stirn. Nach kurzem Zögern entschied er, dass es klug wäre, den Grund dieses Besuchs zu eruieren, also forderte er den Butler auf, den Unbekannten hereinzuführen. Und sah sich kurz darauf Sean gegenüber.

Der Ire trug einen teuren, für Masters Geschmack ein wenig zu körperbetont sitzenden Anzug, und sein Backenbart war eine Spur zu breit, aber zumindest seine tadellos blank gewichsten Stiefel fanden Masters Billigung. Er bot dem jungen Mann einen Sessel an.

»Sie kommen vom Obersachem von Tammany Hall, wenn ich nicht irre.«

»Von Mr Fernando Wood, Sir«, antwortete Sean geschmeidig. »Das trifft in der Tat zu.«

Wenn Frank Master aufgefordert worden wäre, den größten Gauner in New York zu nennen – und die Konkurrenz war groß –, hätte er keinen Augenblick gezögert, den Namen Fernando Wood auszusprechen. Aus Philadelphia gebürtig war die Stadt viel zu manierlich für seine besonderen Talente gewesen. Also kam er nach New York, häufte noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr auf die eine und andere Weise ein nicht unbeträchtliches Vermögen an und stieg bei Tammany Hall ein. Um anschließend in die Politik zu gehen.

Man konnte die Genialität des Tammany-Rezepts nicht bestreiten. Fünfzig Jahre zuvor hatte der intrigante Aaron Burr Tammany zu einer politischen Macht aufgebaut und sich damit zum Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten wählen lassen. Und nachdem Tammany Andrew Jacksons Präsidentschaftskandidatur erfolgreich unterstützte, wurde ihre demokratische Parteimaschine zunehmend effektiv.

Tammany sorgte dafür, dass Wood als Demokrat in den Kongress kam. Dann stellte sie ihn als Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters von New York auf und hätte auch mit diesem Schachzug um ein Haar Erfolg gehabt. Schon bald würde sich der verdammte Kerl ein zweites Mal zur Wahl stellen. Und neben alldem mischte Wood mit der Unterstützung seiner Kumpane von Tammany Hall so ziemlich überall in der Stadt mit.

»Dürfte ich auch Ihren Namen erfahren, Sir?«

»O’Donnell, Sir. Aber in allem, was ich sage, spreche ich für Mr Wood.«

»Und welche Angelegenheit führt Sie zu mir?«, erkundigte sich Master.

»Man könnte sagen, sie ist politischer Natur, Sir«, erwiderte der Ire.

Sein Besucher, dachte Master, konnte doch wohl nicht ernsthaft glauben, dass er Woods Kandidatur unterstützen würde.

»Sie wissen vermutlich, Mr O’Donnell«, sagte er gleichmütig, »dass ich kein großer Freund von Tammany Hall bin.«

»Das weiß ich allerdings, Sir«, antwortete der junge Mann kühl, »dennoch glaube ich, dass Sie und Mr Wood ein gemeinsames Interesse haben.«

»Und was könnte das sein?«

»Grundstücke an der 34th Street, westlich vom Broadway.«

Master sah ihn überrascht an. Es war erst sechs Monate her, dass er vier Parzellen in dem Block gekauft hatte, und bisher war noch gar nicht entschieden, was er damit anfangen würde.

»Sie sind gut informiert«, bemerkte er trocken.

»Mr Wood spielt mit dem Gedanken, sich ebenfalls in dem Block einzukaufen«, fuhr der Emissär fort. »Aber es gibt ein Problem. Offenbar hegt ein gewisser Gentleman, der dort ebenfalls über Grundbesitz verfügt, den Wunsch, eine Tierkörperverwertungsanlage zu eröffnen.«

»Tierkörperverwertung?«

»Ja, Sir. Schlachtabfälle und Tierkadaver zermahlen. Auch tote Pferde. Erstaunlich, was man noch alles aus ihnen herausholen kann. Einträgliches Geschäft nach allem, was ich höre. Aber schmutzig. Nicht gut für die Eigentümer angrenzender Grundstücke.«

»Ganz und gar nicht.«

»Schlecht für Sie, Sir. Schlecht für Mr Wood.«

»Und was können wir da tun?«

»Dagegen kämpfen, Sir. Wir sind zwar davon überzeugt, dass man dagegen gerichtlich vorgehen könnte, doch Anwälte sind teuer, und die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Zweckmäßiger, um es so zu formulieren, könnte es sein, ein, zwei Stadträte dazu zu bewegen, die Baugenehmigung zu verweigern.«

»Den Antrag niederzustimmen?«

»Wir glauben, dass das Problem damit aus der Welt zu schaffen wäre.«

»Ich verstehe«, sagte Master nachdenklich. »Aber das würde einiges kosten.«

»Und damit, Sir«, sagte der Emissär, »sprechen Sie genau den Kernpunkt an.«

»Und meine Kontribution beliefe sich auf …?«

»Tausend Dollar.«

Da warf Frank Master den Kopf in den Nacken und lachte.

»Zigarre, Mr O’Donnell?«

Gegen ein bisschen Korruption hatte Frank Master nichts einzuwenden. Gib dem Sohn eines Mannes einen Job, und der Vater wird dir später eine Gefälligkeit erweisen. Gib einem Theaterdirektor einen Tipp für eine gute Investition, und er wird dir Premierekarten für ein neues Stück zukommen lassen. Das waren die Freundlichkeiten, die die Welt in Gang hielten. An welchem Punkt wurde Korruption zum Laster? Schwer zu sagen. Es war eine Frage der graduellen Abstufung.

Er hatte geglaubt, die meisten Tammany-Tricks zu kennen. Da gab es einmal die elementaren Hilfsmittel wie die kleinen Schmiergelder für Genehmigungen und die größeren für öffentliche Aufträge; das große Geld aber steckte in den »gefütterten Aufträgen«. Man belieferte die Stadt mit Lebensmitteln, sagen wir, für die Armen. Schlägt auf die korrekte Rechnung einen gewissen Prozentsatz auf. Teilt die Differenz mit dem städtischen Beamten, der einem den Auftrag zugeschanzt hat. Macht Jahr für Jahr so weiter. Schwer zu entdecken, schwerer nachzuweisen, gerichtlich kaum zu verfolgen – immer vorausgesetzt, jemand wollte das überhaupt. Mit der Zeit konnten da gewaltige Gewinne auflaufen.

Doch dieser Trick, den O’Donnell gerade probierte, war ihm neu. Wahrend sie ihre Zigarren anzündeten, betrachtete er den jungen Mann mit wohlwollendem Auge.

»Netter Versuch.«

O’Donnell warf ihm einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts.

»Tausend Dollar nenne ich ganz schön über den Löffel halbiert«, fuhr Master liebenswürdig fort.

»Die Bedrohung durch die geplante Abdeckerei …«

»Existiert gar nicht, Mr O’Donnell. Ich bin es gewohnt, den Jungs von der Stadt immer wieder mal für dieses und jenes etwas zustecken zu müssen. Aber jemandem mit einer nicht existierenden Tierkörperverwertungsanlage zu drohen, das ist eine Weiterentwicklung der Methode, die ich nur bewundern kann. Fallen viele darauf rein?«

Sean O’Donnell blieb ein, zwei Augenblicke lang stumm. Dann bedachte er seinen Gastgeber mit einem charmanten Lächeln.

»Ganz unter uns, Sir? Unglaublich viele.«

»Nun, meine Hochachtung an Mr Wood, doch ich gehöre nicht dazu.«

O’Donnell überdachte die neue Situation. »Es gibt nur ein Problem, Sir. Ich würde ungern mit leeren Händen zu Mr Wood zurückkehren. Das ist nicht empfehlenswert.«

»Das kann ich mir vorstellen. Was wird er nehmen?«

»Fünfhundert, Minimum.«

»Zweifünfzig.«

»Nicht drin, Sir. Sie wissen doch, dass er bei der nächsten Wahl höchstwahrscheinlich Bürgermeister wird.«

»Und Sie werden Wahlurnen stopfen?«

»Natürlich«, sagte Sean vergnügt.

»Zweihundert für ihn und das Gleiche für Sie.«

»Sie sind äußerst verständnisvoll, Sir.«

Frank Master stand auf, verließ den Raum und kehrte eine Minute später mit einem Bündel Banknoten zurück.

»Etwas gegen Bargeld einzuwenden?«

»Nicht das Geringste.«

Master ließ sich wieder in seinem Sessel nieder und paffte an seiner Zigarre.

»Bei uns im Haus arbeitet ein Mädchen mit Namen O’Donnell, Mary O’Donnell«, sagte er beiläufig.

»Es ist ein häufiger Name«, erwiderte Sean.

Master paffte weiter an seiner Zigarre.

»Meine Schwester«, sagte Sean endlich. »Aber sie weiß nicht, dass ich hier bin. Tatsächlich hält sie nichts von mir.«

»Ich glaube, wir behandeln sie gut.«

»Das tun Sie.«

»Sie sagte, da gebe es einen Burschen, der sie belästigt. Meine Frau hat ihm gesagt, er solle sich hier nicht wieder blicken lassen.«

»Er wird sie nicht mehr belästigen.«

»Und ich soll Mary nicht sagen, dass ich ihren Bruder kennengelernt habe?«

»Es wäre mir lieber.« Seans Blick wanderte im luxuriös eingerichteten Zimmer umher. Master beobachtete ihn.

»Wissen Sie«, sagte Master leise, »die Tammany-Boys haben das Spiel keineswegs erfunden. Meine Vorfahren haben das Gleiche schon getrieben, bevor Stuyvesant überhaupt hier aufkreuzte. Ich schätze, so ist es in Städten seit jeher gewesen. Und wird es auch immer sein, möchte ich annehmen.« Er nickte zufrieden. »Neue Mannschaft. Selbes Spiel.«

»Dann könnte mein Enkel also eines Tages in so einem Haus sitzen?«

»Vielleicht. Sie scheinen ein Mann mit Zukunft zu sein.«

»Das würde mir gefallen«, sagte Sean offen. Dann grinste er. »Vielleicht würde dann sogar meine Schwester etwas von mir halten.« Er schwieg kurz. »Sie haben mich sehr gut behandelt, Sir. Ich werde es nicht vergessen. Besonders in Anbetracht des großen Unterschieds, der zwischen uns besteht.«

Master zog langsam an seiner Zigarre und musterte dabei den jungen Mann mit halb geschlossenen Augen.

»Gar nicht so verschieden, O’Donnell«, sagte er sanft, »lediglich mit einem besseren Blatt auf der Hand.«