LIEBE

Juli 1777

Abigail saß, einen Sonnenschirm über dem Kopf, auf einem Klappstuhl.

Ihr Vater stand hinter ihr. Weston hatte mit gekreuzten Beinen im Gras Platz genommen. Zahlreiche Menschen – Damen, Herren, Offiziere und Gemeine – säumten das Bowling Green.

»Ah, guter Schlag!«, rief ihr Vater, als der Ball über die Köpfe der Menge schwirrte, und alle applaudierten. »Grey legt ja ein prächtiges Innings hin«, bemerkte er lächelnd zu seiner Tochter. Tatsächlich hatte Albion schon fast fünfzig Runs erzielt.

Sie spielten Cricket.

Mittlerweile gab es zwei Mannschaften in New York, eine in Greenwich Village, direkt nördlich der Stadt, die andere drüben in Brooklyn. Aber im eleganten Viertel konnte man auf jeder Straße Kinder mit Schläger und Ball spielen sehen.

Albion hatte Weston bereits gezeigt, wie man schlug und bowlte. »Über das Feldspiel kann ich ihm allerdings nichts beibringen«, sagte er lachend. »Ich möchte wirklich nicht Schlagmann sein, wenn Weston zum gegnerischen Team gehört!«

Seit der Feuernacht stand Grey Albion hoch in Masters Gunst. Ja, im Laufe der Monate war er für John zu so etwas wie einem zweiten Sohn und für Weston ein Lieblingsonkel geworden. Obwohl er schon Ende zwanzig war, fast so alt wie James, hatte er mit seinem hübschen Gesicht und ungebärdigen Haar etwas Jungenhaftes an sich. Er tobte mit Weston, brachte die anderen jungen Offiziere dazu, sich wie Kinder an einem Blindekuhspiel zu beteiligen, und inszenierte ab und an einen Streich auf Kosten Abigails, über den das ganze Haus noch tagelang lachte.

Sie wusste, dass andere Mädchen ihn attraktiv fanden. »Es ist so ungerecht«, riefen sie, »dass du ihn direkt bei dir zu Hause hast!« Aber mochten die anderen angesichts seiner blauen Augen auch noch so sehr dahinschmelzen, so wollte Abigail sich nicht so leicht beeindrucken lassen. Denn er behandelte sie wie eine kleine Schwester. Ja, manchmal konnte er sie regelrecht in den Wahnsinn treiben – nicht durch konkrete Taten oder Untaten, sondern einfach durch eine gewisse Überheblichkeit.

»Diese Geschichte mit den Rebellen wird bald ausgestanden sein«, versicherte er ihr etwa. »Noch ein, zwei Gefechte gegen eine richtige Armee, und sie werden Reißaus nehmen wie die Karnickel und sich in ihren Löcher verkriechen. Sie sind lediglich ein Pöbelhaufen unter der Führung von Männern, die keine Gentlemen sind -James natürlich ausgenommen.«

Nicht dass die anderen jungen Offiziere aus England, die sie kennenlernte, anders gedacht hätten. Alle trugen sie diese Geringschätzung der »Rebellen« zur Schau – wie sie die Patrioten grundsätzlich nannten. Selbst wenn sie begriffen, dass die Kolonisten vielleicht gute Gründe für ihre Unzufriedenheit hatten, war ein Mann, sobald er die Waffen gegen den König erhob, ein Rebell, und Rebellen gehörten niedergemacht. Ohne Wenn und Aber.

Ja, dass James sich seinerzeit dafür entschieden hatte, Patriot zu werden, war für Albion schlechterdings unbegreiflich. Abigail sprach in seiner Gegenwart selten von ihrem Bruder. Und obwohl er, fiel doch einmal James’ Name, nur mit der größten Achtung und Zuneigung von ihm sprach, bekam sie bei einer Gelegenheit zufällig mit, wie er ihrem Vater gegenüber sagte: »Es ist mir ganz ehrlich ein Rätsel, Sir, was ihn dazu gebracht hat. Wenn er in diesem Moment durch die Tür träte, weiß ich nicht, was ich zu ihm sagen würde.«

Irgendwann hatte sie versucht, Grey Albion über die Frau seines Bruders auszufragen. Um Neujahr herum war nämlich ein Brief von Vanessa eingetroffen. Darin schrieb sie, sie habe von James erfahren, dass er sich den Patrioten angeschlossen habe und Weston in New York sei. Sie war außerstande, ihre Gefühle zu unterdrücken. Die Worte sprangen John in ihrer energischen Handschrift in Großbuchstaben ins Gesicht: SCHÄNDLICH, VERRÄTER, SCHURKE. Sie danke Gott, dass zumindest ihr kleiner Sohn in so verlässlichen und loyalen Händen sei, und hoffe, dass dereinst die Zeit kommen werde, da sie und Weston wieder vereint seien. Wann – und auf welche Weise – dies zustande kommen sollte, schrieb sie allerdings nicht.

»Wie ist denn Vanessa so?«, fragte sie also Albion.

»Ach, sie ist eine sehr gut aussehende Lady«, antwortete er.

»Ich meine ihren Charakter.«

»Na ja …« Hier schien er zu zögern. »Ich verkehre nicht oft in so hohen Kreisen, deswegen kenne ich sie nicht gut. Aber wann immer wir uns begegnet sind, war sie sehr zuvorkommend. Sie ist sehr geistreich. Dafür ist sie bekannt.«

»Liebt sie Weston?«

»Ich glaube, jede Mutter liebt ihr Kind, Miss Abigail.« Nach einer kurzen Pause hatte er, etwas vage, hinzugefügt: »Aber eine vornehme Dame kann nicht immer viel Zeit für ihre Kinder erübrigen.«

»Und liebt sie meinen Bruder?«

»Ich bin sicher, dass sie ihn ohne Liebe nicht geheiratet hätte.« Er legte eine weitere Pause ein. »Sie kann es allerdings nicht gutheißen, dass er ein Rebell geworden ist.«

»Warum kommt sie nicht hierher?«

»Ah.« Er schaute ein bisschen perplex drein. »Sie weiß, dass Weston bei Ihrem Vater in guten Händen ist. Ich vermute, dass sie zu gegebener Zeit seine Rückkehr nach England veranlassen wird. Wahrscheinlich denkt sie, dass die Überfahrt wegen der patriotischen Freibeuter, die den Ozean unsicher machen, gegenwärtig zu gefährlich wäre.«

Da die patriotischen Freibeuter den britischen Geleitzügen nichts anhaben konnten, war Letzteres eine lahme Ausrede. Aber Albion hatte damit deutlich gemacht, dass er mehr nicht sagen wollte, und sie war nicht weiter in ihn gedrungen.

Was James betraf, so hatte der letzte Herbst höchst besorgniserregende Nachrichten gebracht. Selbst unter Beibehaltung seines bisherigen Schneckentempos hatte General William Howe nicht lange gebraucht, um Washington und seine Armee über den Hudson zu treiben. Harlem Heights, White Plains und die Rebellenfestungen am Fluss, Fort Washington und Fort Lee, fielen eines nach dem anderen. Zahlreiche Patrioten starben auf dem Schlachtfeld, Tausende wurden gefangen genommen. Dann verfolgte General Cornwallis auch noch Washington nach Süden, an Princeton vorbei und über den Delaware nach Pennsylvania hinein. »Das sind die Zeiten, die eines Mannes Seele auf die Probe stellen«, erklärte Tom Paine.

Weihnachten dann hatte George Washington einen kühnen Ausfall über den Delaware gewagt und die britischen und hessischen Garnisonen angegriffen – eine tapfere Geste. Anschließend war es ihm gelungen, Cornwallis auszuweichen und seine Armee ins Winterlager nach Morristown zu führen, von wo aus es James, Gott sei Dank, endlich gelang, einen Brief an seine Familie zu schicken, durch den er sie wissen ließ, dass er am Leben war. Doch John Master schätzte die Chancen der Patrioten nach wie vor nicht eben hoch ein.

»Washington hat einen Stich gemacht, aber die Briten halten nach wie vor sämtliche Trümpfe in der Hand.«

*

In New York erlebte Abigail mit, wie das neue britische Regime die Herrschaft übernahm. Wie sie jetzt feststellte, war General Howe fest entschlossen, dem Krieg einen aristokratischen Stempel aufzudrücken. Der Sommer war zum Kämpfen da, der Winter zur Erholung und zum Amusement – zumindest wenn man ein Gentleman war. Und General William Howe, das zeigte sich rasch, hatte durchaus vor, sich zu amüsieren.

Zugegeben, New York mit seinen etwa 25000 Einwohnern war nicht gerade ein Kurort. Zunächst einmal hatte die Feuersbrunst eine gewaltige Schneise durch den Westteil der Stadt geschlagen, der je nach Schätzung zehn bis 25 Prozent der etwa 4000 Häuser zum Opfer gefallen waren. Dort, wo sich einst ganze Straßenzüge von reizvollen georgianischen Stadtvillen, niederländischen Giebelhäusern oder Fachwerkbauten befunden hatten, erstreckte sich jetzt, fast eine Dreiviertelmeile weit, eine einzige verkohlte Einöde – bei kaltem Wetter ein Meer von gefrierendem Schlamm, und ein stinkender Morast, wenn es wärmer wurde. Darauf war ein riesiges Feldlager entstanden, so widerwärtig, dass Master säuerlich anmerkte: »Ich ziehe es vor, mich bei Westwind nicht auf dem Broadway aufzuhalten.« Ansonsten drängten sich die Soldaten in ein paar Kasernen und einem weiteren dauerhaften Lager auf dem Common. Aber für die britischen Offiziere und die Loyalisten, die von überallher in die Stadt strömten, gab es nicht genügend anständige Unterkünfte und kaum ausreichend Lebensmittel.

Und was die unglücklichen Patrioten anbelangte, die in großer Zahl gefangen genommen und in die Stadt gebracht worden waren, so wurden sie ins Armenhaus, in die Nonkonformistenkirche und in jedes andere ausbruchssichere Gebäude gestopft, das sich finden ließ, und, wenn’s hoch kam, mit Abfällen gefüttert.

Für Hauseigentümer hatte die Wohnraumknappheit allerdings durchaus Vorteile. »Man hat mir für unsere zwei alten Reihenhäuser auf der Maiden Lane gerade das Dreifache der früheren Miete angeboten«, erfuhr Abigail von ihrem Vater im Frühjahr.

Überhaupt wurde John Master schon bald vom britischen Oberkommando regelrecht hofiert. Ein loyalistischer Kaufmann mit einer ungeheuren Erfahrung, ein Bursche, der zeitweilig in London gelebt hatte und der an Kompromisse glaubte – er war genau das, was sie sich von einem Amerikaner wünschten. Insbesondere General Howe fasste eine große Sympathie für ihn und lud ihn wiederholt zum Essen ein. Klugerweise war Master ihm gegenüber vollkommen offen, was James anbelangte, und der General schien ihm deswegen nur umso größeres Vertrauen zu schenken. »William Franklin hat das gleiche Problem mit seinem Vater Ben, das Sie mit Ihrem Sohn James haben«, bemerkte er leutselig. Im Handumdrehen bekam Master Verträge für die Lieferung von so viel Getreide und Fleisch, wie er überhaupt auftreiben konnte. Dazu gehörten auch die Erzeugnisse der Landgüter in Dutchess County, und mit einem von ihrem Vater besorgten Passierschein war Susan imstande, Waren in die Stadt zu fahren. Die Geschäfte mit Albion in London kamen ebenfalls wieder in Gang. Die Offiziere wollten so viele Luxus- und Verbrauchsgüter, wie er ihnen nur besorgen konnte. »Ich habe noch nie bessere Geschäfte gemacht«, gestand er.

Ihrerseits bemühten sich die britischen Offiziere, trotz der schwierigen Lage die Annehmlichkeiten Londons einigermaßen nachzuahmen. Sie eröffneten ein Theater und traten, da es keine Schauspieltruppe gab, selbst in den Stücken auf. Als es auf den Sommer 1777 zuging, fanden bereits Pferderennen, Bälle, Cricketspiele statt. Und dann gab es natürlich die Damenwelt.

»Armeen ziehen immer Frauen an«, äußerte Master seiner Tochter gegenüber, und Abigail begriff schon, warum das so war. Die Straßen mochten verdreckt sein, aber die Offiziere, die in ihren strahlenden Uniformen auf ihnen entlangstolzierten, nahmen sich dort wie exotische, bunt gefiederte Vögel aus. Und auch die verheirateten Damen zeigten sich für das heldische Gebaren und die Mannhaftigkeit der Offiziere keineswegs unempfänglich. Mrs Loring, die blonde, attraktive Gemahlin des Gefangenenkommissärs, wurde so oft zusammen mit General William Howe gesehen, dass man allgemein annahm, sie sei seine Geliebte.

»Ist sie seine Mätresse?«, fragte Abigail ihren Vater.

»Ich kann nur so viel sagen«, erwiderte er, »dass sie immer an seiner Seite ist.«

Tatsächlich senkte sich eine – vom Kommandeur tatkräftig geförderte – Atmosphäre behaglicher Sinnlichkeit über den wohlhabenderen Teil der Stadt.

Immer wieder bekam Abigail mit, dass Grey Albion abends ausging und, wenn Hudson die Tür abschloss, noch nicht zurück war. Mehrmals hatte sie gesehen, wie er im Morgengrauen, nachdem Hudson wieder aufgesperrt hatte, still und leise ins Haus schlich. Als sie sich eines Morgens im Mai in der Küche Ruth gegenüber dazu äußerte, lächelte diese sie amüsiert an.

»An dem jungen Mann ist alles dran, Miss Abigail, da können Sie man sicher sein.«

Als der Sommer nahte, wussten alle, dass die Briten wieder ausrücken würden. Auch wenn die Kolonien von Boston und New Hampshire im Norden bis hinunter zu den Baumwollstaaten im Süden nominell von den Patrioten kontrolliert wurden, war die einzige organisierte Patriotenarmee nach wie vor die schlecht ausgebildete und dezimierte Streitmacht, die unter dem Kommando George Washingtons in New Jersey die Straße nach Philadelphia blockierte.

Im Juni unternahm General Howe eine Kampagne gegen Washington, und Grey Albion und seine Kameraden mussten eine Zeitlang fort. Wenngleich er, wie auch seine jungen Offiziere, davon überzeugt war, dass seine regulären Truppen die Patrioten in offener Feldschlacht jederzeit vernichten würden, hatte Howe immerhin beim Debakel von Bunker Hill erlebt, dass die Scharfschützen der Patrioten bei ausreichender Deckung gewaltigen Schaden anrichten konnten. Als er also merkte, dass seine Planungen nicht aufgehen würden, kehrte er schon Ende des Monats nach New York zurück und es stellte sich die Frage: Was würde er als Nächstes tun?

Erst am Tag davor war Abigails Vater von Howe zum Souper eingeladen worden. Kurz entschlossen nahm er sie mit.

Es war ein seltsames Gefühl für sie gewesen, so nah beim General zu sitzen. Die einzigen weiteren Gäste waren Mrs Loring und ein paar Offiziere. Jedesmal, wenn der General sein großes, fleischiges Gesicht und seine vorstehenden Augen ihr zuwandte, konnte Abigail nicht umhin, sich vorzustellen, dass sie in das Antlitz König Georgs III. blickte.

Die Mahlzeit war schlicht, aber schmackhaft. William Howe schien in freundlicher Stimmung, und sie sah ihm an, dass er ihren Vater schätzte, doch ebenso klar wurde es ihr, dass der General etwas auf dem Herzen hatte.

»Sagen Sie, Master«, sagte er nach einer Weile, »ist Ihnen das Gelände oben am Hudson vertraut?« Als ihr Vater dies bejahte, fuhr Howe fort: »Ich nehme nicht an, dass Sie General Burgoyne kennen. Er wird auch ›Gentleman Johnnie‹ genannt. Schneidiger Bursche. Ein Hasardeur. Schreibt in seiner Freizeit Theaterstücke.«

Der General schnaubte. Die letzte Information, erkannte Abigail, war nicht als Kompliment gemeint.

»Ich habe gehört, dass er sich in Kanada gut geschlagen hat, aber ein eigensinniger Bursche ist«, sagte ihr Vater offen.

»Volle Segel und kein Ballast, wenngleich ich einräume, dass er tapfer und wagemutig ist. Er genießt allerdings das Wohlwollen des Kabinetts, insbesondere von Lord George Germain, und wie Sie wissen, plant er jetzt, von Kanada aus das Hudsontal herunterzukommen, Albany einzunehmen, Ticonderoga und die übrigen Forts zu halten und dadurch George Washington vom ganzen Nordosten abzuschneiden. Waghalsiger Plan. Möchte sich einen Namen machen. Bildet sich ein, es wird ein Kinderspiel.«

»Welchen Weg wird er nehmen?«

»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht über die Waldpfade.«

»Er wird feststellen, dass das kein Spaziergang ist. Pfade lassen sich leicht blockieren. Und er sitzt dort für Scharfschützen wie auf dem Präsentierteller.«

»Germain schlägt vor, dass ich zu ihm stoße und wir dann zusammen herunterkommen. Aber er besteht nicht darauf.« Howe warf Abigail einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich weiß, dass Sie loyal sind, Master, doch das muss jetzt unter uns bleiben.« Er verstummte.

Ihr Vater wandte sich zu ihr. »Abby, du musst mir jetzt bei deiner Liebe zu mir als deinem Vater versprechen, dass du kein einziges Wort, das heute Abend in diesem Raum gesprochen wird, jemals wem auch immer weitersagen wirst. Versprichst du mir das?«

»Ja, Vater, ich verspreche es.«

»Gut.« Howe nickte kurz und sprach dann weiter. »In den nächsten Tagen werden die Schiffe hier im Hafen beladen, und jeder Spion wird das verfolgen. Aber er kann nicht wissen, wohin wir segeln. Wir könnten flussaufwärts zu Burgoyne oder die Küste entlang hinunter nach Süden, wo die Loyalisten sich womöglich zu unserer Hilfe erheben. Oder auch in die Chesapeake Bay und dann hinauf nach Philadelphia.«

»Wo der Kongress ist.«

»Genau. Wenn wir sie ihrer wichtigen Basis beraubten, George Washington vom Süden abschnitten und zwischen New York und Philadelphia in die Zange nähmen, dann geriete er, glaube ich, in eine hoffnungslose Lage. Hier in New York gäbe es nach wie vor eine starke Garnison. Wenn Burgoyne eintrifft, wird sie sogar noch stärker sein. Dann würde sich Washington zwei richtigen Armeen zur offenen Feldschlacht stellen müssen. Mit etwas Glück käme es nicht einmal dazu, und er wäre so vernünftig, zu kapitulieren.« Er fixierte John Master. »Mein Stab ist geteilter Meinung. Sie kennen das Terrain – glauben Sie, es wäre machbar?«

»Ja«, sagte Master langsam, »ich glaube, es wäre machbar.«

Danach redeten sie von anderen Dingen, aber Abigail sah ihrem Vater an, dass er tief in Gedanken war. Bevor sie aufbrachen, wandte er sich noch einmal mit einem Seufzer an Howe. »Ich glaube, Ihr Plan könnte funktionieren, General«, sagte er traurig, »doch sagen Sie mir eines: Wie könnte ich für meinen armen Sohn Pardon erwirken?«

Howe schüttelte ihm verständnisvoll die Hand, gab ihm aber keine Antwort.

*

Die Geschäftigkeit auf den Piers verriet Abigail an diesem sonnigen Julitag, dass man schon begonnen hatte, die Schiffe zu beladen. Das Cricketmatch heute könnte für lange Zeit das letzte sein, an dem Grey Albion und seine Freunde teilnahmen.

Wie die anderen Spieler war er in ein weißes Baumwollhemd und ebensolche Kniehosen gekleidet. Zum Schutz der Augen gegen die Sonne trug er eine Schirmkappe. Als er in Schlagstellung ging, bot er einen anmutigen und athletischen Anblick.

Der Ball schwirrte hoch über ihre Köpfe. Er hatte den entscheidenden Run erzielt. Weston sprang auf und klatschte wild. Rings um das Bowling Green erklang Applaus, während die Spieler das Feld verließen. Grey kam jetzt auf sie zu, streifte dabei die Kappe ab, und als er näher trat, bemerkte sie, dass unter seinem lockigen Haar kleine Schweißperlen von seiner Stirn tropften.

»Gut gespielt, Grey«, sagte John Master.

»Danke, Sir«, erwiderte er. Er lächelte Abigail zu und fragte: »Hat Ihnen das Spiel gefallen, Miss Abigail?« Ein winziger Schweißtropfen fiel von seiner Stirn auf ihr Handgelenk.

»O ja«, sagte sie. »Es hat mich durchaus unterhalten.«

*

James Master saß auf seinem Pferd und spähte durch ein Fernglas. Hier am Ufer von New Jersey, hatte er einen weiten Ausblick auf die große Bucht. Und wenn er den Cricketball auch nicht sehen konnte, der gerade eben jenseits des Forts in die Luft gestiegen war, so sah er doch ein Schiff am Pier, das mit Vorräten beladen wurde. In den drei Stunden, die er sich auf diesem Posten befand, war das die zweite Ladung. Hinter ihm warteten ein Dutzend Kavalleristen geduldig auf ihren Captain.

Captain James Master hatte sich im Laufe des vergangenen Jahres verändert. Seine Anschauung und seine Überzeugungen waren dieselben geblieben, aber er war jetzt ein kampfgestählter, erfahrener Offizier. Wenn seine unglückliche Ehe in London ihm sein Teil an privater Bitterkeit beschert hatte, so lehrte ihn das letzte Jahr viel über die Grenzen menschlicher Zuverlässigkeit im Allgemeinen. Und zwar nicht in der Hitze des Gefechts, sondern durch Beobachtung jenes Mannes, dem er vor allem wegen seines ungebrochenen Durchhaltevermögens eine tiefe Verehrung entgegenbrachte.

Als seine unausgebildeten Truppen letzten Dezember von den Rotröcken aus New Jersey hinausgejagt worden waren, hätte man es verstehen können, wenn George Washington verzweifelt wäre. Zwei seiner Mitgeneräle – Charles Lee, dem die Befestigung New Yorks anvertraut war, und Horatio Gates, zuständig am Oberlauf des Hudson, beides britische Offiziere, die sich einbildeten, mehr als er zu wissen – hatten eifrig intrigiert, um ihn von seinem Posten zu verdrängen. Die unausgebildeten Soldaten würden wahrscheinlich, da sie sich nur für das laufende Kalenderjahr verpflichtet hatten, zum Monatsende ihren Abschied nehmen. Andere warteten nicht einmal so lange, sondern desertierten. Abgesehen von ein, zwei kurzen Scharmützeln war seine Armee überall gedemütigt, eingeschlossen oder in die Flucht geschlagen worden. Als die Feldzugsaison endete, kampierten die Überreste seiner Armee jenseits des Delaware, dessen anderes Ufer von zähen hessischen Söldnern trotzig bewacht wurde. Da er Howes Ankündigungen einer Kriegspause während des Winters nicht traute, befürchtete Washington, dass der britische Kommandeur, sollte der Delaware zufrieren, nach Süden ausweichen und ihn mitsamt seiner ganzen Armee überqueren könnte.

»Egal, was Howe tut«, sagte er zu James, »wir müssen uns gut verkaufen, bevor unsere Männer uns verlassen.« Es musste etwas unternommen werden, um die Moral der Patrioten zu heben.

Wenigstens hatten diese ein Talent für Überraschungsangriffe. James hatte mehrere angeführt. Solche Aktionen bedrängten den Gegner und lieferten zudem meistens neue Erkenntnisse. Es gab in der Region jede Menge amerikanische Loyalisten, die die Hessen unterstützten. Gewöhnlich reichte jedoch schon der Anblick des hochgewachsenen James mit einer Pistole in der Hand, um die meisten von ihnen – auch ohne konkrete Gewaltmaßnahmen – gesprächig zu machen, und ein eingeschüchterter Bauer verriet ihm: »Die Hessen sind jetzt nach Trenton eingerückt. Ungefähr vierzehnhundert Mann. Der Ort ist völlig ungeschützt, keinerlei Befestigung. Eure eigenen Deserteure haben denen verraten, dass ihr sie angreifen wollt, aber deren Kommandeur weigert sich, Befestigungsanlagen zu bauen, weil er euch verachtet.«

Sie hatten nicht mehr viele Soldaten – an die fünftausend Mann noch, davon ein Drittel dienstuntauglich. Anfang Dezember stießen dann Gott sei Dank zweitausend von Lees Männern zu ihnen, denen fünfhundert von Gates und weitere tausend aus Philadelphia folgten. Noch immer eine bescheidene Streitmacht, aber rein numerisch ausreichend wenngleich kaum gut ausgerüstet. Zwar gab es Munition -jeder Mann hatte wenigstens sechzig Kugeln und entsprechend viel Schießpulver –, doch die Uniformen waren in einem erbärmlichen Zustand: Viele Soldaten hatten keine Stiefel mehr und marschierten mit nicht mehr als Lappen an den Füßen durch Schnee und Eis.

Ungeachtet dieser Widrigkeiten heckte Washington einen waghalsigen Plan aus. Sie würden – mitten im Winter und bei Nacht – vom Fluss her angreifen und die Hessen überrumpeln.

»Wir werden den Fluss in drei Schüben überqueren«, erklärte er James. »Einem als Ablenkungsmanöver, einem zweiten zur Verstärkung. Aber das Hauptkontingent von fast zweieinhalbtausend Mann wird mit mir über den Fluss auf Trenton niederstoßen und die Garnison noch vor Morgengrauen angreifen. Wir werden den Hessen zahlenmäßig überlegen sein, also haben wir, glaube ich, eine reelle Chance. Mit etwas Glück können sich die drei Einheiten wieder vereinigen und gemeinsam auch noch gegen Princeton losschlagen.«

Was war das für eine Nacht gewesen! Sie hatten sich am Nachmittag des Weihnachtstages versammelt und in der Dämmerung die Boote von ihren Verstecken ans Ufer geschafft: breite offene Fährkähne für die Geschütze und die Pferde, lange hochbordige Durham-Boote für die Männer. Damit man sich in der Dunkelheit erkennen konnte, gab es ein Passwort: »Sieg oder Tod.« Der Fluss war zwar schmal, aber voll Treibeis. Während es immer dunkler wurde, kam ein böiger Wind auf, und das Wasser wurde kabbelig. Es fing an zu graupeln und zu hageln.

Washington nahm das erste Boot, um die Landeoperation zu sichern. James war an seiner Seite. Da sich das Boot zunehmend mit Regenwasser füllte, verfiel niemand auf die Idee, sich auf die Bodenplanken zu setzen, sondern alle blieben stehen. In Dunkelheit und Sturm konnte James kaum die Hand vor Augen sehen. Er hörte nur das Geprassel der Hagelkörner und das Ächzen des Bootes, wenn Eisschollen gegen die Bordwände krachten.

»Entsetzliche Bedingungen, Master«, murmelte Washington.

»Ein Gutes hat das ja, Sir«, sagte James. »Die Hessen werden nie annehmen, dass wir bei solchem Wetter übersetzen werden.«

Endlich am jenseitigen Ufer angelangt, schickten sie das Boot zurück, kletterten, völlig durchweicht, die Böschung hinauf und warteten darauf, dass der nächste Schwung Männer eintraf. James schien es so, als habe ihre Überfahrt eine Ewigkeit gedauert. Und tatsächlich: Obwohl Washington geplant hatte, spätestens bis Mitternacht seine ganze Streitmacht samt Pferden und Geschützen drüben zu haben, war es drei Uhr früh, ehe die wagemutige Überquerung des Delaware abgeschlossen war und die zweitausendvierhundert Männer sich zu zwei Kolonnen formieren und ihren nächtlichen Marsch hinunter zu der kleinen offenen Stadt Trenton beginnen konnten.

Als sie abrückten, dachte James grimmig: Sollte er dieses Abenteuer überleben und seinen Enkelkindern jemals erzählen müssen, wie es gewesen war, zusammen mit Washington den Delaware zu überqueren, würde er in aller Aufrichtigkeit sagen müssen: »Wir konnten überhaupt nichts sehen.«

Aus dem Graupelregen war Schnee geworden. Während er neben der Kolonne herritt, wurde James bewusst, dass die blutenden Füße der Männer ohne Stiefel kleine dunkle Tröpfelspuren im Schnee hinterließen. Doch sie marschierten weiter, während er die Reihe vor und zurück abritt und in der Dunkelheit Worte der Ermutigung murmelte. Als sie die Außenposten des Feldlagers bei Trenton erreichten, dämmerte es bereits.

Erinnerungen an Schlachten sind oft wirr. Einzelne Bilder aus diesem Morgengefecht blieben James jedoch sehr klar im Gedächtnis: Wie Washington persönlich die Attacke auf die Außenposten anführte; wie die gut ausgebildeten Hessen, obwohl überrumpelt, sich geordnet zurückzogen und im Gehen schossen. Der Anblick Trentons im grauen Morgenlicht – zwei breite Straßen, eine Handvoll Holzrahmenhäuser, eine seltsam friedliche Atmosphäre trotz des plötzlichen Durcheinanders.

In der Erregung des Augenblicks war er sich kaum der Gefahr bewusst, als die Kugeln an ihm vorbeizischten, wohl aber nahm er voll Stolz zur Kenntnis, dass die Patrioten sich gut schlugen. Mit überraschender Schnelligkeit postierten sie Feldgeschütze an den oberen Enden der zwei Hauptstraßen und belegten die Hessen mit Kartätschenfeuer. Ein Detachement schnitt dem Feind den Rückzug über die Landstraße nach Princeton blitzschnell ab, und nach einem erbitterten Gefecht war das Hauptkontingent der Hessen in einem Obstgarten eingekesselt worden – neunhundert Mann ergaben sich.

Wenige Stunden nach Sonnenaufgang war alles vorbei. Nachdem er erfahren hatte, dass seine zwei anderen Kommandeure es in der vergangenen Nacht nicht geschafft hatten, ihre Einheiten über den Delaware zu bringen, war Washington so klug gewesen, sich noch vor Mittag desselben Tages ans sichere Ufer zurückzuziehen.

Aber sie hatten die Söldner aus Hessen-Kassel besiegt und Hunderte von Gefangenen gemacht. Im Handumdrehen verbreitete sich die Kunde von Washingtons Erfolg in sämtlichen dreizehn Kolonien, versetzte den Kongress in Jubel und flößte jedem Patrioten neuen Mut ein.

*

Die folgenden Monate waren hart, jedoch erträglich. James lernte General Washington immer besser kennen. Bald konnte er nicht nur die äußeren Schwierigkeiten nachvollziehen, mit denen sein Kommandant zu kämpfen hatte – Nachschubprobleme, Deserteure, Spione und die Schwierigkeiten, jedes Jahr neue Truppen anzuwerben –, sondern erkannte auch, dass sich hinter der unnahbaren Art seines Anführers geheime Zweifel und Melancholie verbargen. Dass der General auch noch diese inneren Konflikte bewältigen musste, nötigte James noch größere Bewunderung ab.

Im März war Mrs Washington von Virginia angereist, um mit ihrem Mann das Lagerleben zu teilen, und dies führte rasch zu einer allgemeinen Entspannung. Denn während der General leicht kalt und distanziert wirken konnte, war Martha Washington eine warmherzige und gemütliche Frau. Sie lud selbst die rangniedersten Offiziere zum Essen ein, als seien sie alle eine einzige Großfamilie. Sie mochte von Haus aus eine der reichsten Frauen in Virginia sein, aber sie pflegte stundenlang die Kranken und Verwundeten. Als der Frühling 1777 anbrach, fühlte James sich seinem Kommandanten bereits so verbunden, dass er Washington beinahe wie einen zweiten Vater betrachtete. Und es war offensichtlich, dass der General ihn seinerseits ebenso mochte und ihm vertraute.

Es gab einen Aspekt ihrer Beziehung, der James Master amüsierte – und über den sich ein junger Yankeeoffizier jedoch ihm gegenüber bitter beklagte.

»Sie haben beim General einen unfairen Vorteil mir gegenüber, Master.«

»Und der wäre?«

»Er mag Sie, weil er Sie als einen Gentleman betrachtet. Und er mag mich nicht so recht, weil er sich ausrechnen kann, dass ich keiner bin.«

»Er hält große Stücke auf Sie«, versicherte ihm James.

»Oh, er behandelt mich gut. Er ist der gerechteste Mann, dem ich je begegnet bin, und ich würde ihm bis an die Pforten der Hölle folgen. Aber das gilt allgemein für uns Yankees aus dem Nordosten -. ihm passen unsere Manieren nicht.«

Tatsächlich war das auch James schon aufgefallen. Washington war nicht nur von Haus aus ein Gentleman aus dem Süden. Durch seine Heirat mit Martha – die Witwe und vorher mit einem reichen Pflanzer liiert gewesen war, von dem sie auch vier Kinder hatte – war ihm der Zugang zu den erlauchtesten gesellschaftlichen Kreisen Virginias eröffnet worden, deren Lebensstil demjenigen des englischen Landadels näherstand als dem eines Yankeekaufmanns aus Massachusetts oder Connecticut.

»In seiner Anwesenheit kehre ich immer meine besten Londoner Manieren heraus«, gestand James lachend. »Aber die wären keinen Pfifferling wert, wenn ich meine Pflichten vernachlässigen würde.«

Allerdings hatte James den Verdacht, dass der große Mann seine in London verlebten Jahre durchaus als einen nutzbringenden Aktivposten betrachtete. So kam es oft vor, dass Washington ihn fragte, wie die Engländer in einer bestimmten Situation seiner Ansicht nach reagieren würden. Er war außerdem von der Tatsache beeindruckt, dass James die persönliche Bekanntschaft Ben Franklins gemacht hatte, und stellte ihm viele Fragen darüber, wie dieser sich in London betragen hatte.

Als die Nachricht eintraf, dass der Kongress Franklin nach Paris entsandt hatte, damit er Unterstützung von Frankreich erwirkte, hatte der General James gegenüber offen gestanden: »Was wir hier tun, ist von großer Bedeutung, aber langfristig könnte es durchaus sein, dass der Ausgang dieses Krieges in Paris entschieden wird. Ich bin froh, dass Sie mir eine so positive Beurteilung von Franklins diplomatischen Fähigkeiten gegeben haben.«

Wenngleich Washington das, was er als das »Gentlemanhafte« der Alten Welt betrachtete, schätzte, so gab es doch einen Aspekt britischen Verhaltens, der ihm zutiefst missfiel: die entsetzliche Behandlung, die den amerikanischen Gefangenen zuteilwurde. James billigte sie selbst keineswegs, konnte sie aber zumindest eher verstehen.

»Die Briten betrachten uns nicht als Soldaten – nicht einmal jetzt. Sie sehen uns als Rebellen an, und uns irgendetwas Besseres zuzugestehen, würde bedeuten, die Legitimität unserer Sache anzuerkennen. Deswegen sind die Patrioten, die sie in Brooklyn gefangen genommen haben, in ihren Augen keine Kriegsgefangenen. Sie sind Verräter, Sir, die von Glück sagen können, wenn sie nicht gehängt werden.«

Für Washington war das unter keinen Umständen zu billigen.

»Mir liegen Berichte darüber vor, dass Gefangene schlimmer als Tiere behandelt werden«, platzte er heraus. Und er gab den strengen Befehl aus, dass jede Misshandlung der hessischen Gefangenen zu unterbleiben habe. Er hatte persönliche Protestschreiben an britische Generäle aufgesetzt, seit er das Oberkommando übernommen hatte. Aber nichts sprach dafür, dass die Briten sich im Mindesten darum scherten. »Haben sie denn keine Menschlichkeit im Leib?«, hatte er einmal James gegenüber ausgerufen.

»Für uns, Sir, geht Menschlichkeit vor Gesetzlichkeit«, antwortete James. »In England ist es umgekehrt.«

Doch auch wenn er wusste, dass nichts Washingtons gerechte Empörung zu beschwichtigen vermochte, konnte James nicht umhin, sich zu sagen, dass diese nicht abreißenden Berichte von britischer Grausamkeit gegen amerikanische Gefangene in allen Kolonien eine Wirkung zeitigten, die den Briten unmöglich recht sein konnte. Ein Bauer, der eines Tages mit einer Wagenladung frischen Gemüses ins Lager gekommen war, hatte es auf den Punkt gebracht.

»Mein Sohn ist gefangen genommen worden. Warum sollte ich mich von Leuten regieren lassen, die ihn wie ein Stück Vieh behandeln?«

Trotz des im Winter errungenen Sieges gegen die Hessen war die Lage der Patrioten immer noch prekär. Als Howe im Juni versuchte, Washington zu einer offenen Feldschlacht zu verleiten, tappte dieser zum Glück nicht in die Falle. Ein großes Gefecht hätte nämlich ausgereicht, um die Patriotenarmee völlig aufzureiben. Washington musste herausfinden, was William Howe als Nächstes zu tun beabsichtigte. Er versuchte, Spione einzusetzen. Darüber hinaus hatte er James ausgesandt, damit der sich in der Umgebung von New York umsah, und James war fest entschlossen, ihn nicht zu enttäuschen.

Also nahm er jetzt nach einer Weile sein Fernrohr vom Auge und seufzte. Die Verladearbeiten verrieten ihm, dass da etwas im Gange war, aber er musste Genaueres in Erfahrung bringen. Es war an der Zeit, andere Maßnahmen auszuprobieren.

*

Am nächsten Vormittag verließ Abigail gerade zusammen mit Weston Bowling Green, als ein Mann auf sie zutrat. Er sah aus wie ein Bauer, der Waren zum Markt brachte, und so war sie ziemlich überrascht, als er sie leise mit ihrem Namen anredete.

Dann erkannte sie ihn: Es war Charlie White.

Sie brauchte nicht lange, um Weston zu Hause abzuliefern und zum Broadway zurückzukehren. Als sie dort eintraf, hatte sie Herzklopfen. Sie wusste nicht, was das alles bedeutete, aber sie hegte einen Verdacht. Ohne ein Wort zu sagen, führte Charlie sie den Broadway hinauf. An der Ecke Wall Street bogen sie nach Osten ab und folgten der Straße bis zum East River. Dann gingen sie in nördlicher Richtung an den Werften vorbei, bis sie nach ungefähr zehn Minuten fast die Palisade erreicht hatten, die die Stadt oben abschloss. Charlie betrat ein kleines Lagerhaus, und sie folgte ihm. Und dort, in einer dunklen Ecke, saß auf einem Fass eine hohe Gestalt in einem schweren Überzieher, die aufstand und ihr entgegenkam.

Einen Augenblick später fiel sie in die Arme ihres Bruders.

Unter dem Mantel trug er seine Uniform. In diesen verschiedenen Stoffschichten, dachte sie, musste ihm entsetzlich heiß sein. Aber es war wichtig, erklärte er ihr, dass er die Uniform trug, denn andernfalls könnte man ihn im Falle seiner Festnahme nach dem Kriegsrecht als Spion erschießen. Er erklärte, dass Charlie ihn in einem vollgeladenen Wagen in die Stadt geschmuggelt habe, sagte aber ansonsten wenig über seinen Einsatz. Er wollte unbedingt Neuigkeiten über Weston und seinen Vater erfahren, und war höchst erstaunt, als sie ihm erzählte, dass Grey Albion bei ihnen wohne.

»Ach«, sagte er, »wie sehr wünschte ich, du könntest meinem lieben Vater und dem kleinen Weston erzählen, dass du mich gesehen hast und dass ich täglich an sie denke, doch ich fürchte, das geht nicht.«

Schließlich schnitt er das eigentliche Thema an.

»Charlie hat sich schon auf dem Markt umgehört. Es ist offensichtlich, dass General Howe anfängt, seine Schiffe mit Vorräten zu beladen, aber die Leute in der Stadt wissen nicht, wohin er fahren will.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das vielen Leuten erzählt hat«, antwortete sie.

»Du selbst hast auch keine Idee?«

Abigails Herz setzte einen Schlag aus. Sie schlug die Augen nieder. Dann sah sie ihm wieder ins Gesicht.

»Warum sollte der General einem Mädchen wie mir so etwas erzählen?« Es klang so logisch. Und es war keine Lüge.

»Richtig.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Glaubst du, Albion weiß es?«

»Vielleicht, James, aber er ist nur ein junger Offizier. Er hat jedenfalls nichts gesagt.«

»Unser Vater?«

Sie zögerte einen Augenblick lang. Was konnte sie sagen? »Mag sein, dass Vater es weiß, doch gesagt hat er mir nichts.« Auch das war, streng genommen, die Wahrheit.

Er nickte mit trauriger Miene.

Und als Abigail ihn betrachtete, befiel sie ebenfalls eine tiefe Traurigkeit. Sie wusste, dass ihr Bruder sie liebte. Sie wusste, dass er sich danach sehnte, ihren Vater und seinen kleinen Sohn zu sehen. Dennoch konnte sie einen gewissen Schmerz darüber nicht verleugnen, dass er sich nur mit ihr getroffen hatte, um sie auszufragen, um eine Information zu erhalten, die sie – wenn sie sie ihm geliefert hätte – zur Verräterin machen würde.

Gleichzeitig sehnte sie sich schrecklich danach, es ihm zu sagen. Bestimmt riskierte er sein Leben damit, dass er in die Stadt gekommen war. Und vielleicht hätte sie es ihm – trotz des Versprechens ihrem Vater und General Howe gegenüber – auch wirklich gesagt, wenn es um sein Leben gegangen wäre. Doch so war es nicht. Die Information hätte lediglich George Washington und seinen Patrioten genützt und es ihnen dadurch ermöglicht, diese unselige Geschichte noch weiter in die Länge zu ziehen. James tat seine Pflicht, sie die ihre. Es ließ sich nicht ändern. Sie musste sich sehr beherrschen, dass sie nicht auf der Stelle in Tränen ausbrach.

»Es tut mir leid, dass Albion hier ist«, sagte er endlich.

Sie verstand ihren Bruder so, dass er lieber nicht gezwungen sein würde, unter Umständen gegen seinen Freund kämpfen zu müssen.

»Vater mag ihn«, sagte sie.

»Und du?«

»Ich gebe zu, dass er liebenswürdig ist«, antwortete sie. »Aber er scheint mir keinen tadellosen Charakter zu haben. Ich glaube, er ist ein wenig arrogant.«

Ihr Bruder nickte. »Arroganz ist bei englischen Offizieren, fürchte ich, keine Seltenheit.« Er schwieg kurz. »Wir waren einst Freunde, weiß Gott, und sein Vater hätte mir gegenüber nicht gütiger sein können.«

»Es ist der Krieg, der euch zu Feinden macht.«

»Ja, doch nicht nur der, Abby. Meine Gefühle England und dem gegenüber, was Grey repräsentiert, haben sich geändert. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass ich besonderen Wert darauf legen würde, ihn jetzt zu sehen.« Er sah sie forschend an. »Ich fände es bedauerlich, wenn du ihn zu sehr mögen würdest.«

»Dann will ich ehrlich sein und sagen, dass ich ihn sehr wenig mag.«

In diesem Punkt beruhigt sagte ihr Bruder, sie dürfe nicht länger verweilen. Wenige Minuten später war sie, allein, auf dem Heimweg.

*

Noch im selben Monat stach General Howe mit einer großen Flotte in See und segelte die Küste entlang nach Süden. Mit ihm zogen auch Grey Albion und die anderen jungen Offiziere, die bei den Masters Unterkunft gefunden hatten. Wenngleich sie und ihr Vater mit dem kleinen Weston zum Hafen gingen, um Albion zu verabschieden, war Abigail nicht sonderlich traurig darüber, ihn gehen zu sehen. Zumindest glaubte sie das.

Die Nachrichten von dieser Expedition klangen durchaus ermutigend. Während seiner kurzen Fahrt hinunter in die Chesapeake Bay hatte General Howe zwar mit widrigem Wetter zu kämpfen, doch sein Plan war aufgegangen. Auf dem falschen Fuß erwischt machte Washington schleunigst kehrt, um nach Süden zu ziehen. Trotz seines tapferen Widerstands am Brandywine Creek nahmen die Rotröcke Philadelphia ein. Grey Albion teilte dem alten Master in einem Brief mit, dass er den Winter mit Howe in Philadelphia bleiben werde.

Desgleichen schienen sich die Dinge im Norden für die Loyalisten positiv zu entwickeln. Wie geplant war Johnnie Burgoyne von Kanada aus nach Süden vorgestoßen und hatte schon bald Fort Ticonderoga eingenommen. Auch die Indianer konnte er für sich gewinnen: Vier von den sechs irokesischen Stämmen hatten eingewilligt, auf britischer Seite zu kämpfen.

»Dafür werden uns die Patrioten lieben«, bemerkte John Master trocken.

»Sind die Indianer so grausam?«, fragte Abigail.

»Sie haben ihre Bräuche. In dem Krieg vor dreißig Jahren zahlte der britische Colonel der nördlichen Milizen den Irokesen für jeden französischen Skalp, den sie ihm brachten – Frauen und Kindern eingeschlossen – eine Kopfprämie.«

»Ich hoffe, wir werden jetzt etwas Derartiges nicht mehr tun!«

»Verlass dich besser nicht darauf.«

Als es September wurde, warteten sie auf die Nachricht, dass Burgoyne nun Albany gesichert habe und den Hudson hinunter auf dem Weg nach New York sei. Stattdessen verbreiteten sich andere Gerüchte. Es hieß, die lokalen Patriotenmilizen hätten ihn mit ihren Scharfschützen aufgehalten. Er sitze in den Urwäldern des Nordens fest. Die Indianer ließen ihn im Stich. Eine Kompanie von Rotröcken sei zu seiner Unterstützung den Hudson hinaufgeschickt worden.

Gegen Ende Oktober 1777 kam ein schnelles Boot den großen Strom heruntergefahren und überbrachte eine erstaunliche Botschaft. Der alte Master teilte sie seiner Tochter mit:

»Burgoyne hat sich ergeben. Flussaufwärts. Die Patrioten haben fünftausend Mann gefangen genommen.«

»Wo?«, fragte Abigail.

»In Saratoga.«

Die Nachricht von der britischen Niederlage in Saratoga traf die Briten wie ein Donnerschlag. John Master allerdings zeigte sich zwar ernst, aber nicht überrascht.

»Ich hatte Howe gewarnt«, sagte er grimmig. »Ein zu selbstsicherer General auf einem ihm unbekannten Terrain.« Die Waldläufertaktiken der Patrioten, Bäume auf ihrer Marschroute zu fällen, Brücken zu zerstören, Vieh davonzutreiben und jegliche Lebensmittel fortzuschaffen, hatten die britischen Soldaten inmitten der riesigen Wildnis demoralisiert. Die zwei Patriotengeneräle Gates und Benedict Arnold hatten Burgoyne nach zwei Gefechten bei Saratoga endgültig zermürbt. Und wenngleich seine britischen und hessischen Truppen tapfer gekämpft hatten, waren sie, ohne Verstärkung aus dem Süden, den siebzehntausend Mann der Patriotenmilizen zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen gewesen.

»Saratoga ist ein Signal«, urteilte John Master. »Es zeigt, dass, wie viele Männer die Briten auch ins Feld werfen, es immer lokale Milizen geben wird, die sie zahlenmäßig übertreffen. Und was noch wichtiger ist: Es zeigt der einzigen Nation, die wirklich zählt, dass die Amerikaner siegen können.«

»Welches Volk meinst du?«, fragte Abigail.

»Die Franzosen.«

*

Wenn der Sieg von Saratoga für die Patrioten ein Grund zum Jubeln war, so erfuhr James in Washingtons Armee davon nur wenig. Es war Dezember, der Kongress hatte Philadelphia verlassen, Howe war einmarschiert, und die Patriotenarmee, die mittlerweile nicht mehr als zwölftausend Mann zählte, saß jetzt, wo der Winter hereinbrach, auf dem platten Land. Washington hatte allerdings ihr Quartier schon ausgewählt.

Valley Forge. Dieses Tal hatte seine Vorzüge. Mit den zwei Anhöhen Mount Joy und Mount Misery im Rücken und dem Schuylkill River zu Füßen war Valley Forge leicht zu verteidigen. Das Tal lag kaum zwanzig Meilen von Philadelphia entfernt, und von hier aus konnte man die Briten gut im Auge behalten.

Die Patriotenarmee hatte sofort angefangen, ein Lager zu bauen. Stabile Blockhütten, am Ende über tausend davon, bildeten nach und nach eine ausgedehnte Siedlung. Wenigstens waren durch die Bauarbeiten alle Männer beschäftigt, und sie waren schon bald auch recht stolz auf ihr Werk. Allerdings musste James die Trupps oft meilenweit hinwegführen, ehe sich geeignete Bäume zum Fällen fanden. Entscheidend war, darauf beharrte Washington, dass die Dächer wasserdicht waren.

»Denn wir haben es hier mit einem Philadelphia-Winter zu tun«, erinnerte er sie, »nicht mit einem Nordwinter.«

Es dauerte nicht lange, bis die Yankee-Soldaten begriffen, wovon er redete. Denn der Winter bescherte Valley Forge keine geschlossene, alles versiegelnde Schneedecke, sondern gefrierenden Schneeregen, der rasch wieder schmolz. Und dann regnete es so, dass das Wasser durch jeden Riss und jede Ritze sickerte, bevor es wieder gefror. Der trockene Frost des Nordwinters konnte einen Mann, der keinen Schutz hatte, umbringen, aber die kalten, feuchten Winde und die klamme Kälte von Valley Forge schienen den Männern bis ins Mark zu kriechen.

Und die stabilen Blockhütten änderten nichts daran, dass ihre Kleidung in Fetzen war, viele von ihnen noch immer keine Stiefel hatten und dass fast alle halb verhungert waren. Der Proviantmeister leistete hervorragende Arbeit. Es gab Fisch aus dem Fluss. Gelegentlich auch Heisch. Fast jeden Tag bekam jeder Mann ein Pfund anständiges Brot. Fast jeden Tag. Aber manchmal gab es lediglich »Feuerkuchen«, wie sie mit Galgenhumor die faden Fladen aus Mehl und Wasser nannten, die die Köche ihnen gelegentlich nur bieten konnten. Und manchmal gab es gar nichts. James hatte sogar Männer gesehen, die aus Gras und Laub Suppe zu kochen versuchten. In manchen Wochen war ein Drittel der Armee dienstuntauglich. Ihre Pferde sahen wie Skelette aus und starben wie die Fliegen. Es gab nichts mehr zu furagieren, nicht eine Kuh im Umkreis von mehreren Meilen. Wenn James losgeschickt wurde, damit er in den kleineren Ortschaften in der Umgebung etwas Proviant zu kaufen versuchte, war das einzige Zahlungsmittel, das er anbieten konnte, das vom Kongress ausgegebene Papiergeld, das die meisten Händler nur mit großem Argwohn betrachteten.

Jeden Tag mussten sie weitere Männer zu Grabe tragen. Es waren Hunderte von Todesfällen, bald überschritten sie die Tausendermarke und erreichten schließlich die Zweitausend. Bisweilen fragte sich James, ob sie es ohne die Lagerweiber überhaupt geschafft hätten – etwa fünfhundert an der Zahl, größtenteils Ehefrauen oder weibliche Verwandte der Männer. Sie erhielten halbe Rationen und halben Sold, und sie taten ihr Bestes, um für ihre Mannsleute zu sorgen.

Im Februar stieß Martha Washington zu ihnen. Der General gab sich vor seinen Männern immer tapfer und unerschütterlich, aber James verbrachte genügend Zeit in seiner Gesellschaft, um zu wissen, dass er in Wahrheit am Rande der Verzweiflung war. Er und die anderen jungen Offiziere bemühten sich nach Kräften, um ihren Chef zu unterstützen, aber wie James einmal Mrs Washington gegenüber sagte: »Der General hat die Armee gerettet, und Sie haben den General gerettet.«

Es gab noch jemanden, der Washington moralisch aufbaute. Einen jungen Mann, den der unermüdliche Ben Franklin aus Frankreich herübergeschickt hatte. Obwohl erst zwanzig Jahre alt hatte er bereits mehrere Jahre bei den Musketieren gedient. Als er in Amerika eintraf, wurde er sofort zum Generalmajor ernannt.

Marie-Joseph Paul Yves Roch Gilbert du Motier, Marquis de La Fayette – ein reicher junger Aristokrat mit großem ererbtem Grundbesitz. Seine junge Frau, die er in Frankreich zurückgelassen hatte, war die Tochter eines Herzogs. Einer seiner Vorfahren hatte an der Seite Jeanne d’Arcs gekämpft. Und es war vor allem eines, das La Fayette aus Frankreich hierhergetrieben hatte: la gloire. Er wollte berühmt werden.

In der Hoffnung, dass dieser Schritt zu einer weiteren Verbesserung der Beziehungen zu Frankreich beitragen würde, hatte George Washington ihn in seinen Stab aufgenommen. Um dann zu seiner Überraschung festzustellen, dass er – nach James – quasi einen zweiten Sohnersatz gewann.

La Fayette gab sich hinsichtlich seiner militärischen Erfahrung keinerlei Illusionen hin. Er hätte jeden beliebigen Auftrag angenommen. Doch er erwies sich als fähig und intelligent, hatte in der Schlacht von Brandywine tapfer gekämpft und war verwundet worden. Seine aristokratische Erziehung und sein Ehrgefühl verliehen ihm genau jene Eigenschaften, die Washington am meisten bewunderte:Von schlankem und elegantem Äußeren verfügte er über erlesene Manieren, er war furchtlos – und seinem Chef gegenüber loyal, im Unterschied zu den meisten übrigen höheren Offizieren der Kontinentalarmee. Als Gates und andere Generäle gegen Washington intrigierten, erfuhr der junge Franzose davon und warnte ihn sofort. Seine Gegner versuchten ihn sich vom Hals zu schaffen, indem sie ihn nach Kanada abkommandierten, aber er erledigte den Auftrag schnell und schloss sich wieder Washington in Valley Forge an, wo sein gallischer Charme dazu beitrug, dass der harte Alltag etwas erträglicher wurde.

James mochte La Fayette. In London hatte er, da von einem kultivierten Gentleman erwartet wurde, dass er die Sprache der Diplomatie beherrschte, ein bisschen Französisch gelernt. Jetzt half der Marquis James in der freien Zeit, die ihnen in Valley Forge zur Verfügung stand, seine Sprachkenntnisse erheblich zu verbessern.

Doch La Fayette war nicht der einzige Mann, den Ben Franklin nach Amerika schickte. Sein zweites, noch größeres Geschenk traf im neuen Jahr ein. Und wenn La Fayette in Washingtons Armee einen Hauch von französischem Charme gebracht hatte, so sollte der Baron von Steuben sie von Grund auf umkrempeln.

Friedrich Wilhelm von Steuben war ein preußischer Offizier und Aristokrat mittleren Alters, 1730 in Magdeburg als Sohn eines preußischen Ingenieurhauptmanns zur Welt gekommen, und hatte unter Friedrich dem Großen gedient. Als Auszeichnung für seine Verdienste im Krieg hatte dieser ihn zum Hauptmann ernannt. Allerdings überwarf sich von Steuben mit dem Generaladjutanten des Königs und wurde versetzt. 1762 nahm er seinen Abschied aus der preußischen Armee. Als Mitglied eines badischen Ritterordens reiste er oft nach Paris. Dort lernte er Franklin kennen und schätzen. Der eingefleischte Junggeselle kreuzte mit einem italienischen Windspiel, einem Brief von Ben Franklin und dem Angebot auf, den desolaten amerikanischen Truppen die Ausbildung angedeihen zu lassen, die bei der besten Armee von Europa üblich war. Und auf seine eigene, exzentrische Weise hielt der Baron von Steuben Wort.

Denn jetzt drillte er die Soldaten – zuerst in Schnee und Schneematsch, dann im Morast, später inmitten von Schneeglöckchen und schließlich in der Frühlingssonne, als die grünen Knospen an den Bäumen aufbrachen –, und zwar so, wie sie noch nie gedrillt worden waren. An die Stelle der buntscheckigen Sammlung von Handbüchern der unterschiedlichen Milizen setzte er ein einziges, für die gesamte Kontinentalarmee verbindliches Exerzierreglement. Als Nächstes bildete er einen Kader von Offizieren aus, die ihrerseits als Ausbilder fungieren sollten. Er selbst marschierte in voller Montur von einem zum nächsten Exerziergelände, beaufsichtigte die Übungen und ermunterte die Truppen mit einer Sturzflut von deutschen oder französischen Flüchen, die seine Ordonnanzen sogleich pflichtbewusst übersetzten – sodass jeder Soldat in der Patriotenarmee am Ende seiner Grundausbildung über ein reiches Vokabular an Unflätigkeiten in drei verschiedenen Sprachen verfügte.

Anfangs hielten sie ihn für verrückt. Bald lernten sie ihn respektieren. Noch vor Ende des Frühlings liebten sie ihn. Von Steuben lehrte sie, zu exerzieren, zu marschieren, Schlachtmanöver auszuführen und schnell zu feuern. Da er feststellte, dass kaum ein Mann mit einem Bajonett mehr anzufangen wusste, als damit ein Stück Fleisch ins Feuer zu halten, ließ er sie die Bajonettattacke üben und versprach ihnen: »Ich werde euch beibringen, wie man eine Schlacht ohne jede Munition gewinnt!«

Als sie ihre Ausbildung bei ihm abgeschlossen hatten, brauchten sie den Vergleich mit keiner Armee der Welt mehr zu scheuen. Sie waren gut. Ausgezeichnet.

»Ein Deutscher musste uns lehren, gegen die Hessen zu kämpfen«, sagte Washington eines Tages im Frühling mit trockenem Humor zu James.

»Die Briten können Deutsche einsetzen, Sir«, antwortete James lächelnd, »aber über uns geht nichts.«

»Wie ich höre«, sagte Washington, »können wir bald mit frischen Rekruten rechnen, die sich für drei Jahre verpflichten werden.«

Bereits kurz nach diesem Gespräch traf die erlösende Nachricht ein. Ben Franklins Mission war von Erfolg gekrönt worden. Frankreich hatte Großbritannien den Krieg erklärt.

Auf Washingtons Befehl hin organisierte Baron von Steuben in Valley Forge eine große Parade.

*

Grey Albions Einladung an Abigail kam am 1. Mai 1779 in einem Brief an ihren Vater aus Philadelphia.

»Er bestätigt die Gerüchte, die ich seit einiger Zeit höre. General Howe ist abberufen worden.« Master schüttelte den Kopf. »Es ist eine Schande. Als man in London von der Kapitulation in Saratoga erfuhr, war das Parlament so erzürnt, dass das Kabinett Zeitungsschreiber beauftragt hat, Howe die ganze Schuld zu geben. Also ist er jetzt abberufen worden. Offenbar sind seine jungen Offiziere in Philadelphia entschlossen, ihn vor seiner Abreise zu ehren. Es wird einen Ball geben und was weiß ich sonst noch. Sogar ein richtiges Lanzenstechen. Albion ist einer der Ritter. Er lässt fragen, ob du es dir gern ansehen möchtest.«

Die Einladung traf sie so unerwartet, dass Abigail kaum wusste, was sie sagen sollte. Bei all den hübschen Mädchen, die ihm in Philadelphia zur freien Auswahl standen, überraschte es sie, dass er ausgerechnet an sie gedacht hatte, aber sie musste zugeben, dass sie es reizend fand. Und als sie an die Festlichkeiten dachte und das Ritterturnier und die Gelegenheit, sich im eleganten Philadelphia aufzuhalten, entschied sie, die Einladung anzunehmen.

Schon am nächsten Tag äußerte ihr Vater Bedenken.

»Es ist eine lange Reise, Abby, und man weiß nie, wer da noch alles unterwegs sein könnte. Ich selbst kann mich kaum von meinen Verpflichtungen frei machen. Wer würde dich begleiten? Wenn du Patriotensoldaten begegnen solltest, glaube ich zwar nicht, dass sie dir etwas antun würden, aber sicher weiß ich das nicht. Nein«, schloss er, »es ist liebenswürdig vom jungen Grey, an dich zu denken, doch es geht nicht.«

»Du hast vermutlich recht, Papa«, sagte sie. Wenn Mr Grey Albion mich zu einem Ball einladen möchte, dachte sie bei sich, muss er es eben zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal versuchen.

*

Während das Debakel von Saratoga im voraufgegangenen Oktober und der französische Kriegseintritt in diesem Frühling bei den Briten für eine gewisse Entmutigung gesorgt hatten, begann sich für den Loyalisten John Master während des langen Sommers von 1778 die ganze Welt zu verändern. Es war eine subtile Veränderung. Er selbst merkte nicht einmal, wie sie einsetzte. Sie fand in seinem Bewusstsein und in seinem Herzen statt.

Der Krieg schien in eine Phase der Stagnation getreten zu sein. Nach der Abberufung des armen Howe hatte General Clinton das Oberkommando in Philadelphia übernommen, und jetzt, da die Gefahr einer Invasion durch eine französische Flotte bestand, beschlossen die Briten, das Feld zu räumen und nach New York zurückzukehren. Und es war nicht nur das Militär, das Philadelphia verließ. Mehrere tausend Loyalisten mussten sich ebenfalls einschiffen. »Die armen Teufel«, sagte Master zu Abigail. »Die Briten erwarten Unterstützung von den Loyalisten, aber dann können sie sie nicht schützen.«

Da das Hauptkontingent der britischen Streitkräfte auf dem Landweg zurückkehrte, konnte Washington es beschatten. Man erfuhr von einem Gefecht bei Monmouth – Lee und La Fayette hatten die von Cornwallis befehligte britische Nachhut mit beträchtlichem Erfolg angegriffen und hätten vielleicht sogar noch mehr Schaden anrichten können, doch Lee ordnete den Rückzug an. Zu guter Letzt schafften es die Briten also nach New York zurück. Mit ihnen der junge Albion.

Künftig tagte der Kongress wieder in Philadelphia, und New York blieb, jetzt unter General Clinton, ein britischer Stützpunkt, wobei allerdings riesige Gebiete – von White Plains nördlich der Stadt bis hinüber nach New Jersey – von Patrioten gehalten wurden. Im Juli zog Washington das Hudsontal hinauf zur fünfzig Meilen flussaufwärts gelegenen, strategisch wichtigen Festung West Point. Susan leitete aus Dutchess County einen liebevollen Brief weiter, in dem James die Familie wissen ließ, dass er wohlbehalten in West Point eingetroffen sei, und seinen Vater bat, ein paar kleinere Angelegenheiten für ihn zu erledigen. Weitere Neuigkeiten lieferte er ihnen allerdings nicht.

Kurz danach erschien – wie um zu bestätigen, dass sich die militärische Situation geändert hatte – Admiral d’Estaing mit einer starken französischen Flotte am Eingang der Bucht. Dort harrte er eine Weile aus und blockierte die Verbindung zum Ozean. Dann kamen britische Schiffe, und er zog sich vorläufig nach Norden, an einen sicheren Ankerplatz vor Newport, Rhode Island, zurück. Aber die Botschaft war unmissverständlich. Die Franzosen waren in den Krieg eingetreten, und Großbritannien beherrschte die Meere nicht mehr.

Noch zwei weitere Ärgernisse setzten John Master zu. Im August brach wieder ein Brand in der Stadt aus und zerstörte zwei der Häuser, die er vermietete. Besorgniserregender war allerdings die Bedrohung, der seine Ländereien in Dutchess County ausgesetzt waren.

New York hatte in diesem Jahr mit einer Kuriosität aufzuwarten: Die Stadt wurde jetzt vom britischen General Clinton beherrscht, während das ausgedehnte Hinterland einen – mit Sicherheit weder mit ihm verwandten noch verschwägerten – Patriotengouverneur des gleichen Namens hatte. Und der patriotische Gouverneur Clinton schien fest entschlossen, die Ländereien jedes namentlich bekannten Loyalisten in seinem Territorium zu konfiszieren. »Da wir das Land verwalten«, schrieb Susan, »haben wir angegeben, dass es uns gehört.« Aber Master befürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Patriotengouverneur ihm sein Land wegnehmen würde.

*

Ende August erhielt der alte Master unerwarteten Besuch: Captain Rivers. Doch er brachte entmutigende Nachrichten. Er gab auf:

»Südcarolina befindet sich zwar schon seit zwei Jahren in Patriotenhand, aber in Nordcarolina haben viele Loyalisten wie ich die ganze Zeit ausgeharrt. Seit diesem Frühling ist die Situation allerdings unerträglich geworden. Meine Frau und meine Kinder sind bereits nach England abgereist. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als Ihnen die Plantage zu überschreiben und zu hoffen, dass Sie eines Tages Ihre Ansprüche werden befriedigen können.«

»Die Sklaven?«

»Sie stellen natürlich den größten Aktivposten dar. Ich habe sie auf das Gut eines Freundes verlegt, das sich in einem sichereren Gebiet befindet. Aber wie lange er sich da noch halten kann, weiß ich nicht.« Er gab Master eine detaillierte Bestandsaufnahme der Sklaven. »Viele sind handwerklich ausgebildet und deswegen wertvoll. Wenn Sie einen Interessenten finden, können Sie sie gern auf eigene Rechnung verkaufen.«

»Und Sie wollen nicht noch ein bisschen länger ausharren?«, fragte Master. »Die Rettung könnte jeden Augenblick kommen.«

Nach der Aufgabe Philadelphias war jetzt auf britischer Seite von einem großen Schlag gegen den Süden die Rede. General Henry Clinton hatte bereits seine Absicht angekündigt, eine Expedition in die französische Karibik zu entsenden, damit sie dort eine Insel besetzte, und eine zweite nach Georgia, wo die Patriotengarnisonen klein und die Loyalisten zahlreich waren. Doch Rivers schüttelte nur den Kopf.

»Ablenkungsmanöver, Master. Wir können unsere Streitkräfte so aufsplittern, wie wir wollen, und sie durch die riesige Wildnis Amerikas treiben, aber zähmen werden wir diesen Kontinent meiner Ansicht nach nie. Vorerst jedenfalls nicht.«

Beim Abendessen wurde offen gesprochen. Sie waren alles alte Freunde – John Master und Abigail, Captain Rivers und Grey Albion. Irgendwann wandte sich Rivers an Master und sagte: »Ich fragte Sie einmal, ob Sie mit dem Gedanken spielten, sich je in England zur Ruhe zu setzen. Damals waren Sie, glaube ich, nicht daran interessiert. Könnten Sie es jetzt in Erwägung ziehen?«

»Wenn Sie Geldmittel zur Verwahrung nach England schicken möchten, Sir«, warf Albion ein, »wäre Ihnen mein Vater gern zu Diensten. Sie haben ohnehin bereits ein Guthaben bei ihm.«

»Wir wollen darüber noch nicht nachdenken«, erwiderte Master. Aber er fand es aufschlussreich, dass ihm beide, Rivers und der junge Albion, diesen Schritt nahelegten. Aufschlussreich und zugleich entmutigend.

Seine am tiefsten sitzende Seelenqual resultierte jedoch nicht aus militärischen oder finanziellen Ursachen. Sie war moralischer Natur.

Im Frühjahr hatte die britische Regierung, durch den Kriegseintritt Frankreichs beunruhigt, Bevollmächtigte nach New York entsandt, die noch einmal versuchen sollten, mit den Kolonisten zu einer Vereinbarung zu gelangen. Master traf mit ihnen zusammen, bevor sie weiterreisten, um beim Kongress ihr Glück zu versuchen. Der Beste von ihnen war seiner Ansicht nach ein Mann namens Eden. Aber nachdem er ein langes Gespräch mit ihm geführt hatte, war Master kopfschüttelnd heimgekehrt.

»Wie es aussieht«, erzählte er Abigail, »lauten ihre Instruktionen von König Georg III., dass sie die Mitglieder des Kongresses bestechen sollen. Ich musste ihm sagen: ›Das ist nicht das britische Parlament, wissen Sie.‹«

Erst ein, zwei Tage später wurde ihm bewusst, dass er, ohne auch nur nachzudenken, zu Recht vorausgesetzt hatte, dass der Kongress, den er bekämpfte, höhere moralische Maßstäbe setzte als die Regierung, die er loyal unterstützte.

Die Erkenntnis allerdings, die ihn wirklich bis in seine Grundfesten erschütterte, ereilte ihn Ende August.

In seinem Brief aus West Point hatte James seinen Vater um eine Gefälligkeit gebeten, die dieser seit inzwischen einigen Wochen vor sich herschob – und das nur, weil er befürchtete, dass es ihn zu viel Zeit kosten könnte. Ende August dann beschloss er, von leichten Schuldgefühlen getrieben, die Angelegenheit endlich zu erledigen.

Der Bruder eines von James’ Männern war von den Briten gefangen genommen worden. Da die Familie seit über einem Jahr nichts von ihm gehört hatte, aber davon ausging, dass er in New York inhaftiert sei, fragte James seinen Vater, ob er nicht feststellen könnte, was aus dem Burschen geworden sei. Sein Name war Sam Flower.

Master brauchte einen ganzen Tag, um in Erfahrung zu bringen, dass die Einheit, zu der Flower gehörte, anfangs in einer Kirche in der Stadt gefangen gehalten und dann über den East River geschafft wurde. Weitere Berichte waren nicht zu erhalten gewesen.

Der nächste Tag war heiß und schwül, und Master war ganz froh, der Stadt entrinnen und mit der Fähre nach Brooklyn übersetzen zu können. Die Anlegestelle lag gegenüber dem nördlichen Teil der Stadt. An diesem Punkt machte der Fluss eine Biegung nach Osten. Am Manhattanufer endete allmählich die Bebauung. Auf der Brooklynseite begann jenseits der Flussbiegung ein langer, tief eingebuchteter Streifen von Salzwiesen, Espartogras, offenem Wasser und Watt, dessen ursprünglicher niederländischer Name Waalbocht zu Wallabout Bay verballhornt worden war. Und dort in der Wallabout Bay lagen die Gefängnisse, nach denen Master suchte.

Die Hulks. Abgetakelte Schiffe, Viehtransportkähne größtenteils. Riesig, geschwärzt, verwittert, ihres Masten beraubt, mit starken Ketten im schlammigen Flachwasser verankert lagen die Hulks keine anderthalb Meilen von der Stadt entfernt und waren dennoch, dank der Flussbiegung, nicht zu sehen. Da war die Jersey, ein Lazarettschiff, wie es beschönigend genannt wurde. Und die Whitby, nur noch ein hohles Wrack, seit sie letztes Jahr ausgebrannt war, das seine verkohlten und zerbrochenen Spanten traurig gen Himmel reckte. In der Nähe sah er noch weitere Kähne – sie alle vollgestopft mit Gefangenen.

Es war nicht weiter schwierig, einen Fährmann zu finden, der ihn gegen Bezahlung zu den Schiffen hinausruderte. Der Wachhabende auf dem ersten Kahn, ein vierschrötiger, hängebackiger Kerl, schien wenig Lust zu haben, ihn an Bord zu lassen, aber eine Goldmünze bewirkte einen raschen Sinneswandel, und schon bald stand Master mit ihm auf Deck.

In der strahlenden Vormittagssonne und der keine Meile entfernten Silhouette der Manhattaninsel hätte die Aussicht vom Deck aus durchaus reizvoll sein können. Doch trotz der Goldmünze blieb die Haltung des Wächters so argwöhnisch und ruppig, dass Master, kaum dass er auf Deck trat, das Gefühl hatte, eine finstere Wolke habe sich über diesen Tag gelegt. Als er namentlich nach Sam Flower fragte, zuckte der Kerl verächtlich mit den Schultern.

»Ich hab zweihundert Rebellenhunde da unten«, antwortete er. »Das ist alles, was ich weiß.« Als Master bat, ob er nach unten gehen und die Gefangenen befragen könne, schaute ihn der Kerl wie einen Verrückten an. Er führte ihn zu einer Luke und öffnete sie. »Sie wollen da runter?«, sagte er. »Nur zu.« Master beugte sich über die Öffnung, ihm schlug ein so übler Gestank nach Urin, Kot und Verwesung entgegen, dass er zurückwich.

In diesem Moment tauchte aus einem anderen Luk ein Soldat mit einer Muskete auf, dem zwei Gestalten folgten. Sobald die beiden an Deck waren, knallte der Soldat die Luke wieder zu.

»Wir lassen immer zwei auf einmal rauf«, erklärte der Wärter. »Nie mehr als zwei.«

Aber Master hörte ihm kaum zu. Er starrte die Männer an. Sie waren nicht lediglich mager, sie waren wandelnde Skelette und zudem leichenblass. Einer von beiden, mit tief eingefallenen Augen, fieberte sichtlich und schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können.

»Diese Männer sind ja am Verhungern!«, sagte Master.

»Klar sind die am Verhungern«, sagte der Wärter. Und zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. »Das liegt daran, dass ich denen nix zu fressen geb.«

»Ich glaube, der Mann ist krank«, sagte Master.

»Krank? Ich hoffe, der ist am Verrecken.«

»Sie wünschen sich, dass dieser Mann stirbt?«

»Macht Platz für den Nächsten.«

»Aber bekommen Sie denn kein Geld, um diesen Männern zu essen zu geben?«, fragte Master empört.

»Ich kriege Geld. Und die leben oder sterben, grad wie es ihnen passt. Die meisten sterben.«

»Wie können Sie mit Ihnen anvertrauten Gefangenen nur so umgehen, Sir?«

»Mit denen da?« Im Gesicht des Mannes stand ein Ausdruck des Ekels. »Ungeziefer, sag ich dazu. Verräter, die man am besten aufgehängt hätte.« Der Kerl deutete mit dem Kopf in Richtung Stadt. »Meinen Sie etwa, da drüben geht’s besser zu?«

»Ich frage mich, Sir, was Ihre Vorgesetzten zu diesen Zuständen sagen würden«, sagte Master in drohendem Ton.

»Meine Vorgesetzten.« Der Mann schob sein Gesicht so weit vor, dass Master seinen stinkenden Atem riechen konnte. »Meine Vorgesetzten, Sir, würden sagen: ›Ei, du frommer und getreuer Knecht!‹ Warum gehen Sie nicht hin und fragen sie, Sir, wenn es Ihnen wirklich so wichtig ist?« Und damit forderte er Master auf, sein Schiff zu verlassen.

Auf der nächsten Hulk streckte ein junger Offizier den Kopf über die Reling und teilte Master, durchaus höflich, mit, er könne leider nicht an Bord kommen, weil die Hälfte der Gefangenen an Gelbfieber leide.

Bei der dritten hatte er mehr Glück. Das ausgediente Schiff schien zwar vor sich hin zu modern, aber der hochgewachsene, magere Mann mit dem harten Gesicht, der ihm erlaubte, an Bord zu kommen, trug eine Offiziersuniform und beantwortete alle seine Fragen exakt. Ja, er hatte eine Liste aller Gefangenen, die je auf dem Schiff gewesen waren. Sam Flower gehörte dazu.

»Er ist gestorben, Sir. Vor sechs Monaten.«

Gefragt, wo Flower beerdigt worden sei, winkte der Offizier in Richtung der Salzwiesen. Die Leichen, erklärte er, würden einfach in die Gräben gekippt, die es dort gab. Es seien so viele, und außerdem handle es sich ja bloß um Verbrecher.

Master sagte nichts dazu. Wenigstens hatte er die Informationen, die er benötigte. Doch bevor er die Hulk verließ, sah er Anzeichen dafür, dass es in der Back erst kürzlich gebrannt haben musste. Das Feuer hatte sich offensichtlich nicht ausgebreitet, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass der strenge Offizier an seiner Seite eine solche Sache einfach außer Kontrolle geraten ließ, aber er stellte dennoch die Frage: »Wie würden Sie die Gefangenen vom Schiff bekommen, wenn es einmal richtig brennen sollte?«

»Gar nicht, Sir.«

»Aber ins Wasser würden Sie sie doch wohl lassen, oder?«

»Nein, Sir. Ich würde die Luken dichtmachen und sie verbrennen lassen. So lauten meine Befehle.«

In düsterer Stimmung kehrte John Master in die Stadt zurück. Der Schock über die Einstellung der Engländer saß tief. Es mochte fraglich sein, ob die Patrioten als Kriegsgefangene anzusehen waren – tatsächlich diskutierten die Juristen ernsthaft darüber –, aber wie immer ihr Rechtsstatus auch sein mochte: Was sagte es über die Humanität seiner eigenen Regierung aus, dass sie es zuließ, diese Männer auf eine solche Weise zu behandeln? Man konnte einen Mann einen Rebell nennen, dachte er, man konnte ihn einen Verbrecher nennen, man konnte sagen, dass er an den Galgen gehörte – besonders wenn er ein Fremder und nicht der eigene Sohn war. Aber hier handelte es sich vor allem um Bauern, kleine Händler, ehrliche Arbeiter, anständige Menschen, was die Patrioten so offensichtlich waren – welche Blindheit, welche Voreingenommenheit oder – Gott behüte! – welche Grausamkeit konnte die britische Obrigkeit dazu bringen, sie in diese Hulks einzusperren und auf diese Weise zu ermorden?

Natürlich, sagte er sich, hatte er nicht gewusst, dass solche Dinge passierten. Die Hulks lagen außer Sichtweite. Sicher, Susan erzählte während ihrer Besuche des Öfteren von patriotischen Zeitungen, die über die menschenverachtende Behandlung der Gefangenen wetterten. Das seien grobe Übertreibungen, hatte er ihr immer versichert, die von Männern wie seinem guten Freund General Howe aufs Heftigste bestritten Würden.

Doch war er auch nur ein einziges Mal in das städtische Gefängnis gegangen, das nur ein paar hundert Yard von seiner Haustür entfernt lag? Nein, war er nicht. Und als er darüber nachdachte, begannen die Worte des widerlichen Kerls auf der ersten Hulk in seinem Kopf widerzuhallen. »Meinen Sie etwa, da drüben geht’s besser zu?«

Wahrend der folgenden Woche fing er auf diskrete Weise an, eigene Erkundigungen einzuziehen. Zu Albion sagte er nichts – es hätte ihn möglicherweise in eine schwierige Situation gebracht –, aber es gab in der Stadt mehr als genug Leute, von denen er Informationen erhalten konnte. Ein freundliches Schwätzchen mit einem Gefängniswärter; ein, zwei vertrauliche Worte mit einem Offizier. Unauffällig und geduldig, unter Einsatz all seines Geschicks, Leute auszuhorchen, das er sich vor langer, langer Zeit in den Schenken der Stadt angeeignet hatte, fand er nach und nach alles heraus, was er wissen wollte.

Der Wächter auf dem ersten Schiff hatte recht gehabt: In den städtischen Gefängnissen ging es ähnlich brutal zu. Hinter den Mauern umfunktionierter Kirchen und Zuckerraffinerien starben die Gefangenen seit Langem wie die Fliegen, ihre Leichen wurden auf Karren geladen und – meist im Schutze der Dunkelheit – fortgeschafft. Loring, dessen Frau Elizabeth General Howes Geliebte gewesen war, hatte deren Habseligkeiten gestohlen und das zu ihrer Verpflegung bestimmte Geld veruntreut. Und trotz all seiner Dementis stand es gänzlich außer Frage: Der leutselige General Howe, mit dem Master so oft gemeinsam gespeist hatte, war über all dies sehr wohl im Bilde.

Master war traurig, beschämt, ja, angeekelt. Doch was sollte er tun? Andere könnten den Missstand vielleicht anprangern, aber wenn er es tat, was würden dann die Leute sagen? Master hatte einen Patrioten als Sohn – seine Loyalität würde infrage gestellt werden. Er konnte nichts unternehmen. Um Abigail und des kleinen Weston willen war er zum Schweigen verurteilt. Und er fragte sich, was seine viel zu früh verstorbene Frau wohl über diese Dinge gedacht hätte, wenn sie noch am Leben wäre.

Es bereitete ihm daher keine geringe Qual, als sein Enkel Anfang September zu ihm kam und ihn um Rat fragte. Damit er unter Gleichaltrigen sei, hatten sie Weston auf eine nahe gelegene kleine Schule geschickt, wo er zusammen mit anderen Loyalistenkindern unterrichtet wurde. Da er vorhersah, dass dieses Thema früher oder später zur Sprache kommen würde, hatte Master mit dem kleinen Jungen aufs Gründlichste eingeübt, was er über seinen Vater sagen sollte. Und jetzt war es passiert.

»Und, was hast du gesagt?«, fragte der Großvater.

»Dass die Patrioten meinem Vater eingeredet haben, sie wären trotz allem loyal und königstreu, und dass wir hoffen, er werde jetzt bald zurückkommen.«

»Gut.« Es war ein ziemlich schwaches Argument, aber das beste, das Master eingefallen war.

»Sie sagen, er sei ein Verräter.«

»Nein. Dein Vater vertritt einen anderen Standpunkt, doch er ist kein Verräter.«

»Aber recht haben die Loyalisten, oder?«

»Davon sind sie überzeugt. Nur lässt sich das nicht so leicht beantworten.«

»Eine Seite muss immer recht und die andere unrecht haben«, sagte Weston sichtlich verwirrt.

Master seufzte. Wie konnte man einem kleinen Jungen einen so komplizierten Konflikt erklären?

»Ich bin ein Loyalist, Großvater, oder?«, bohrte Weston nach. »Das hast du mir doch gesagt.«

»Ja.« Master lächelte. »Du bist sehr loyal.«

»Und du bist auch ein Loyalist, Großvater, oder?«, fragte Weston in Erwartung einer Bestätigung.

»Natürlich«, erwiderte Master. »Ich bin ein Loyalist.«

Die ganze Wahrheit konnte er unmöglich sagen. Dass er nämlich ein Loyalist war, der den Glauben an seine Sache verloren hatte.

*

Seinen Geschäftssinn hatte er indes noch nicht eingebüßt. General Clinton schätzte ihn. Und so war er, als Master ihm gegenüber erwähnte, es könnte an der Zeit sein, mal wieder ein Kaperschiff auszurüsten, sofort begeistert. »Nehmen Sie den Franzosen und den Patrioten so viel ab, wie Sie möchten«, ermutigte ihn der General, »und Sie können meiner Dankbarkeit gewiss sein!«

Die Vorbereitungen für die Kaperfahrt kamen gut voran, als sich ein kleiner Zwischenfall ereignete, der Master sehr überraschte. Eines Morgens arbeitete er gerade in seiner kleinen Bibliothek, als Hudson eintrat und ihn um eine private Unterredung bat.

»Boss«, fing er an, »ich wollte mit Ihnen über Solomon reden. Er ist schon vor einer Weile fünfundzwanzig geworden.«

Master verspürte einen Anflug von Schuldbewusstsein. Natürlich! Er hatte schon vor Langem versprochen, dass Solomon an seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag frei sein würde. Der Krieg war keine Entschuldigung dafür, die Einlösung dieses Versprechens zu vergessen.

»Er soll noch heute frei sein«, erklärte John Master sofort. Zu seiner Verwunderung schüttelte Hudson den Kopf.

»Ich hatte gehofft, Boss«, sagte er, »dass Sie ihn noch eine Weile länger als Sklaven behalten würden.«

»Wieso das?« Master sah ihn einigermaßen verblüfft an.

»Die Sache ist die«, gestand Hudson, »dass er in schlechte Gesellschaft geraten ist.«

Es war nicht unbedingt nötig, fand Hudson, Master von den Diskussionen zu erzählen, die er und Solomon miteinander führten. Und ganz gewiss nicht von seinem Verdacht, was sein Sohn zusammen mit Sam und Charlie White angestellt haben konnte. Solomon war einfach ein ungeduldiger junger Mann auf der Suche nach Abenteuern. Das verstand sein Vater nur zu gut. Allerdings war ihm auch etwas anderes vollkommen klar.

Wenn man schwarz war, konnte man keinem Menschen vertrauen. Sicher, die Briten boten den Sklaven die Freiheit an, aber das taten sie nur, um die patriotischen Sklavenhalter des Südens zu schwächen. Sollten die Briten diesen Krieg gewinnen, würden sie den Schwarzen jedoch kaum weiterhin helfen. Und wenn es den Patrioten gelänge, die Briten zu schlagen, würden sie so viele Sklaven wie möglich zurückhaben wollen.

Verlass war auf nichts, doch wenn es etwas gab, das ihm und seinen Angehörigen – ob als Sklave oder als Freier – zumindest eine gewisse Sicherheit schenkte, meinte Hudson, so war es der Schutz durch John Master. Daher erfüllte ihn Solomons letzte Drohung mit Entsetzen.

»Mir steht jetzt meine Freiheit zu«, hatte er gesagt, »und wenn ich sie hab, dann geh ich vielleicht weg und schließ mich Captain Master an.« Und wenn er seine Freiheit nicht bekäme, wollte Hudson sarkastisch wissen, was dann? »Dann lauf ich vielleicht weg und tret in die britische Armee ein und krieg sie auf die Weise.« Für welche dieser schwachsinnigen Alternativen sich sein Sohn auch entscheiden würde – Hudson sah nichts als Ärger voraus.

»Solomon meint es nicht böse, Boss«, erklärte er Master, »aber man könnte sagen, ihn sticht der Hafer, und ich hab Angst, dass er in alle möglichen Schwierigkeiten gerät, sobald er frei ist. Ganz ehrlich«, fügte er kummervoll hinzu, »ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll.«

»In dem Fall«, schlug Master lächelnd vor, »wüsste ich vielleicht eine Lösung. Lass ihn auf dem neuen Kaperschiff anheuern. Das müsste ihm genügend Abenteuer bieten und dafür sorgen, dass er nicht in Schwierigkeiten gerät. Von allen etwaigen Prisen erhält er seinen regulären Anteil als Besatzungsmitglied. Und an dem Tag, da der gegenwärtige Konflikt vorbei ist, soll er frei sein. Wäre das in Ordnung?«

»Tja, Boss«, sagte Hudson. »Ich schätze, das ist in Ordnung.«

Kurze Zeit später, als Solomon auf dem schmucken Schiff in See stach, wandte sich der Kaufmann zu Hudson und bemerkte grinsend: »Ich habe vollstes Vertrauen, dass er einen ausgezeichneten New Yorker Piraten abgeben wird.«

*

Im Oktober erhielt John Master einen weiteren Brief von Vanessa aus London. Er las ihn mehrere Male durch, um sicher zu sein, dass er ihn wirklich richtig verstanden hatte.

Was immer James’ Frau schreiben mochte, sagte sich Master, aus allem ging eindeutig hervor, dass sie sich ebenso wenig für ihren Mann wie für ihren Sohn interessierte. Ihm persönlich erschien dies unbegreiflich, aber er hielt den schriftlichen Beleg in Händen. »Wenn Vanessa ihren kleinen Jungen lieben würde«, hatte er zu Abigail gesagt, »wäre sie mittlerweile längst hier.«

Ihr jüngster Brief enthielt die gewohnten Bekundungen der Hoffnung, Weston möge es gut gehen, die gequälte Nachfrage, ob ihr Gemahl endlich den Anstand gezeigt habe, sich von den Rebellen loszusagen, sowie die Erkundigung, ob er, Master, beabsichtige, in New York zu bleiben, oder aber, wie ihr Cousin Captain Rivers als Möglichkeit angedeutet hatte, zusammen mit seiner Familie und ihrem Sohn in Richtung Zivilisation aufzubrechen. Mit einem Wort: Würde Weston nach London zurückkehren? Und als er ihren Brief genauer studierte und zwischen den Zeilen las, meinte Master zu erkennen, was sie beschäftigte.

Die Frage nämlich war, ob sie demnächst gezwungen sein würde, sich um ihren kleinen Sohn zu kümmern, oder ob sie nicht vielleicht doch weiter ungestört bleiben könnte. Und der wahrscheinlichste Grund für ihre Neugier, vermutete Master, war ein neuer Mann in ihrem Leben. Wenn sie einen Liebhaber im Haus hatte, würde der Junge eindeutig stören. Fast ebenso sehr wie ein Ehemann.

Daher verwandte er einige Sorgfalt auf die Abfassung seiner – gleichermaßen unehrlichen – Antwort. Er wisse, schrieb er, wie sehr sie sich nach ihrem Bübchen sehnen musste, doch gegenwärtig dünke es ihn in Anbetracht der Piratengefahr auf hoher See sicherer, den Jungen vorerst weiter in New York zu behalten.

Er fragte sich, ob er James über den Inhalt des Briefes unterrichten sollte, gelangte aber zu dem Schluss, dass dies nicht erforderlich sei. Er richtete nicht einmal Weston die Liebesbekundungen seiner Mutter aus. Inzwischen sprach der Junge nur noch selten von ihr – und vielleicht war dies auch besser so.

*

Für Abigail verliefen die folgenden Monate eher ruhig. Sie führte den Haushalt, kümmerte sich um Weston, wenn er nicht in der Schule war, und alle paar Wochen verfasste sie einen ausführlichen Bericht über seine Fortschritte, den sie, zusammen mit Neuigkeiten von der Familieüber Susan ihrem Bruder James zukommen ließ. Und auch wenn diese Briefe einige Zeit brauchten, um West Point zu erreichen, wusste sie, dass er sie mit Dankbarkeit empfing.

Grey Albion und seine Kameraden wohnten wieder bei ihnen. Eine kurze Zeit sah es so aus, als ob Grey nach Georgia abkommandiert würde, aber General Clinton hatte sich anders entschieden und ihn in New York behalten. Jedoch war Albion so beschäftigt, dass sie ihn jetzt seltener zu sehen bekam. Da der Winter nahte, hatte Henry Clinton ihn mit der Aufgabe betraut, dafür zu sorgen, alle Soldaten warm unterzubringen. »Ich fürchte«, sagte Albion eines Tages im Dezember, »dass wir auf den Landgütern nördlich der Stadt ein paar schöne alte Bäume werden fällen müssen. Es tut mir in der Seele weh, aber wir haben keine andere Wahl.« Oft war er tagelang fort. Abigail achtete nicht besonders auf sein Kommen und Gehen, doch sie musste schon zugeben, dass er, wenn er in seinem Wintermantel und der Pelzmütze, eine Axt in der Hand, das Haus verließ, ziemlich anziehend aussah.

Sobald er Zeit hatte, spielte er genau wie früher mit dem kleinen Weston, begleitete sie auf ihren Spaziergängen mit dem Jungen und war äußerst liebenswürdig. Trotzdem bemerkte sie eine gewisse Veränderung in seinem Betragen. Die leichtfertige Arroganz, die sie früher manchmal irritierte, schien verflogen zu sein. Das kurze Scharmützel mit den Patrioten letztes Frühjahr schien ihm Respekt vor den Feinden eingeflößt zu haben. »Sie schlagen sich jetzt wie richtige Soldaten«, räumte er ein. »Beim nächsten Gefecht werden wir einiges abbekommen.«

Ihr fiel auch auf, dass sein Ton ihr gegenüber sich verändert hatte. Behandelte er sie früher wie eine kleine Schwester, so sprach er jetzt mit ihr über ernstere Dinge – den Fortgang des Krieges, die Aussichten auf Frieden und die Zukunft der Kolonien. Und nicht nur das – er fragte sie nach ihrer Meinung und schien ihrem Urteil ebenso viel Gewicht beizumessen wie seinem eigenen.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen London zeigen, Miss Abigail«, sagte er einmal.

Nur um Konversation zu machen, hatte sie ihn gefragt, was er an London am meisten schätze. Von den bedeutenden Sehenswürdigkeiten hatte ihr schon ihr Vater erzählt. Albion hingegen sprach von persönlicheren Erfahrungen, von schönen alten Parks am Fluss, von mittelalterlichen Kirchen, in denen Kreuzritter gebetet hatten, oder von engen Straßen in der City, zwischen deren Fachwerkhäusern gespenstische Echos hallten. Und wenn er so von London schwärmte, nahm sein hübsches Gesicht einen verträumten Ausdruck an.

An einem anderen Tag erzählte er von seinen Angehörigen. »Sie würden sie, glaube ich, mögen, Miss Abigail. Mein Vater ist ein Muster an Courtoisie. Verglichen mit ihm bin ich ein Bauerntölpel.« Und einmal sprach er von seiner alten Kinderfrau. »Sie lebt noch immer in unserem Haus, obwohl sie inzwischen fast achtzig ist. Ich setze mich gern zu ihr und leiste ihr Gesellschaft, wann immer ich kann.« Abigail war von seiner Fürsorglichkeit beeindruckt.

Als der Frühling des Jahres 1779 anbrach, kamen aus dem Süden ermutigende Nachrichten. Unten in Georgia hatten die Rotröcke erst Savannah, dann Augusta eingenommen. Bald stand ganz Georgia wieder unter britischer Herrschaft. In New York war von einer Expedition den Hudson hinauf die Rede. Albion erwähnte es ihr gegenüber nur beiläufig, aber ihr Vater sagte zu ihr: »Er hat Clinton gebeten, ihn ziehen zu lassen. Er möchte kämpfen.« Und etwas später sagte er: »Albions Wunsch geht in Erfüllung.«

Es wurde Ende Mai, ehe die kleine Flottille von Booten zum Aufbruch bereit war. Abigail stand neben ihrem Vater am Kai. In ihren scharlachroten Uniformröcken und weißen Koppeln sahen die Männer sehr schneidig aus. Grey Albion versah energisch seinen Dienst, und Abigail wurde bewusst, dass sie ihn noch nie so gesehen hatte – hart, mit strengem Blick und scharfer, befehlsgewohnter Stimme. Und natürlich viel zu beschäftigt, um von ihr auch nur die geringste Notiz zu nehmen.

Als die Boote die Strommitte erreichten und Nordkurs nahmen, den großen Fluss hinauf, wandte sie sich an ihren Vater.

»James ist da oben, Papa. Was, wenn er und Grey …«

»Ich weiß, Abby«, antwortete er leise. »Denken wir lieber nicht darüber nach.«

*

Es verging einige Zeit, ehe Nachrichten zu ihnen gelangten. Die Rotröcke schlugen sich gut; George Washington konnte zwar West Point halten, aber zwei seiner kleineren Forts wurden von den Briten eingenommen. Auch von Verwundeten war die Rede.

Dann brachte man Grey Albion zurück. Abigail musste zusammen mit Weston zu einer Freundin gehen, während der herbeigerufene Wundarzt seine Arbeit erledigte.

»Nichts Besorgniserregendes«, sagte ihr Vater mit Bestimmtheit. »Eine Musketenkugel im Bein. Der Arzt hat sie im Handumdrehen heraus.« Doch als sie später zurückkehrten, schaute John sehr ernst drein. »Es ist alles in Ordnung. Er schläft«, sagte er zu Weston. Abigail gegenüber gestand er indes: »Er hat viel Blut verloren.«

Als sie ihn am nächsten Morgen besuchte, waren seine Augen halb geschlossen, aber Albion erkannte sie und lächelte matt. Am nächsten Tag ging sie mehrmals zu ihm ins Zimmer, und am Abend fiel ihr auf, dass er fröstelte. Wenige Stunden später hatte er schon hohes Fieber.

Die Wunde war infiziert. Der Arzt, der die Masters gut kannte, machte nicht viel Aufhebens darum. »Ich schlage vor, Sie pflegen ihn, Miss Abigail«, sagte er, nachdem er die Wunde gereinigt hatte. »Sie schaffen es ebenso gut wie jede Krankenwärterin, die ich Ihnen besorgen könnte. Beten wir, dass die Infektion sich nicht ausbreitet«, fügte er hinzu, »und ich ihm nicht das Bein abnehmen muss. Sie müssen unter allen Umständen versuchen, das Fieber zu senken. Das ist unser größter Feind.«

In den folgenden Tagen schwankte Albions Befinden. Manchmal fieberte er und delirierte, und sie konnte nur versuchen, seine Stirn und seinen Körper mit feuchten Tüchern zu kühlen. Dann wieder war er klar und machte sich Sorgen.

»Wird man mir das Bein abnehmen?«, fragte er.

»Nein«, beteuerte sie, »davon kann keine Rede sein.«

In Wirklichkeit stand es auf des Messers Schneide. Es verstrichen zehn Tage, ehe eine erste Besserung eintrat, und mehr als ein Monat, bis er anfing, mit einer Krücke herumzuhumpeln und wieder wie er selbst auszusehen.

Einen Tag, bevor er zum ersten Mal wieder auf seinen Füßen stand, ereignete sich ein winzigkleiner Zwischenfall. Falls er überhaupt wirklich geschah, heißt das. Sie hatte in seinem Zimmer in einem Fauteuil gesessen, während er schlief. Die Nachmittagssonne schien angenehm durch das offene Fenster. Im Zimmer war es still. Und da nickte sie offenbar selbst ein wenig ein. Im Schlaf träumte sie, dass sie zusammen am Wasser entlanggingen, als er sich plötzlich zu ihr wandte und mit leiser, sehr inniger Stimme sagte: »Sie sind noch so jung! Aber wo könnte ich jemals so eine wie Sie finden?«

Dann war sie aufgewacht und sah, wie er wach im Bett saß und sie nachdenklich betrachtete. Und seitdem fragte Abigail sich unablässig, ob er wirklich diese Worte gesprochen haben konnte oder ob sie das nur geträumt hatte.

*

Ein kurioser Aspekt von Masters Geschäften während dieser Periode betraf Susans gelegentliche Besuche. Von Zeit zu Zeit kam sie mit zwei oder drei Lastwagen voll landwirtschaftlicher Produkte aus Dutchess County in die Stadt. Master kümmerte sich um den Verkauf, und die Briten rissen ihnen die Waren förmlich aus den Händen. In den letzten Monaten war das Geschäft sogar noch profitabler geworden, denn früher hatten die Irokesen im Norden Bootsladungen von Mais in die Stadt geschickt, doch jetzt hatten die Patrioten diesen Warentransport unterbrochen. Das letzte Mal, als Susan mit zwei Wagen Mais eingetroffen war, konnte Master ihn für das Fünffache des Vorkriegspreises verkaufen.

An der moralischen Seite dieser Transaktionen interessiert, hatte Abigail einmal ihre Schwester gefragt, auf wessen Seite sie eigentlich stehe, und eine simple Antwort erhalten.

»Auf derselben Seite wie meine Nachbarn, Abby«, erklärte Susan. »Und noch auf einigen anderen. Die Patrioten kontrollieren Dutchess County, also bin ich Patriotin. Aber wenn die Briten meinen Mais für gutes Geld kaufen wollen, kannst du Gift darauf nehmen, dass ich ihn ihnen verkaufe. Und was die Seide und den Tee und die Weine anbelangt, die ich aus New York mitnehmen, gibt es da, wo ich wohne, jede Menge Patrioten, die mir die Sachen liebend gern abkaufen und nicht nach ihrer Herkunft fragen.«

»Was würde George Washington dazu sagen, dass du uns Mais verkaufst?«, fragte Abigail.

»Fuchsteufelswild werden. Doch er wird’s nicht erfahren.«

»Und James?«

»Das Gleiche vermutlich, und er erfährt es ebenso wenig.«

Die Ausfuhr von Waren war nach britischem Recht illegal. Loyalistische New Yorker Kaufleute durften den Rebellen eigentlich überhaupt nichts liefern, aber niemand achtete weiter darauf. Britische Kaufleute belieferten die Patrioten im Hinterland mit jedem Luxusgut, das sich diese leisten konnten. Illegal war es nur, wenn man erwischt wurde, was nur selten passierte. Susan brauchte den Wachtposten am Kontrollpunkt nur etwas Geld zu geben, und schon durfte sie unbehelligt die Stadt verlassen.

Master allerdings blieb in diesem Fall bei seiner altmodischen Auffassung von Loyalität. Wenn er auch sehr wohl wusste, was für Geschäfte Susan da trieb, weigerte er sich stets, sich persönlich an der Lieferung von Waren an die Patrioten zu beteiligen. Umso überraschender war für Abigail der Verlauf eines Gesprächs, das eines Tages im September in der Bibliothek ihres Vaters stattfand.

Grey Albion war nicht im Haus. Am Tag davor hatte er Abigail zum Dank für ihre aufopferungsvolle Pflege zwei schöne Geschenke gemacht. Das eine war ein seidenes Schultertuch, sorgfältig danach ausgesucht, dass es zu einem ihrer Lieblingskleider passte; das andere eine sehr geschmackvoll gebundene Ausgabe von Gullivers Reisen – einem Werk, das sie, wie sie einmal ihm gegenüber erwähnt hatte, sehr schätzte. Sie zeigte sich erfreut und gerührt darüber, wie viel Mühe er sich mit diesen Geschenken gegeben hatte. An diesem Morgen war er zum Fort gegangen, um mit General Clinton zu sprechen, und wurde nicht so bald zurückerwartet. Weston würde erst später aus der Schule zurückkommen, daher befand sich außer Abigail und ihrem Vater, als Susan auftauchte, niemand im Haus.

Sie kam mit drei Fuhren voller Wären in die Stadt. Ihr Vater erklärte sich sofort bereit, sie zu begleiten und den Verkauf für sie abzuwickeln. Doch dann fügte er zu Abigails Verblüffung hinzu: »Ich habe einen Posten Seide und einige hervorragende Weine und Brandys auf Lager. Glaubst du, du könntest sie auf dem Rückweg für mich mitnehmen?«

»Natürlich«, sagte Susan und lachte. Abigail hingegen war schockiert.

»Vater! Du hast doch wohl nicht vor, die Patrioten zu beliefern?«

Ihr Vater zuckte die Schultern. »Besser, als die Ware im Lager einstauben zu lassen.«

»Aber was, wenn General Clinton davon erfahrt?«

»Hoffen wir einfach, er erfährt davon nichts.« Etwas an Masters Ton verriet ihr, dass in der Seele ihres Vaters, aus welchen Gründen auch immer, eine Veränderung stattgefunden haben musste.

Sie hatte gerade ihren Vater und Susan in der Bibliothek zurückgelassen und war in die Eingangshalle getreten, als sie Grey Albion sah. Sie hatte ihn nicht zurückkommen hören. Er stand reglos da, einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. Da sie befürchtete, er könnte mitgehört haben, was gerade besprochen worden war, errötete sie, murmelte eine Ausrede und kehrte in die Bibliothek zurück, um ihren Vater zu warnen. Als sie wieder herauskam, war Albion nicht mehr da.

Während des Rests des Tages fragte sie sich, was Albion wohl unternahm, falls er sie wirklich belauscht haben sollte. Würde er sich verpflichtet fühlen, General Clinton Kenntnis davon zu geben? Würde er so tun, als wüsste er von nichts? Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Sie war sehr nervös, als sie am Abend hörte, wie Albion ihren Vater um ein Gespräch unter vier Augen bat. Die zwei Männer gingen in die Bibliothek, schlossen die Tür und sprachen eine ganze Weile mit gedämpfter Stimme miteinander. Als Albion heraustrat, war sein Gesichtsausdruck ernst und undurchdringlich, er sagte aber kein Wort. Sie fragte ihren Vater, ob Grey auf die illegalen Warenlieferungen zu sprechen gekommen sei, doch er erwiderte lediglich: »Frag nicht.«

Und da in den darauffolgenden Tagen, wie es schien, keine Klage gegen ihren Vater erhoben wurde, ging sie davon aus, dass die Angelegenheit erledigt sei.

*

Kurz darauf nahm Albion seinen Dienst wieder auf. Er gehörte jetzt zu General Clintons Stab und hatte mehr denn je zu tun. Vielleicht lag es nur daran, dass ihn anderes beschäftigte, aber es schien Abigail, dass Albion, nachdem er ihr so nett für ihre Fürsorge gedankt hatte, jetzt eine gewisse Distanz zwischen ihnen aufbaute. Und obwohl sie wusste, dass dies unfair war, konnte sie eine gewisse Gereiztheit nicht unterdrücken.

Im ganzen Haus herrschte eine leicht düstere Stimmung. Sie hörten, dass der patriotische Gouverneur von New York Masters Farmen konfisziert hatte. So sehr das auch zu erwarten stand, bedeutete es für sie alle einen beträchtlichen Schlag.

Die Nachrichten von jenseits des Ozeans waren ebenso niederschmetternd.

»Offenbar«, erklärte ihnen Albion, »sieht jetzt ganz Europa die Gelegenheit gekommen, das britische Empire zu treffen. Frankreich hat Spanien dazu überredet, ebenfalls in den Krieg einzugreifen. Die französische und die spanische Flotte sind unterwegs, und man rechnet fest damit, dass sie außerdem Gibraltar angreifen werden. Die Spanier werden mit Sicherheit auch in Florida gegen uns vorgehen. Die Niederländer sind ebenfalls gegen uns, und die Deutschen und die Russen stehen am Rande des Spielfelds und freuen sich schon darauf, unsere Niederlage mitzuerleben.« Und um das Ganze nur noch schlimmer zu machen, besaß der amerikanische Freibeuter John Paul Jones die Frechheit, mit von Frankreich zur Verfügung gestellten Schiffen die Küsten Großbritanniens zu plündern.

Ein neues britisches Kontingent erreichte New York. »Aber die Hälfte der Soldaten sind krank«, berichtete Albion. »Jetzt müssen wir verhindern, dass sie auch noch die anderen anstecken.« In den folgenden zwei Wochen bekam Abigail ihn kaum zu Gesicht.

*

Es war Anfang Oktober, als Grey Albion sie einmal allein im Salon antraf und bescheiden erklärte: »Einige Offiziere und ich gehen auf einen Ball, Miss Abigail. Ob wir wohl die Ehre Ihrer Gesellschaft haben dürften?« Die Garnisonsversammlungen, wie diese Veranstaltungen genannt wurden, fanden gewöhnlich zweimal im Monat im großen Saal der City Tavern am Broadway statt, und sein Vater hatte sie schon ein paarmal dorthin mitgenommen. Da die Einladung aber jetzt von ihm persönlich ausgesprochen wurde, fühlte sie sich überrumpelt und zögerte. »Vielleicht«, fügte er rasch hinzu, »sollte ich Sie allerdings warnen, dass dieser Ball möglicherweise nicht nach Ihrem Geschmack sein wird.«

»Ach? Inwiefern?«

»Er wird das, was man einen ›äthiopischen Ball‹ nennt.«

Abigail starrte ihn überrascht an.

Alles hatte damit begonnen, dass General Clinton in dem Bestreben, die Patrioten zu schwächen, erklärt hatte, jeder Neger, der in der Kontinentalarmee diente, könne, sofern er desertierte und nach New York kam, dort als freier Mann leben und jedem beliebigen Beruf oder Gewerbe nachgehen. Das Echo war stärker gewesen als erwartet – so stark, dass er Master gegenüber einräumte: »Gut möglich, dass wir die Flut eindämmen müssen.«

Die Patrioten fühlten sich durch diese Aktion in Rage gebracht. Auf Long Island litten sie schon darunter, dass entflohene Sklaven marodierenden britischen Soldaten verrieten, wo versteckte Wertsachen zu finden waren. Unmittelbar jenseits von Staten Island, in Monmouth County, terrorisierte eine Brigade unter der Führung des wagemutigen schwarzen Colonels Tye die Truppen der Patrioten. »Diese verfluchten Briten schüren schon wieder Sklavenaufstände!«, empörten sie sich. In der Stadt allerdings waren die Veränderungen milder verlaufen. »Ich habe endlich einen Zimmermann und einen Lagerarbeiter gefunden, die ich dringend brauchte«, meinte Master seinerzeit zufrieden. »Und wir haben ein paar höchst willkommene frische Rekruten bekommen«, wusste Albion zu berichten. Auf dem Broadway war eine eigene Kaserne für sie eingerichtet worden.

Die vielleicht ungewöhnlichste Veränderung war indes im gesellschaftlichen Leben der Stadt zu verzeichnen. Denn es war und blieb ein höchst kurioses Merkmal des Empire, dass Großbritannien zwar der weltgrößte Aufkäufer und Exporteur von Sklaven war und sie auf den eigenen Zuckerrohrplantagen in riesiger Zahl einsetzte, dass aber in Großbritannien selbst kaum jemand einen Sklaven oder überhaupt einen Schwarzen je gesehen hatte. Albion und andere junge Burschen betrachteten die Freigelassenen von New York als eine ergötzliche Kuriosität. Also organisierten sie Tanzveranstaltungen mit Schwarzen, die auf Fiedel und Banjo musizierten. Und um es noch interessanter zu machen, ließen sie auch schwarze Gäste zu diesen Tanzabenden zu. Es war alles mächtig amüsant, fanden sie, und ziemlich exotisch.

»Ich weiß nicht, ob Ihr Vater seine Einwilligung dazu geben würde.«

Tatsächlich beobachteten einige loyalistische Torys den Zustrom von freien Schwarzen in ihre Stadt mit großem Missfallen. Aber Master war Gemeindevorsteher von Trinity, und der Gemeindevorstand von Trinity blieb seiner Tradition, Schwarzen eine Ausbildung anzubieten, weiterhin treu.

»Es wird mir ein Vergnügen sein, mich Ihrer Festgesellschaft anzuschließen«, sagte Abigail schließlich. In ihrer Stimme schwang nur die Andeutung eines Tadels mit.

Ihr Vater regte seinerseits an, dass Hudson und seine Frau die jungen Leute begleiten sollten. Zum Ort der Veranstaltung war es nicht weit, also beschlossen sie, das kurze Stück zu Fuß zu gehen.

Der Saal war schon voller Menschen, rund die Hälfte davon waren Schwarze neben einer Handvoll von Zivilisten aus der Stadt. Den Rest stellten britische Offiziere und deren Gäste. Tausend Kerzen tauchten den Saal in strahlendes Licht. Trotz der allgemein mangelhaften Lebensmittelversorgung hatte man es geschafft, exzellente Erfrischungen aufzutischen. Die Kapelle war hervorragend und das Repertoire der Tänze wie gewohnt, außer dass man auf das förmliche einleitende Menuett verzichtete und keiner der Anwesenden rechte Lust an den Tag legte, einen französischen Cotillon zu versuchen. Vielmehr vergnügte sich die Gesellschaft ausschließlich mit Jigs, Reels, Square Dance und sonstigen volkstümlichen Tänzen. Gespielt wurden beliebte lebhafte Melodien: Sweet Richard, Fisher’s Hornpipe, Derry Down. Abigail stellte zu ihrer Genugtuung fest, dass trotz der allgemeinen Ausgelassenheit erfreulicherweise ein gewisser Anstand gewahrt wurde.

Hudson war ganz in seinem Element, und Abigail wurde bewusst, dass sie ihn in ihrem ganzen Leben noch nicht in einer solchen Situation erlebt hatte. Mehrmals führte der Tanz sie zusammen, und er wirbelte sie mit einem gutmütigen Lächeln im Kreis herum. Sie sah Albion das Gleiche mit Hudsons Frau tun. Und natürlich war Abigail auch oft an seinem Arm.

Schließlich setzten sie sich alle zusammen hin, Albion und seine Freunde, die Hudsons und zwei weitere schwarze Ehepaare. Abigail machte Hudson Komplimente wegen seiner Tanzkünste, wofür er sich ernsthaft bedankte.

»Und wie tanze ich, Mrs Hudson?«, erkundigte sich Albion vergnügt. Sie stutzte nur ganz kurz.

»Na, prima … für einen Mann mit nur einem heilen Bein!«

Der Kommentar wurde mit Beifall und brüllendem Gelächter quittiert.

»Sein Bein ist heil genug, um ihn schon bald wieder in die Schlacht zu tragen«, bemerkte einer seiner Kameraden.

»Stimmt«, sagte Albion lächelnd.

»Ach?«, sagte Abigail. »Sie verlassen uns?«

»Ja«, bestätigte er. »Ich weiß es erst seit heute, aber General Clinton wird zu den Streitkräften im Süden stoßen, und er nimmt mich mit. Es ist also möglich, dass ich in Kürze erneut im Feld stehe.«

»Wann brechen Sie auf?«, fragte sie.

»Ende des Monats, nehme ich an.«

»Los!«, rief einer der anderen. »Es ist wieder Zeit zu tanzen!«

Es war bereits nach Mitternacht, als sie alle den Heimweg antraten. Zwar galt für Armeeangehörige eine nächtliche Ausgangssperre, auf deren Einhaltung General Clinton bestand, doch bei bestimmten gesellschaftlichen Ereignissen wurde sie gelockert. Vereinzelte Straßenlaternen spendeten ihnen Licht. Die beiden Hudsons gingen nebeneinander her, sie und Albion ein Stückchen hinter ihnen. Er hatte ihr den Arm geboten.

»Diesmal dürfen Sie sich nicht wieder anschießen lassen, im Süden«, sagte sie. »Sie zweimal gesund zu pflegen bringe ich nicht fertig.«

»Ich werde mein Bestes tun«, antwortete er. »Wahrscheinlich wird es sehr langweilig. Nicht ein einziges Gefecht.«

»Dann werden Sie stattdessen diesen schönen südländischen Mädchen hinterherjagen müssen«, schlug sie vor.

»Vielleicht.« Er schwieg einen Augenblick lang. »Aber wo könnte ich jemals so eine wie Sie finden?«, sagte er leise.

Ihr Herz stockte. Genau dieselben Worte. Es war also doch kein Traum gewesen.

Sie wollte etwas Nonchalantes darauf erwidern, nur fiel ihr absolut nichts ein.

Als sie das Haus erreichten, öffnete Hudson die Tür und führte sie in den Salon. Es war still. Offenbar hatten sich die übrigen Hausbewohner bereits schlafen gelegt.

»Der Gentleman möchte bestimmt gern ein Glas Brandy trinken, bevor er sich zurückzieht«, sagte Hudson leise. »Wenn Sie nur ein, zwei Minuten warten könnten …«

Im Zimmer war es warm, denn im Kamin befand sich restliche Glut. Albion stocherte kurz darin herum. Abigail zog ihren Umhang aus. Er drehte sich um.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Sie uns verlassen«, sagte sie.

»Es ist gewiss nicht mein Wunsch.« Er blickte sie mit einem Ausdruck unverkennbarer Zuneigung an.

Sie schaute zu ihm auf, und ihre Lippen öffneten sich leicht, als er auf sie zutrat und sie in die Arme nahm.

Die Minuten vergingen, und Hudson ließ sich nicht blicken. Sie hörte lediglich das leise Knistern des Feuers im Kamin, während sie sich küssten und, jetzt leidenschaftlicher aneinandergeschmiegt, wieder küssten, bis sie wusste, dass sie sich ihm, hier und jetzt, hingegeben hätte, wäre nicht in dem Moment die Tür aufgegangen und von der Halle her die Stimme ihres Vaters zu hören gewesen, die sie aus dem Sinnestaumel riss.

»Ah«, sagte ihr Vater unbefangen, als er, ohne sich zu beeilen, ins Zimmer trat, »wieder da! Prächtig. Ich hoffe, das Fest war ein Erfolg.«

»Ja, Sir, ich glaube, das war es«, sagte Albion.

Und nach einigen wenigen höflichen Worten zog sich der junge Mann zur Nachtruhe zurück.

*

In der ihm verbleibenden Zeit hatte Albion alle Hände voll zu tun. General Clinton beabsichtigte, achttausend Mann auf dem Seeweg nach Georgia zu bringen. Albion war nicht nur im Hafen beschäftigt, sondern hielt sich oft ganze Tage außerhalb der Stadt auf, sei es auf Long Island, sei es in den verschiedenen Außenposten in der Umgebung New Yorks.

Der Tag der Abreise brach allzu schnell über sie herein. Er wollte sich von der Familie verabschieden, ehe er mit seinen Männern zu den Schiffen marschieren würde. Zuvor aber zog er Abigail mit sich in den Salon. Und dort, allein mit ihr, nahm er ihre Hand und schaute ihr mit großer Aufrichtigkeit und Zuneigung in die Augen.

»Liebe Abigail. Wie kann ich Ihnen jemals für all das danken, was Sie für mich getan haben? Oder für das Glück Ihrer Gesellschaft?« Er schwieg für einen Moment. »Ich hoffe inständig, dass wir uns wiedersehen werden. Doch der Krieg ist ein ungewisses Geschäft. Sollte es uns also verwehrt sein, muss ich Ihnen sagen, dass ich die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit als die an die besten und strahlendsten Tage meines Lebens im Herzen bewahren werde.«

Er sagte es mit großer Wärme, und sie neigte den Kopf und nahm damit das große Kompliment an, das er ihr machte.

Dann küsste er sie sanft auf die Wange.

Sie allerdings hatte auf etwas – sie wusste nicht so recht worauf –, jedenfalls auf etwas mehr gehofft.

Später gingen sie und ihr Vater mit Weston zum Kai und sahen den Schiffen nach, die aus dem Hafen segelten.

*

Die Weihnachtszeit kam und ging. Von Susan erfuhren sie, dass James mit Washington ins Winterlager gezogen sei. Mittlerweile war es bitterkalt. Schneestürme begruben die Straßen unter weißen Massen. Nicht nur der Hudson, sondern sogar die Bucht fror zu. Niemand konnte sich an etwas Derartiges erinnern, und Abigail fragte sich mit einiger Bangigkeit, wie es ihrem Bruder ergehen mochte. Weiter südlich vor der Küste tobten Orkane, doch über Clinton und seine Flotte war nichts zu erfahren. »Vergiss nicht, sie müssen an New Jersey vorbei, an Virginia und beiden Carolinas«, erinnerte ihr Vater beschwichtigend. »Das sind selbst in Vogelfluglinie achthundert Meilen.«

Endlich kam die Nachricht, dass die Schiffe, wenn auch schwer mitgenommen, die Mündung des Savannah River erreicht hatten. Sie wartete auf einen Brief von Albion. Er traf erst Ende Februar ein, war an ihren Vater adressiert und berichtete, Albion sei unversehrt und die Armee bereite sich darauf vor, unter dem Kommando Clintons und Cornwallis’ entlang der Küste nordwärts ins Patriotenland South Carolina vorzustoßen. »Unser Ziel wird zweifellos die Stadt Charleston sein.« Er grüßte die ganze Familie und fügte eine muntere persönliche Mitteilung an Weston hinzu, er sollte, sobald das Wetter es erlaubte, schon mal anfangen, sich auf die Cricketsaison vorzubereiten. Abigail ließ er seine herzlichsten Empfehlungen ausrichten.

»Ich werde ihm natürlich antworten«, sagte ihr Vater und schrieb schon am folgenden Tag. Sie legte einen eigenen Brief bei.

Es war Abigail nicht leichtgefallen, ihn zu schreiben. Sie fasste sich kurz, erzählte mit wenigen Worten vom Leben in der Stadt und ihren Spaziergängen mit Weston. Doch wie sollte sie schließen? Wagte sie es, ihre Zuneigung schriftlich festzuhalten? Inwieweit würde sie sich dadurch kompromittieren? Und wie würde es aufgenommen werden? Oder sollte sie besser ein paar muntere Worte an ihn richten und es ihm überlassen, die sich dahinter verbergende Zärtlichkeit zu erraten? Sie konnte sich nicht entscheiden.

Am Ende schrieb sie lediglich, sie und Weston hofften, er würde unversehrt zurückkommen, »damit Sie mit ihm Cricket spielen und wir, vielleicht, tanzen können«.

*

Der Frühling verging ereignislos. Sie beschäftigte sich mit Weston und verfasste für James ihre gewohnten Berichte. Von Zeit zu Zeit trafen Nachrichten aus dem Süden ein: Ein dynamischer junger Kavalleriekommandeur namens Banastre Tarleton machte sich einen Namen als Patriotenjäger. Im Mai dann die Mitteilung: Charleston war gefallen.

 

New York verfiel in einen Freudentaumel. Es gab Paraden, Bankette, und schon bald kam ein Brief von Grey Albion.

»Das ändert die Situation erheblich«, sagte ihr Vater. »Wenn wir den Süden zerschmettern und unsere gesamten Streitkräfte gegen Washington werfen, könnte er selbst mit seinen besser ausgebildeten Männern in arge Bedrängnis geraten.« Ihr Vater lieferte Abigail eine Zusammenfassung von Albions Brief. »Wie es aussieht, hat der junge Banastre Tarleton Charleston vollständig vom Norden abgeschnitten. Seine Methoden sind laut Albion brutal, aber wirkungsvoll. Die Patrioten nannten ihn nicht umsonst Bloody Ban oder auch den Schlächter. Ein Sieg auf ganzer Linie, schreibt er. South Carolina wird bald wieder in britischer Hand sein. Die Patriotentruppen in North Carolina seien ebenfalls in schlechter Verfassung. Vielleicht hat unser Freund Rivers zu früh aufgegeben.« Sie hatte ihren Vater seit Monaten nicht so erfreut gesehen. »General Clinton ist so zufrieden, dass er beabsichtigt, nach New York zurückzukehren und das Oberkommando im Süden Cornwallis zu überlassen«, schloss er.

»Wird Albion auch zurückkehren?«, fragte sie.

»Noch nicht. Er möchte bei Cornwallis bleiben. In der Hoffnung, sich einen Namen zu machen, vermute ich.«

»Ich verstehe. Hat er einen Brief für mich beigelegt?«

»Nein. Aber er dankt dir für deinen und lässt dir seine herzlichsten Grüße ausrichten.« Ihr Vater lächelte. »Ich gebe dir den Brief. Du kannst ihn selbst lesen.«

»Ich werde ihn später lesen, Papa«, sagte sie und ging aus dem Zimmer.

In den nächsten Tagen feierte New York weiter. Abigail allerdings nicht. Tatsächlich war sie sich über ihre Gefühle ganz und gar nicht im Klaren. Sie sagte sich selbst, dass sie sich albern aufführte. Ein junger Mann, der in den Krieg zog, hatte sie geküsst – wie zuvor mit Sicherheit schon Dutzende anderer Mädchen – und behauptet, zärtliche Gefühle für sie zu empfinden. Vielleicht stimmte das sogar. Aber das brauchte ja schließlich nicht von Dauer zu sein. Und was empfand sie für ihn? Sie wusste es selbst nicht so recht.

Ihre Welt schien in ein sonnenloses Licht getaucht zu sein, das die Landschaft verschwimmen ließ.

Bestimmt hatte Albion sich im Kampf ausgezeichnet – nur warum lehnte er es ab, mit General Clinton zurückzukehren? Und hätte er nicht wenigstens persönlich auf ihren Brief antworten können? Müsste er das nicht sogar, wenn ihm etwas an ihr läge? Zwei Tage lang blies sie weiter Trübsal und sagte kaum ein Wort, bis ihr Vater es nicht länger ertragen konnte; er nahm sie beiseite und fragte sie geradeheraus: »Mein Kind, habe ich irgendetwas getan, was dich verstimmt?«

»Nichts, Papa, Ehrenwort.«

Er schwieg kurz, als dächte er über etwas nach. »Könnte deine Stimmung irgendetwas mit Grey Albion zu tun haben?«

»Nein, Papa. Nicht das Geringste.«

»Ich glaube aber doch, Abby.« Er seufzte. »Ich wünschte, deine Mutter wäre noch am Leben. Es fällt dir bestimmt schwer, mit deinem Vater über ein solches Thema zu reden.«

Sie gab nach. »Ich dachte, er würde mir wenigstens schreiben.« Sie zuckte die Achseln. »Wenn ihm was an mir läge.«

Ihr Vater nickte, schien dann zu einer Entscheidung zu gelangen und legte ihr den Arm um die Schulter.

»Also schön, dann werde ich es dir sagen, Abby. Erinnerst du dich an den Tag, an dem Susan hier auftauchte und ich ihr Waren für die Patrioten mitgab? An dem Abend kam Albion zu mir. Er sprach von dir … mit den zärtlichsten Worten.«

»Wirklich?«

»Er hat seine Gefühle mit schlichten, ja edlen Worten zum Ausdruck gebracht.« Ihr Vater nickte bei der Erinnerung. »Aber du bist noch jung, Abby, und da der Krieg weitergeht und alles ungewiss ist … Kurzum, er und ich haben entschieden, dass es am besten wäre zu warten. Zu warten, bis der Krieg vorbei ist. Wer weiß schon, wie die Dinge dann vielleicht stehen? Bis dahin solltest du ihn – um deinet- ebenso wie um seinetwillen – als einen Freund betrachten. Einen sehr lieben Freund.«

Abigail starrte ihren Vater an. »Hat er um meine Hand angehalten?«

Ihr Vater zögerte. »Kann sein, dass er die Möglichkeit einer Heirat erwähnte.«

»Ach, Papa!«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Du magst ihn also?«, fragte er.

»Ja, Papa.«

»Na ja, ich auch«, erklärte er jetzt.

»Er würde vermutlich wollen, dass ich ihn nach England begleite, oder?«

»Da bin ich sicher. Du würdest mir fehlen, Abby. Würdest du denn gern dorthin fahren?«

»Was ist mit dir? Kämst du eventuell mit?«

»Es könnte sein, dass ich das muss, Abby, wenn sich das Blatt wendet und die Patrioten gewinnen.«

»Dann, Papa«, sagte sie lächelnd, »werde ich ihm sagen: ›Ich komme mit, wenn es mein Papa auch tut.‹«

*

Solomon war glücklich. Es war ein schöner Tag im Juni, und die See glitzerte. Sie befanden sich vor der Küste Virginias und segelten unter dem strahlend blauen Himmel und vor einer Brise aus Südost in Richtung New York.

Es war ein französisches Schiff. Sie hatten es vor Martinique gekapert mit einer großen Ladung Seidenstoffe, Wein und Weinbrand und sogar einer kleinen Truhe voll Gold. Dar Kapitän teilte die Besatzung auf und beauftragte den Maat, mit einem Dutzend Männern von ihrem eigenen Schiff, darunter vier Sklaven, sowie sechs von den gefangenen Franzosen die Prise nach New York zu bringen.

Auch wenn er noch immer auf seine Freiheit wartete, genoss es Solomon, auf See zu sein. Das Leben auf einem Kaperschiff – besonders einem, das Master gehörte – fand er wirklich nicht übel. Und da er Privateigentum des Reeders war, würden weder der Kapitän noch der Maat ihn, solange er seine Pflichten gut erledigte, schlecht behandeln. Außerdem galt er sowieso seit Langem als geschätztes Mitglied der Besatzung. Das letzte Mal, als sie in schlechtes Wetter geraten waren und der Maat Unterstützung brauchte, hatte er gerufen: »Übernimm das Ruder, Solomon!«, und hinterher sagte er zu ihm: »Ich wusste, dass du auf Kurs halten würdest.«

Er freute sich darauf, seinen Vater und seine Mutter in New York wiederzusehen. Und bei einer so kostbaren Prise konnte er ziemlich sicher sein, dass Master ihm etwas Geld gutschreiben würde.

Sie segelten gerade aus der Chesapeake Bay heraus, als sich ihnen ein anderes Schiff auffällig schnell näherte. Der Maat nahm das Fernrohr ans Auge und fluchte. »Piraten! Sie führen das Sternenbanner.«

Später sagte sich Solomon, dass der Maat ihm an dem Tag wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Er drückte ihm eine Pistole in die Hand und befahl: »Geh mit den verfluchten Franzmännern nach unten. Wir können denen auf Deck nicht trauen. Knall jeden ab, der eine falsche Bewegung macht.«

So war er also unter Deck, als er nach einer Weile das Knattern von Musketenfeuer hörte, gefolgt vom Donnern von Kanonen, die das Deck mit Kartätschenschrot bestrichen. Danach dröhnte es ein paarmal. Jemand hämmerte gegen das Luk, und eine Stimme befahl ihm zu öffnen. Widerwillig gehorchte er und kletterte an Deck.

Dort bot sich ihm ein grausiges Bild. Die New Yorker Matrosen waren größtenteils tot. Der Maat lebte zwar noch, aber sein linkes Bein war blutüberströmt. Ein Dutzend Patrioten hatten das Schiff geentert, darunter ein vierschrötiger rothaariger Mann, der eine Bullenpeitsche schwang und in dessen Gürtel zwei Pistolen steckten. Solomon nahm an, dass es sich um den Kapitän handelte. Als die Franzosen heraufkamen und die Patrioten sahen, brachen sie in wortreiche Begrüßungen in ihrer Muttersprache aus. Der rothaarige Kapitän führte sie rasch an eine Seite des Decks und schickte zwei Männer nach unten. Zwei von den Schwarzen waren schon tot, aber den anderen Sklaven, den Koch, hatten sie bald ausfindig gemacht und führten ihn nach oben. »Das ist alles, Captain«, meldeten sie.

Der Kapitän wandte sich an den verwundeten Maat. »Das ist also eine französische Prise, die ihr aufgebracht habt?« Der Maat nickte. »Seid ihr aus New York?« Wieder nickte der Maat. »Und die da« – er deutete auf die Franzosen – »sind also die französische Besatzung?«

»Stimmt«, sagte der Maat.

»Hmm. Die Franzmänner sind unsere Freunde, Jungs«, rief er seinen Männern zu. »Seid nett zu ihnen.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Koch. »Ist der ’n Sklave?« Und als der Maat nickte: »Smutje?«

»Kocht gut.«

»Kann ich brauchen. Und der da?« Er wandte sich zu Solomon.

»Matrose. Guter Mann«, sagte der Maat. »Sehr gut.«

Der rothaarige Kapitän fixierte Solomon mit seinen grimmigen blauen Augen.

»Was bist du, Junge?«, fragte er herrisch. »Sklave oder frei?«

Und jetzt musste Solomon ganz schnell nachdenken.

»Ich bin ’n Sklave, Boss«, sagte er dienstfertig. »Ich gehör dem Patrioten, Captain James Master, der unter General Washington dient.«

»Was machst du dann hier?«

»Die haben mich auf dieses Schiff gepresst, damit ich nicht zu Captain Master renn, Sir. Und wenn Sie ihn fragen, wird er für mich bürgen.«

Es war kein schlechter Versuch, und der Pirat ließ sich die Sache durch den Kopf gehen, aber nicht lange.

»Captain James Master. Nie von dem gehört. Aber das spielt sowieso keine Rolle. Wenn du sein Sklave bist, dann bist du bestimmt ausgerissen und zu den verfluchten Briten gelaufen, um deine Freiheit zu kriegen. Und damit bist du, wenn du mich fragst, ein Feind. Und du bist jetzt auch wieder ein Sklave, Junge. Und zwar ein verlogener, diebischer, verräterischer Sklave, der die Peitsche verdient, und das nicht zu knapp.« Doch bevor er sich weiter mit Solomon abgab, warf er einen Blick über das Deck und befahl, auf die leblos herumliegenden Männer deutend: »Über Bord mit denen.« Dann ging er zum Maat. »Du siehst nicht gut aus, mein Freund«, bemerkte er.

»Ich werd’s überleben«, sagte der Maat.

»Glaub ich nicht«, sagte der Kapitän. Und dann zog er eine seiner Pistolen aus dem Gürtel und schoss dem Maat in den Kopf. »Schmeißt ihn über die Reling«, rief er seinen Männern zu.

Nachdem das erledigt war, kam er zu Solomon zurück, blieb breitbeinig stehen und musterte ihn, während er nachdenklich die Bullenpeitsche befingerte.

»Wie gesagt, du brauchst eine Tracht Prügel.« Er verstummte, dachte nach, nickte dann vor sich hin. »Aber obwohl ich das tun sollte, werde ich dich, glaube ich, nicht auspeitschen. Nein, ich glaube, ich werde stattdessen lügen. Ich werde behaupten, dass du noch nie in deinem Leben ausgepeitscht worden bist, weil du der bescheidenste, gehorsamste, fleißigste, gottesfurchtigste Nigger bist, der jemals auf Erden gewandelt ist. Das werd ich sagen.« Er nickte. »Und weißt du auch, warum?«

»Nein, Boss.«

»Weil ich dich verlogenen, loyalistischen Hurensohn von einem Niggerausreißer verkaufen werde.«

*

Erst als sein Kaperfahrer zurückkehrte und der Kapitän sich darüber wunderte, das französische Schiff nicht im New Yorker Hafen vorzufinden, begriff Master, dass er seine Prise verloren hatte, und musste Hudson eröffnen, dass sein Sohn vermisst war. »Ich glaube nicht, dass unser französisches Schiff gesunken ist«, erklärte er. »Wahrscheinlicher ist, dass es gekapert wurde. Solomon könnte durchaus noch am Leben sein, und wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben.« Wenn das Schiff irgendwo auf den Meeren segelte, würde man früher oder später etwas davon erfahren.

Wovon man allerdings vorerst nur erfuhr, waren weitere britische Erfolge im Süden. Patriotenhelden wie Rutledge, Pickens und Marion, »der Sumpffuchs« Fox taten nach wie vor ihr Bestes, um die Rotröcke und deren Helfer zu bedrängen; aber die südliche Patriotenarmee befand sich in keiner guten Verfassung. Der Kongress entsandte General Gates nach South Carolina, doch Cornwallis bereitete ihm schon bald bei Camden eine vernichtende Niederlage.

Vielleicht um sie alle von ihren privaten Sorgen abzulenken, gab Master den Mitgliedern seines Haushalts immer genug zu tun. Auch mit Einladungen. So speiste, wieder in New York, General Clinton mehrmals bei ihnen, und Abigail und Ruth sorgten dafür, dass diese Dinner exquisit ausfielen. Vom General und seinen Offizieren gewann Abigail den Eindruck, dass sie den Sieg wieder für möglich hielten. Ihr Vater war derselben Ansicht.

»Jede Wette, dass Clinton dabei ist, einen neuen Plan auszuhecken«, sagte er zu ihr. »Aber was immer es sei, er behält es für sich.«

Besondere Freude bereitete Abigail ein Abendessen, zu dem General Clinton zwei nicht geladene Gäste mitbrachte. Der eine war Gouverneur William Franklin, den die Patrioten aus New Jersey hinausgeworfen hatten und der jetzt in der Stadt lebte.

Es war interessant, Ben Franklins Sohn aus der Nähe zu beobachten. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater war durchaus erkennbar. Aber während die Gesichtszüge des Vaters ins Gerundete, Heitere spielten, waren die des Sohnes straffer, vornehmer und strahlten etwas Säuerliches aus. Bezüglich seiner Ansichten über die Patrioten ließ er keinerlei Zweifel aufkommen.

»Ich darf es in diesem Hause aussprechen, Miss Abigail, weil mein eigener Vater, gleich Ihrem Bruder, ein Patriot ist. Doch wenn es auch auf deren Seite durchaus Männer von Prinzipien gibt, betrachte ich die meisten von ihnen als Rebellen und Banditen. Ich habe noch immer eine Schar braver Männer, die in New Jersey Jagd auf Patrioten machen. Und ich persönlich wäre mehr als geneigt, jeden Einzelnen, den wir schnappen, aufzuknüpfen.«

Er war ihr irgendwie nicht besonders sympathisch.

Der junge Major André allerdings war von anderer Art. Er war ungefähr so alt wie ihr Bruder, ein Schweizer Hugenotte, dessen Konversation dank eines leichten französischen Akzents einen besonderen Charme besaß. Aber was sie wirklich über die Maßen erfreute, war die Tatsache, dass er, als Angehöriger von Clintons Stab, Grey Albion gut kannte. Sie sprachen den ganzen Abend lang über ihn.

»Ich muss gestehen, Miss Abigail«, sagte er zu ihr, »dass ich durch Albion, der mit Bewunderung von Ihnen sprach, bereits von Ihnen wusste.«

»Ach, tat er das?« Sie konnte nicht umhin, vor Freude leicht zu erröten.

Er lächelte ihr freundlich zu.

»Wenn es nicht indiskret ist, Miss Abigail, könnte ich sagen, dass er mit Ausdrücken der höchsten Wertschätzung von Ihnen sprach. Und wenn es nicht impertinent ist, möchte ich hinzufügen, dass auch Sie, wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, eine hohe Meinung von ihm haben.«

»So ist es, Major André«, gestand sie. »Eine sehr hohe.«

»Nach meinem Dafürhalten könnten Sie Ihre Wertschätzung keinem besseren Mann schenken.« Er schwieg kurz. »Er erzählte mir außerdem, er sei früher ein enger Freund Ihres Bruders James gewesen …«

»Ich hoffe, dass sie ihre Freundschaft eines Tages werden wiederbeleben können.«

»Wir wollen alle auf diesen Tag hoffen«, pflichtete er ihr bei.

»Nun, Abby«, fragte ihr Vater, nachdem alle Gäste sich verabschiedet hatten, »war es ein gelungener Abend?«

»Ein wirklich sehr gelungener Abend«, antwortete sie glücklich.

*

Umso größer war der Schock, als der Vater ihr zehn Tage später mitteilte: »Major André ist gefangen genommen worden, und ihm droht der Galgen.«

»Wo? Wie?«

»Flussaufwärts. In der Nähe von West Point.«

Schon am nächsten Tag erfuhr Master von Clinton die ganze Geschichte.

»Es ist eine verfluchte Angelegenheit«, sagte ihr Vater. »Jetzt weiß ich, was Clinton vorhatte und mir vorher nicht verraten durfte. Er hatte über ein Jahr lang an seinem Plan gearbeitet, und der junge André sollte als Verbindungsmann agieren.«

»Was für einem Plan, Papa?«

»West Point unter seine Kontrolle zu bringen. Denn wer West Point hat, der kontrolliert den Hudson River. Nehmen wir George Washington West Point ab, versetzen wir ihm den Todesstoß. Es hätte das Ende des Krieges bedeuten können.«

»Wir wollten West Point erobern?«

»Nein. Kaufen. Benedict Arnold, der einer von Washingtons besten Generälen ist, hatte das Kommando über die Festung. Clinton hat ihn über ein Jahr lang bearbeitet – das heißt, wie er mir erzählt hat, vor allem den Preis ausgehandelt. Arnold hatte zugesagt, uns die Festung zu übergeben.«

»Ein Verräter.«

Ihr Vater zuckte die Schultern. »Ein Mann mit gemischten Loyalitäten. Unzufrieden mit den Kommandos, die die Patrioten ihm anvertraut hatten. Nicht damit einverstanden, dass die Franzosen hineingezogen wurden. Der Geld für seine Familie wollte. Aber ja – ein Verräter.«

»In Washingtons Augen. General Clinton schätzt ihn aber bestimmt.«

»Tatsächlich verachtet ihn Clinton. Aber um West Point zu bekommen, sagt er, hätte er selbst mit dem Teufel einen Pakt geschlossen.«

»Was ist passiert?«

»Unser Freund André sollte die letzten Details mit ihm besprechen. Dann wurde er gefasst, und die Patrioten haben den Plan aufgedeckt. Und so hat Washington noch immer West Point, und Arnold ist zu uns übergelaufen.«

»Und André?«

»Es ist eine verteufelte Angelegenheit. Er hat die Riesendummheit begangen, seine Uniform auszuziehen, was ihn zu einem Spion machte. Nach dem Kriegsrecht müssten Washington und seine Leute ihn hängen. Aber sie wollen das nicht – offenbar ist er ihnen sympathisch –, also versuchen sie, etwas auszuhandeln.«

»Ob er und James sich begegnet sind?«

»Vielleicht. Wundern würde es mich nicht.«

Den abschließenden Bericht überbrachte ihr Vater ein paar Tage später.

»André ist gehängt worden. Leider. Clinton standen fast Tränen in den Augen. ›Sie wollten Arnold im Austausch gegen ihn‹, hat er mir gesagt. ›Aber wenn ich ihnen Arnold gebe, bekomme ich nie wieder einen Patrioten dazu überzulaufen. Und so haben sie meinen armen André gehängt.‹«

 

Einen Moment lang fragte sie sich, ob James der Hinrichtung beigewohnt hatte, dann beschloss sie, lieber nicht darüber nachzudenken.

*

Als James Master sich dem Steinhaus genähert hatte, in dem der Verurteilte untergebracht war, hatte er nicht erwartet, sich dort länger aufzuhalten. Washington persönlich hatte ihn auf diesen kurzen Gang der Barmherzigkeit geschickt. Er beabsichtigte, seine Aufgabe schnell und höflich zu erledigen und dann wieder zu gehen. Natürlich tat ihm der Bursche leid – es war eine verteufelte Angelegenheit –, aber James Master hatte für Gefühlsduseleien in letzter Zeit wenig übrig.

Jedem, der James Master seit ein paar Jahren nicht gesehen hatte, wäre die Veränderung augenblicklich aufgefallen. Zunächst war sein Gesicht schmaler geworden. Aber da war noch etwas anderes, eine verbissene Härte des Unterkiefers, eine Anspannung der Wangenmuskeln, die je nach Stimmung Schmerz oder Bitterkeit signalisieren konnten. Aber noch schlimmer zu beobachten wäre für jeden, der ihn liebte, der Ausdruck in seinen Augen gewesen. Gewiss, es lag eine eiserne Entschlossenheit in ihnen, aber auch Desillusionierung, Wut und Ekel.

Was eigentlich niemanden überraschen konnte. Die letzten zwei Jahre waren entsetzlich gewesen.

Die Franzosen in den Krieg hineinzuziehen war ein zwar unverzichtbarer, aber deswegen nicht weniger zynischer Schachzug gewesen. Dennoch hatte sich Washington davon ein bisschen mehr erhofft, als er tatsächlich bekam. Admiral d’Estaing war es zwar gelungen, den Briten einen gehörigen Schrecken einzujagen, aber als Washington versucht hatte, ihn zu einem großen gemeinsamen Angriff auf New York zu überreden, hatte er abgelehnt, und jetzt hielten er und seine Flotte sich die meiste Zeit in der Karibik auf, wo sie ihr Bestes taten, den dortigen britischen Interessen zu schaden. Im Juli dieses Jahres war General Rochambeau mit sechstausend französischen Soldaten in Newport, Rhode Island, gelandet. Doch dann hatte er darauf bestanden, bei den französischen Schiffen zu bleiben, die von der britischen Navy eingeschlossen Worden waren, weswegen seine Anwesenheit bis auf Weiteres nicht den geringsten Nutzen brachte. Soweit James es beurteilen konnte, betrachteten die Franzosen die amerikanischen Kolonien als Nebenkriegsschauplatz. Wenn die Patrioten auf moralische Unterstützung gehofft hatten, standen sie praktisch genauso allein da wie am Anfang.

Hinzu war das Verhalten der Briten gekommen. Jede patriotische Zeitung in den Kolonien empörte sich über die grausame Behandlung amerikanischer Gefangener, und Washington machte den britischen Kommandeuren unermüdlich Vorhaltungen. Trotz allem hatte James aber nicht recht glauben wollen, dass die Menschen, unter denen er gelebt hatte und die er zu kennen meinte, sich wirklich solcher Gräueltaten schuldig machten. Erst der Brief seines Vaters hatte ihm die Augen geöffnet. Es war ein kurzer Brief gewesen. Sein Vater teilte ihm darin mit, dass Sam Flower auf einem Gefängnisschiff an einer Krankheit gestorben war und dass es kein Grab gab, das seine Angehörigen hätten besuchen können; er hatte mit den Worten geendet: »Mehr als das, mein lieber Sohn, kann ich – und möchte ich auch – nicht sagen.« James kannte seinen Vater. Was diese Worte sagten – und was sie verschwiegen – verriet ihm das Schlimmste. Eine Welle der Wut und des Abscheus war in ihm hochgestiegen und hatte sich im Lauf der langen Monate zu bitterem Hass verhärtet.

Der letzte Winter war grauenvoll gewesen. Washingtons Lager bei Morristown war perfekt angelegt und solide gebaut gewesen. Ihre Blockhütten waren mit Lehm abgedichtet worden, und Washington selbst hatte in einem etwas abseits gelegenen festen Haus gewohnt. Aber niemand hatte mit diesem Wetter gerechnet. Achtundzwanzig Schneestürme begruben die Hütten fast bis zu den Traufen. Manchmal hatten sie tagelang nichts zu essen. Washington hatte sich vorbildlich um die Moral der Truppe bemüht – er hatte sogar einen Offiziersball in einer Schenke veranstaltet, auch wenn man die nur per Schlitten hatte erreichen können. Aber am Ende des Winters war die Kontinentalarmee erschöpft gewesen.

Frühling und Sommer hatten nur Nachrichten von vernichtenden Niederlagen im Süden gebracht. Zweieinhalbtausend Kontinentalsoldaten, die örtlichen Milizen gar nicht mitgerechnet, gerieten in Charleston in Gefangenschaft. Dennoch harrten die Patrioten weiter aus und hofften auf bessere Zeiten – zum Teil weil für Männer wie James Master, nachdem sie so lange gegen einen Feind gekämpft und ihn zuletzt hassen gelernt hatten, unwiderruflich feststand, dass es kein Zurück geben konnte.

Es war daher ein grimmiger, eisenharter Mann, der jetzt das steinerne Haus betrat, in dem der arme Major André auf seine Hinrichtung wartete.

Die Sonne strahlte auf das Hauptquartier der Kontinentalarmee in Tappan. Das nördliche Ende von Manhattan war nur zehn Meilen den Hudson hinab entfernt. Zehn Meilen allerdings, die der glücklose Gefangene nicht hatte bewältigen können. Gewiss hatte André Pech gehabt, aber er war auch so dumm gewesen, nachdem er sich vom Verräter Arnold getrennt hatte, seine Uniform auszuziehen und seinen Weg durch Feindesland in Zivil fortzusetzen. In der Folge war er wie ein Spion behandelt worden. Washington hatte zwar darauf bestanden, dass er ein ordentliches Kriegsgerichtsverfahren erhielt, und er hatte sich auch selbst verteidigen dürfen. Aber das Urteil hätte schwerlich anders ausfallen können, und am folgenden Tag würde er hängen.

André saß ruhig in dem Zimmer, das als seine Zelle diente. Er hatte Briefe geschrieben. Auf einer Anrichte standen die Reste einer Mahlzeit, die von Washingtons Tafel stammten. James hatte ihn in den vergangenen Tagen mehrmals von Weitem gesehen, ihn aber noch niemals gesprochen. Bei seinem Eintreten stand der junge Schweizer höflich auf, und James teilte ihm den Grund seines Kommens mit.

»Der General hat mich beauftragt, sicherzustellen, dass Sie alles haben, was Sie benötigen. Wenn Sie Briefe besorgen möchten oder es sonst etwas gibt, das ich für Sie in die Wege leiten kann …«

»Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche«, antwortete André mit einem schwachen Lächeln. »Sie sagten, Ihr Name ist Captain Master?«

»Zu Ihren Diensten, Sir.«

»Wie merkwürdig! Dann hatte ich, glaube ich, erst kürzlich das Vergnügen, mit Ihrem Vater und Ihrer Schwester zu speisen.« Und als er James’ überraschte Miene sah, fügte er hinzu: »Ich konnte damals nicht ahnen, dass ich auch die Ehre haben würde, Ihre Bekanntschaft zu machen. Vielleicht interessiert es Sie zu erfahren, wie es Ihren Angehörigen geht.«

Ganze zehn Minuten lang berichtete André ihm von seinem Vater und seiner Schwester. Sie seien beide in bester gesundheitlicher und seelischer Verfassung, versicherte ihm André. Nein, er müsse gestehen, dass er den kleinen Weston nur flüchtig gesehen habe, aber er wisse durch Abigail, dass es dem Jungen gut gehe und dass er Freude an der Schule habe. Solche Nachrichten waren James höchst willkommen. Während des Winters war jede Kommunikation mit seiner Familie unmöglich gewesen, und er hatte in den letzten paar Monaten nur einmal – als er sich mit Susan treffen konnte – Nachrichten über sie erhalten. Nachdem er alle seine Fragen beantwortet hatte und eine kurze Pause verstrichen war, sagte André leise: »Als ich mich mit General Clinton unten in Charleston aufhielt, wurde mir auch das Vergnügen zuteil, einen alten Freund von Ihnen kennenzulernen. Grey Albion.«

»Grey Albion?« James starrte ihn an, und um ein Haar wäre ihm herausgerutscht, dass es ihm gewisse Schwierigkeiten bereiten könnte, Albion noch als einen Freund zu betrachten. Doch er besann sich rasch auf seine Manieren und sagte höflich, dass er in der Tat gern an die Zeit zurückdenke, die er in London im albionschen Haus verbrachte.

»In Charleston erfuhr ich von Albions tiefer Zuneigung zu Ihrer Schwester«, fuhr André fort. »Und es war bezaubernd, von ihr zu hören, dass seine Wertschätzung erwidert wird.«

»Oh«, sagte James.

»Wollen wir hoffen«, sagte André, »dass diese zwei reizenden jungen Leute, wenn dieser unselige Krieg erst einmal, so oder so, geendet hat, das gemeinsame Glück finden werden, das sie ersehnen.« Er schwieg eine Weile. »Vielleicht«, sagte er mit einem Achselzucken, »werde ich es von oben miterleben können.«

James sagte nichts. Er schaute zu Boden, dachte kurz nach und fragte dann, nachdem er wieder eine verbindliche Miene hatte: »Glauben Sie, dass Grey, sollten sie tatsächlich heiraten, beabsichtigt, nach London zurückzukehren?«

»Unbedingt. Die Familie lebt dort meines Wissens in sehr behaglichen Verhältnissen.«

»So ist es«, sagte James und stand auf.

»Etwas könnten Sie doch für mich tun, mein Freund«, sagte André jetzt. »Ich habe den General bereits darum gebeten, aber wenn Sie irgendeinen Einfluss bei ihm haben: würden Sie so liebenswürdig sein, mein Gesuch zu befürworten. Ein Spion wird wie ein Verbrecher gehenkt. Es wäre sehr freundlich, wenn er mir gestattete, wie ein Gentleman erschossen zu werden.«

*

Im Oktober erhielt John Master einen Brief, in dem Grey Albion ihm mitteilte, die Armee rücke nach Norden vor. Offenbar glaubte Cornwallis, er könne die ganze Ostküste aufrollen. John Master war da weniger optimistisch.

»Clinton ist besorgt«, erklärte er Abigail. »Er sagt, Cornwallis sei kein schlechter Kommandant – energisch und sehr angriffslustig, aber das ist gleichzeitig auch seine Schwachstelle. Anders als Washington hat Cornwallis nie gelernt, sich in Geduld zu üben. Nach seinen jüngsten Siegen ist er der Held der Stunde, und mit seinen ganzen aristokratischen Verbindungen verhandelt er direkt mit dem Kabinett und glaubt, er könne sich alles erlauben. Clinton ist jetzt gezwungen, Truppen zu seiner Unterstützung zu entsenden, aber ich fürchte, Cornwallis wird sich noch einmal übernehmen.«

Er sprach es nicht aus, aber Abigail verstand, was ihr Vater andeutete.

»Du meinst, dass Albion in größerer Gefahr schweben könnte, als er glaubt, Papa.«

»Ach, ihm wird schon nichts passieren, da bin ich mir sicher«, antwortete ihr Vater.

Gegen Ende des Jahres sah sich Clinton gezwungen, noch mehr Truppen zu Cornwallis’ Entlastung zu entsenden. Er vertraute sie dem erfahrenen Kommando seines neuen Gefolgsmanns an, des Verräters Benedict Arnold.

*

James Master wohnte Andrés Hinrichtung nicht bei. Dem Ersuchen um ein Erschießungspeloton war nicht stattgegeben worden, wohl aber hatte man dem Schweizer erlaubt, sich die Schlinge selbst um den Hals zu legen, und er hatte dies so fachmännisch erledigt, dass, als der Wagen weggezogen wurde, der Tod fast augenblicklich eintrat.

Allerdings dachte James in den folgenden Monaten ständig über das nach, was André ihm über Abigail erzählt hatte. Wäre es ihm möglich gewesen, seine Schwester zu besuchen, hätte er sie wegen der Angelegenheit sofort zur Rede gestellt. Aber er konnte nichts tun, außer sich in die Stadt schmuggeln zu lassen – was Washington ihm mit der größten Entschiedenheit untersagen würde. Er fing an, einen Brief an seinen Vater zu schreiben, legte ihn aber aus verschiedenen Gründen beiseite. Erstens bestand kein Zweifel daran, dass Grey Albion nicht in New York war, weswegen sich die Romanze fürs Erste kaum weiterentwickeln würde. Außerdem war es nicht gerade ein Thema, das er gern einem Brief anvertraute, der ja schließlich immer in die falschen Hände geraten konnte. Vor allem aber verletzte es ihn tief, dass Abigail gegen seine Wünsche handelte und dass weder sie noch ihr Vater es für nötig zu halten schienen, ihn von der Sache in Kenntnis zu setzen. Und deswegen versank er in dumpfes Brüten.

Und weiß der Himmel, während des folgenden Winters hatte er jede Menge Zeit dazu!

Washington bezog sein Winterquartier wieder in Morristown. Seine Truppen verteilte er dieses Mal aber auf verschiedene Orte in der Hoffnung, sie – und die Pferde – dadurch besser versorgen zu können. Der Winter war nicht so streng wie der vorausgegangene, trotzdem brachte er viel Not. Das vom Kongress ausgegebene kontinentale Papiergeld war mittlerweile so gut wie wertlos und seine Kaufkraft auf ein Dreitausendstel gesunken. Die Soldaten sollten eigentlich von der Provinz bezahlt werden, aus der sie jeweils kamen, aber die aus Pennsylvania zum Beispiel hatten seit drei Jahren keinen Sold mehr erhalten. Auf die Meldung hin, dass eine große Zahl von ihnen kurz vor der Meuterei stand, ließ Clinton durch Boten bekannt geben, dass er jedem Überläufer den ihm zustehenden Sold in voller Höhe auszahlen würde, aber so wütend sie auch waren, wiesen die Pennsylvanier diesen Bestechungsversuch empört zurück, und zum Glück konnte Pennsylvania zu guter Letzt doch bezahlen.

Es gab auch weitere Proteste, aber trotz allem überstanden die patriotischen Streitkräfte den Winter mehr oder weniger unbeschadet.

Dennoch war klar, dass die patriotische Sache kurz vor dem Zusammenbruch stand. Washington hatte zwar den abgebrühten Nathanael Greene nach Süden gesandt, damit er das, was dort von der Patriotenarmee noch übrig war, sammelte, aber er wusste selbst, wie dürftig diese Truppenreste waren. Feste Burg der Stärke, die er war, vertraute er James dennoch an: »Wenn sich die Franzosen uns diesen Sommer nicht zu einer Großoffensive anschließen, entweder im Norden oder im Süden, dann weiß ich nicht, wie wir weitermachen sollen.« Und wenn die patriotische Sache zusammenbrechen sollte, waren die Folgen unausdenkbar.

Vorderhand gab es wenig zu tun. Und so dachte James all die langen trübseligen Monate lang über Albion und seine Schwester nach. Nicht genug, dass die Welt um ihn herum trostlos und von schrecklichen Gefahren erfüllt war, wurde er in seiner Vorstellung nun auch noch von Phantomen belagert. Er fühlte sich ohnmächtig, machtlos und von seiner Familie verlassen, und Erinnerungen an seine gescheiterte Ehe mit Vanessa suchten ihn heim, Bilder von englischer Arroganz, Kälte und Grausamkeit drängten sich in sein Bewusstsein. Manchmal kam ihm der – zugegebenermaßen ungerechte Gedanke –, dass sich Albion und Abigail bewusst unaufrichtig verhielten, und dann überfiel ihn eine besinnungslose Wut. Er unterstellte Albion, seine Schwester entfuhren, sie aus dem Schoß seiner Familie reißen und in ein Land bringen zu wollen, das ihm, James, längst verhasst war. Ja, dachte er sogar, wenn ich den Krieg nicht überleben sollte, werden sie und mein Vater sogar den kleinen Weston mit nach England nehmen!

Hinter all diesen Wahnvorstellungen, mit denen er sich selbst quälte, verbarg sich eine tiefe Überzeugung, ein leidenschaftliches Identitätsgefühl, das er vor dem Krieg noch nicht empfunden hatte. Abigail und Weston, seine geliebte Familie, durften nicht englisch werden. Niemals. Er konnte die Vorstellung einfach nicht ertragen. Sie waren keine Engländer, sie waren Amerikaner.

Im Frühling sickerten Neuigkeiten aus dem Süden herauf. Die Patrioten hatten Charles Cornwallis angegriffen und ihm Verluste beigebracht. Sogar der gefürchtete »Schlächter« Banastre Tarleton hatte in einem Scharmützel gründlich Prügel bezogen. Aber Cornwallis drang mit Benedict Arnold weiter in Virginia vor. Richmond war gefallen. Und jetzt hatte Arnold einen Stützpunkt an der Küste eingerichtet.

Wie es für ihn typisch war, hatte Washington, ohne die Ursache zu wissen, erkannt, dass James etwas auf dem Herzen hatte. Und so ließ er ihn eines Tages zu sich rufen.

»Wir können nicht zulassen, dass Cornwallis und Arnold sich ungehindert in Virginia breitmachen«, erklärte der General. »Deswegen schicke ich dreitausend Mann hinunter – vielleicht können wir ja etwas tun. Das Kommando übergebe ich La Fayette, weil ich ihm vertraue. Und ich fände es begrüßenswert, Master, wenn Sie sich ihm anschließen würden.«

*

Der Mai und der Juni des Jahres 1781 verstrichen. Das Wetter war warm, und in New York herrschte zurzeit Ruhe. Man wusste, dass La Fayette nach Süden marschiert war, aber die meisten glaubten trotzdem, dass Washington, wenn er nur genügend französische Unterstützung erhielt, bald etwas im Norden unternehmen würde.

Niemand hatte etwas von James gehört, und so wusste Abigail nicht, ob er noch in der Nähe war oder irgendwo in der Ferne. Aber aus irgendeinem Grund befiel sie jetzt eine schleichende Angst, die nicht wieder verschwinden wollte. Im Gegenteil, wie die Wochen vergingen, wurde diese unbestimmte böse Ahnung nur noch intensiver. Ihre Befürchtungen auszusprechen, da war sie sich sicher, hätte nur bedeutet, die Schicksalsgöttinnen dazu aufzufordern, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Die einzige Möglichkeit war, sie für sich zu behalten.

»Ich war gerade bei Clinton«, erklärte ihr Vater eines Nachmittags. »Er ist davon überzeugt, dass Washington beabsichtigt, New York anzugreifen. Er möchte Cornwallis’ Hauptstreitmacht zurückrufen, aber London ist Feuer und Flamme für Cornwallis’ verfluchtes Virginia-Abenteuer und will nichts davon wissen.« Er zuckte die Schultern. »Cornwallis liefert sich Gefechte mit Nathanael Greene und gewinnt, aber jedes Mal verliert er Männer, und Greene formiert seine Truppen neu und greift ihn wieder an. Unsere Kommandeure rechnen noch immer mit einer großen loyalistischen Erhebung, aber sie bleibt aus, und patriotische Partisanen führen Attacken gegen jeden Außenposten. Cornwallis gräbt sich ein. Clinton hat ihm befohlen, einen Flottenstützpunkt einzurichten und ihm Truppen heraufzuschicken, Cornwallis behauptet zwar, er sei dabei, in Yorktown den Stützpunkt zu bauen, aber bislang hat sich bei Clinton noch kein einziger Mann blicken lassen.«

Im Hochsommer kam die Nachricht, die George Washington ersehnt und die Clinton befürchtet hatte. Aus Frankreich war eine neue Flotte, unter Admiral de Grasse, unterwegs. Bald tauchte sie am Horizont auf. Bereits im Juli war Rochambeau mit seinen fünftausend französischen Soldaten aus Rhode Island abgerückt und hatte sich mit Washington in White Plains vereinigt, unmittelbar nördlich der Stadt. Washington stellte jetzt seine Truppen immer näher und näher auf. Britische Kundschafter meldeten: »Wir haben die Amerikaner gesehen. Sie könnten in wenigen Stunden hier sein.« In der Stadt waren die Straßen voll von exerzierenden Soldaten. Die nördliche Palisade wurde gerade verstärkt. Weston war ganz aufgeregt.

»Wird’s eine Schlacht geben?«, fragte er.

»Ich glaube nicht«, log Abigail.

»Wird mein Vater kommen und uns beschützen?«

»General Clinton hat alle Soldaten, die wir brauchen.«

»Trotzdem wär’s schön, wenn Vater käme.«

Doch seltsamerweise tat sich nichts. Die langen Augusttage vergingen. In der Stadt herrschte eine angespannte Stimmung, aber noch immer unternahmen die französischen und amerikanischen Alliierten nichts. Sie schienen auf etwas zu warten.

Und dann, gegen Ende des Monats, rückten sie plötzlich ab. Die französischen Einheiten, das Hauptkontingent von Washingtons Armee, die große französische Flotte, sie alle brachen gleichzeitig auf. Offensichtlich hatte es eine Planänderung gegeben.

»Vielleicht sind sie zu dem Schluss gekommen, dass New York zu schwer einzunehmen ist«, mutmaßte Abigail. Aber ihr Vater schüttelte den Kopf.

»Es gibt nur eine Erklärung«, sagte er. »Sie glauben, sie können Cornwallis einkesseln.«

*

Doch das Schicksal des britischen Empires hing nicht vom Heer ab. Es war die glorreiche Marine, die die Meere beherrschte und die Truppen in die Einsatzgebiete transportierte und sie, wenn nötig, da wieder herausholte.

Ende August fuhren ein Dutzend Schiffe in den Hafen von New York ein. Admiral Rodney, ein erstklassiger Befehlshaber, hatte das Kommando. »Er hat lediglich zwölf Schiffe mitgebracht«, beklagte sich Master. »Wir bräuchten die ganze Flotte.«

Sobald er von der Cornwallis drohenden Gefahr erfuhr, gliederte Rodney zwölf New Yorker Kriegsschiffe seinem eigenen Verband ein und nahm unverzüglich Kurs auf die Chesapeake Bay. Aber schon kurz darauf tauchten die Segel wieder in der Bucht von New York auf, und die Schiffe schleppten sich angeschlagen in den Hafen.

»Sie waren zu wenige, Abigail. De Grasse hat sie abgewehrt«, sagte ihr Vater. »Rodney ist bereit, es noch einmal zu versuchen, doch zuerst müssen die Schiffe in die Werft.«

Inzwischen war vom französischen Flottenstützpunkt ein Geschwader herbeigeeilt und wartete draußen in der Bucht darauf zuzuschlagen.

Die Reparaturarbeiten kamen nur langsam voran, denn die Schäden an den britischen Schiffen waren beträchtlich.

»Cornwallis hat sich bei Clinton gemeldet«, berichtete Master. »Offenbar ist er wirklich eingekesselt worden, und er kommt da allein nicht wieder heraus.«

Aber die Schiffsbauer brauchten ihre Zeit, und es wurde Mitte Oktober, ehe die Flotte wieder in See stechen konnte.

*

James Master starrte auf Yorktown. Es war nur eine kleine Siedlung mit bescheidenen Kaianlagen am Ufer des York River. Jenseits des Flusses, auf Gloucester Point, befand sich ein viel kleineres britisches Feldlager. Die französischen und die patriotischen Truppen hatten Cornwallis in einem großen Halbkreis eingeschlossen. Mit mehr Männern zu seiner Verfügung hätte Cornwallis vielleicht vier vorgeschobene Redouten halten können, die seine Linien beherrschten. Aber er hatte sich ausgerechnet, dass seine Kräfte dafür auf die Dauer nicht reichen würden, und so befanden sich die Schanzen schon in der Hand der Alliierten.

Und Alliierte waren sie wirklich. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sich der französische General Rochambeau sofort und mit vollendeter Höflichkeit unter Washingtons Oberbefehl gestellt, der wiederum seinerseits jede Entscheidung mit ihm gemeinsam traf. Die Franzosen in ihren eleganten weißen Uniformen bildeten die linke Seite des Halbkreises, Washingtons Kontinentaltruppen trugen blaue Jacken, wenn sie welche hatten, und die Milizsoldaten waren in Räuberzivil. Ohne Verstärkung aus dem Norden umfasste Cornwallis’ aus rotröckigen Briten und preußischblauen Hessen bestehende Südarmee jetzt sechstausend Mann. Die Alliierten verfügten über sechzehntausend.

Die Belagerung begann Ende September und dauerte nun zwei Wochen. Fünf Tage zuvor hatte Washington die erste Kanone eigenhändig abgefeuert und damit den Startschuss für das Bombardement gegeben, das unablässig und effektiv fortgesetzt wurde und die Briten langsam in Grund und Boden schoss, aber noch immer über weite Distanz. Jetzt war die Zeit gekommen, die Linien vorzuverlegen und die Geschütze näher an den Feind zu bringen. Dazu war es nötig, die Redouten der inneren Linie zu erstürmen.

Washington hatte einen ziemlich hinterhältigen Plan ausgearbeitet. Das übliche Bombardement dauerte schon den ganzen Tag an; abends um halb sieben sollte dann eine französische Kompanie ein Ablenkungsmanöver gegen eine der Festungsschanzen im Westen führen und kurz darauf die Armee scheinbar einen breit gefächerten Angriff auf die Verteidigungslinien von Yorktown beginnen. Erst wenn der Feind gründlich aufgeschreckt und verwirrt war, würde der eigentliche Angriff losgehen.

Doppelangriff, um genau zu sein. Zwei Kompanien, jede vierhundert Mann stark, sollten die an der Ostseite nahe am Fluss gelegenen Redouten Nummer neun und zehn erstürmen, die Franzosen Festungsschanze neun, die Patrioten Nummer zehn. Der Angriff würde von Alexander Hamilton angeführt werden, und James Master sollte ihn, mit La Fayettes Erlaubnis, begleiten.

James konnte sich nicht erinnern, jemals aufgeregter gewesen zu sein. Der Angriff würde viele Opfer fordern. Die Männer hatten ihre Bajonette aufgepflanzt, viele trugen außerdem Äxte, mit denen sie Breschen in die Palisaden der Redouten schlagen sollten.

Der Abend nahte, aber es war noch recht hell. James sah, wie am entgegengesetzten Ende des Schlachtfeldes das französische Ablenkungsmanöver begann. Er betrachtete die Gesichter der Männer. Das Warten mochte beklemmend sein, doch sobald der Moment zum Vorwärtsstürmen kam, würde alles andere vergessen sein. Ihnen blieben nur noch wenige Minuten, bis es losging. Er spürte, wie ihm das Blut durch die Adern rauschte.

Dann begannen die Truppen auf ganzer Front vorzurücken. Was für ein furchterregender Anblick musste das für die zusammengeschossenen britischen Linien sein! Er wartete auf das Signal. Die Minuten schienen sich ewig hinzuziehen. In der Hand hielt er den Degen. Außerdem führte er zwei geladene Pistolen mit sich. Er wartete.

Endlich ertönte das Signal.

Sie stürmten los. Es war nicht weit bis zur Redoute, nur knapp hundertfünfzig Meter. Wie seltsam. Sie jagten dahin, und trotzdem schien sich alles ganz langsam zu bewegen. Die britischen Verteidiger hatten sie gesehen. Schüsse knallten, und er hörte eine Musketenkugel an seinem Kopf vorbeipfeifen, achtete aber kaum darauf. Die hohen Erdwälle der Redoute ragten jetzt vor ihm auf. Sie stürmten die äußeren Verteidigungsanlagen, die Männer hackten mit Äxten auf die Palisade ein und brachen durch. Sie überwanden einen breiten Graben und machten sich an die Eroberung der Schanze. Er sah eine britische Kappe vor sich, rannte darauf zu, bereit den Mann niederzustechen. Doch ein Soldat kam ihm zuvor und stieß mit seinem Bajonett zu.

Als er die Brustwehr überwand, wimmelte es überall nur so von Rotröcken. Sie wichen zurück und versuchten dabei, eine Salve abzugeben. Jetzt kam es auf Schnelligkeit an. Ohne weiter nachzudenken, stürmte er, drei oder vier Mann an seiner Seite, nach vorn. Ein Rotrock nahm gerade sein Gewehr in Anschlag, als James ihm den Degen mit aller Kraft in die Magengrube rannte. Er spürte, wie der Stahl durch den dicken Stoff der Uniform drang und dann gegen die Wirbelsäule stieß. Noch ehe der Rotrock zu Boden fiel, stemmte er ihm einen Fuß gegen den Leib und riss den Degen wieder heraus.

Die nächsten Momente waren so wirr, dass er kaum wusste, was er tat. Die Redoute war ein einziges Gewühl von Leibern, und die Angreifer schienen die Rotröcke allein durch ihre schiere Masse zurückzudrängen. Irgendwie stand er plötzlich neben einem Zelt, kämpfte sich darum herum, sah einen Rotrock vor sich und wehrte dessen Bajonettangriff ab, während einer seiner Männer den Rotrock aufspießte. Seltsamerweise schien das Zelt wie eine magische Barriere unberührt aus dem Tohuwabohu aufzuragen. Die Zelttür stand offen. Ein britischer Offizier, der offensichtlich gerade verwundet worden war, hatte sich dort hineingeschleppt und lag auf dem Boden. Sein Bein blutete. Seine Kopfbedeckung war heruntergerutscht, und James sah eine Masse von zerzaustem Haar. Er zog die Pistole, und der Offizier wandte sich zu ihm, sichtlich auf den Tod gefasst.

Grey Albion. Er starrte James erstaunt an, aber er lächelte nicht. Es war schließlich Krieg.

»Tja, James«, sagte er gelassen, »wenn mich schon jemand töten soll, dann wärst du mir am liebsten.«

James schwieg kurz. »Wenn du dich ergibst«, sagte er kalt, »bist du mein Gefangener. Wenn nicht, schieße ich. So lauten die Regeln.«

Albion sah sich rasch um. Das Kampfgetümmel schien sich mit dem Rückzug der Briten bereits vom Zelt entfernt zu haben. Von dieser Seite war also keine Hilfe zu erwarten. Sein Degen lag zwar neben ihm auf dem Boden, aber sein Bein war verwundet und James bewaffnet. Wenn nicht James’ Pistole versagte, blieb ihm wohl keine andere Wahl. Er seufzte.

Dann sprach James wieder. »Noch etwas anderes. Du sollst meine Schwester in Ruhe lassen. Jede weitere Korrespondenz mit ihr hat zu unterbleiben, und du darfst sie nie wiedersehen. Hast du verstanden?«

»Ich liebe sie, James.«

»Wähle.«

»Wenn ich mich weigere?«

»Schieße ich. Keiner wird je etwas davon erfahren.«

»So spricht kaum ein Gentleman.«

»Nein.« James richtete die Pistole auf seinen Kopf. »Wähle. Ich brauche dein Wort.«

Albion zögerte. »Wie du willst«, sagte er endlich. »Du hast mein Wort.«

*

Nachdem die Redouten gestürmt worden waren, konnten die Patrioten Cornwallis’ Lager aus kurzer Distanz unter Beschuss nehmen. Zwei Tage später versuchte der britische General auszubrechen und seine Truppen über den Fluss zu führen, aber stürmisches Wetter machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Drei Tage danach, am 19. Oktober, blieb ihm keine andere Wahl, und er ergab sich. Als seine Truppen abmarschierten, spielten sie das Tanzstück Derry Down.

*

Am 19. November 1781 lief ein Schiff aus Virginia in New York ein. An Bord war kein Geringerer als Lord Cornwallis. Während seine Truppen auf Transportschiffen festgehalten wurden, hatte der General für sich eine Freilassung auf Ehrenwort ausgehandelt, um sich in London rechtfertigen zu können.

Solange er auf ein Schiff nach England wartete, zog er sich in ein Haus in der Stadt zurück und beschäftigte sich mit seiner Korrespondenz. Er war gewiss nicht nach New York gekommen, um das gesellschaftliche Leben zu genießen. Wie man hörte, waren die Beziehungen zwischen ihm und General Clinton eher angespannt. Wenn Clinton der Ansicht war, Cornwallis habe unüberlegt gehandelt, so konnte Cornwallis dagegen ins Feld führen, dass er Anweisungen aus London befolgte und Clinton ihm dabei zu wenig Unterstützung bot. Im Gefolge des Desasters bereiteten beide Männer ihre Verteidigung vor.

Das Schiff hatte auch einen Brief von James gebracht, der vor allem lauter Neuigkeiten enthielt. Offenbar spielte George Washington eine Weile mit dem Gedanken, dem Sieg von Yorktown einen Angriff auf New York folgen zu lassen, der vielleicht das sofortige Ende des Krieges bedeutet hätte. Doch Admiral de Grasse konnte es nicht erwarten, Segel zu setzen und den Briten in der Karibik weiteren Schaden zuzufügen. »Also«, schrieb James, »werde ich wohl noch ein paar Wochen lang vor den Toren New Yorks sitzen und mich damit begnügen müssen, an mein Zuhause und meine liebe Familie zu denken.« Dennoch schien er fest an ein baldiges Ende der Schlacht zu glauben.

Er lieferte einen Bericht der Schlacht um Yorktown und des Sturms auf die Redouten. Den nächsten Teil des Briefes reichte John Master wortlos an seine Tochter weiter.

 

Und jetzt muss ich euch etwas Trauriges mitteilen. Als wir die Redoute stürmten, leisteten die Briten tapfer Widerstand und keiner so tapfer wie ein bestimmter Offizier, den ich erst gegen Ende des Gefechts, als er fiel, als Grey Albion erkannte. Er wurde nicht getötet, allerdings schwer verwundet, und wir brachten ihn, zusammen mit den Gefangenen, die wir gemacht hatten, zurück zu unseren Linien. Dort wurde er gut versorgt. Betrüblicherweise gab sein Zustand keinen Grund zur Hoffnung auf Genesung. Ich bin gerade ins Lager zurückgekehrt und musste zu meinem großen Kummer erfahren, dass er vor zwei Tagen gestorben ist.

 

Abigail las den Bericht noch zweimal durch, dann hastete sie aus dem Zimmer.

*

Anfang des Jahres 1782 kehrte in New York wieder Ruhe ein. Cornwallis war in London. General Clinton fürchtete, dass eine Massenerhebung amerikanischer Milizen die Stadt überrennen würde, aber der Winter wich dem Frühling, und die Patrioten schienen abzuwarten. Doch ob James mit seiner Annahme eines baldigen Kriegsendes recht hatte oder ob London eine neue, kühne Initiative beschließen würde, stand in den Sternen.

»Wir werden eben abwarten müssen, was der König zu entscheiden geruht«, sagte der alte Master müde.

Beziehungsweise, wie sich herausstellte, das Parlament.

Bei der letzten Wahl hatte König Georg III., trotz des starken Widerstands vieler Abgeordneter, die mit dem Kriegsverlauf unzufrieden waren, es geschafft, sich mithilfe der üblichen Maßnahmen – Protektion, Ämtervergabe und schlichter, offener Bestechung – eine solide Mehrheit zu sichern, was ihn hunderttausend Pfund kostete.

Doch selbst in den bestorganisierten gesetzlichen Körperschaften kommt irgendwann der Punkt, da man Wählerstimmen nicht mehr kaufen kann. Und als das Parlament erfuhr, dass Yorktown verloren und Cornwallis’ gesamte Armee gefangen genommen worden war, zerbröckelte die Majorität des Königs. Sogar Lord North, an sich ein getreuer Paladin seines königlichen Bruders, warf das Handtuch. Der Ministerrat wurde gestürzt. Die Opposition kam an die Macht.

In diesem Frühling entsandten die Patrioten vier kluge Männer – Ben Franklin, John Jay, John Adams und Henry Laurens – nach Paris zu den Friedensverhandlungen mit Frankreich, Spanien, den Niederlanden und Großbritannien.

Für Abigail war es eine traurige Zeit. Sie dachte oft an Albion. Zum Glück konnte sie sich mit Weston beschäftigen – ein wahrer Segen –, und ihr Vater bemühte sich, Wege zu finden, um sie zu zerstreuen. General Clinton kehrte nach London zurück, aber sein Nachfolger war ein ebenfalls anständiger Mann, und das Leben in der britischen Garnison ging mehr oder weniger unverändert weiter. Immer noch waren junge Offiziere, besonders von der Marine, in der Stadt, und ihr Vater erklärte Abigail, dass es unhöflich sei, nicht an deren gelegentlichen Festen teilzunehmen. Doch sonderlich viel konnte sie diesen Geselligkeiten nicht abgewinnen.

Ab und an erregten die neuen Bekanntschaften allerdings ihre Neugier. Einer der Söhne des Königs etwa, kaum mehr als ein Junge, diente als Fähnrich zur See auf einem der in New York stationierten Schiffe. Er war ein angenehmer, eifriger junger Bursche, und sie beobachtete ihn mit einem gewissen Interesse. Aber er war für sie schwerlich ein ernst zu nehmender Gesellschafter. Eher ihrem Geschmack entsprach ein frischer Marineoffizier, der, obgleich nur wenige Jahre älter als sie und oft an Seekrankheit leidend, bereits Kapitän war und dessen Leistungen – nicht weniger als seine gesellschaftlichen Verbindungen – allen Grund zur Hoffnung auf eine steile Karriere gaben. Hätte sie nicht um Albion getrauert, wären ihr die Aufmerksamkeiten von Captain Horatio Nelson möglicherweise nicht unwillkommen gewesen.

Master ermutigte sie, sich mit praktischen Dingen zu beschäftigen. Wie es der Zufall wollte, tat sich in diesem Sommer eine neue, interessante Geschäftsmöglichkeit auf. Denn da immer mehr königstreue Kaufleute zu dem Schluss gelangten, dass sie in New York keine Zukunft mehr hatten, und sich zur Rückkehr in das Mutterland rüsteten, wurden ganze Haushalte aufgelöst. Kaum eine Woche verging, in der ihr Vater sie nicht bat, sich bei einem solchen Ausverkauf für ihn umzusehen. Sie erstand Porzellan und Glaswaren, schöne Möbel, Vorhänge, Teppiche zu so niedrigen Preisen, dass sie fast schon Schuldgefühle bekam. Nachdem sie ihren Vater bei einigen dieser Haushaltsauflösungen beraten hatte, sagte er zu ihr: »Ich lege das jetzt ganz in deine Hände, Abigail. Kauf, was du für richtig hältst, und sieh nur zu, dass die Buchführung stimmt.« Im Laufe der Monate sammelte sie so viele Möbel und Haushaltswaren an, dass sich schon Lagerprobleme ergaben.

Als es Herbst wurde, kehrten viele Patrioten in die Stadt zurück, um ihr Eigentum einzufordern. Wenn sie Soldaten in ihrem Haus vorfanden, fielen häufig harte Worte. Aber Gewalttätigkeiten blieben die Ausnahme. Der Winter verlief ruhig, und im Frühling kam die Nachricht, dass alle Feindseligkeiten zwischen den Briten und der Kontinentalarmee eingestellt worden waren. Während immer mehr Patrioten in die Stadt strömten und Loyalisten ihre Ausreise vorbereiteten, erfuhr Abigail von Dutzenden von Häusern, die von erzürnten Patrioten einfach in Besitz genommen wurden. Gleichzeitig fuhr der neue patriotische Gouverneur von New York munter fort, so viele Loyalisten wie möglich zu enteignen.

Endlich kehrte auch James zurück. Er habe zwar, wie er erklärte, noch Aufgaben für Washington zu erledigen, doch zwei Tage könne er bei ihnen bleiben. Weston war, nach kurzer Verwirrung, selig, und die Familie verbrachte einige glückliche Stunden miteinander. James und sein Vater einigten sich schnell, dass Master das Haus und andere Immobilien in der Stadt auf ihn überschreiben sollte, damit sie nicht als Loyalisteneigentum konfisziert werden konnten. Mithilfe eines Anwalts war die Transaktion schnell erledigt.

Am zweiten Nachmittag promenierten die Masters gerade den Broadway entlang, als sie Charlie White begegneten. Die Begrüßung war durchaus herzlich, aber sie sahen Charlie an, dass er etwas auf dem Herzen hatte.

»Kann ich etwas für dich tun, Charlie?«, erkundigte sich Master.

»Nur wenn du ein Haus übrig hast«, sagte Charlie traurig und beschämt. »Meines ist in Brand gesteckt worden.«

»Komm morgen vorbei«, sagte Master leise, »und wir sehen, ob sich nicht was organisieren lässt.«

Einen Tag später war Charlie Eigentümer eines Hauses in der Maiden Lane. Und Abigail sorgte dafür, dass dieses Haus schön möbliert wurde und bessere Porzellan- und Glaswaren enthielt, als Charlie sich je erträumt hätte.

*

Nachdem Abigail viele Monate lang still um Grey Albion getrauert hatte, begann der Schmerz abzuklingen. Sie musste sich ehrlicherweise eingestehen, dass schließlich viele junge Frauen den Verlust ihres Vaters oder ihres Ehemanns beklagten. Aber erst eine an sich unbedeutende Begebenheit ließ sie erkennen, dass ihre Wunde im Begriff war zu verheilen. Auslöser war ein weiterer Besuch ihres Bruders.

»Ich möchte dir meinen Waffenkameraden von der französischen Armee vorstellen, Comte de Chablis«, sagte James.

Der junge Franzose entpuppte sich als ganz entzückender Mensch. Er wirkte geputzt und geschniegelt, und er schien von New York -ja von der ganzen Welt – vollkommen hingerissen zu sein. Sein Englisch war schlecht, doch man verstand ihn halbwegs. Und ehe der Tag zur Neige ging, musste sie insgeheim zugeben, dass sie von ihm bezaubert war.

»Dein Freund ist so liebenswürdig, dass man ihn sich kaum in einer Schlacht vorstellen kann«, äußerte sie James gegenüber, sobald sie allein waren.

»Das liegt nur an seiner aristokratischen Art«, erwiderte er. »Bei La Fayette ist es genauso. Tatsächlich ist Chablis so kühn wie ein Löwe.«

Sie blieben zwei Tage, und am Ende dieser Frist bedauerte sie es sehr, dass der Comte de Chablis bald nach Frankreich zurückkehren würde.

Während dieses Besuchs lernte sie allerdings auch die Geschäftstüchtigkeit ihres Vaters zu würdigen. Denn nach dem ersten Abendessen, als der Graf sich bereits zurückgezogen hatte und sie zusammen im Salon saßen, holte James ein Blatt Papier hervor und reichte es ihrem Vater. »Ich dachte, das könnte dich interessieren«, sagte er.

Es war ein Brief von George Washington an den Patriotengouverneur von New York.

 

Nach meinen Informationen haben Sie, werter Herr, die Liegenschaften des New Yorker Torys John Master konfisziert. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die fraglichen Immobilien Colonel James Master, der sie ansonsten geerbt hätte und der während all dieser Jahre, von Anfang bis Ende, unserer Sache die wertvollsten Dienste erwiesen hat, überschreiben würden.

 

Sein Vater lächelte. »Du hast es also inzwischen zum Obersten gebracht. Meine Glückwünsche.«

»Danke, Vater. Leider hat mir Washingtons Brief nicht allzu viel genützt. Die Farmen sind schon verkauft worden, und es wird ein Mordsaufwand sein, sie zurückzubekommen.«

»In dem Fall«, sagte sein Vater, »habe ich etwas, das ich dir zeigen möchte.«

Damit stand er auf und kehrte ein paar Minuten später mit einem Stoß von Papieren zurück, den er seinem Sohn aushändigte. James sah die Dokumente überrascht durch.

»Das ist ja Patriotengeld, Vater!«

»Solawechsel deines Kongresses, um genau zu sein. Zum Ausgabewert einlösbar – falls der Kongress jemals zahlungsfähig sein sollte, heißt das. Im Laufe der Jahre haben die Wechsel, wie du sehr gut weißt, immer mehr an Wert verloren. Kurz nach Yorktown habe ich angefangen, sie aufzukaufen – ich hab nur Pennys dafür bezahlt. Du wirst allerdings, wie ich glaube, feststellen, dass der Kongress sie jetzt, als Bezahlung für konfisziertes Loyalistenland, zu ihrem vollen Wert akzeptieren wird.«

»Das ist ja ein kleines Vermögen!«, rief James aus.

»Ich glaube«, sagte Master mit gelassener Zufriedenheit, »wir werden diesen Krieg mit erheblich mehr Grundbesitz beenden, als wir zu Beginn besaßen.« Dann wandte er sich zu Abigail. »Du hast die ganze Zeit Porzellan und Glas erstanden, Abby. Ich habe währenddessen Schulden aufgekauft. Es ist alles das gleiche Spiel. Das Risiko war hoch und der Preis deswegen niedrig. Und dann, natürlich, hatte ich das erforderliche Bargeld.«

Doch diese geschickten Transaktionen waren nicht das Einzige, worüber sich der Kaufmann freute. Am Tag nach der Abreise der beiden jungen Männer führte er ein ruhiges Gespräch mit Abigail.

»Mir ist aufgefallen, Abby, dass der Comte de Chablis dir keineswegs unsympathisch zu sein scheint.«

»War das so offensichtlich, Papa? Ich hoffe, ich habe mich nicht lächerlich gemacht!«

»Ganz und gar nicht. Aber einem Vater fallen solche Dinge nun einmal auf. Und es hat mich sehr gefreut, Abby.«

»Warum, Papa?«

»Es sind bald zwei Jahre, seit Albion gestorben ist«, sagte er sanft. »Du hast um ihn getrauert, und das war auch richtig so. Jetzt aber ist es Zeit, dass du wieder zu leben beginnst.«

Und sie wusste, dass er recht hatte.

*

Im Spätsommer 1783 wurde klar, dass die Briten bald die Stadt verlassen mussten. Doch der britische Kommandant blieb eisern. »Wir rücken erst ab, wenn der letzte Loyalist, der gehen möchte, das Land unversehrt verlassen hat.«

Und sie gingen zu Tausenden. Ein paar von ihnen waren New Yorker, die meisten aber Loyalisten aus anderen Teilen des Landes, die New York nur als Ausreisehafen benutzten. Manche wollten nach England, die Mehrzahl nach Kanada. Die britische Regierung bezahlte ihre Überfahrt.

Und dann gab es noch die ehemaligen Sklaven, die von den Briten freigelassen worden waren. Auch sie verließen die Stadt, wenngleich aus einem anderen Grund: um ihren Eigentümern zu entfliehen. Es verging kaum ein Tag, an dem Abigail nicht von einem Patrioten hörte, der in die Stadt zurückkam und jetzt die Straßen und den Hafen nach seinen ehemaligen Sklaven absuchte.

»Washington lässt diesbezüglich keine Zweifel aufkommen«, erklärte Master. »Er sagt, es sei ihr gutes Recht, ihr Eigentum wieder einzufordern – die Briten hingegen meinen, das sei nicht fair. Nun, die armen Teufel würden ohnehin lieber in Nova Scotia erfrieren, als wieder Sklaven zu sein.«

Über einen ganz bestimmten Sklaven gab es allerdings keine Nachrichten. Es hatte einige Zeit gedauert, aber zu guter Letzt hatte Master doch in Erfahrung gebracht, was aus seiner verschwundenen Prise geworden war. »Das Schiff segelt wieder unter französischer Flagge, unten in der Karibik. Was allerdings aus Solomon geworden ist, konnte ich nicht ermitteln. Er gehört jedenfalls nicht zur gegenwärtigen Besatzung, so viel steht fest.« Hudson versicherte er: »Ich lasse weiter nach ihm suchen. Er könnte verkauft worden sein, aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.« Abigail gegenüber gestand er: »Wenn ich ihn finde, kaufe ich ihn für Hudson zurück und schenke ihm sofort seine Freiheit. Ich fürchte jedoch, die Chancen, ihn zu finden, stehen schlecht.«

*

Es war Anfang Oktober, als ein Brief von Vanessa eintraf. Wie gewohnt war er an John Master adressiert. Darin teilte sie ihm mit, dass sie London verlassen werde, weil dringende Angelegenheiten sie nach Frankreich riefen. Was diese Angelegenheiten seien, behielt sie für sich. Sie bedauerte, außerstande zu sein, nach New York zu kommen, um Weston zu sehen, und äußerte ihre mittlerweile gewohnte Dankbarkeit darüber, ihn in der sicheren Obhut seines Großvaters zu wissen. Aber was Master einen Ausruf des Erstaunens entlockte, war ihr Postskriptum:

 

Wie man in London hört, hat Grey Albion letzte Woche geheiratet.

 

James Master hielt sich in West Point auf. Abigail ließ sich von Hudson dorthin begleiten. Auf einem Wehrgang drückte sie ihrem Bruder den Brief in die Hand.

Als er von der Absicht seiner Frau las, nach Frankreich zu ziehen, blieb sein Gesicht ernst, jedoch ausdruckslos. Nun war er beim Postskriptum, und Abigail beobachtete ihn aufmerksam. Er zuckte zusammen. Dann runzelte er die Stirn und las die Passage noch einmal. Sekundenlang starrte er in die Ferne über den tief unten fließenden Hudson hinweg.

»Man sagte mir, er sei tot«, sagte er tonlos.

»Du hast dich nicht vergewissert?«

»Es war zu viel los. Washington schickte mich noch am selben Tag auf die andere Seite des Flusses, wo sich die übrigen britischen Truppen – Tarletons Männer – ebenfalls ergeben hatten. Ich nahm an …« Er zuckte die Schultern.

»Wenn er überlebt hätte, dann hättest du es doch wohl erfahren?«

»Nicht unbedingt. Ich hatte danach nicht mehr viel mit den Gefangenen zu tun.« Er starrte weiter ins Leere. »Er könnte sich erholt haben und dann, vielleicht auf Ehrenwort, nach London zurückgekehrt sein. Das wäre möglich.« Er runzelte wieder die Stirn. »Sein Vater hat in seinen Briefen nichts davon gesagt?«

»Nein. Das ist eine weitere mysteriöse Sache.«

James schürzte die Lippen. »Vielleicht auf Anweisung seines Sohnes. Wer weiß?«

»Ich finde die ganze Sache äußerst merkwürdig«, sagte sie.

»Ich auch.« James warf ihr einen Blick zu und schaute dann, anscheinend tief in Gedanken versunken, wieder weg. »Im Krieg passieren die seltsamsten Dinge, Abby«, sagte er langsam. »Im Krieg wie in der Liebe weiß keiner von uns, wie er sich verhalten wird. Wir wissen selbst nicht, was wir möglicherweise tun würden.« Er sah sie mit feierlichem Ernst an. »Doch was Grey Albion auch veranlasst haben mag, ohne ein Wort zu gehen – lass uns hoffen, dass er jetzt sein Glück gefunden hat. Wenn ich in diesem Krieg, in dem so viele unerwartete Dinge geschehen sind, etwas gelernt habe, Abby, dann dies, dass es müßig ist zu fragen, warum sie sich so und nicht anders ergeben haben. Es ist Schicksal. Ganz einfach. Ich glaube nicht«, fügte er hinzu, »dass wir ihn je wiedersehen werden.«

»Nein«, sagte sie, »das glaube ich auch nicht.«

*

Am 25. November 1783 ritt General George Washington, an der Spitze von achthundert Soldaten der Kontinentalarmee, vom Dorf Harlem friedlich den alten Indianerpfad entlang in die Stadt New York. Vom Jubel der Menge begleitet zog er langsam die Bowery und Queen Street entlang, bog in die Wall Street ein und von dort weiter auf den Broadway, wo er mit einer überschwänglichen Ansprache empfangen wurde.

Der ganze mastersche Haushalt begab sich auf die Wall Street, um dem Schauspiel beizuwohnen. James folgte Washington lediglich drei Pferdelängen hinter ihm. Wie Abigail spürte, gefiel der Auftritt ihrem Vater durchaus.

»Washington sieht äußerst würdevoll aus«, bemerkte er beifällig.

Doch eine noch größere Befriedigung verschaffte ihm ein Ereignis, das sich später an diesem Nachmittag zutrug. Zu Ehren des Generals wurde in der Fraunces Tavern ein Bankett ausgerichtet, und da das Lokal nur einen Steinwurf von Masters Haus entfernt lag, kam James vorher vorbei, um sich umzukleiden. Gerade als er wieder aufbrach, kündigte das Geklapper von Hufen auf dem Pflaster das Nahen Washingtons und einer Gruppe von Offizieren an, die auf dem Weg zum Empfang waren.

James begrüßte sie unten auf der Straße, während Abigail und Master in der offenen Haustür standen und zuschauten.

Und da geschah es, dass der hochgewachsene, ernst dreinblickende General sich, als er die beiden dort stehen sah, galant vor Abigail verneigte und zu ihrem Vater gewandt – so, wie er es schon einmal getan hatte, diesmal aber mit einem vertraulichen Nicken und sogar dem Anflug eines Lächelns – feierlich an den Hut tippte, was Master mit einer tiefen Verbeugung erwiderte.

Ein Weilchen später, beim Abendessen mit Abby und Weston, hob Master, der Hudson beauftragt hatte, eine Flasche seines besten Rotweins zu köpfen, das Glas zu einem Toast.

»Tja, Abby«, sagte er bemerkenswert vergnügt, »und auch du, Weston, mein lieber Enkel: Die Welt, die ich kannte, ist auf den Kopf gestellt worden. Trinken wir also auf die neue!«