NACH EINBRUCH DER DUNKELHEIT

1977

Als sich der 13. Juli, ein Mittwoch, zum Abend hin neigte, wurde die Atmosphäre, die schon den ganzen Tag heiß und feucht gewesen war, so drückend, als könnte jeden Augenblick ein Gewitter losbrechen. Gorham hegte keine besonderen Erwartungen für diesen Abend – abgesehen von der Freude natürlich, seinen guten Freund Juan zu sehen.

Mit einem großen Regenschirm in der Hand schritt Gorham von seiner Wohnung an der Park Avenue in nördlicher Richtung. Juan sah er nur knapp alle sechs Monate einmal, aber es war jedes Mal ein besonderes Vergnügen. Gegensätze in jeglicher Hinsicht waren sie seit ihrer Zeit an der Columbia miteinander befreundet. Und wenngleich Gorham sich auf seinen großen und buntscheckigen Freundeskreis einiges einbildete, hatte er von jeher das Gefühl gehabt, dass es mit Juan etwas Besonderes war. »Schade, dass mein Vater nicht mehr lebt«, sagte er einmal am Anfang ihrer Bekanntschaft zu Juan. »Du hättest ihm gefallen.« Und aus Gorhams Mund war das ein großes Kompliment.

Jetzt, im Jahr 1977, konnte Gorham Master mit einigem Recht behaupten, dass sein Leben – zumindest bislang – nach Plan verlaufen war. Nach dem Tod seines Vaters hatte er die Wohnung an der Park Avenue bis zum Ende seiner Zeit in Harvard vermietet und, wenn er gelegentlich in die Stadt kam, bei seiner Mutter auf Staten Island gewohnt. Bei der Rekrutierung hatte er Glück gehabt und bei der Auslosung eine niedrige Zahl erwischt. Auf diese Weise kam er um die Einberufung zum Vietnamkrieg herum. Dann schaffte er es, die Columbia Business School so sehr zu beeindrucken, dass er auch ohne die normalerweise erforderliche Berufserfahrung zum Master-Studium zugelassen worden war. Gorham hatte keine Lust zu trödeln; er wollte loslegen. Trotzdem war die Columbia eine wunderbare Erfahrung gewesen. Durch das Wirtschaftsstudium hatte er nicht nur ein solides intellektuelles Bezugssystem für die Planung seines weiteren Lebens erhalten, sondern auch eine Reihe interessanter Freunde gewonnen – darunter eben Juan Campos. Nach Abschluss seines Master-Kurses hatte er sich, noch nicht Mitte zwanzig, in der beneidenswerten Situation befunden, Eigentümer einer unbelasteten Sechszimmerwohnung an der Park Avenue zu sein sowie einer Geldsumme, die auf Jahre hinaus sämtliche Unterhaltskosten decken würde – und das alles, bevor er auch nur seine erste Stelle angetreten hatte.

Dies alles mochte ihn nach den Maßstäben seiner Klasse noch nicht zum reichen Mann machen, aber der Besitz von so viel Geld in so jungen Jahren hätte Gorham, wäre er ein anderer Mensch gewesen, jeden Antrieb zum Arbeiten nehmen und ihn dadurch fürs Leben verderben können. Zum Glück für ihn brannte in ihm ein so starker Ehrgeiz, den Status, den seine Familie einst in der Stadt besessen hatte, wiederherzustellen, dass er sein bescheidenes Vermögen nur als die Voraussetzung für den ersten Schritt betrachtete. Und der bestand darin, einen Job in einer großen Bank zu bekommen. Dann würde er alles Erforderliche unternehmen, um ganz nach oben zu kommen. Sein Vater mochte kein Erfolgsmensch im landläufigen Sinne gewesen sein, aber Gorham würde einer werden. Das war seine Mission.

Aber er vermisste Charlie – sogar noch mehr, als er erwartet hatte.

Charlie war zu früh gestorben; schon sein Todesjahr schien dies zu bestätigen. Trotz seiner vielen Tragödien war 1968 ein außergewöhnliches Jahr gewesen. Da hatte es das Scheitern der Tet-Offensive und die riesigen New Yorker Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg gegeben. Der April hatte die Ermordung Martin Luther Kings und Juni die von Robert Kennedy gebracht. Die denkwürdigen Wahlkämpfe Nixons, Hubert Humphreys und Wallacé um das Präsidentenamt. In Europa hatten die Pariser Studentenunruhen und die Zerschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion den Gang der abendländischen Geschichte verändert. Andy Warhol war angeschossen worden, Jackie Kennedy hatte Aristoteles Onassis geheiratet. So viele einschneidende Ereignisse hatten sich in diesem einen Jahr zugetragen, und Charlie Master hatte nicht die Möglichkeit gehabt, sie mitzuerleben und zu kommentieren. Das erschien irgendwie unnatürlich, falsch.

Dennoch war Gorham in gewisser Hinsicht fast froh, dass sein Vater die letzten Jahre nicht mehr miterlebt hatte. Der deprimierende Müllwerkerstreik von Frühjahr ’68 war nicht etwa der Höhepunkt, sondern erst der Anfang der Probleme New Yorks gewesen. Jahr für Jahr war es mit der großen Stadt, die sein Vater so geliebt hatte, weiter bergabgegangen. Man hatte gewaltige Anstrengungen unternommen, um New York der Welt als aufregende Stadt zu verkaufen. Die Werbefachleute hatten eine wenig bekannte, antiquierte Slang-Bezeichnung für eine Großstadt aufgegriffen und New York »The Big Apple« getauft und mit einem extra entworfenen Logo versehen. Im Central Park fanden dauernd Konzerte oder Theateraufführungen statt. Doch hinter dem ganzen Rummel fiel die Stadt mehr und mehr auseinander. Der Park verwandelte sich allmählich in eine staubige Wüste, in der man sich nach Einbruch der Dunkelheit besser nicht herumtrieb. Die Straßenkriminalität nahm kontinuierlich zu. Und um die armen Viertel wie Harlem und die Süd-Bronx schien sich überhaupt niemand mehr zu kümmern.

Schließlich, 1975, hatte der Big Apple seine Zahlungsunfähigkeit eingestanden. Offenbar waren die Bilanzen jahrelang gefälscht worden. Die Stadt hatte Kredite aufgenommen und als Sicherheit Steuereinnahmen angegeben, die sie gar nicht hatte. Niemand war bereit, New Yorker Schulden zu kaufen, und Präsident Gerald Ford weigerte sich, der Stadt aus der Patsche zu helfen, solange sie nicht selbst Anstrengungen zu Verbesserung ihrer Situation unternehmen. »FORD AN DIE STADT: VER-RECK!«, hatte die Daily News einprägsam getitelt. Nothilfen des Bundes hatten den tatsächlichen Zusammenbruch verhindert, aber der Big Apple befand sich finanziell weiterhin in einer Dauerkrise.

Charlie hätte es das Herz zerrissen, New York so gedemütigt zu sehen. Dennoch wünschte sich Gorham, er könnte ab und an mit seinem Vater reden. Sie mochten oft unterschiedlicher Meinung gewesen sein, aber Charlie war immer gut informiert gewesen und konnte zu den meisten Vorgängen eine eigene Meinung äußern. Seit seinem Tod musste Gorham zusehen, wie er aus eigener Kraft aus der Welt schlau wurde, und wenn er allein zu Haus saß, fühlte er sich manchmal richtig traurig.

Natürlich hatte er alle Verpflichtungen gegenüber seinem Vater erfüllt und den Freunden die kleinen Geschenke überbracht und dafür deren Worte der Liebe und des Lobes für Charlie gehört. Das war eine angenehme Aufgabe gewesen. Das heißt, mit einer Ausnahme allerdings. Sarah Adler hielt sich zu dem Zeitpunkt außer Landes auf, in Europa. Bei dem Geschenk handelte es sich um eine Zeichnung, doch weil sie verpackt war, wusste Gorham nicht, was es genau war. Er hatte sich schon mehrmals vorgenommen, es ihr zu bringen, aber irgendwie kam immer etwas anderes dazwischen, und nach einem Jahr war es ihm ein bisschen peinlich, dass er so viel Zeit hatte verstreichen lassen. Das Geschenk lag noch immer eingepackt in einem Wandschrank. Eines Tages, gelobte er sich, würde er es ihr endlich zustellen. Und das meinte er weiß Gott ernst.

Seine berufliche Laufbahn hatte gut angefangen. Zuallererst galt es zu entscheiden, bei welcher Art von Bank er arbeiten wollte. Seitdem der Glass-Steagall Act von 1933 das Bankwesen infolge des großen Börsencrashs neu geregelt hatte, gab es zwei grundsätzliche Laufbahnen, zwischen denen man als angehender Banker wählen musste: bei einer Geschäftsbank, also einer von der Sorte, der man als Privatperson seine Ersparnisse anvertraute, oder bei einer Investmentbank – oder Merchant Bank, wie man in London dazu sagte –, wo Großkunden ihre Geschäfte tätigten.

In einer Geschäftsbank, hieß es, habe man weniger Risiken, weniger Stress und – in aller Regel – einen sicheren Posten bis zum Renteneintritt; in einer Investmentbank gab es höhere Profite und Gehälter, aber auch verschärfte Risiken. Alles in allem zog es ihn stärker zu der Achtbarkeit und Finanzkraft der großen Geschäftsbanken hin, denn er schätzte die Solidität, die sie repräsentierten. Er bekam eine Stelle bei einer großen Bank angeboten und war damit sehr zufrieden.

Im internen Ausbildungsprogramm schnitt er gut ab und wurde der KFZ-Abteilung zugeteilt. Er verbrachte lange Stunden damit, Tilgungsraten und Zinsen für Kredite auszurechnen, aber er arbeitete schnell und hatte einen Blick fürs Detail, und als er die Chance erhielt, sich mit den Darlehensbedingungen gründlich zu befassen, stellte er fest, dass er eine natürliche Begabung für das Verständnis von Verträgen hatte. Und anders als manch anderer Aristokrat erledigte er nicht nur seine Arbeit, sondern bat um mehr davon.

»Wie ich sehe, fürchten Sie sich nicht vor harter Arbeit«, bemerkte sein Chef nach einer langen Sitzung.

»Anders kommt man auf der Lernkurve nicht voran«, erwiderte Gorham munter.

Und als sein Chef ihn zu Treffen mit Kunden mitnahm, fanden diese ihn sympathisch. Kundenbesprechungen waren in der Automobilbranche eine entspannte Angelegenheit, die auf dem Golfplatz erledigt wurde. Charlie hatte nie einem Country Club angehört, während Gorham schon im Internat Golf spielen lernte und dem Sport seitdem treu geblieben war. Bei diesen Gelegenheiten machte er sich gut, und sein Chef nahm das zur Kenntnis. Gute Beziehungen zu den Kunden waren im Bankgeschäft sehr wichtig.

Zwei Jahre zuvor hatte Gorham es zum Assistant Vice President gebracht. Er war auf dem Weg nach oben. Alles, was er jetzt noch brauchte, war die perfekte Karrieregattin. Er hatte schon mehrere Freundinnen gehabt, aber keine von ihnen schien das Zeug zu einer Mrs Gorham Master zu haben schien.

*

Um halb acht verließ Maggie O’Donnell das Croydon Building, das elegante Mietshaus an der 86th Street, bog in die Madison ein, ging ein paar Blocks in nördlicher Richtung, am Jackson Hole vorbei, wo sie ihre Hamburger kaufte, bis zu dem winzigen aufstrebenden Restaurant, das vergleichsweise preiswerte abendlich wechselnde Menüs anbot. Das am äußersten oberen Ende der Upper East Side gelegene Carnegie-Hill-Viertel beherbergte eine Menge junger Berufstätiger, die froh über die Gelegenheit waren, für wenig Geld in einer amüsanten Umgebung essen zu können, und das halbe Dutzend Tische des kleinen Restaurants war in der Regel voll belegt.

Sie war mit ihrem Bruder verabredet. Falls er denn erscheinen würde.

Das musste man Martin andererseits lassen – falsche Versprechungen hatte er nicht gemacht. Der Buchladen, in dem er arbeitete, veranstaltete an dem Abend eine Lesung. Wenn er benötigt wurde, musste das Essen mit seiner Schwester ins Wasser fallen. Wenn nicht, würden sie sich im Restaurant treffen.

Maggie hatte ihren Tag gut organisiert. Beim Arzt war sie zu einer Routineuntersuchung für halb sechs angemeldet. Die Praxis befand sich an der Park Avenue in den Eighties. Damit blieb ihr genügend Zeit, um anschließend wieder heimzugehen, die Wäsche zu erledigen und zum Restaurant zu gehen. Nach dem Essen würde sie mit dem Taxi in ihr Büro in Midtown fahren und bis Mitternacht an einem Vertrag arbeiten. Maggie war Anwältin bei Branch & Cabell. Und wie alle jungen Mitarbeiter der großen Manhattaner Anwaltskanzleien arbeitete sie sehr hart. Die Anwälte von Branch & Cabell glichen den Unsterblichen. Schlafbedürfnis oder Müdigkeit schienen sie nicht zu kennen. Sie arbeiteten in ihrem holzgetäfelten Hochhaus im Dienste der Mächtigen und verschickten ihre gesalzenen Rechnungen für geleistete Überstunden.

Maggie war mit ihrem Leben zufrieden. Sie war in der City geboren, aber als sie acht war, zogen ihre Eltern in einen Vorort. Ihr Vater Patrick, bei dem sie manchmal den Verdacht hegte, dass er sich mehr für Baseball als für seine Tätigkeit als Versicherungsmakler interessierte, pflegte gern zu sagen, seit die Giants sich nach San Francisco und die Dodgers nach Los Angeles abgesetzt hätten, wüsste er keinen verdammten Grund, warum er noch in der Stadt bleiben sollte. Doch die Wahrheit war, dass ihre Eltern lediglich zu den Hunderttausenden Familien der weißen Mittelschicht gehörten, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren die zunehmend gefährlicheren Straßen von Manhattan gegen die ruhigen Vorstädte eintauschten.

Dass ihr Bruder 1969 wieder in die Stadt gezogen war, hatte ihre Eltern beunruhigt. Noch größere Sorgen machten sie sich, als sie selbst bei Branch & Cabell zu arbeiten anfing. Sie bestanden darauf, sich ihre Wohnung anzusehen, bevor sie den Mietvertrag unterzeichnete, und als sie ihnen sagte, sie habe vor, regelmäßig um das Reservoir zu joggen, das nur Minuten von ihrer Haustür entfernt lag, musste sie ihnen versprechen, das nie allein oder nach Einbruch der Dunkelheit zu tun.

»Ich werde nur joggen, wenn es alle anderen auch tun«, sagte sie ihnen. Und tatsächlich waren in den Sommermonaten, wenn sie um sieben Uhr früh loslief, immer schon Dutzende von Leuten am See, die das Gleiche taten. »Auch Jackie Onassis joggt um das Reservoir«, erklärte sie ihrer Mutter.

Diesen Sommer war eine wirkliche Bedrohung aufgetaucht, wegen der sie sich sorgen konnten.

»Ich wünschte bloß, die Polizei würde endlich diesen entsetzlichen Menschen fassen!«, sagte ihre Mutter jedesmal, wenn sie mit ihr telefonierte. Maggie konnte es ihr nicht verübeln. Der »Son of Sam«, wie er sich nannte, hatte in den letzten Monaten viele in Angst und Schrecken versetzt, junge Frauen erschossen und der Polizei und einem Journalisten seltsame Briefe geschickt, in denen er erklärte, dass er wieder zuschlagen werde. Bislang hatte er seine Delikte in Queens und in der Bronx verübt, aber ihre Mutter an diese Tatsache zu erinnern erwies sich als sinnlos. »Woher weißt du, dass er nicht als Nächstes in Manhattan zuschlagen wird?«, erwiderte sie

Den ganzen Tag über war es unerträglich heiß und stickig gewesen. Sie zog einen leichten Baumwollrock und eine Bluse an und freute sich schon auf einen großen kühlen Drink.

*

Juan Campos stand auf dem Bürgersteig und schaute hinüber zu den guten Wohngegenden. Auch ihm machte das heiße und schwüle Wetter zu schaffen, und jetzt spürte er eine starke elektrische Spannung in der Luft. Er rechnete jeden Augenblick damit, den ersten Donner zu hören.

Er blickte in Richtung Central Park. Seine Freundin Janet wohnte in der West Side, auf der 88th nicht weit von der Amsterdam Avenue. Sie durchquerte gerade den Park, um sich mit ihm zu treffen.

Ein Rettungswagen bog mit heulender Sirene und plärrender Hupe von der Third Avenue um die Ecke und raste an der Nordseite der Straße weiter in Richtung Madison. Auf der East 96th fuhren dauernd lärmende Rettungswagen, weil das Krankenhaus ganz in der Nähe lag.

Juan stand an der Kreuzung von 96th und Park. Die Wohnung, in die er kürzlich eingezogen war, lag hinter der Lexington Avenue, auf der Nordseite. Er hatte einen Untermietvertrag auf ein Jahr, und er hatte keine Ahnung, ob er da länger bleiben würde. Nichts war in seinem Leben bislang sicher gewesen. Eine Konstante gab es aber immerhin: Er wohnte noch immer auf der Nordseite der Linie, die Arm und Reich trennte.

Seine Straße. Es war natürlich eine Querstraße, wie 86th und 72nd, 57th, 42nd, 34th und 23rd. Der Verkehr bewegte sich in beiden Richtungen. Wenn auch jede dieser großen Straßen ihren spezifischen Charakter hatte, war die 96th im Jahr 1977 etwas ganz Besonderes. Unterhalb der 96th Street lagen Upper East und Upper West Side. Oberhalb von ihr war Harlem, wohin sich Leute wie sein Freund Gorham nie verirrten. Doch wenn die meisten Auswärtigen annahmen, Harlem sei heutzutage ein rein schwarzer Stadtteil, so irrten sie sich gewaltig. In Harlem gab es zahlreiche andere Gemeinden, und die mit Abstand größte von ihnen war im südlichen Teil angesiedelt, oberhalb der 96th und östlich der Fifth.

El Barrio, Spanish Harlem. Die Heimat der Puerto-Ricaner.

Juan Campos war Puerto-Ricaner, und er lebte seit seiner Geburt in El Barrio. Als er sieben war, war sein Vater gestorben, und seine Mutter Maria hatte sehr hart arbeiten müssen, meist als Putzfrau, um ihr einziges Kind durchzubringen.

Das Leben im Barrio war hart, aber Maria Campos war eine tatkräftige Frau und stolz auf ihr kulturelles Erbe. Sie kochte für ihr Leben gern die sättigenden, stark gewürzten spanischen, indianisch-karibischen und afrikanischen Gerichte, die die puerto-ricanische Küche ausmachten. Schwarzbohnensuppe, polio con arroz, Geschmortes, mofongo und Frittiertes, Kokosnuss und Kochbanane, Okra und Passionsfrucht – damit war Juan großgeworden. Gelegentlich ging Maria aus und tanzte dann begeistert zu den hämmernden Rhythmen der bomba oder zur lebhaften guaracha. Bei diesen seltenen Gelegenheiten sah Juan seine Mutter wirklich glücklich.

Vor allem aber besaß Maria Campos einen brennenden Ehrgeiz. Sie wusste, dass sich ihr eigenes Leben kaum noch ändern würde, aber für ihren Sohn hatte sie hochfliegende Träume.

»Denk an den großen José Celso Barbosa«, pflegte sie ihm einzuschärfen. Barbosa war ein armer Puerto-Ricaner mit schlechten Augen gewesen, der sich aus der Armut emporgearbeitet hatte. Er war der erste puerto-ricanische Arzt mit amerikanischem Doktortitel geworden und hatte sein Leben als Nationalheld und Wohltäter seiner Landsleute beschlossen. »Du könntest ein Mann wie er werden, Juan«, sagte sie dem kleinen Jungen oft. Barbosa war schon lange tot gewesen, und Juan hätte lieber dem – damals noch – lebenden Nationalhelden, dem Baseballstar Roberto Clemente, nachgeeifert. Aber da er klein von Wuchs und kurzsichtig war, wusste Juan, dass er sich in dieser Hinsicht keine Hoffnungen zu machen brauchte. Trotzdem tat er sein Bestes, um die Gebote seiner Mutter zu befolgen – mit einer Ausnahme.

»Halt dich von deinem Cousin Carlos fern!«, sagte sie ihm ständig. Aber Juan hatte schnell begriffen, dass er, wollte er auf den gewalttätigen Straßen des Barrios überleben, niemanden so dringend brauchte wie seinen großen, starken, gutaussehenden Cousin Carlos.

Jede Straße hatte ihre Gang und jede Gang ihren Anführer. In Juans Siedlung war Carlos’ Wort unter den Jugendlichen Gesetz. Falls ein Junge einen Laden ausrauben oder Drogen oder was auch immer verkaufen wollte, dann wäre er ein Narr gewesen zu versuchen, das ohne Carlos’ Erlaubnis zu tun. Und falls jemand einem Jungen, der unter Carlos’ Schutz stand, auch nur ein Haar krümmen würde, konnte er sich auf eine Tracht Prügel gefasst machen, die er nie wieder vergessen würde.

Wenn Juan auch klein war und nicht allzu gut sah, hatte Gott ihm doch Talente gegeben, die seine Schwächen mehr als wettmachten. Er war lebhaft, er hatte ein gutes Herz, und er war witzig. Und so hatte Carlos nicht lang gebraucht, um zu dem Schluss zu gelangen, dass Juan unter seine Fittiche gehörte. Die Gang adoptierte ihn als eine Art Maskottchen. Wenn seine Mutter wünschte, dass Juan sich in der Schule Mühe gab, dann war das für die Gang okay. Was konnte ein Junge wie er schließlich sonst schon tun? Den Rest seiner Kindheit verlebte Juan völlig unbehelligt.

Und Maria wollte wirklich, dass Juan sich in der Schule anstrengte. Es war ihr glühendster Wunsch. »Du willst ein besseres Leben – sieh zu, dass du was lernst!«, hämmerte sie ihm immer wieder ein. Wenn Juan groß und stark gewesen wäre, hätte er vielleicht nicht wirklich auf sie gehört, aber ein leises Stimmchen in seinem Inneren schien ihm zu sagen, dass sie recht hatte. Also spielte er zwar mit den anderen Jungs auf der Straße, gab allerdings oft vor, müder zu sein, als er tatsächlich war, und ging wieder ins Haus, um zu lernen.

Juan und seine Mutter wohnten in zwei schäbigen Zimmern auf der Lexington Avenue, nicht weit von der 116th Street. Obwohl katholische Schulen hier existierten, besuchte Juan wie die meisten Puerto Ricaner die städtische Schule. Je nachdem, wie sie aussahen, konnte man gewöhnlich erraten, wo die Schüler jeweils wohnten. Die Schwarzen westlich der Park, die Puerto Ricaner zwischen Park und Pleasant und die Italiener, deren Familien in der Regel am längsten in Harlem lebten, östlich der Pleasant Avenue. Außerdem gab es jüdische Schüler und mehrere Lehrer jüdischer Herkunft. Auch Juans Schulfreund, mit dem er viel Zeit verbrachte, war ein Jude. Eins Tages sagte Michael: »Wenn ich hier fertig bin, hoffen meine Eltern, dass ich die Stuyvesant besuchen kann.« Juan wusste nicht, was die Stuyvesant war, also erklärte ihm Michael, die drei besten Highschools der Stadt für Kinder aus öffentlichen Schulen seien Hunter, Bronx Science und eben Stuyvesant unten im Financial District. Schulgeld werde nicht verlangt, sagte Michael, aber die Aufnahmeprüfung sei schwierig und die Konkurrenz knallhart.

Als Juan seiner Mutter von Michaels Highschoolplänen erzählte, kam er nicht auf die Idee, die Information könnte auch ihn etwas angehen. Und so war er erstaunt – und ziemlich verlegen –, als Maria gleich am nächsten Tag in der Schule erschien und einen seiner jüdischen Lehrer fragte, was sie tun müsse, um ihren Sohn ebenfalls auf eine solche Highschool zu schicken.

Der Lehrer machte ein ziemlich überraschtes Gesicht, aber eine Woche später nahm er Juan beiseite und stellte ihm eine Menge Fragen:Wie es ihm auf der Schule gefalle, welche Fächer ihm am meisten Spaß machten und was er sich für seine Zukunft erhoffte. Und da Juan seiner Mutter, die so hart für ihn arbeitete, eine Freude machen wollte, sagte er, er würde wirklich gern auf die Stuyvesant gehen.

Der Lehrer zog ein ziemlich zweifelndes Gesicht, und damals glaubte Juan, das liege daran, dass seine Noten nicht gut genug seien; später begriff er dann, dass der Lehrer skeptisch gewesen war, weil die Stuyvesant keine schwarzen Puerto Ricaner aufzunehmen pflegte. »Um dir auch nur die geringste Hoffnung machen zu können«, erklärte ihm der Lehrer, »brauchst du wenigstens so gute Noten wie dein Freund Michael.«

Nach diesem Gespräch legte sich Juan mit aller Kraft ins Zeug, und tatsächlich schaffte er es auf Michaels Niveau. Er meinte zu spüren, dass manche Lehrer ihm ein bisschen zusätzliche Aufmerksamkeit schenkten und ihn bisweilen hart rannahmen oder ihm mehr Hausaufgaben als den anderen aufbrummten, aber er schätzte, dass sie ihm damit zu helfen versuchten, und so beklagte er sich nicht. Und als es so weit war und sie die Prüfung ablegten, wurden sie beide in der Stuyvesant aufgenommen. Natürlich freute er sich wie ein Schneekönig, seine Mutter indes, als sie die Nachricht hörte, weinte buchstäblich vor Glück.

Und so war Juan Campos auf die Stuyvesant Highschool gekommen. Zum Glück beschloss sein Cousin Carlos, diese seltsame Fügung als eine Art Sieg für die Gang zu werten. Ihr Maskottchen würde eine gute Schulbildung bekommen und vielleicht Rechtsanwalt werden oder Ähnliches und lernen, die Weißen in ihrem eigenen dreckigen Spiel zu schlagen. Solange sie auf der Stuyvesant waren, fuhren er und Michael jeden Morgen und jeden Abend mit derselben U-Bahn. In den Ferien nahm er jeden Job an, den er bekommen konnte – hauptsächlich als Bote für Pizzaservices und Restaurants unten in Carnegie Hill, wo man gute Trinkgelder bekam –, um zu seinem Lebensunterhalt beizutragen.

Doch im letzten Jahr auf der Highschool veränderte sich Juans Leben.

»Vermutlich«, sagte er Jahre später zu Gorham, »war ich bis dahin wirklich ein Kind.«

Eines Abends kam er heim und musste erfahren, dass seine Mutter gestürzt war und sich am Bein verletzt hatte. Am Tag darauf war sie nicht imstande gewesen, zur Arbeit zu gehen. Ein paar Tage lang blieb das so, und Juan pflegte sie jeden Abend nach der Schule. Sie wollte nicht zum Arzt gehen, aber schließlich wurden der Schmerz und die Schwellung in ihrem Knöchel so schlimm, dass sie nachgab. Und da war die Wahrheit herausgekommen.

»Ich glaube, ihr war durchaus klar, dass sie schon die ganze Zeit krank gewesen war, aber sie wollte es nicht wahrhaben.« Als der Arzt Juan erklärte, der Knöchel würde in einem Monat auskuriert sein, aber seine Mutter habe ein schwaches Herz, war Juans weiterer Weg klar gewesen.

Die Elite-Colleges boten spezielle Stipendien für Stuyvesant-Abgänger an, aber das kam für ihn selbstverständlich nicht mehr in Betracht. Das City College an der West 137th Street andererseits kostete nichts und hatte einen guten Ruf. Das konnte er besuchen, ohne von zu Hause ausziehen zu müssen, so dass er sich weiter um seine Mutter kümmern würde. In den folgenden Jahren hatte er tagsüber im City College studiert und nachts und in den Ferien gearbeitet, um sie zu unterstützen. Als Maria nicht einmal mehr imstande gewesen war, die wenigen leichten Jobs, die sie noch behalten hatte, zu erledigen, hatte er sich im College eine Auszeit genommen, um ganztags arbeiten und etwas auf die hohe Kante legen zu können. Es war hart gewesen, aber sie hatten es geschafft.

Dann, während seines letzten Jahres am City College, war sie gestorben. Er wusste, dass sie sich den Tod gewünscht hatte; sie litt dauernd unter Schmerzen und war sehr matt – und sie wollte, dass er frei war.

Bis seine Mutter krank wurde, hatte Juan seiner Umgebung nie allzu viel Aufmerksamkeit gewidmet. Er wusste, dass ihre Wohnung einen frischen Anstrich brauchte und dass das Licht im Treppenhaus nicht funktionierte und dass der Hausbesitzer bloß erklärte, er werde die Sachen in Ordnung bringen, nur um dann doch nichts zu tun. Aber seine Mutter hatte immer darauf beharrt, der Haushalt sei ihre Angelegenheit und er solle sich lieber auf sein Studium konzentrieren. Manchmal hatte er davon geträumt, eines Tages ein schönes Haus zu besitzen, zu heiraten und eine große Familie zu gründen und sich um seine Mutter zu kümmern.

Als Maria dann schwächer wurde und er die Verantwortung übernehmen musste, war sein Leben härter geworden. Er musste die Miete zahlen und Lebensmittel einkaufen. In manchen Wochen reichte das Geld nicht, und bei mehr als einer Gelegenheit sah Juan sich gezwungen, den Besitzer eines Eckladens zu bitten, ihm Lebensmittel auf Kredit zu geben. Der Mann kannte Maria gut, und er war freundlich. Als Juan eines Nachmittags mit ein paar Dollar ankam, die er ihm schuldete, sagte der Mann bloß: »Ist schon okay, Junge. Gib’s mir wieder, wenn du reich bist.«

Schwieriger gestalteten sich da die Verhandlungen mit dem Vermieter. Mr Bonati war ein kleiner, glatzköpfiger Mann mittleren Alters, dem das Haus schon seit vielen Jahren gehörte und der die Mieten persönlich einsammelte. Wenn Juan um Aufschub bitten musste, hatte er Verständnis. »Ich kenne deine Mutter inzwischen sehr lange«, sagte er. »Sie macht mir keine Schwierigkeiten.« Aber wenn Juan ihn auf die gefährliche kaputte Treppe ansprach oder auf den verstopften Abfluss oder auf einen der sonstigen Missstände, die das Leben im Haus zu einer Prüfung machten, hatte Bonati immer irgendeine Ausrede parat und unternahm nichts. Schließlich erkannte Bonati, dass der junge Mann am Ende seiner Geduld war, und ihn beim Arm nahm.

»Hör zu, ich seh dir an, dass du ein gescheiter Junge bist. Du bist höflich, du gehst aufs College. Denk mal nach – kennst du sonst jemanden aus diesem Block, der aufs College geht? Die meisten von ihnen haben nicht mal einen Highschoolabschluss. Also hör zu, was ich dir sage. Deine Mutter zahlt mir wenig für die Wohnung. Weißt du, warum? Weil das Gebäude mietpreisgebunden ist. Deswegen verdiene ich auch nichts daran. Deswegen kann ich es mir nicht leisten, viele Reparaturen durchzuführen. Aber das ist vergleichsweise noch ein gutes Haus. Manche Häuser hier in der Gegend fallen buchstäblich auseinander. Das weißt du selbst.« Mr Bonati deutete in Richtung Nordwesten. »Erinnerst du dich an dieses Haus ein paar Blocks weiter, das vor achtzehn Monaten abgebrannt ist?« Das war ein gewaltiges Feuer gewesen, wie Juan noch allzu gut wusste. »Der Eigentümer des Gebäudes verdiente nichts daran. Also hat er den größten Teil der Isolierungen an den elektrischen Leitungen entfernt, und nachdem das Haus abgebrannt ist, hat er die Versicherungssumme kassiert. Verstehst du, was ich dir sage?«

»Sie meinen, er hat den Brand selbst gelegt?« Entsprechende Gerüchte machten damals die Runde.

»Das habe ich nicht gesagt! Okay?« Bonati warf ihm einen kurzen, harten Blick zu. »Das ist überall im Barrio so, überall in Harlem. Früher gab es hier oben anständige Viertel. Deutsche, Italiener, Iren. Aber jetzt hat sich alles geändert. Der Stadtteil geht vor die Hunde, und keiner schert sich darum. Die Kinder wachsen hier unter entsetzlichen Verhältnissen auf, sie kriegen weder einen Job noch eine Ausbildung. Sie haben keinerlei Aussichten, und das wissen sie auch. Genauso ist es in Chicago und anderen Großstädten. Glaub mir, Harlem ist eine tickende Zeitbombe.«

Ein paar Tage später kamen Männer vorbei und reparierten den Abfluss. Doch darüber hinaus ließ Bonati nichts mehr machen. Also erkundigte sich Juan nach der Möglichkeit, für seine Mutter eine bessere Wohnung in einer der Sozialsiedlungen zu bekommen, ohne etwas zu erreichen.

»Hast du das nicht gewusst, Junge?«, sagte der Mann im Laden an der Ecke. »Die Sozialsiedlungen nehmen mit Vorliebe Weiße und Schwarze auf, aber von Puerto Ricanern wollen die nichts wissen. Aus manchen Stadtteilen würden sie die Puerto Ricaner am liebsten vertreiben.«

Juan wandte sich an einige weiße Wohlfahrtsorganisationen und stellte fest, dass die Leute dort ihn mit nur mühsam verhohlener Verachtung behandelten. Das überraschte ihn zwar nicht, machte ihn jedoch trotzdem wütend – nicht nur seinet- und seiner Mutter wegen, sondern weil Puerto Ricaner im allgemeinen so behandelt wurden. Und da dämmerte es ihm erstmals: Seine Mutter hatte sich für ihn nicht lediglich erträumt, dass er der Armut entrinnen und sich ein gutes Leben und einen Platz in der Welt erarbeiten würde – er sollte mehr als das erreichen. Wenn sie von Barbosa sprach, meinte sie nicht bloß einen beliebigen geachteten Mann, sondern jemanden, der etwas Großes und Wichtiges geleistet hatte, um seinem Volk zu helfen. Und er liebte sie um dieses größeren, edleren Ehrgeizes willen nur umso mehr.

Nach ihrem Tod kehrte Juan, der mittlerweile zu einem schlanken und gut aussehenden jungen Mann herangewachsen war, wieder aufs College zurück. Er bestand sein Examen mit Auszeichnung und wünschte, seine Mutter hätte das noch miterlebt. Und dann schlug er den langen, beschwerlichen Weg ein, den das Schicksal ihm zugedacht hatte.

*

Gorham fand das winzige Restaurant, das Juan ausgesucht hatte, ohne Schwierigkeiten. Er traf als Erster ein und setzte sich, den Rücken zur Wand, an einen kleinen Vierertisch. Fast unmittelbar nach ihm betrat eine attraktive Rothaarige das Lokal und wurde zum Nachbartisch geführt. Sie setzte sich ebenfalls mit dem Rücken zur Wand und wartete auf ihre Verabredung.

Abgesehen davon, dass Gorham sich immer freute, Juan zu sehen, war er jetzt außerdem auf die neue Freundin neugierig, die er mitbringen wollte. Fünf Minuten später kamen sie herein.

Juan sah gut aus. Seit ihrer letzten Begegnung hatte er sich ein hauchdünnes Schnurrbärtchen wachsen lassen, das seinem intelligenten, hübschen Gesicht ein leicht militärisches Aussehen verlieh. Er grüßte Gorham mit einem breiten Grinsen und stellte ihm seine Freundin vor.

Janet Lorayn, stellte Gorham bewundernd fest, war absolut umwerfend. Sie sah aus und bewegte sich wie eine jüngere Version Tina Turners. Sie schenkte Gorham ein warmes Lächeln und nahm, Juan zu ihrer Linken, ihm gegenüber Platz. Die Tische waren so klein und standen so dicht beieinander, dass Juan der Rothaarigen am Nebentisch fast direkt ins Gesicht sah.

Sie wechselten ein paar Begrüßungsworte. Gorham machte Juan Komplimente wegen seines Schnurrbarts, und Juan erklärte, Janet meine, dass er damit wie ein Pirat aussehe. »Sie sagt, dass sie eine Schwäche für Piraten hat«, fügte er noch hinzu.

Die Kellnerin kam, und sie bestellten eine Flasche Wein. Gorham warf einen Blick nach draußen; der Himmel bezog sich allmählich mit dunklen Wolken. Nachdem sie sich Wein eingeschenkt und von der Kellnerin erfahren hatten, welche zwei Menüs zur Auswahl standen, richtete Janet ihre Aufmerksamkeit auf Gorham.

»Und Sie sind also Banker?«, sagte sie.

»Stimmt. Und Sie?«

»Zur Zeit arbeite ich bei einer Literaturagentur. Sehr interessant.«

»Sie hat erst heute die Fernsehrechte an einem neuen Roman verkauft«, teilte ihm Juan stolz mit.

»Glückwunsch! Trinken wir darauf. Mein Vater hat früher auch mal einen Roman geschrieben.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Janet. »Verrazano Narrows. Das war eine große Sache.«

Juan beobachtete die Rothaarige am Nebentisch. Es war unmöglich, dass sie ihr Gespräch nicht mitbekam, aber sie ignorierte sie höflich und schaute von Zeit zu Zeit zur Tür. Als allerdings das berühmte Buch erwähnt wurde, warf sie einen verstohlen neugierigen Blick in Gorhams Richtung.

»Janet überlegt sich, überhaupt ihr Glück beim Fernsehen zu versuchen«, sagte Juan. »Sie hat eine Freundin, die Produktionsassistentin bei der NBC ist.«

Das war eines der Dinge, die Gorham an der Stadt so liebte: Dass es hier lange nach den Zeiten der berühmten Algonquin Round Table, zu der sich die bedeutendsten Literaten trafen und die sein Vater in seiner Jugend noch erlebt hatte, nach wie vor die großen Verlagshäuser gab und ebenso die mächtige New York Times und führende Zeitschriften, von Time bis hin zum New Yorker. Und die großen Fernsehsender hatten sich ebenfalls in Manhattan angesiedelt – alle in Midtown, nur wenige Schritte voneinander entfernt. Aber offenbar hatte Janet im Augenblick keine Lust, über ihre Zukunft beim Fernsehen zu reden.

»Was ich gern wüsste«, sagte sie, »ist, wie ihr beide euch kennengelernt habt.«

»Auf der Columbia«, sagte Gorham. »Das war das Tolle am Wirtschaftsstudium. Da traf man die verschiedensten Leute, von konventionellen Bankertypen wie mich bis hin zu wirklich ungewöhnlichen Burschen wie Juan. Viele meiner damaligen Kommilitonen sind nach dem Studium in gemeinnützige Organisationen eingestiegen -Wohlfahrtsverbände, Krankenhausverwaltung und, und, und.«

Gorham war von Juan tatsächlich sehr beeindruckt gewesen und die Zulassungsstelle der Columbia nicht minder. Damals arbeitete Juan schon für Father Gigante, jenen sozial engagierten Priester und Aktivisten, der den Bedürftigen in der South Bronx half, und ein weiteres Jahr verbrachte er am Multi Service Center, ebenfalls in der South Bronx. Bevor er seine Erfahrungen im Barrio einsetzte, hatte man ihm gesagt, sollte er allerdings versuchen, einen Master in Wirtschaftswissenschaften zu machen, und er war von der Universität nicht nur angenommen worden, sondern bekam auch Stipendien, die sämtliche Kosten des Studiums deckten.

»Die Columbia rechnete sich mit Sicherheit aus, dass Juan es bei seinem Background in den Problemvierteln von New York weit bringen würde«, sagte Gorham. Dann grinste er. »Ich hege für ihn natürlich ehrgeizigere Träume.«

»Erzählen Sie«, sagte Janet.

»Als Erstes wird er den Barrio wiederbeleben, und dazu muss er in die Politik gehen. Dann wird er Bürgermeister von New York – ein zweiter La Guardia – und danach für die Präsidentschaft kandidieren. Mittlerweile bin ich ein Großbanker geworden und werde seinen Wahlkampf finanzieren, und wenn er dann Präsident ist, darf er sich erkenntlich zeigen, indem er mich als Botschafter in eine wirklich schöne Stadt schickt.«

»Klingt toll«, sagte Janet lachend. »Was schwebt Ihnen da so vor?«

»Vielleicht London, oder Paris. Ich würde beides akzeptieren.«

»London«, sagte Juan bestimmt. Er wandte sich zu Janet. »Sein Französisch ist unter aller Sau.«

»Ich bin beeindruckt, Gorham«, sagte Janet. »Sie haben sich schon Ihr ganzes Leben zurechtgelegt.«

»Das Ganze steht und fällt allerdings mit Juan.«

»Hat Juan Sie schon mal in Harlem herumgeführt?«

»Ich habe ihn mehrmals in den Barrio mitgenommen«, sagte Juan. »Er hat mich darum gebeten. Und im Barrio ist es gar nicht so übel – er hat eine Schwäche für unsere Musik entdeckt und für unsere Küche ebenfalls, nicht wahr, Gorham?«

»Stimmt.«

»Aber wenn man etwas wirklich Eindrucksvolles sehen will«, fuhr Juan augenzwinkernd fort, »muss man sich natürlich Gorhams Bleibe anschauen. Er hat so eine richtig tolle Eigentumswohnung, weißt du, an der Park Avenue.«

Doch obwohl er das zu Janet sagte, sah er dabei die Rothaarige aus dem Augenwinkel an. Und genau, wie er beabsichtigt hatte, drehte sie sich um und sah Gorham an.

Draußen donnerte es. Es fing an zu regnen. Juan schaute zur Tür. Da stand ein junges Pärchen, das reinzukommen hoffte, aber die Tische waren alle besetzt. Er sah seine Chance gekommen und lehnte sich zur Rothaarigen hinüber.

»Verzeihung, warten Sie auf jemanden?«

»Ja«, sagte die Rothaarige kurz angebunden. Und dann fügte sie, um nicht unhöflich zu erscheinen, hinzu: »Auf meinen Bruder.«

»Glauben Sie, er kommt noch?«

Juan besaß eine so charmante Art, aufdringlich zu sein, dass die Leute es ihm meistens nicht übel nahmen.

»Vielleicht.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Vielleicht auch nicht.«

»Ich dachte nur«, sagte Juan höflich, »dass, falls Sie sich zu uns setzen, diese armen Leute an der Tür nicht wieder in den Regen hinaus müssten.«

Die Rothaarige maß ihn zuerst mit einem eisigen Blick, schaute dann zum Pärchen an der Tür und ließ sich erweichen.

»Und wenn mein Bruder doch noch kommt?«

»Ich bin sicher«, sagte Juan lächelnd, »wir könnten ihn irgendwie an unseren Tisch quetschen.«

Die Rothaarige schüttelte den Kopf in widerwilliger Belustigung.

»Okay«, gab sie nach, »ich bin Maggie O’Donnell.« Sie stellten sich ebenfalls vor. »Was Sie im Einzelnen tun, weiß ich ja inzwischen – ich meinerseits bin Anwältin.«

Die Mahlzeit verlief sehr angenehm. Sie erfuhren, dass Maggie bei Branch & Cabell arbeitete, und Gorham sagte: »Das bedeutet, dass Sie anschließend direkt wieder ins Büro gehen, habe ich recht?« Und Maggie gestand, dass es tatsächlich so war.

Diese B-&-C-Anwältin war sehr attraktiv, fand Gorham, und er versuchte, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Er erfuhr, dass sie während ihrer Mittagspause an einer Sitzung der Historical Landmarks Commission teilgenommen hatte und dass sie leidenschaftlich darum kämpfte, die architektonischen Schätze der Stadt, wie etwa Grand Central, vor dem unerbittlichen Vordringen der Glaskastenwolkenkratzer zu beschützen. Sein Vater hätte das gutgeheißen – ein Punkt für sie. Aber obwohl Maggie durchaus freundlich war, fiel Gorham auf, dass sie diese Anwaltsmasche draufhatte, Fragen, die sie nicht beantworten wollte, einfach auszuweichen.

Gorham wollte Genaueres darüber wissen, was Juan in letzter Zeit so gemacht hatte, und deshalb erzählte sein Freund, dass er Kontakte zum nahe gelegenen Mount Sinai Hospital geknüpft habe, um die medizinische Versorgung des Barrios zu gewährleisten, und dass er sich bemühte, die dortigen skandalösen Wohnverhältnisse zu verbessern. Er hatte außerdem mit einigen radikalen puerto-ricanischen Aktivisten zusammengearbeitet und sie dazu gebracht, diese Projekte zu unterstützen.

Gorham war beeindruckt. »Das ist großartig, Juan«, sagte er. »Die Idee mit dem Mount Sinai – einfach brillant!«

Auch Maggie hörte aufmerksam zu, obwohl die junge Anwältin etwas verwirrt wirkte.

»Wie schaffen Sie es, mit den Radikalen zusammenzuarbeiten?«, fragte sie. »Nach dem, was ich gehört habe, scheinen manche von ihnen ziemlich gefährlich zu sein.«

Juan seufzte. Er wusste, was ihr Probleme bereitete. Ende der Sechzigerjahre hatten einige jüngere Puerto Ricaner eine Gruppe gebildet, die sich die Young Lords nannte und eine Verbesserung der Lebensbedingungen im Barrio verlangte. Eine Zeitlang machten sie gemeinsame Sache mit den Chicagoer Black Panthers und wurden dafür von der Presse geschmäht. Insofern war es nicht verwunderlich, dass eine brave, anständige Anwältin aus der weißen Mittelschicht solche Leute als bedrohlich empfand.

»Sie müssen eines begreifen, Maggie«, sagte er. »Ich habe Glück gehabt. Ich bekam eine Ausbildung und war damit raus aus den Gangs. Andernfalls könnte ich jetzt ohne Weiteres im Gefängnis sitzen wie mein Cousin Carlos. Illegale Aktivitäten sind in manchen Gemeinden etwas ganz Normales.« Maggie runzelte die Stirn – die Anwältin in ihr konnte das nicht billigen –, aber er fuhr unbeirrt fort. »Schauen Sie, in Harlem und der South Bronx herrschen die gleichen Verhältnisse wie in anderen amerikanischen Städten. New York, Chicago, wo auch immer: Es ist überall das Gleiche. Da gibt es arme Bevölkerungsgruppen, die seit Jahrzehnten unter totaler Vernachlässigung leiden, die – wenn überhaupt – nur geringe Chancen haben, aus den gewalttätigen Straßen, in denen sie leben, herauszukommen, und die – häufig durchaus zu Recht – überzeugt sind, dem Rest der Gesellschaft vollkommen gleichgültig zu sein. Als Puerto Ricaner aus dem Barrio sich die Young Lords nannten und freie Frühstückstische und unentgeltliche medizinische Versorgung organisierten, war das keine so schlechte Idee. Sie verlangten Hilfe für ihre Leute. Das Gleiche taten, auf ihre Weise, die Black Panthers in Chicago. Als Puerto Ricaner von Selbstbestimmung sprachen, war das ebenfalls nachvollziehbar. Keiner schien sich um sie zu kümmern.

Einige von ihnen riefen in ihrer Wut zu gewalttätigen Demonstrationen auf. Das lehne ich entschieden ab. Und es ist unbestreitbar, dass zu diesen Aktivitäten eine bestimmte politische Ideologie gehörte. Diese Männer behaupteten, Sozialisten oder gar Kommunisten zu sein – was immer das bedeuten mochte. Hoover und sein FBI bauschten diese Sache mit dem Kommunismus ungebührlich auf. Ich bin ganz gewiss kein Sozialist, aber ich kann die Gefühle der Leute nachvollziehen. Wenn die Gesellschaft sich von einer bestimmten ethnischen Gruppe abwendet, dann können Einzelne aus dieser Gemeinde durchaus zu der Überzeugung gelangen, das Leben würde in einem anderen politischen System lebenswerter sein – das liegt in der menschlichen Natur. Also versuche ich, die Ursachen dieses Irrglaubens zu lindern. Manche Leute haben sich alle Mühe gegeben, die Young Lords und die Black Panthers zu diskreditieren, und sie sind weitgehend erfolgreich gewesen, doch die grundlegenden Probleme, die diese Gruppen zum Protest veranlassten, bleiben weiterhin ungelöst. Wenn es in Harlem noch immer brodelt, dann hat das seine guten Gründe – das können Sie mir glauben.«

Juan erkannte, dass er sich ein bisschen in Rage geredet hatte, aber das war nicht zu ändern. Er musterte die Rothaarige, war neugierig auf ihre Reaktion. Er hoffte, sie könnte was für Gorham sein, aber wenn sie auf seine Ausführungen negativ reagierte, dann hatte er sich vielleicht in ihr getäuscht.

»Interessant«, sagte sie.

Gorham lachte. »Da spricht die Anwältin!«, sagte er.

Das Gespräch wandte sich jetzt Kindheitserinnerungen zu. Janet war in Queens aufgewachsen. »Schwarz-katholisch. Meine Mom war sehr strenggläubig.« Gorham schilderte seine Besuche bei seiner Großmutter. Ein-, zweimal wurde das Gespräch durch laut krachenden Donner und Blitze unterbrochen, als das Gewitter in nördlicher Richtung über Manhattan zog. Gorham erfuhr, dass Maggies Großvater in einem großen Stadthaus an der unteren Fifth Avenue aufgewachsen war. »Der alte Sean O’Donnell besaß eine Menge Geld. Er häufte es im vorigen Jahrhundert an.« Sie lächelte. »Davon ist nichts mehr übrig.«

»Beim Börsenkrach und während der Depression verloren?«, fragte Gorham.

»Vielleicht zum Teil. Aber ich glaube, wir waren einfach eine zu große irische Familie. Haufenweise Kinder, drei Generationen lang. Das verwässert schnell jedes Vermögen. Mein Vater hat sein Leben lang gearbeitet, und die Hypothek ist er immer noch nicht los. Was soll ich sagen?«

Gegen Ende der Mahlzeit hatte Maggie ein paarmal diskret auf die Uhr geschaut und sich offenbar gesagt, dass es für sie langsam Zeit werde, wieder an die Arbeit zu gehen. Aber es regnete so heftig, dass die Chancen, ein Taxi zu finden, gering schienen. Als sie beim Dessert angelangt waren, verzog sich das Gewitter bereits nach Norden. Der Donner hallte zwar weiterhin das Hudsontal hinauf, doch der Regen hatte nachgelassen. Es war fast halb zehn.

»Nun«, sagte Maggie, »es war wirklich sehr nett, aber ich muss mich bald wieder an meine Arbeit machen.« Ein Blitz zuckte in der Ferne, wie um die Dringlichkeit ihrer Mission zu unterstreichen.

»Möchten Sie nicht vorher noch einen Kaffee trinken?«, fragte Gorham. »Dann läuft’s bestimmt besser mit der Arbeit.«

»Gute Idee«, sagte Maggie.

Plötzlich gingen alle Lichter aus.

Und nicht nur in dem kleinen Restaurant. Im ganzen Viertel wurde es schlagartig dunkel. Erst herrschte Stille, dann folgte Gelächter. Auf den Tischen standen Gläschen mit brennenden Teelichtern; wenige Augenblicke später trat die Besitzerin aus der Küche und begann weitere anzuzünden. Der Kaffee sei schon fertig, sagte sie ihnen, den könnten sie also trotz der Panne haben.

»Das ist bestimmt bald wieder vorbei«, sagte Gorham. »Con Ed verfügt über gewaltige Notreserven.«

»Oder vielleicht wird’s wie 1965«, sagte Juan. »Eine Bevölkerungsexplosion.« Es war eine statistische Tatsache, dass es neun Monate nach dem letzten großen Stromausfall, 1965, einen kurzen, steilen Anstieg der örtlichen Geburtenrate gegeben hatte. Gorham wandte sich zu Maggie.

»Ich fürchte, Sie werden jetzt vielleicht Probleme haben, wieder ins Büro zu kommen.«

»Ich werde schon ein Taxi finden. Es regnet ja nicht mehr.«

»Es gibt nach wie vor kein Licht.«

»Vielleicht besitzt die Kanzlei ein Notstromaggregat.«

»Und wenn nicht?«

»Dann besorge ich mir ein paar Kerzen.«

»In welchem Stock liegt Ihr Büro?«

»Im zweiunddreißigsten.«

»Sie wollen zweiunddreißig Stockwerke hinauflaufen?«, fragte Gorham. Maggie schien unschlüssig. »So testen Kanzleien wie Branch & Cabell wohl das Engagement ihrer Mitarbeiter.«

»Sehr witzig«, entgegnete sie trocken.

Sie tranken ihren Kaffee. Leute, die von der Straße hereinkamen, sagten ihnen, überall in der Stadt seien die Lichter aus. Eine Viertelstunde verging, und dann erklärten Juan und Janet, dass sie sich auf den Weg machen würden. Nachdem Gorham und Juan darauf bestanden hatten, die Rechnung unter sich zu teilen, und Maggie sich höflich bedankt hatte, verließen sie gemeinsam das Lokal, und Juan und seine Freundin entfernten sich in Richtung Norden.

»Also«, sagte Gorham, »wollen Sie wirklich zurück in Ihr Büro?«

Maggie starrte nach Süden, auf die völlige Schwärze über Midtown. »Ich müsste eigentlich. Aber wahrscheinlich jetzt wohl besser nicht.«

»Vorschlag: Wir gehen die Park hinunter in meine Richtung – ich wohne in den Seventies. Wenn das Licht bis dahin wieder angeht, können Sie Ihren Weg fortsetzen. Wenn nicht, bekommen Sie bei mir einen Drink, und dann begleite ich Sie sicher nach Hause. Abgemacht?«

»Sie schlagen vor, dass ich in Begleitung eines Mannes, den ich kaum kenne, ein unbeleuchtetes Gebäude betrete?«

»Ein Apartmenthaus an der Park. Eines der besten.«

»Wann hätte das je eine junge Frau vor Ungemach bewahrt?«

»Noch nie, soweit ich weiß.«

»Nur ein Glas. Kerzen haben Sie doch, oder? Ich sitze nicht gern im Dunkeln.«

»Sie haben mein Wort.«

»Welcher Stock? Der Aufzug wird ja ohne Strom kaum funktionieren.«

»Zweiter.«

Zwanzig Minuten später fing sie an zu lachen. »Sie sagten, Sie würden im zweiten Stock wohnen!«

»Ich meinte den vierten. Wir haben’s gleich geschafft. Schauen Sie.« Er leuchtete mit der Taschenlampe, die der Portier ihm zur Verfügung gestellt hatte. »Direkt da vorn ist die Eingangstür.«

Er führte sie ins Wohnzimmer und kehrte einige Augenblicke später mit zwei Kerzen in schönen silbernen Leuchtern zurück. Nachdem er sie auf einen Tisch gestellt und angezündet hatte, ging er zum Wandschrank neben der Tür zum Esszimmer und holte sämtliche silbernen Kerzenständer heraus, die Charlie einst von seiner Mutter geerbt hatte. Bald waren Flur, Küche, Wohn- und Esszimmer von warmem Kerzenlicht erfüllt. Maggie schaute ihm vom Sofa aus zu.

»Hübsche Wohnung«, sagte sie.

»Danke. Habe ich geerbt. Was möchten Sie trinken?«

»Rotwein.« Im Kerzenlicht nahm Maggies rotes Haar einen magischen Schimmer an. Ihr Gesicht sah weicher aus als zuvor im Restaurant. Sie schien sich ein wenig zu entspannen. »Vielleicht könnten Sie dazu ein kleines Soufflé zaubern.«

»Als Koch bin ich eine Katastrophe.«

Sie stand auf und sah sich ein bisschen um, während er den Wein holte. Dann setzte sie sich wieder hin und hielt ihr Glas nachdenklich in der Hand.

»Das also«, sagte sie lächelnd, »ist Ihre Strategie, ja? Sie laden das Mädchen auf einen Drink zu sich ein, damit sie die schöne Wohnung bewundern kann. Dann gehen Sie mit ihr zum Dinner aus mit der Begründung, Sie hätten in der Küche zwei linke Hände. Spätestens in diesem Moment gelangt sie zu der Überzeugung, dass Sie und Ihre Wohnung ihrer liebevollen Fürsorge bedürfen.«

»Völlig daneben. Wenn das zuträfe, wäre ich schon längst verheiratet.«

»Fadenscheiniges Argument.«

Sie unterhielten sich zwanglos. Er erzählte ihr, dass er schon immer, seit seiner Kindheit, entschlossen gewesen sei, in der City zu wohnen, und fragte sie, warum es sie hierhergezogen habe.

»Genau genommen lag’s an meinem Bruder. Er wohnt unten im Village, und an einem Sonntag hat er mich eingeladen, und wir machten einen Spaziergang durch SoHo. Das war im Frühjahr 1973, als gerade die Türme des World Trade Center fertiggestellt worden waren. Es war bedeckt, aber die Sonne versuchte durch die Wolken zu dringen. Und da war dieser gewaltige graue Turm, der südlich von SoHo in den Himmel ragte, irgendwie unscharf und körnig, doch als das Licht der Sonne ihn erfasste, da schien sich seine Substanz zu verwandeln.

Das war einer der magischsten Momente in meinem ganzen Leben. Und da beschloss ich, nach New York zu ziehen.«

»Ich dachte, Sie mögen diese Architektur nicht. Den internationalen Stil.«

»Normalerweise nicht, das stimmt. Aber mit den Türmen ist es irgendwie anders. Es liegt vermutlich an der Oberfläche, am Spiel des Lichts.«

»Ist Ihr Bruder verheiratet?«

»Nein. Im Gegenteil, er ist schwul.« Kurze Pause. »Meine Eltern wissen nichts davon.«

»Das ist bestimmt problematisch. Wie lange wissen Sie es schon?«

»Seit acht Jahren. Martin und ich stehen uns sehr nah, und er hat es mir gesagt. Das war 1969, im Jahr der Stonewall-Unruhen – Sie wissen schon, wegen der Razzia in dem Schwulenlokal. Damals ging ich noch zur Schule.«

»Ist es nicht langsam Zeit, dass er Ihre Eltern aufklärt?«

»Schon, aber es wird nicht einfach. Für Dad dürfte es ein gewaltiger Schock werden, weil Martin der einzige Sohn ist und Dad fest darauf baut, dass er den Familiennamen weiterträgt. Früher oder später muss Martin es ihnen natürlich sagen, doch besser in einem Moment, in dem ich dabei bin. Alle werden mich brauchen. Besonders Martin.« Sie lächelte. »Ich bin immer für meinen Bruder da.«

Gorham nickte. Diese attraktive Anwältin war nachdenklicher und liebevoller, als er vermutet hatte.

»Die Familie ist eine wichtige Sache«, sagte er. »Ich fühle mich dafür verantwortlich, dass meine Familie wieder zu dem wird, was sie einmal war, wenngleich ich zugeben muss, dass ich diese Verantwortung frei gewählt habe. Meinem Vater lag nichts daran. Geht es Ihnen ähnlich?«

»Ich verspüre keine Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit, wohl aber mir selbst gegenüber. Meine Mutter war diesbezüglich eisern. Sie hat mir eingebläut, ich könne alles werden, was ich nur wollte, und ich solle einen richtigen Beruf lernen. Heirate, sagte sie, aber mach dich nie von einem Ehemann abhängig. Sie ist Lehrerin.«

»Hat es denn Spannungen zwischen ihr und Ihrem Vater gegeben?«

»Nein, sie lieben sich beide sehr. Es ist einfach nur ihre Überzeugung.«

»Ich kenne eine ganze Reihe von Rechtsanwältinnen, die wirklich gut in ihrem Job waren, doch als sie Kinder bekamen, hörten sie auf zu arbeiten.«

»Wird mir nicht passieren.«

»Sie glauben, Sie können beides vereinbaren?«

»Alles tun und alles haben. Das ist mein Credo.«

»Das könnte schwierig werden.«

»Organisation ist das A und O – aber ich bin hervorragend im Organisieren. Als Karrieregattin würde ich allerdings, glaube ich, überhaupt nicht taugen.«

»Dann sollten Sie am besten einen Anwalt heiraten. Jemanden, der nachvollziehen kann, was Sie tun müssen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nie im Leben.«

»Warum nicht?«

»Wegen der Rivalität. In meinem Beruf- und in vielen anderen – herrscht ein ständiger Wettbewerb. Einer gewinnt, und einer verliert. Verlegen Sie das in eine Ehe, und Ärger ist so gut wie sicher.«

»Sie haben nicht vor zu verlieren?«

»Sie etwa?«

»Wohl nicht«, sagte Gorham. »Wie sieht Ihr Plan also aus?«

»Gibt keinen Plan. Nur die Hoffnung, dass ich den Richtigen treffe. Jemanden, der das Leben als ein Abenteuer betrachtet. Jemanden, der ständig weiterwachsen will – beruflich und persönlich.«

Gorham dachte eine Weile nach. Diese Anwältin war schon eine ziemliche Herausforderung.

»Was halten Sie von meinem Freund Juan? Nach seiner leidenschaftlichen Rede über die Young Lords und die Panthers wirkten Sie etwas … reserviert.«

»Nein, ich habe nur über das nachgedacht, was er sagte. Eigentlich fand ich ihn ziemlich bewundernswert.«

Gorham nickte. Er hatte in New York schon viele Frauen kennengelernt, die Karriere machen wollten. Aber in Maggie spürte er nicht nur Intelligenz und Entschlossenheit, sondern auch eine Wärme, die er sehr anziehend fand. Hinter ihrer professionellen Zurückhaltung, erkannte er, verbarg sich ein freier Geist.

Sie saßen einfach schweigend da, als das Telefon klingelte.

»Hi, Gorham.« Es war Juan. »Hast du gesehen, was da abläuft?«

»Was meinst du damit?«

»Unten auf der Park ist es also ruhig.«

»Ziemlich ruhig.«

»Na, dann geh besser nicht aus dem Haus, Kumpel. Ich habe übrigens erfahren, was passiert ist. Blitzeinschläge haben Teile des Stromnetzes lahmgelegt – in New Jersey brennt das Licht noch, aber die fünf Boroughs sitzen größtenteils im Dunkeln. Im Barrio heizt sich die Situation allmählich auf, und wenn das Licht nicht bald wiederkommt, wird heute Nacht einiges los sein in Harlem. Ich habe gerade gesehen, wie ein paar Häuser weiter in einen Laden eingebrochen wurde.«

»Du meinst, es wird geplündert?«

»Natürlich wird geplündert. Die Geschäfte sind voll von Dingen, die die Leute haben wollen, und keiner kann sehen, was sie treiben.« Seine Stimme klang fast so, als fände er das amüsant. »Gorham, wenn du einen Stall voll Kinder hättest und kein Geld, würdest du auch losziehen und plündern. Egal, ich wollte dir nur empfehlen, nicht aus dem Haus zu gehen. So wies aussieht, könnte die Sache bis auf Downtown übergreifen.«

»Was hast du vor?«

»Na ja, vielleicht gehe ich raus und schaue mich ein bisschen um. Aber für mich ist das hier ein Heimspiel, wenn du weißt, was ich meine.«

»Bring dich nicht in Gefahr, Juan.«

»Keine Sorge, Gorham, tu ich schon nicht.«

Gorham legte auf und berichtete Maggie, was Juan gesagt hatte.

»Vielleicht sollten Sie besser hierbleiben. Ich habe ein Gästezimmer.«

Sie bedachte ihn mit einem zynischen Blick. »Netter Versuch.«

Unter normalen Umständen hätte er sich vermutlich langsam vorgetastet, um festzustellen, wie sich der Abend zu entwickeln versprach. Er fing allmählich an, sich ernsthaft für Maggie zu interessieren, doch das war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt.

»Nein«, sagte er ruhig, »sosehr ich Ihre Gesellschaft genieße, Maggie, versuche ich nicht, Sie anzumachen. Was ich allerdings tun werde, ist, Sie irgendwann sicher bis an Ihre Haustür zu begleiten. Wenn Juan der Meinung ist, dass es da oben unangenehm werden könnte, werde ich ganz bestimmt keine Risiken eingehen.«

»Okay. Das ist nett von Ihnen.«

Sie unterhielten sich noch eine Zeitlang. Er fragte sie, ob er sie bei Gelegenheit anrufen dürfe, und sie sagte Ja und gab ihm ihre Telefonnummer. Dann kündigte er an, dass er sie jetzt nach Hause begleiten werde. Vorher versuchte er noch Juan anzurufen, um einen aktuellen Lagebericht zu erhalten, aber sein Freund nahm nicht ab.

Auf der Park Avenue gab’s keine Taxis, also machten sie sich zu Fuß auf den Weg hinauf zur 86th. Es war überall dunkel und still, doch als sie zum oberen Ende des breiten Boulevards hinaufschauten, konnten sie ein schwaches, flackerndes Leuchten sehen, das vermutlich von Feuern herrührte. Sie gingen wortlos nebeneinander her, erst als sie die 84th erreichten, brach Maggie das Schweigen.

»Haben Sie was auf dem Herzen?«

»Es ist nichts. Eher albern.«

»Lassen Sie mich raten. Sie machen sich Sorgen, weil Juan vorhin nicht abgenommen hat.«

Er wandte sich zu ihr, konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit indes nur erahnen.

»Um ehrlich zu sein, ja. Was absurd ist. Er kennt den Barrio wie seine Hosentasche.«

»Wo wohnt er?«

»Ecke 96th und Lexington. Ist eigentlich sogar ein Haus mit Portier.«

»Sobald Sie mich wohlbehalten an der 86th abgeliefert haben, gehen Sie zu ihm, stimmt’s?«

»Ich spiele tatsächlich mit dem Gedanken.«

»Na dann.« Sie hängte sich bei ihm ein. »Gehen wir doch zusammen hin.«

»Sie können nicht mit!«

»Sie können mich nicht daran hindern.«

Er sah sie erstaunt an. »Sie sind eine ungewöhnliche Frau, Miss O’Donnell.«

»Sie sagen es.«

Als sie die Kreuzung 96th Street erreichten, konnten sie einen großen Teil von Spanish Harlem überblicken. Die Straßen waren menschenleer, aber sie sahen mehrere Feuer. Sie gingen rasch weiter bis zu dem Haus, in dem Juan wohnte. Der Portier hatte die Tür abgeschlossen und schloss erst auf, nachdem er sie beim Licht einer Taschenlampe gemustert hatte. Gorham erklärte sein Anliegen.

»Mr Campos hat das Haus nicht wieder verlassen, Sir, das kann ich Ihnen versichern.« Gorham atmete erleichtert auf. »Haben Sie ihn schon mal hier besucht?«, fragte der Portier. Gorham bejahte. »Tja« – der Portier war offenbar zu dem Ergebnis gelangt, dass Gorham und Maggie wie achtbare Leute aussahen – »einige der Mieter sind hinauf aufs Dach gegangen. Er könnte da oben sein. Die Sprechanlage funktioniert nicht, aber wenn Sie seine Telefonnummer haben, könnte ich ihn anrufen für den Fall, dass er wieder in der Wohnung ist.«

Diesmal nahm Juan ab. Er war verblüfft zu erfahren, dass Gorham an seiner Haustür stand.

»Ich dachte, du machst dir vielleicht einen netten Abend mit dem hübschen Rotschopf.«

»Sie steht neben mir.«

»Wollt ihr raufkommen? Wir sind auf dem Dach, und wir haben Bier. Ihr müsstet allerdings ein Dutzend Stockwerke hochsteigen.«

Gorham richtete Maggie die Einladung aus.

»Angenommen«, sagte sie.

Auf dem Dach waren schon eine ganze Menge Leute. Man hatte eine gute Aussicht über Harlem; im Osten war zudem ein Teil der Skyline von Brooklyn zu sehen, und überall, wohin man sah, loderten Brände.

Feuerwehrsirenen gellten durch die Nacht. Nach einer Weile ertönte von der Lexington her, ein paar Blocks weiter nördlich, das Kreischen von Reifen, dem ein Knall und ein lautes Klirren folgte, als sei jemand mit einem Lieferwagen in ein Schaufenster gekracht.

»Das dürfte der Supermarkt gewesen sein«, sagte Juan gelassen. Dann fügte er, jetzt zu Maggie gewandt, hinzu: »El Barrio. Meine Landsleute.«

Sie tranken Dosenbier und schauten zu, wie sich die Feuer in der heißen, feuchten Nacht ausbreiteten. Einige Zeit später entstand drüben in Brooklyn ein großflächiger Brand. Es verging eine halbe Stunde, aber er breitete sich immer weiter aus.

»Der muss sich über zwanzig Blocks erstrecken«, sagte Gorham.

»Noch mehr, glaube ich«, sagte Juan.

Und so blieben sie bis weit nach Mitternacht auf dem Dach und schauten zu, wie die gigantische, gespaltene Stadt New York ihre inneren Spannungen, ihre Wut und ihre Verzweiflung durch Feuer und Plünderungen und noch mehr Feuer zum Ausdruck brachte.