NEU-AMSTERDAM

1664

Das also war die Freiheit.

Das Kanu schwamm mit dem Ebbestrom des Flusses, Wasser klatschte gegen den Bug. Dirk van Dyck sah das kleine Mädchen an und fragte sich: War diese Reise ein schrecklicher Fehler?

Großer Fluss, der ihn nach Norden rief. Großer Himmel, der ihn nach Westen rief. Land der vielen Flüsse, Land der vielen Berge, Land der vielen Wälder. Wie weit zog es sich hin? Niemand wusste es genau. Hoch über den Adlern konnte einzig die Sonne auf ihrer ungeheuren Reise nach Westen dieses Land in seiner Gänze überblicken.

Ja, hier hatte er die Freiheit gefunden und die Liebe, hier in der Wildnis. Van Dyck war ein großer, kräftiger Mann. Er trug Schlumperhosen, Stulpenstiefel und über dem Hemd eine Lederweste. Jetzt, wo sie sich dem Hafen näherten, hatte er einen breitkrempigen Hut mit einer Feder aufgesetzt. Er starrte das Mädchen an.

Seine Tochter. Kind seiner Sünde. Seiner Sünde, für die er, wie die Religion sagte, bestraft werden musste.

Wie alt war sie? Zehn, elf? Sie war so aufgeregt gewesen, als er eingewilligt hatte, sie mit flussabwärts zu nehmen. Sie hatte die Augen ihrer Mutter. Ein bildhübsches Indianerkind. »Bleiche Feder« nannten sie ihre Leute. Nur ihre helle Haut verriet den Rest der Geschichte.

»Bald sind wir da.« Der Niederländer sprach auf Algonkin, der Sprache der dortigen Stämme.

Neu-Amsterdam. Ein Handelsposten. Ein Fort und ein kleines Städtchen hinter einer Palisade. Aber dennoch wichtig im weltumspannenden Handelsimperium der Niederlande.

Van Dyck war stolz darauf, Niederländer zu sein. Ihr Land mochte klein sein, aber die unbeugsamen Niederländer hatten sich gegen die mächtigen spanischen Besatzer erhoben und die Unabhängigkeit erkämpft. Sein Volk hatte die gewaltigen Deiche gebaut und damit der tobenden See riesige Flächen fruchtbaren Landes abgetrotzt. Die seefahrenden Niederländer hatten ein Handelsimperium aufgebaut, das den Neid aller Reiche erregte. Ihre Städte – Amsterdam, Delft, Antwerpen –, in denen hohe, schmale Giebelhäuser stattliche Kanäle und Wasserwege säumten, waren in diesem Goldenen Zeitalter Rembrandts und Vermeers Zufluchtsorte für Künstler, Gelehrte und Freidenker aus ganz Europa. Ja, er konnte auf seine Herkunft stolz sein.

An seinem Unterlauf war der große Fluss tideabhängig. An diesem Morgen floss er hinunter zum Ozean. Am Nachmittag würde er umschlagen und nach Norden zurückfließen.

Das Mädchen schaute nach vorn, flussabwärts. Van Dyck saß ihr zugewandt, an einen hohen Haufen Felle gelehnt, größtenteils Biberfelle, der den Mittelteil des Kanus füllte. Das Kanu war groß und breit, mit Bordwänden aus Baumrinde, robust, aber leicht. Vier Indianer paddelten, zwei vorn, zwei achtern. In kurzem Abstand folgte ihnen ein zweites Boot, bemannt mit seinen eigenen Männern, den Strom hinab. Er war gezwungen gewesen, dieses indianische Kanu anzumieten, um die ganzen Waren, die er gekauft hatte, überhaupt transportieren zu können. Stromaufwärts war der Spätfrühlingshimmel gewittrig; über ihnen graue Wolken. Aber vor ihnen glänzte hell das Wasser.

Ein plötzlicher Sonnenstrahl blitzte hinter einer Wolke auf. Der Fluss machte ein klopfendes Geräusch an der Bordwand. Wie eine Eingeborenentrommel, die ihn warnte. Die Brise prickelte an seinem Gesicht, leicht wie perlender Wein. Er sprach wieder. Er wandte sich erneut an seine Tochter. Er wollte ihre Gefühle nicht verletzen, aber er musste sie warnen.

»Du darfst nicht sagen, dass ich dein Vater bin.«

Das Mädchen blickte hinunter auf den kleinen Anhänger, den sie um den Hals trug. Ein winziges Gesicht, geschnitzt aus Speckstein, rot und schwarz bemalt. Das Gesicht hing, nach indianischer Sitte, kopfunter. Eigentlich logisch: Wenn man den Anhänger hochhob, um ihn anzusehen, starrte einem das Gesicht richtig herum entgegen. Es stellte eine indianische Gottheit dar, den Maskierten, den Herr des Waldes, den Wahrer des Gleichgewichts der Natur.

Bleiche Feder gab keine Antwort, sondern schaute nur hinab auf ihr Amulett. Woran dachte sie? Verstand sie seine Warnung? Er konnte es nicht erkennen.

Über die felsigen Klippen hinweg, die sich wie eine hohe steinerne Palisade das westliche Ufer entlangzogen, kam jetzt ein fernes Donnergrollen. Das kleine Mädchen lächelte. Als Männer der See, dachte der Niederländer, mochten seine Landsleute den Donner nicht. Ihnen brachte er nur Gefahren und Ängste. Doch die Indianer waren klüger. Sie wussten, was es bedeutete, wenn der Donner sprach: Die Götter, die im untersten der zwölf Himmel wohnten, kämpften gerade, um die Welt vor dem Übel zu beschützen.

Das Geräusch hallte das Flusstal hinunter und verklang. Bleiche Feder ließ das Amulett wieder aus der Hand gleiten, eine winzige Geste voll Anmut, und schaute auf.

»Werde ich deine Frau kennenlernen?«

Dirk van Dyck schnappte leicht nach Luft. Seine Frau Margaretha hatte keine Ahnung, dass er schon so nah war. Er hatte ihr seine Rückkehr nicht angekündigt. Aber konnte er wirklich hoffen, das Mädchen an Land zu bringen und es vor seiner Frau verbergen zu können? Er musste verrückt gewesen sein. Unbeholfen drehte er sich herum und starrte den Fluss hinab. Sie hatten schon das nördliche Ende des schmalen Territoriums namens Manhattan erreicht, und die Tide riss sie mit sich. Zum Umkehren war es jetzt zu spät.

*

Margaretha de Groot tat einen langsamen Zug aus der Tonpfeife, die sie zwischen den sinnlichen Lippen hielt, sah den Mann mit dem Holzbein nachdenklich an und fragte sich, wie es wohl wäre, mit ihm zu schlafen.

Groß gewachsen, straff, entschlossen, mit durchdringenden Augen mochte er zwar grau sein und mittlerweile weit im mittleren Alter, doch immer noch hatte er eine Aura von Unbeugsamkeit. Und sein Holzbein – das war eine Auszeichnung, ein Ausweis seiner Tapferkeit in der Schlacht. Diese Wunde hätte manch einen Mann getötet, nicht aber Pieter Stuyvesant. Er ging die Straße überraschend schnell entlang. Als Margaretha auf das harte, polierte Holz starrte, spürte sie, wie sie leicht erschauderte, doch er sah es nicht.

Was hielt er wohl von ihr? Sie gefiel ihm, da war sie sich sicher. Sie war eine schöne, vollbusige Frau in den Dreißigern mit einem breiten Gesicht und langen blonden Haaren. Aber sie war nicht fett geworden wie so viele andere ihrer Herkunft. Sie hatte noch immer eine gute Figur und durchaus etwas Wollüstiges an sich. Und was ihre Neigung zu einem gelegentlichen Pfeifchen anging – die meisten Niederländer rauchten Pfeife und ihre Frauen nicht minder.

Er sah sie, blieb stehen und lächelte.

»Guten Morgen, Greet.« Greet. Welch vertrauliche Anrede. Wie die meisten Niederländerinnen war Margaretha van Dyck normalerweise unter ihrem Mädchennamen bekannt, Margaretha de Groot; und diese Anrede hatte sie eigentlich von ihm erwartet. Natürlich kannte er sie, seit sie ein junges Mädchen war. Aber trotzdem … Er war doch sonst ein so förmlicher Mensch. Sie errötete fast. »Sie sind noch immer allein?«

Sie stand vor ihrem Haus, einem typischen niederländischen Stadthaus: einem schlichten rechteckigen Gebäude, zweistöckig, mit hölzernen Seitenwänden und der schmalen Giebelfront, die zur Straße ging. Diese Fassade wies ein hübsches Muster aus schwarzem und gelbem Backstein auf. Ein paar steile Stufen führten zur großen Haustür hinauf, die durch ein Vordach geschützt war. Das war die holländische stoep oder wie man später schrieb: stoop, die Freitreppe. Die Fenster waren nicht groß, aber das Ganze wirkte durch den hohen Stufengiebel, den die Niederländer so sehr liebten, eindrucksvoll, und der Dachfirst war durch eine Wetterfahne bekrönt.

»Ihr Ehemann ist noch immer auf dem Fluss?«, wiederholte Stuyvesant.

Sie nickte.

»Wann kehrt er zurück?«

»Wer weiß?« Jetzt zuckte sie mit den Schultern. Sie konnte ihrem Mann schwerlich vorwerfen, dass seine Geschäfte ihn nach Norden führten. Der Handel mit Fellen, insbesondere den hochbegehrten Biberfellen, hatte einen solchen Aufschwung genommen, dass die ortsansässigen Indianer ihre Wälder fast leer gejagt hatten. Oft musste Dirk weit ins nördliche Hinterland fahren, um sich seine Ware bei den Irokesen zu beschaffen. Und er war bemerkenswert erfolgreich.

Aber musste er unbedingt immer so lange fortbleiben? In der ersten Zeit ihrer Ehe hatten seine Reisen lediglich ein paar Wochen gedauert. Nach und nach war die Dauer seiner Abwesenheit immer länger geworden. Wohnte er zu Hause, war er ein guter Ehemann, aufmerksam ihr und liebevoll seinen Kindern gegenüber. Aber sie konnte nicht umhin, sich vernachlässigt zu fühlen. Erst an dem Morgen hatte ihre kleine Tochter sie gefragt, wann ihr Vater denn heimkommen würde. »So bald er nur kann«, hatte sie lächelnd geantwortet. »Darauf kannst du dich verlassen.« Insgeheim fragte sie sich, ob er sie mied oder ob es gar andere Frauen in seinem Leben gab?

Treue war Margaretha de Groot wichtig. Insofern war es nicht verwunderlich, dass sie in ihrer Angst, ihr Mann könnte ihr untreu sein, sich sagte, dass er sittlich schwach sei, und, von Trost in rechtschaffeneren Armen träumend, einer inneren Stimme zu flüstern gestattete: »Wäre er doch nur ein Mann wie Gouverneur Stuyvesant!«

»Es sind schwierige Zeiten, Greet.« Stuyvesants Miene verriet keine Traurigkeit, aber Margaretha hörte sie aus seiner Stimme heraus. »Sie wissen, dass ich Feinde habe.«

Er vertraute sich ihr an. Sie spürte ein kleines Aufwallen von Rührung. Sie hätte ihm am liebsten die Hand auf den Arm gelegt, aber sie wagte es nicht.

»Diese verfluchten Engländer.«

Sie nickte. Wenn sich das Handelsimperium der Niederländer auch von Niederländisch-Indien bis nach Amerika erstreckte, lagen die englischen Kaufleute doch nicht weit zurück. Gelegentlich schlossen sich die beiden protestantischen Länder gegen ihre gemeinsamen Feinde zusammen, die katholischen Königreiche Spanien und Portugal; meistens aber waren sie Rivalen. Fünfzehn Jahre zuvor, als König Karl von England durch Oliver Cromwell und seine gottesfürchtige Armee entthront – und enthauptet – worden war, hatte sich die Rivalität verschärft. Die Niederländer trieben einen lukrativen Sklavenhandel zwischen Afrika und der Karibik. Cromwells Mission war klar. »Der Sklavenhandel muss England gehören.«

Viele ehrliche Niederländer fragten sich, ob dieser brutale Menschenhandel moralisch vertretbar sei; die guten englischen Puritaner kannten keinerlei derartige Bedenken. Und schon bald hatte Cromwell den Spaniern Jamaika abgejagt, um es als Stützpunkt für den Sklavenhandel zu nutzen. Auch als Cromwell vor nunmehr sechs Jahren gestorben war und zwei Jahre später ein zweiter König Karl den englischen Thron bestiegen hatte, war diese Politik unverändert fortgeführt worden. Schon hatte Neu-Amsterdam die Nachricht erreicht, dass die Engländer die niederländischen Sklavenhäfen an der Küste von Guinea angriffen. Und über den Ozean ging das Gerücht, dass sie den Niederlanden nicht nur den Sklavenhandel, sondern auch ihre Hafenstadt Neu-Amsterdam abnehmen wollten.

Groß war Neu-Amsterdam zwar nicht: ein Fort, ein paar Windmühlen, eine Kirche mit einem spitzen Turm; es gab eine Gracht – nun, ja eigentlich eher ein überbreiter Straßengraben – und ein paar von spitzgiebligen Häusern gesäumte Straßen, die zusammen mit ein paar bescheidenen Gemüse- und Blumengärten von einem Wall beschirmt wurden, der in west-östlicher Richtung über den Südzipfel Manhattans verlief. Doch es hatte eine Geschichte. Zehn Jahre, bevor die Mayflower auch nur in See gestochen war, hatte die Niederländische Westindien-Kompanie den Wert des großen natürlichen Hafens erkannt und dort einen Handelsposten gegründet. Und jetzt, nach einem halben Jahrhundert stockender Entwicklung, war daraus ein blühendes Hafenstädtchen geworden, zu dem etliche in einem Umkreis von mehreren Dutzend Meilen verstreute Außensiedlungen gehörten – ein Territorium, das die Niederländer Nieuw Nederland oder Neu-Niederlande nannten.

Es besaß schon einen eigenen Charakter. Zwei Generationen lang hatten die Niederländer und ihre Nachbarn, die protestantischen französischsprachigen Wallonen, um die Unabhängigkeit vom katholischen Spanien gekämpft. Und sie hatten gewonnen. Niederländer und Wallonen siedelten sich daraufhin zusammen in Neu-Amsterdam an. Es war ein Wallone gewesen, Pierre Minuit, der vier Jahrzehnte zuvor mit den Eingeborenen das Recht ausgehandelt hatte, sich auf der Insel Manhattan niederzulassen. Das Städtchen war vom ersten Augenblick an vom zähen, unabhängigen Geist protestantischer Kaufleute durchdrungen gewesen.

Vor allem hatte es eine unschätzbare Lage. Für ein militärisch geschultes Auge bot das Fort vielleicht keinen besonders eindrucksvollen Anblick, aber es beherrschte die Südspitze der Insel Manhattan, die in die breiten Gewässer eines herrlichen, geschützten natürlichen Hafens hineinragte. Das Fort bewachte die Zufahrt zu dem großen Nordfluss.

Und Pieter Stuyvesant war dessen Herrscher.

Der englische Feind war nicht mehr fern. Die Neuengländer aus Massachusetts und vor allem die aus Connecticut mit ihrem hinterhältigen Gouverneur Winthrop versuchten ständig, den niederländischen Außensiedlungen Land abzuknapsen. Als Stuyvesant den festen Wall und die Palisade am Nordrand der Stadt bauen ließ, erklärte man den Neuengländern höflich: »Der Wall ist nur dazu da, die Indianer abzuschrecken.« Aber niemand fiel darauf herein. Der Wall war dazu da, die Engländer fernzuhalten.

Der Gouverneur fixierte Margaretha immer noch.

»Ich wünschte, die Engländer wären meine einzigen Feinde.«

Ach, der arme Mann! Er war viel zu gut für die nichtsnutzigen Menschen von Neu-Amsterdam.

In der Stadt wohnten an die fünfzehnhundert Menschen. Rund sechshundert Niederländer und Wallonen. Dreihundert Deutsche und fast ebenso viele Engländer, die sich dafür entschieden hatten, unter niederländischer Herrschaft zu leben. Der Rest kam aus allen Ecken und Enden der Welt. Auch ein paar Juden lebten hier. Und unter ihnen allen: Wie viele echte, aufrechte, rechtschaffene Männer gab es? Nicht viele, wenn man Margaretha fragte.

Sie selbst war nicht sehr gottesfromm. Die niederländische reformierte Kirche war streng und kalvinistisch; Margaretha folgte nicht immer ihren Geboten. Doch sie bewunderte die wenigen starken Männer, die das schafften – Männer wie Bogard, der alte Pastor oder dominee, und Stuyvesant. Wenigstens waren sie Garanten für Ordnung.

Als Stuyvesant gegen den exzessiven Alkoholgenuss in der Stadt einschritt, einige der heidnischeren Volksfeste verbot oder versuchte, die Stadt frei von diesen albernen Quäkern oder elenden Wiedertäufern zu halten – hatten ihn da die Kaufleute etwa unterstützt? Kaum einer. Nicht einmal auf die Niederländische Westindien-Kompanie, in deren Diensten er stand, war Verlass. Als aus Brasilien einige sephardische Juden ankamen und Stuyvesant ihnen sagte, sie sollten sich woandershin verfügen, wies ihn die Kompanie zurecht: »Lassen Sie sie rein. Sie beleben das Geschäft.«

Niemand konnte bestreiten, dass er ein guter Gouverneur war. Seine Vorgänger im Amt waren größtenteils korrupte Hanswurste gewesen. Einer von ihnen hatte sogar einen unnötigen Krieg mit den Indianern vom Zaun gebrochen, der fast das Ende der Kolonie bedeutet hätte. Stuyvesant aber hatte gelernt, weise zu herrschen: Im Norden hielt er die Engländer in Schach. Im Süden hatte er mit einer aufmüpfigen schwedischen Kolonie am Schuylkill-Fluss, die zu einem Ärgernis zu werden drohte, kurzen Prozess gemacht. Er hatte den Zuckerhandel gefordert und angefangen, mehr Sklaven einzuführen. Jedes Schiff aus den Niederlanden führte als Ballast die allerbesten holländischen Backsteine mit, aus denen dann die Häuser der Stadt gebaut wurden. Die Straßen waren sauber, es gab inzwischen ein kleines Hospital, und die Schule hatte einen Lateinlehrer.

Aber waren diese Leute etwa dankbar? Aber nein! Sie nahmen ihm seine Macht übel. Sie bildeten sich sogar ein, sie könnten sich selbst regieren, die Dummköpfe! Waren diese Männer überhaupt fähig zu regieren? Da hatte sie ihre Zweifel.

Der Schlimmste von ihnen war ein doppelzüngiger Anwalt gewesen, van der Donck. Den jonker nannten sie ihn: den Junker. Er war derjenige, der immer hinter dem Rücken des Gouverneurs intrigierte, der Briefe an die Westindien-Kompanie schickte und Beschwerden in die Öffentlichkeit trug – alles nur, um Stuyvesant zu Fall zu bringen. Und mit welchem Ziel? »Der Jonker liebt die Freiheit«, pflegte ihr Ehemann zu erklären. »Ihr seid alle Dummköpfe!«, rief Margaretha dann aus. »Er liebt nur sich selbst. Wenn ihr ihm auch nur die kleinste Gelegenheit dazu gebt, wird er anstelle von Stuyvesant euch regieren.«

Glücklicherweise war es dem Jonker nicht gelungen, Stuyvesant zu vernichten, er hatte es allerdings geschafft, ein großes Landgut nördlich der Stadt in die Hände zu bekommen. Er hatte sogar ein Buch über die Neu-Niederlande geschrieben, das, wie ihr Mann ihr versicherte, lesenswert sei. Der elende Wicht war inzwischen – Gott sei’s gedankt! – tot und begraben. Aber die Menschen von Neu-Amsterdam nannten sein großes Landgut nach wie vor »Des Jonkers Land«, als ob der Kerl noch am Leben wäre. Und sein Beispiel hatte die Kaufleute so angesteckt, dass Stuyvesant ihrer Ansicht nach am besten keinem Einzigen von ihnen hätte trauen dürfen.

Die Augen des Gouverneurs ruhten unverwandt auf ihr.

»Kann ich auf Sie zählen, Greet?«

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. »O ja.«

Natürlich war er glücklich verheiratet. Zumindest nahm sie das an. Wie es aussah, lebten er und Judith Bayard auf ihrer bouwerij, wie die Holländer ihre Bauernhöfe nannten, in vollkommener Eintracht und Zufriedenheit. Judith, älter als Pieter, war diejenige gewesen, die ihn, nachdem er sein Bein verloren hatte, wieder gesund gepflegt und ihn anschließend geheiratet hatte. Soweit Margaretha wusste, hatte er eine einzige Liebschaft gehabt, und das war in seiner Junggesellenzeit gewesen, lange bevor er Judith kennenlernte. Damals hatte es einen kleinen Skandal gegeben. Sie schätzte ihn dafür nur umso mehr. Ohne den kleinen Skandal wäre er vielleicht ein kalvinistischer Geistlicher geworden wie sein Vater, anstatt zur Westindien-Kompanie zu gehen und auf den Meeren sein Glück zu suchen.

»Und Ihr Mann? Kann ich auf ihn zählen?«

»Mein Mann?« Wo immer er gerade sein mochte. Hauptsache, nicht in ihrer Nähe, wie es schien.

Tja, das würde sich schon bald ändern. Während seiner Abwesenheit hatte sie über die Sache nachgedacht und eine Zukunft für ihn entworfen, die weit zufriedenstellender sein würde. Es war ein Glück, dass die niederländischen Sitten den Frauen weit mehr Freiheit – und Macht – einräumten, als ihre Geschlechtsgenossinnen in den meisten anderen Ländern genossen. Und gedankt sollte Gott sein für die niederländischen Eheverträge! Sie hatte ein paar sehr genaue Pläne für Dirk van Dyck parat, wenn er erst wieder nach Hause kam.

»O ja«, sagte sie. »Er wird tun, was ich sage.«

»Ich gehe hinunter zum Fort«, sagte Stuyvesant. »Würden Sie mich begleiten?«

*

London. Ein strahlender Frühlingstag. Die Themse war ein Wald von Masten. Thomas Master starrte auf das Schiff, das vor ihm festgemacht lag, und versuchte, zu einer Entscheidung zu gelangen.

In seiner Hand lag der Brief, in dem sein Bruder Eliot ihn vom Tod ihres Vaters unterrichtete. Tom war zu ehrlich, um sich einzureden, er sei darüber traurig. Er war zweiundzwanzig, und jetzt war er frei.

Also was sollte es werden? England oder Amerika?

Zu seiner Linken erhob sich, schweigend, verschlossen, die gewaltige graue Masse des Tower of London. Als er einen Blick nach hinten warf, schien das lang gestreckte, hohe Dach der Saint Paul’s Cathedral Missfallen auszudrücken. Aber worüber? Zweifellos über ihn. Nach London war er schließlich mit Schimpf und Schande geschickt worden.

Dreißig Jahre früher, als Adam Master von der englischen Ostküste und Abigail Eliot aus dem Westland sich in London kennengelernt hatten, waren sich diese zwei ernsthaften jungen Puritaner einig gewesen, dass die Hauptstadt von England ein abscheulicher Ort sei: König Karl I. saß auf dem Thron; er hatte eine französische Katholikin zur Frau und versuchte, England wie ein Despot zu regieren. Und sein Ratgeber William Laud, Erzbischof von Canterbury, war fest entschlossen, alle Engländer zu zwingen, sich den prunkvollen Zeremonien und der hoffärtigen Autorität einer anglikanischen Kirche zu unterwerfen, die sich von der papistischen nur durch den Namen unterschied. Nach ihrer Heirat hatten Adam und Abigail noch ein paar Jahre lang in London ausgeharrt, in der Hoffnung, die Dinge könnten sich zum Besseren wenden. Doch für Puritaner waren nur immer schlimmere Zeiten gekommen. Und so hatten sich Adam und Abigail Master der großen Auswanderungswelle nach Amerika angeschlossen.

Schon seit zwei Generationen suchten Engländer in Virginia ihr Glück. Zu der Zeit, als im Globe Theatre, am Südufer der Themse, Shakespeares Stücke aufgeführt wurden, rauchte die Hälfte der Bevölkerung Londons in ihren Tonpfeifen Virginiatabak. Doch die Anzahl der Menschen, die tatsächlich nach Virginia ausgewandert waren, blieb vorerst bescheiden. Ein paar Kühne hatten sich nach Massachusetts gewagt; auch andernorts waren Siedlungen entstanden. Aber von einer Auswanderungswelle konnte noch nicht die Rede sein.

In der zweiten Hälfte von König Karls Regierung allerdings änderte sich die Lage drastisch. Die englischen Puritaner fingen an, das Land zu verlassen. Aus dem Süden, dem Osten, dem Westen kamen sie in Scharen, manchmal einzelne Familien, manchmal ganze Gemeinden, und segelten über den Atlantik. Es verging kaum eine Woche, in der kein Schiff von dem einen oder anderen Hafen aus in See stach. Auf diese Weise verlor König Karl ab Mitte der 1630er-Jahre rund ein Fünfzigstel seiner Untertanen. Gentlemen wie Winthrop, gut situierte junge Männer wie der Theologe John Harvard, Kaufleute und Handwerker, Arbeiter und Prediger mit ihren Frauen und Kindern und Bediensteten – sie alle schifften sich nach Amerika ein, um König Karl und seinem Erzbischof zu entkommen. Dies war die erste wirkliche Besiedlung der amerikanischen Kolonien, und sie spielte sich in wenig mehr als einem Jahrzehnt ab.

König Karl schien dieser Verlust nie Verlegenheiten bereitet zu haben. Ja, es war gar kein Verlust; eher ein Gewinn. Anstatt ihm im Lande, wo er versuchte, seine autoritäre Herrschaft zu etablieren, Ärger zu machen, waren diese Menschen so höflich gewesen, loszuziehen und ihm ein gewaltiges neues Herrschaftsgebiet zu erschließen: Wo immer sie sich in diesem riesigen, unerforschten amerikanischen Kontinent auch niederließen, entstand englisches Neuland; denn die Auswanderer waren und blieben Karls Untertanen, jeder Einzelne von ihnen. Was die Kultfreiheit anbelangte, die sie genossen, so bekam man im Mutterland nichts davon mit, und zu gegebener Zeit würde sie sich wahrscheinlich zurechtstutzen lassen.

Adam und Abigail Master waren nach Boston gezogen. Die strenge, mitunter grausame Frömmigkeit der Gemeinde hatte ihnen zugesagt. Es ging ihnen schließlich nicht um Toleranz; ihr Ziel war es, das Reich Gottes zu errichten. Und ihr ältester Sohn Eliot hatte ihnen in dieser Hinsicht gewissenhaft nachgeeifert. Lernbegierig, umsichtig, entschlossen war Eliot all das, was sich ein Bostoner Vater nur wünschen konnte. Doch mit Tom war es viel schwieriger.

Tom Master war ein blonder, blauäugiger Bursche. Obwohl er leicht vorstehende Zähne hatte, fanden ihn die Frauen anziehend. Als kleiner Junge war er schmächtig, ständig in Bewegung, erfinderisch. Doch als er das Mannesalter erreichte, verriet sein ganzes Auftreten einen wachen und weltoffenen Verstand. Er strotzte vor Energie. Sein Betragen allerdings und seine Freundeswahl ließen viel zu wünschen übrig.

Denn schon in jenen frühen Tagen der Kolonie gab es, wie man gestehen muss, Menschen – Seefahrer und Fischer, Kaufleute und Bauern, ganz zu schweigen von den untersten Schichten –, denen es mehr um das Geld ging, das sich in Massachusetts verdienen ließ, als um die Rettung ihrer Seele. Die Gemeinde setzte ihren Willen so weit wie möglich durch, aber es gab viele Abtrünnige.

Und dem jungen Tom schien es zum großen Bedauern seiner Eltern und seines Bruders Eliot vorbestimmt zu sein, geradewegs in die Hölle zu wandern. Er bereitete sich nicht auf den Unterricht vor. Er war begabt, indes fehlte ihm jeder Ehrgeiz. Er betrank sich und verkehrte in schlechter Gesellschaft. Einmal schwänzte er sogar den Sonntagsgottesdienst. Und obwohl er des Öfteren zur Rute gegriffen hatte, musste sein Vater schließlich einsehen, dass dies alles keine Frage der Disziplin oder Zucht war. Es gab etwas in Tom, tief in seiner Seele, das man einfach nicht ändern konnte.

Adam Master hatte sich eine gute, solide Anwaltskanzlei aufgebaut und ein Landgut gekauft. Er besaß ein Schiff. Eliot hatte Jura studiert, wollte aber Prediger werden. Tom war bei einem Kaufmann in die Lehre gegeben worden und zeigte Talent für den Handel. Das war wenigstens etwas.

Doch zwei Ereignisse brachen seinem Vater schließlich das Herz. Das erste trug sich zu, als seine Frau im Sterben lag. Sie hatte nach ihrem zweiten Sohn geschickt und ihn dann, in Gegenwart seines Vaters, angefleht, Umkehr zu tun. Um seiner selbst willen – und um ihr zu helfen, in Frieden zu scheiden – sollte er, so flehte Abigail ihn an, ihr versprechen, dass er sein Leben lang keinen Tropfen Branntwein mehr anrühren werde. Durch diesen ersten Schritt, hoffte sie, würde er vielleicht doch noch auf den rechten Weg zurückfinden. Und was bekam sie da zu hören?

»Ach, verdammt, Ma! Du weißt doch, dass ich dir das nicht versprechen kann.« Diese Worte hatte er seiner Mutter auf ihrem Sterbebett zugemutet. Das hatte Adam ihm nie verzeihen können. Er schalt ihn nicht, denn er wusste, dass Abigail das nicht gewollt hätte. Er blieb höflich. Er tat alles, was ein Vater tun sollte. Aber er wusste, dass Tom durch und durch verdorben war.

Als also Tom, im Alter von neunzehn, mit der Ehefrau eines ehrenwerten Kapitäns – des Kapitäns eben jenes Schiffes, das Adam gehörte –, der gerade auf See war, seine erste Liebschaft genoss, überwand sich sein Vater dazu, die Sache, um Eliots willen, nicht an die große Glocke zu hängen. Aber er erklärte dem jungen Tom, dass er Massachusetts umgehend verlassen müsse. Er hatte ihn, mit einem nicht gerade enthusiastischen Einfuhrungsbrief ausgestattet, zu einem mit ihm bekannten Kaufmann nach London geschickt. Und dazu mit der Anweisung, nie wieder zurückzukehren.

Tom war zurück in die Alte Welt verbannt worden. Für die Neue war er nicht gut genug.

London gefiel Tom vom ersten Moment an. Diese vibrierende Stadt lag ihm. Obwohl Oliver Cromwell und die Puritaner zehn Jahre lang über England geherrscht hatten, war das große Experiment einer Regierung ohne einen König letztlich in Chaos und Kriegsrecht versunken. Als Tom ankam, hatten die Engländer bereits den Sohn des toten Königs, einen zweiten Karl, wieder auf den Thron gehoben. Und König Karl II. war ein munterer Geselle. Sein jüngerer Bruder Jakob, der Herzog von York, mochte hochmütig und steif sein, aber der König selbst war geschmeidig und klug. Er hatte keine Ambitionen, wie sein Vater auf dem Schafott zu enden. Nach jahrelangem Exil wollte er sich amüsieren und war froh, wenn seine Untertanen das ebenfalls taten. Er liebte die Frauen, Pferderennen und das Theater. Außerdem interessierte er sich ernsthaft für die Wissenschaften.

Das London, das Tom empfing, lag auf der Wasserscheide zwischen zwei Welten: der mittelalterlichen und der modernen. Durch die Expansion der britischen Besitzungen in Übersee boten sich den geschäftstüchtigen Kaufleuten von London zahlreiche Gelegenheiten, ihr Glück zu machen. Reiche Aristokraten und Gentlemen gaben in der Mode den Ton an. Es wurden die verschiedensten Arten von Unterhaltung geboten. Ein Jahr lang war Tom sehr glücklich gewesen.

Und dennoch, nach einer Weile hatte er angefangen, sich nach Amerika zu sehnen. Nicht nach Boston oder seiner puritanischen Familie, wohl aber nach anderen, schwerer zu definierenden Vorzügen: einem Gefühl von Weite, von der Möglichkeit, die Welt neu zu erschaffen. Es war eine Sehnsucht nach Freiheit. Der Freiheit der Wildnis vielleicht. Er hätte dieses Gefühl nicht in Worte fassen können.

Jetzt, da sein Vater gestorben war, gab es vermutlich nichts, was ihn von der Rückkehr abhalten konnte.

Und da war noch eine weitere Entwicklung, die es zu bedenken galt. Hier in London kursierte das Gerücht, König Karl II. und sein Bruder Jakob würden sich neuerdings verstärkt für die amerikanischen Kolonien interessieren. Falls das zutraf, wäre das ein zusätzlicher Grund für einen ehrgeizigen jungen Mann wie ihn, sich wieder nach Amerika zu wenden.

Was sollte er also machen? Sollte er bleiben und weiter die Annehmlichkeiten Londons genießen, oder sollte er sich über den Ozean wagen? Es würde ein Kinderspiel sein, dem Handelsherrn, für den er arbeitete, weiszumachen, dass Eliot ihn, da ihr Vater tot war, zurückgerufen habe. Seine wenigen Habseligkeiten zu packen würde nicht viel Zeit erfordern. Das Schiff, vor dem er stand, legte am nächsten Tag ab mit Ziel Boston. Der Kapitän hatte noch eine Koje frei. Sollte er zugreifen?

Er hielt inne, lachte in sich hinein, zog eine Münze aus dem Beutel und warf sie in die Luft. Kopf: Boston. Zahl: London.

*

Oben im Norden ließ der Donner seine Stimme vernehmen. Aber voraus, dort wo der Strom das offene Wasser der Bucht erreichte, breitete sich ein See von flüssigem Gold aus.

Van Dyck hatte am vorigen Abend versucht, Bleiche Feder mithilfe einer Landkarte, die er für sich gezeichnet hatte, die Bedeutung des Ortes begreiflich zu machen. Er hatte mit dem Stiel seiner Pfeife gedeutet und erklärt.

»Dieser Strich, der gerade von oben nach unten verläuft, ist der Nordfluss. Viele Tage stromaufwärts gibt es große Seen und Wasserwege, die bis ganz hinauf zu den Regionen des Eises reichen. Links vom Fluss« – er strich mit der Pfeife waagerecht über das Papier – »liegt der ganze amerikanische Kontinent. Zu seiner Rechten«, und hier deutete er auf einen riesigen dreieckigen Landkeil, der mit der Spitze nach unten zeigte und dessen breite Basis weit in den Atlantik hineinragte, »sind die Territorien Connecticut, Massachusetts und viele andere Länder. Und hier neben ihnen ist der große Ozean, den meine Leute überquert haben.« Dann zog er mit seiner Pfeife eine Linie hinunter zur Südspitze des Keils und zeigte auf eine lange Insel, um die zwanzig Meilen breit und hundert Meilen von einem zum anderen Ende, gleichsam längsseits des Keils im Atlantik vertäut. Zwischen dieser Insel und dem Festland zog sich ein langer, geschützter Sund hin. »Rings um dieses Gebiet« – er umkreiste die Südspitze des Keils und das angrenzende Ende der Insel – »hat dein Volk viele Generationen lang gelebt. Und das« – er klopfte auf den südlichsten Zipfel des Keils – »ist Manhattan.«

Manna hata: Es war ein indianischer Name. Soweit er wusste, bedeutete er lediglich »die Insel«. Tatsächlich war es eine schmale Halbinsel; nur dass an ihrem nördlichen Ende eine enge, steile Schlucht einer Abzweigung des Nordflusses gestattete, sich zum Sund der Langen Insel hinüberzuschlängeln, wodurch die Halbinsel Manhattan streng genommen wirklich zu einer Insel wurde.

Ohne den gewaltigen Wellenbrecher, den die Lange Insel darstellte, wäre Manhattan der ungehemmten Gewalt des Atlantiks ausgesetzt gewesen. Doch dank diesem glücklichen Umstand gelangte der Nordfluss, wenn er die Spitze von Manhattan erreichte, in einen wunderbaren, geschützten natürlichen Hafen von rund vier Meilen Breite und sieben Meilen Länge – einen ausgedehnten Ankerplatz, den Seeleute unter dem Namen Obere Bucht kannten. Aber was noch besser war – wenn man durch die Enge am Südende der Bucht fuhr und in den Atlantik steuerte, passierte man zwei riesige Sandbänke, auf jeder Seite eine, die als äußere Wellenbrecher gegen die Dünung des Ozeans dienten und damit das stille Gewässer der Unteren Bucht schufen: so gewaltig groß, dass alle Schiffe dieser Welt dort ohne Schwierigkeiten hätten ankern können.

»Das ist das Tor zum Norden«, hatte er erklärt. Doch Bleiche Feder verstand nichts. Und obwohl er ihr weiter von Handel und Transport erzählte, sah er ihr an, dass sie die Bedeutung der Landkarte des Weißen Mannes nicht erfasste.

Weiße Männer waren seit den Tagen des Christoph Kolumbus immer wieder dorthin gekommen. Anfangs waren sie auf der Suche nach Gold gewesen oder hatten versucht, eine Route nach Asien zu finden. Einer von ihnen, der 1524 landete, war namentlich bekannt: Verrazano; andere gerieten in Vergessenheit. Und sie waren auch nicht immer weiß: Der portugiesische Kapitän Gomez war schwarz gewesen. Er ging an Land, schnappte sich fast sechzig Indianer, um sie als Sklaven zu verkaufen, und verschwand dann wieder hinter dem Horizont. Doch es war die Ankunft eines anderen Mannes gewesen, der für die Menschen am großen Nordfluss und dessen Ästuar alles verändert hatte.

Henry Hudson war ein Engländer gewesen, den ausgerechnet die niederländischen Rivalen beauftragt hatten, eine kürzere, östliche Route nach China zu finden. Nachdem er sich die sagenhafte Nordostpassage über Russland angesehen hatte und zu dem Schluss gelangt war, sie tauge nichts, hatte er, unter Missachtung seiner Befehle, kehrtgemacht, den Atlantik überquert und stattdessen nach einer Nordwestpassage gesucht. Es war Hudson, der sich in die Bucht unterhalb von Manhattan wagte und den großen Fluss mehrere Tage lang stromaufwärts segelte, bis er sich sagte: »Das ist nicht der Weg nach China.«

»Es geht da vielleicht nicht nach China«, erklärte er seinen niederländischen Auftraggebern nach seiner Rückkehr, »aber es ist ein herrliches Land. Und voller Biber.«

Und die Menschen von Mittel- und Nordeuropa hatten eine unstillbare Gier nach Bibern.

»Der Biber«, erklärte van Dyck oft seinen Kindern, »ist ein höchst nützliches Geschöpf. Biberöl heilt Rheumatismus, Zahnweh und Magenschmerzen. Biberhoden, pulverisiert und in Wasser aufgelöst, können einem Idioten die Vernunft zurückgeben. Das Fell des Tieres ist dicht und warm.« Aber wonach es die Männer wirklich verlangte, war die weiche Unterwolle unter den Grannenhaaren. Und warum? Weil sie zu Filz verarbeitet werden konnte.

Hüte. Jeder wollte einen Filzhut haben, wenngleich sich nur reichere Zeitgenossen einen leisten konnten. Er war das Feinste vom Feinsten. Die Handwerker, die sie herstellten, wurden manchmal verrückt, vom Quecksilber vergiftet, das sie verwendeten, um die Grannenhaare von der Unterwolle zu trennen. Und vielleicht, gestand sich van Dyck ein, war die ganze Sache ziemlich verrückt – dass eine ganze Kolonie, möglicherweise sogar ein Imperium, entstehen konnte, damit Männer ihr Leben aufs Spiel setzten und ihrerseits töteten – und alles nur wegen einer Hutmode. Die Nordostküste Amerikas mochte wegen der nordatlantischen Fischgründe kolonisiert worden sein, aber die gewaltige Bucht von Neu-Amsterdam und die Ufer des großen Nordflusses verdankten ihre Besiedlung dem Biberhut.

Und aus Dankbarkeit gegenüber dem unerschrockenen Seefahrer und Entdecker nannten van Dyck und andere Fellhändler den großen Strom häufig nicht den Nord-, sondern »Hudsons Fluss«.

*

»Da ist es. Neu-Amsterdam.« Der Holländer lächelte, als er seine Tochter aufgeregt erschaudern sah. Weiter vorne ragte die Südspitze Manhattans in die unermessliche wässrige Weite der Bucht hinein. Meeresvögel kreisten über den Wellen. Die Luft war auf belebende Weise mit Salz gesättigt.

Bleiche Feder starrte auf die großen Flügel der Windmühle und die gedrungene Masse des Forts, das über die Wasserfront wachte. Während sie die Spitze von Manhattan umfuhren, wo die Giebelhäuser der Kaufleute sich in mehr oder weniger ordentlichen Reihen aufgestellt hatten, machte van Dyck sie auf einzelne Sehenswürdigkeiten aufmerksam.

»Siehst du die Häuser dort nah beim Fort? Früher, bevor die Weißen kamen, hatten deine Leute dort ein Lager. Sie haben solche Haufen von Austernschalen zurückgelassen, dass wir das de Varel Straet genannt haben – die Perlenstraße. Dieses helle Haus dort drüben gehört Stuyvesant. Es heißt die Weiße Halle.«

Als sie die Südspitze passiert hatten, bogen sie in den langen, breiten Kanal ein, der entlang der Ostseite von Manhattan verlief. Obwohl kein eigentlicher Fluss, war die Wasserstraße als der East River, Ostfluss, bekannt. Van Dyck deutete auf die Landfläche jenseits davon.

»Breukelen.« Die Niederländer hatten die Siedlung nach einem Ort in der Nähe von Amsterdam getauft.

»Das Land meines Volkes«, sagte das Mädchen.

»War es mal.«

Den Hafenkai hatte man an der Ostseite der Landspitze errichtet. Das Kanu hielt darauf zu. In der Nähe ankerten mehrere Schiffe im Ost-Fluss. Als der Niederländer und das Indianermädchen die Landungsstelle erreichten, wandten sich ihnen neugierige Augen zu.

Es dauerte nicht lange, die Felle in zwei geräumige Handkarren zu verladen, die sie zum großen Lagerhaus der Westindien-Kompanie schaffen würden. Van Dyck ging neben den Karren her, die leichtfüßige Bleiche Feder an seiner Seite. Er grüßte Männer, die er kannte, mit einem kurzen Nicken. Am Kai waren die verschiedensten Leute zu sehen: Matrosen in offenen Blusen, Kaufleute in weiten Schlumperhosen, sogar ein Prediger, ganz in Schwarz, auf dem Kopf einen hohen, kegelförmigen, breitkrempigen Hut. Als sie sich vom Ufer entfernten, kamen ihm zwei holländische Kaufleute entgegen, Springsteen und Steenburgen, nicht unvermögende Männer, denen man ein paar Minuten für den Austausch von Höflichkeiten widmen musste.

»Erst vorhin hat Ihre Frau sich am Fort mit Stuyvesant unterhalten, Mijnheer van Dyck«, bemerkte Springsteen.

»Sie könnten ihr jeden Augenblick begegnen«, warnte Steenburgen.

Van Dyck fluchte innerlich. Gestern hatte der Plan noch so einfach ausgesehen. Seine Männer würden sein Boot und das indianische Kanu löschen. Die Indianer würden mit der Rückfahrt warten, bis die Flut käme. Das würde ihm genügend Zeit lassen, Bleiche Feder im Städtchen herumzuführen und ihr – als glücklichen Höhepunkt der gemeinsam verbrachten Zeit – ein paar holländische Kekse zu schenken. Dann würden die Indianer sie wieder den Fluss hinaufpaddeln, und er würde heim zu Frau und Kindern gehen.

Eigentlich wartete Margaretha, wenn sie erfuhr, dass er gelandet war, immer geduldig zu Hause, weil sie wusste, dass er zuerst Geschäftliches im Lagerhaus zu erledigen hatte. Daher hatte er nicht damit gerechnet, dass sie heute unten beim Fort sein würde.

Nun, er würde das Versprechen, das er seiner Tochter gegeben hatte, halten, aber er würde vorsichtig sein müssen.

»Komm, Bleiche Feder«, sagte er.

Es war nicht einfach, Bleiche Feder die Örtlichkeiten zu zeigen und zugleich nach seiner Frau Ausschau zu halten. Aber seine Tochter schien ganz zufrieden zu sein. Ihm wurde bewusst, dass er stolz auf die Stadt war. Man konnte nicht bestreiten, dass Stuyvesant etwas daraus gemacht hatte. Der breite, schlammige Uferstreifen war zum Teil mit Kopfstein gepflastert worden. Selbst im Zentrum, nahe dem Marktplatz, hatten die Giebelhäuser nach hinten hinaus weitläufige, gepflegte Gärten.

Die beiden gingen die Ostseite entlang, Richtung Norden, überquerten den kleinen Kanal und erreichten das Rathaus, das Stadt Huys. Es war ein großes Gebäude mit einer mittigen Pforte, drei Reihen von Fenstern, zwei weiteren im steilen Giebel und einer kleinen Dachterrasse. Es stand in einer Reihe weiterer Gebäude, die phlegmatisch, genau wie viele niederländische Handelsherren, auf den Ost-Fluss hinaussahen. Vor dem Stadt Huys erhob sich ein Pranger mit zwei hölzernen Fußfesseln. Van Dyck musste Bleiche Feder erklären, wie Übeltäter zum Zweck ihrer öffentlichen Demütigung in den Pranger geschlossen wurden.

»Dort drüben« – er zeigte weiter das Ufer hinauf- »haben wir auch einen Galgen, wo Menschen wegen schwererer Verbrechen mit einem Strick erdrosselt werden.«

»Mein Volk kennt keinen solchen Brauch«, sagte sie.

»Ich weiß«, antwortete er freundlich.

Sie waren gerade kurz vor einer Schenke stehen geblieben, in der einige Seeleute saßen, als ihnen – von ihrem weiten Kleid umflossen, eine Pfeife in der Hand – Margaretha van Dyck entgegengeschlendert kam.

*

Margaretha starrte ihren Mann und das kleine Mädchen an. Es war erst ein paar Minuten her, dass Mijnheer Steenburgens Frau ihr eröffnet hatte, Dirk van Dyck sei in der Stadt. Es konnte auch nur Einbildung gewesen sein, aber als die Frau ihr diese Mitteilung gemacht hatte, meinte Margaretha ein leichtes Funkeln in ihren Augen zu sehen – die Sorte Blick, mit dem man eine verheiratete Frau bedachte, deren Ehemann in Gesellschaft einer anderen Frau gesehen worden war –, und dies hatte sie wachsam gemacht.

Würde Dirk ihr so etwas antun, in aller Öffentlichkeit? Eine plötzliche kalte Angst hatte sie erfasst, aber sie hatte sich zusammengenommen und der Frau zugelächelt, als habe sie ihren Mann ohnehin an diesem Tag erwartet.

Und da stand er mit einem Indianermädchen. Immerhin, sie konnte kaum seine Geliebte sein. Aber für eine reinblütige Indianerin war sie vielleicht etwas … zu blass.

»Du bist wieder da«, sagte sie und umarmte ihn flüchtig. Dann trat sie einen Schritt zurück.

»Ja. Wir haben erst am Lagerhaus abgeladen.«

Sah er nervös aus? Ja, ein wenig, fand sie. »War deine Reise erfolgreich?«

»Sehr sogar. So viele Felle, dass ich zusätzlich ein Indianerkanu brauchte, um sie alle herzuschaffen.«

»Das ist gut.« Sie starrte Bleiche Feder an. »Wer ist dieses Mädchen?«

Dirk van Dyck warf Bleiche Feder einen Blick zu und fragte sich, ob sie den Verlauf des Gesprächs verstand oder erahnte. Ein paar Indianer sprachen Niederländisch, aber seiner Tochter gegenüber hatte er immer ihre Muttersprache verwendet. Er sandte ein stummes Stoßgebet zum Himmel.

»Sie ist mit den Indianern im Kanu mitgekommen«, antwortete er ruhig. »Gehört zum Schildkröten-Clan.«

Bei den dortigen Indianerstämmen wurde die Zugehörigkeit zu einem Clan über die weibliche Linie vererbt. Man gehörte also dem Clan seiner Mutter an.

»Ich stehe mit dem Schildkröten-Clan in freundschaftlichen Beziehungen.«

Margaretha betrachtete Bleiche Feder nachdenklich.

»Kennst du ihre Mutter?«

»Nein.« Van Dyck schüttelte den Kopf. »Sie ist tot.«

»Das Kind sieht wie ein Halbblut aus.«

Hatte sie es erraten? Er spürte Angst in sich aufsteigen, die er aber rasch unterdrückte.

»Finde ich auch.«

»Der Vater?«

»Wer weiß?« Er zuckte die Schultern.

Seine Frau zog an ihrer Pfeife.

»Diese Indianerinnen sind ja alle gleich«, sagte sie abschätzig.

Es war seltsam, überlegte van Dyck. Trotz ihres kalvinistischen Glaubens hatten Niederländerinnen recht oft Liebschaften vor der Heirat, und das wurde toleriert. Aber nur weil ein paar Indianerinnen, deren Volk die Weißen alles abgenommen hatten, jetzt gezwungen waren, in den Hafenstädten für ein paar Münzen, deren Wert sie nicht kannten, ihren Körper zu verkaufen, war seine Frau imstande zu glauben, jede indianische Frau sei eine gewöhnliche Hure.

»Nicht alle«, sagte er ruhig.

»Sie ist ein hübsches Kind.« Margaretha stieß Rauch aus dem Mundwinkel aus. »Jammerschade, dass ihr gutes Aussehen nie lange hält.«

Hatte sie recht? Würde die Schönheit seiner kleinen Tochter schon zu seinen Lebzeiten verblassen?

Er sah, dass Bleiche Feder wie benommen vor sich hinstarrte. Lieber Gott, hatte sie verstanden, was sie sagten? Oder hatte sie es aus dem Ton ihrer Stimmen erraten?

Dirk van Dyck liebte seine Frau. Vielleicht nicht so sehr, wie es sich für einen Ehemann gehörte, aber sie war auf ihre Art durchaus eine gute Frau und ihren Kindern eine gute Mutter. Vermutlich war keine Ehe vollkommen, und woran auch immer es auf seiner Seite hapern mochte – sie war daran ebenso schuld wie er selbst. Er war ihr treu gewesen, meistens jedenfalls – wenn man von Bleiche Feders Mutter absah, und die betrachtete er als einen Sonderfall.

Eigentlich gab es keinerlei Grund, warum Margaretha auf die Idee kommen sollte, Bleiche Feder sei seine Tochter. Keinen Grund außer ihrem weiblichen Instinkt.

»Bring sie nicht mit nach Hause«, sagte Margaretha ruhig.

»Natürlich nicht«, hörte er sich selbst sagen.

Sie hatte es erraten. Er war sich nahezu sicher. Würde sie ihm Vorwürfe machen, wenn er nach Hause kam? Würde sie ihm eine Szene machen? Vielleicht. Aber dann würde er höchstwahrscheinlich alles bestreiten, wodurch sie als die Dumme dastehen würde. Und dazu war sie zu stolz.

»Schick sie weg«, sagte Margaretha entschieden. »Deine Kinder warten auf dich.« Sie wandte sich ab.

Er konnte ihr diese Strenge nicht übel nehmen. Ja, er bewunderte sie sogar. Sie betrug sich würdevoll, hielt ihre Familie zusammen. Dann aber sah er Bleiche Feder an.

Sie starrte noch immer vor sich hin, doch die nackte Erschütterung in ihrem Gesicht sprach Bände. Sie brauchte ihre Worte nicht zu verstehen. Der Ton ihrer Stimmen und ihre Mienen waren klar genug. Die magische Zeit, die er ihr versprochen hatte, verwandelte sich in eine Leidenszeit. Ohne es zu wollen, hatte er sie verraten und gedemütigt. Eine Woge der Reue spülte über ihn hinweg. Er konnte sie nicht so verlassen.

Margaretha entfernte sich bereits. Mochte er seiner Frau auch Schmerz zugefügt haben – es war nun einmal geschehen. Außerdem war sie eine erwachsene und starke Frau. Während das Mädchen an seiner Seite ein unschuldiges Kind war. Er dachte fieberhaft nach.

»Ich habe noch Geschäftliches zu erledigen, Greet, wenn die Indianer erst weg sind«, rief er ihr nach. »Ich muss rauf zu Smits Bouwerij. Du weißt noch, ein Viertel der Felle sind für ihn.« Es war die Wahrheit, dass er den Landwirt aufsuchen musste, allerdings hatte er eigentlich nicht vorgehabt, schon heute zu ihm zu reiten. »Sag den Kindern, dass wir uns morgen sehen.«

»Und wann hast du vor, wieder abzureisen?« Sie hatte sich umgedreht.

»Abzureisen?« Er lächelte. »Die nächsten paar Monate jedenfalls nicht.«

Margaretha nickte. War sie besänftigt?

»Dann bis morgen«, sagte sie.

Für eine Weile sprachen weder er noch Bleiche Feder ein Wort. Am liebsten hätte er ihr den Arm um die Schultern gelegt, sie getröstet, aber das wagte er nicht. Schweigend schritten sie die Straße entlang, bis das Mädchen fragte: »Das ist deine Frau?«

»Ja.«

»Ist sie eine gute Frau?«

»Ja, das ist sie.«

Sie schwiegen wieder eine Weile.

»Wirst du mich jetzt zurückschicken?«

»Nein.« Er lächelte sie an. »Komm mit mir, meine Tochter«, sagte er.

*

Seine Vorbereitungen hatte er in einer knappen Stunde erledigt. Er schickte einen seiner Männer los, sein Pferd zu holen, kaufte einige Lebensmittel und zwei Decken. Nachdem er den Indianern einige Anweisungen erteilt hatte, brachen er und Bleiche Feder auf.

Die Hauptausfallstraße aus Neu-Amsterdam war ein breiter Fahrweg, der am Marktplatz vor dem Fort begann und nach Westen hinauf bis zum Wall führte. Van Dyck ritt langsam. Bleiche Feder genoss es, an seiner Seite zu gehen. Bald wichen die Holländerhäuser lieblichen Obst- und Blumengärten. Sie erreichten den Wall und verließen die Stadt durch das Tor mit einer steinernen Bastei. Der breite Weg zog sich noch ein paar hundert Ellen weiter geradeaus hin, vorbei an einem Friedhof und einer Mühle. Dann bog die Fahrspur nach rechts ab. Den Ost-Fluss entlang kamen sie an einer kleinen Tabakplantage und einem Sumpf vorbei. Kurz danach war zu ihrer Linken ein großer Teich. Und von dort führte der Fahrweg geradeaus nach Norden bis zum oberen Ende der Insel.

Die Insel Manhattan war ein seltsames Gebilde: nur ein, zwei Meilen breit, aber dreizehn Meilen lang. Eine Wildnis von Marschen, Wiesen und Wäldern, mit Hügeln und felsigen Auswüchsen gesprenkelt, war sie für die Indianer ein ideales Jagdgebiet gewesen. Ja, der Fahrweg, den sie entlangzogen, war einst ein Indianerpfad gewesen.

Manates hatten die Indianer geheißen, die einst diese Insel bewohnt hatten. Aber sie waren nur eine von zahllosen Algonkin sprechenden Gruppen gewesen, die in der Region siedelten. In Breukelen etwa, jenseits des Ost-Flusses, lebten die Canarsee-Indianer; auf der anderen Seite der Bucht, in der Nähe des breiten Stück Landes, das die Niederländer Staaten Eylandt nannten, wohnten die Raritan. Folgte man dem großen Fluss nach Norden, traf man auf die Hackensack und die Tappan. Von Anfang an hatten die Weißen erkannt, dass alle diese Menschen schön waren: die Männer hochgewachsen und anmutig, die Frauen mit fein geschnittenen Zügen. Als van Dyck auf das Mädchen hinabschaute, spürte er eine Regung von Stolz.

Nur wenige Weiße hielten es für nötig, sich mit den Indianern näher zu befassen, um sie ein wenig zu verstehen. Und hätte er es getan, fragte er sich, wenn die Mutter des Mädchens nicht gewesen wäre?

Selbst die Siedlung auf Manhattan war aus einem Missverständnis hervorgegangen. Als die dort ansässigen Indianer einen Packen Waren von Pierre Minuit angenommen hatten, war die Abmachung für sie klar gewesen: Die Weißen gaben ihnen das übliche Geschenk für das Recht, ein, zwei Jahreszeiten lang ihre Jagdgründe nutzen zu dürfen. In europäischen Begriffen hätte man das als Pachtzahlung bezeichnen können. Da die Indianer keinen individuellen Landbesitz kannten, wäre ihnen die Idee, dass Minuit ihnen das Land für alle Zeiten abkaufen wollte, nie in den Sinn gekommen. Nicht dass es die braven Bürger von Neu-Amsterdam sonst groß gekümmert hätte, dachte van Dyck bitter. Die niederländische Vorstellung von Grundeigentum war pragmatisch: Saß man erst drauf, besaß man es auch.

Kein Wunder, dass es im Laufe der Jahre immer wieder mal Reibereien gegeben hatte, wenn erzürnte Indianer angriffen. Abgelegene Siedlungen am Fluss waren gezwungenermaßen aufgegeben worden. Selbst hier auf Manhattan hatten zwei holländische Weiler – Bloemendaal, ein paar Meilen die Westseite hinauf, und Nieuw-Haarlem im Norden – schwere Schäden erlitten.

Aber am Ende eignete sich der Weiße Mann immer mehr Land an. Niederländischen patroons wurden flussaufwärts ausgedehnte Gebiete zugesprochen. Ein Schwede namens Jonas Bronck, der auch eine Weile in den Niederlanden gelebt haben sollte, hatte die dort ansässigen Indianer bezahlt, damit sie seinen riesigen Batzen Land, unmittelbar nördlich von Manhattan, räumten. Ein paar kleine Gruppen von Indianern schlugen sich noch auf Broncks Land und in den wilderen Teilen von Manhattan mehr schlecht als recht durch. Das war alles.

Van Dyck und seine Tochter waren ungefähr fünf Meilen weit den Weg entlanggezogen und hatten ein waldiges Gebiet in der Mitte der Insel erreicht, als er entschied, es sei Zeit zu essen. Sie schlugen einen schmalen Pfad ein, der an kleinen Talsenken und zutage getretenen Auswüchsen von Grundgestein vorbei nach Westen führte, bis sie zu einer Lichtung gelangten, wo Walderdbeeren wuchsen. Van Dyck saß ab und band sein Pferd an einem Bäumchen an. Er breitete eine Decke auf dem Boden aus und forderte Bleiche Feder auf, sich zu setzen.

»Jetzt«, sagte er lächelnd, »wollen wir mal sehen, was dein Vater gekauft hat.«

Es war überhaupt nicht schwierig gewesen, Maisgrieß, Rosinen, Hickory-Nüsse und ein paar Stücke Räucherfleisch zu bekommen – die Zutaten zu der Mixtur, die die Indianer pimikan nannten. Dazu niederländischen Krautsalat und Roggenbrot. Aber er hatte auch ein paar niederländische Leckereien gekauft – Pralinen und Kekse –, die jedem Kind geschmeckt hätten. Seite an Seite teilten sich Vater und Tochter zufrieden die Mahlzeit. Sie hatte gerade ihren ersten Keks gegessen, als sie sich zu ihm wandte und fragte: »Meinst du, ich sollte mir eine Tätowierung machen lassen?«

Van Dyck blieb kurz stumm. Was für eine entzückende Erscheinung sie war! Ihre kleinen Füße steckten in Mokassins, ihr langes schwarzes Haar war hinten mit einer Lederschnur zusammengebunden. Wie die meisten Indianermädchen ihres Alters bedeckte sie in den warmen Monaten des Jahres nur den unteren Teil ihres Körpers mit einem knielangen Rock aus Hirschleder. Abgesehen von dem kleinen Anhänger war ihr Oberkörper nackt; ihre Brüste hatten noch nicht angefangen zu wachsen. Ihre Haut – durch eine hauchdünne Schicht Waschbärfett gegen Sonne und Mücken geschützt – war makellos. In ein paar Jahren würde sie wahrscheinlich einen Hauch rote Farbe auf ihre Wangen auftragen und die Augen dunkel umranden. Aber bis dahin, hoffte er, würde sie genau das vollkommene kleine Mädchen bleiben, das sie war. Nicht dass die indianischen Frauen so große Tätowierungen wie die Männer getragen hätten. Aber trotzdem …

»Ich glaube, du solltest besser warten«, sagte er vorsichtig, »bis du verheiratet bist, und dann eine Tätowierung aussuchen, die deinem Mann gefällt.«

Sie überlegte und nickte.

»Ich werde warten.«

Sie saß stumm da, aber er hatte den Eindruck, dass sie über etwas nachdachte. Nach einer Weile schaute sie zu ihm auf.

»Hast du jemals einen Bären getötet?«

Der Übergangsritus. Um ein Mann zu werden, musste bei ihrem Volk jeder Junge einen Hirsch erlegen – es war der Beweis dafür, dass er fähig sein würde, eine Familie zu ernähren. Aber um zu beweisen, dass er wirklich furchtlos war, musste er die weit schwierigere und gefährlichere Aufgabe bewältigen, einen Bären zu töten. Erst wenn ein Mann das vollbracht hatte, war er ein richtiger Krieger.

»Ja«, antwortete er. Sieben Jahre zuvor, tief im Irokesengebiet, hatten ihn die Indianer gewarnt: Auf dem Gebirgspfad, den er nehmen wollte, seien schon einige Männer angefallen worden. Normalerweise griffen Bären Menschen nicht an, aber wenn sie es einmal doch taten, waren sie fürchterlich. Er war also vorbereitet gewesen. Aber als die Bestie plötzlich auftauchte und wütend auf ihn losstürmte, war es reines Glück gewesen, dass er es geschafft hatte, sie mit dem einen Schuss aus seiner Muskete auf der Stelle zu töten. »Es war ein Schwarzbär«, erklärte er ihr, »in den Bergen.«

»Hast du ihn allein getötet?«

»Ja.«

Sie sagte nichts, aber er sah ihr an, dass es sie freute, dass ihr Vater ein richtiger Krieger war.

Es war noch immer früher Nachmittag. Das Sonnenlicht drang durch das Laub auf die grasigen Hänge, auf denen die Erdbeeren wuchsen. Von Frieden erfüllt, legte er sich auf den Rücken. Der Plan war ihm plötzlich spontan eingefallen: den ganzen Tag mit Bleiche Feder zu verbringen. Am nächsten Morgen würden die Indianer mit dem Kanu am Nordende der Insel anlegen und sie wieder den Fluss hinauf mitnehmen. Dann konnte er über Smits Bouwerij zurückreiten und noch lange vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein. Es war ein guter Plan, und sie hatten jede Menge Zeit. Er schloss die Augen.

Er hatte vielleicht ein paar Minuten gedöst, als er sich aufsetzte und merkte, dass Bleiche Feder verschwunden war.

Er schaute sich um. Nichts von ihr zu sehen. Er runzelte die Stirn. Einen Moment lang verspürte er einen Stich von Angst. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war? Er wollte gerade nach ihr rufen, als er eine winzige Bewegung wahrnahm. Vielleicht hundert Schritte von ihm entfernt, im Gehölz, hatte eine Hirschkuh den Kopf gehoben. Instinktiv erstarrte van Dyck und gab keinen Ton von sich. Die Hirschkuh äugte in seine Richtung, sah ihn aber nicht. Das Tier senkte den Kopf wieder.

Und dann sah er Bleiche Feder. Sie stand weitab, rechts von der Hirschkuh, hinter einem Baum, gegen den Wind. Sie legte sich einen Finger an die Lippen, bedeutete ihm: leise! Dann trat sie aus der Deckung hervor.

Van Dyck hatte schon oft die Pirschjagd auf den Hirsch gesehen; er hatte sie selbst praktiziert. Aber noch niemals so. Während sie sich vorsichtig zwischen den Bäumen anschlich, schien sie leichter als ein Schatten zu sein. Er horchte nach dem allerleisesten Geräusch von Mokassins auf Moos. Nichts. Während sie sich näher heranpirschte, duckte sie sich immer tiefer, fast wie eine kauernde Katze – wurde langsamer und langsamer, ließ bei jedem neuen Schritt vorwärts den Fuß schwerelos wie ein Schnurrhaar über dem Boden schweben. Sie befand sich jetzt hinter der Hirschkuh, nur noch fünfzehn Schritt entfernt …, dann zehn …, fünf. Noch immer nahm das Tier sie nicht wahr. Van Dyck konnte es nicht glauben. Sie stand jetzt hinter einem Baum, drei Schritte von der Hirschkuh entfernt, die mit gesenktem Kopf äste. Sie wartete. Das Tier hob den Kopf, verharrte, senkte ihn wieder. Und Bleiche Feder sprang. Wie ein Blitz schoss sie durch die Luft. Die Hirschkuh schrak hoch, machte einen Satz und stürmte zwischen den Bäumen davon – aber nicht bevor das Mädchen sie mit einem Freudenschrei berührt hatte.

Dann rannte sie lachend zu ihrem Vater zurück, der sie mit einem Schwung in die Arme nahm. Und Dirk van Dyck, dem Niederländer, wurde bewusst, dass er noch nie so stolz auf ein Kind gewesen war und es auch niemals wieder sein würde, wie er in diesem Moment auf seine anmutige kleine indianische Tochter stolz war.

»Ich hab sie berührt!«, rief sie triumphierend.

»Das hast du.« Er drückte sie an sich. Sich vorzustellen, dass er der Vater eines vollkommenen Kindes war … Er schüttelte staunend den Kopf.

Danach saßen sie noch eine Weile beisammen. Er sagte nicht viel, und sie schien das nicht zu stören. Er fragte sich gerade, ob es Zeit zum Aufbruch wäre, als sie sich zu ihm wandte.

»Erzähl mir von meiner Mutter.«

»Also …« Er überlegte. »Sie war schön. Du bist ihr sehr ähnlich.«

Er dachte an ihre erste Begegnung im Lager am Sund, wo ihr Stamm im Sommer immer Muscheln sammelte. Anstelle der sonst üblichen Langhäuser bauten sie Wigwams am Ufer auf. Sie trockneten die Muscheln, kratzten sie aus ihren Schalen, vergruben die Schalen und verwahrten das gedörrte Austern-, Mies- und Klaffmuschelfleisch, um zu einem späteren Zeitpunkt daraus eine Suppe zuzubereiten. Warum hatte ihn gerade diese bestimmte junge Frau so beeindruckt? Weil sie ungebunden war? Vielleicht. Sie war verheiratet gewesen, hatte aber ihren Mann und ihr Kind verloren. Oder war es ein besonderes Leuchten von Neugier in ihren Augen gewesen? Auch das.

Er war zwei Tage dageblieben, hatte sich einen ganzen Abend lang mit ihr unterhalten. Die Anziehung war wechselseitig; aber seine Geschäfte riefen ihn woandershin, und bis er aufgebrochen war, hatte sich zwischen ihnen nichts weiter abgespielt.

Eine Woche darauf war er zurückgekommen.

Erst durch sie hatte er die Indianer kennengelernt und nach und nach begriffen, warum manche der ersten niederländischen Siedler, da sie keine eigenen Frauen hatten, Indianerinnen geheiratet und sich später selbst den eindringlichsten geistlichen Ermahnungen, sich von ihnen zu trennen, widersetzt hatten. Sie war so geschmeidig wie ein wildes Tier, doch wenn er sich müde fühlte oder zornig, war sie so sanft wie eine Taube.

»Hast du sie sehr geliebt?«

»Ja. Das habe ich.« Das war die Wahrheit.

»Und dann habt ihr mich bekommen.«

Bei ihrem Volk fand sich für solche überzähligen Kinder immer ein Platz in der Sippe der Mutter.

»Wenn du keine Frau im Handelsposten des Weißen Mannes gehabt hättest, dann hättest du doch meine Mutter geheiratet, nicht?«

»Natürlich.« Eine Lüge. Aber eine liebevolle.

»Du bist immer gekommen und hast sie besucht.«

Bis zu diesem schrecklichen Frühling vor drei Jahren, als er im Dorf angekommen war und erfahren hatte, dass Bleiche Feders Mutter krank sei. »Sie war gestern in der Schwitzhütte«, sagte man ihm, »aber es hat nichts geholfen. Jetzt sind die Medizinmänner bei ihr.«

Er kannte ihre Bräuche. Selbst wenn er hohes Fieber hatte, zog sich ein Indianer in eine kleine Hütte zurück, die mit glühend heißen Steinen aufgeheizt wurde, bis sie wie ein Backofen war. Dort saß der Kranke, bis er von Schweiß nur so troff, kam dann heraus, sprang in den kalten Fluss, wickelte sich in eine Decke und trocknete sich am Feuer. Oft war die Behandlung erfolgreich. Wenn nicht, gab es dann noch die Medizinmänner, die Kräuterkundigen.

Als sich van Dyck dem Haus näherte, in dem sie lag, war ein alter Mann herausgekommen. »Jetzt können ihr nur noch die meteinu helfen«, sagte der Alte traurig. Die meteinu besaßen Fähigkeiten, die über die gewöhnlicher Medizinmänner hinausgingen. Sie standen mit der Geisterwelt in Verbindung und kannten die geheimen Zaubersprüche. Wenn nur noch sie ihr helfen konnten, musste sie schon fast im Sterben liegen.

»Was für eine Krankheit hat sie denn?«, fragte van Dyck.

»Ein Fieber.« Der alte Mann schien sich nicht sicher zu sein, aber er zog eine Grimasse. »Ihre Haut …« Er schien mit dem Finger Blatternarben anzudeuten.

Blatternarben. Der Holländer erschauderte vor Angst. Der größte Fluch, den der Weiße Mann nach Amerika gebracht hatte, waren die Seuchen. Grippe, Masern, Windpocken – die weitverbreiteten Krankheiten der Alten Welt, gegen die die Indianer keine Widerstandskräfte besaßen. Ganze Dörfer wurden ausgelöscht. Vielleicht die Hälfte der eingeborenen Bevölkerung war schon dahingerafft worden. Die Malaria war mit den Schiffen der Weißen gekommen und ebenso die Syphilis. Aber der furchtbarste Import waren die Pocken gewesen. Erst das Jahr zuvor hatte diese schreckliche Geißel fast einen ganzen Stamm südlich der Neu-Niederlande ausgerottet und war anschließend sogar in Neu-Amsterdam aufgetaucht.

Konnten es die Pocken sein?

Dann hatte er etwas Abscheuliches getan. Er konnte es natürlich erklären. Er musste an sich denken, an seine Frau und seine Kinder, an die braven Menschen von Neu-Amsterdam. Der Pastor hätte ihm gesagt: Bedenke das größere Gut. Demzufolge hätte er also richtig gehandelt, als er damals nach kurzem Zörgern, ohne auch nur kurz zu Bleiche Feder zu gehen, zu seinem Boot zurückgeeilt und losgefahren war, den Fluss hinunter. Aber hätte er nicht warten können, statt wie ein Feigling wegzulaufen? In einem Moment, in dem ihre Familie sich anschickte, sich um sie zu scharen, hatte er seine indianische Frau im Stich gelassen. Hätte er nicht wenigstens das Kind besuchen können? Der Schmerz, die entsetzliche, eisige Scham wegen seines Verhaltens verfolgte ihn noch immer. Mehrmals im Jahr schreckte er mitten in der Nacht aus dem Schlaf, schreiend vor Entsetzen über das, was er getan hatte.

Einen Monat später war er zurückgekehrt; er hatte Bleiche Feder gesund im Schoß ihrer Großfamilie vorgefunden und erfahren, dass ihre Mutter am Tag nach seiner Flucht gestorben war, und zwar nicht an den Blattern, sondern an den Masern.

Er hatte versucht, sein Versagen an ihrer und seiner Tochter wiedergutzumachen. Jedes Jahr, wenn ihr Stamm das Totenfest feierte, war er zu ihr gekommen. Normalerweise erwähnte man die Verstorbenen nicht, aber zu diesem jährlichen Fest gehörte es sich, über sie zu sprechen und für ihre Seelen zu beten. Und genau das hatte er die letzten paar Tage lang getan, bevor er mit Bleiche Feder den Fluss hinabgefahren war.

»Erzähl mir, woran du dich von mir erinnerst, als ich klein war«, sagte sie.

»Wir sollten jetzt weiter«, erwiderte er, »aber ich erzähle es dir unterwegs.«

Also verließen sie die Lichtung, wo die wilden Erdbeeren wuchsen, kehrten zum alten Indianerpfad zurück, und während er langsam dahinritt, tat er sein Bestes, um sich all die kleinen Begebenheiten aus ihrer Kindheit ins Gedächtnis zu rufen, an die er sich erinnern konnte – aus Tagen, die er zusammen mit ihr und ihrer Mutter verbracht hatte; und dies schien Bleiche Feder Freude zu bereiten. Nach einer Weile nahm er sie, obwohl sie nicht müde war, hoch und setzte sie vor sich aufs Pferd.

Es dämmerte noch nicht, als sie das obere Ende Manhattans erreichten, und sie schlugen ihr Lager auf einer Anhöhe auf, oberhalb von einigen Indianerhöhlen. Dann lagen sie in ihre Decken gewickelt da und starrten zum Himmel empor, der klar und voller Sterne war.

»Weißt du, wo meine Mutter jetzt ist?«, fragte sie ihn.

»Ja.« Er wusste, was die Indianer glaubten, und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die ganze Länge der Milchstraße. »Ihr Geist ist auf dem Pfad der Sterne bis zum zwölften Himmel gewandert. Sie ist beim Schöpfer aller Dinge.«

Sie blieb lange Zeit stumm, und er fragte sich, ob sie überhaupt noch wach war. Dann aber sagte sie mit schläfriger Stimme: »Ich denke oft an dich.«

»Ich denke auch an dich.«

»Wenn du mich nicht sehen kannst, kannst du mich jederzeit hören.«

»Sag mir, wie.«

»Wenn ein Lüftchen weht, lausche auf die Stimme des Windes, der in den Kiefern seufzt. Dann wirst du mich hören.«

»Ich werde lauschen«, sagte er.

Am nächsten Morgen stiegen sie hinunter ans Wasser, wo die zwei Indianer mit dem großen Kanu sie erwarteten. Dort nahmen sie voneinander Abschied, und Dirk van Dyck kehrte nach Hause zurück.

*

Margaretha van Dyck wartete drei Wochen ab. Es war Sonntagnachmittag, und sie saßen in der Stube. Ihr Mann las ihren Kindern und Quash, dem Sklavenjungen, eine Geschichte vor, während sie von ihrem Sessel aus zusah. Das waren die Zeiten, da sie ihn am meisten mochte. Ihr Sohn Jan war dreizehn, ein kräftiger Junge mit einem dichten braunen Haarschopf, der seinen Vater bewunderte und in seine Fußstapfen treten wollte. Dirk nahm ihn oft mit ins Lagerhaus der Kompanie, erklärte ihm die Routen der Schiffe, nannte die Häfen, die sie anliefen, und sprach von den Passatwinden, denen die Kapitäne folgen mussten. Doch Jan erinnerte sie auch an ihren eigenen Vater. Er hatte nicht so viel von Dirks Eigensinn und Unberechenbarkeit, dafür mehr Interesse am Kontor. Sie war zuversichtlich, dass er seinen Weg gehen würde.

Einige Jahre zuvor hatte Margaretha zwei Kinder an einem Fieber verloren. Das war ein furchtbarer Schlag gewesen. Doch die Geburt von Clara hatte ihr ein wenig darüber hinweggeholfen. Blond und blauäugig, sah sie jetzt mit ihren fünf Jahren wie ein Engel aus. Ihr Vater vergötterte sie.

Was Quash anging, den Sklavenjungen, so machte er sich sehr gut. Er war ungefähr so alt wie Jan und hatte früher zusammen mit ihm spielen dürfen. Auch zu Clara war er sehr lieb. Aber Quash wusste, wo sein Platz im Haushalt war.

Und während sie ihren Mann dabei betrachtete, wie er den Kindern vorlas, dachte Margaretha, dass ihre Ehe – vorausgesetzt, sie konnte ein paar Nachbesserungen vornehmen – vielleicht doch noch zu einer sehr glücklichen werden konnte.

Nachdem die Vorlesestunde vorbei war und die Kinder zu Nachbarn gegangen waren, kündigte Dirk ihr an, dass er bald eine weitere Reise flussaufwärts unternehmen müsse. Margaretha nickte ruhig. Dann ließ sie ihre Falle zuschnappen.

»Ich habe mir überlegt, Dirk, dass es für dich an der Zeit wäre, einem Syndikat beizutreten.«

Er sah kurz auf, zuckte die Schultern.

»Kann ich mir nicht leisten.«

Aber sie wusste, dass sie jetzt seine Aufmerksamkeit hatte.

Dirk van Dyck hatte ein Talent für das Fellgeschäft. Ein Vierteljahrhundert zuvor, als die Westindien-Kompanie noch das Monopol auf den Fellhandel besaß, hätte er größeren Einfluss gehabt. Doch seither hatte sich die Wirtschaft Neu-Amsterdams geöffnet und gewaltig expandiert; und es war der goldene Zirkel führender Familien – der Beekmans, van Rensselaers, van Cortlandts und knapp zwei Dutzend weiterer –, aus denen die Syndikate bestanden, die den Transport von Tabak, Zucker, Sklaven und anderer, zunehmend gefragterer Waren finanzierten. Da konnte ein Mann leicht ein Vermögen verdienen. Falls er den Eintrittspreis aufbrachte.

»Möglicherweise haben wir mehr Geld, als du glaubst«, sagte sie ruhig. Wir: ein Gespann, Mann und Frau. Sie ließ es so klingen, als ob ihnen das Geld gemeinsam gehörte, aber sie wussten beide, dass dem nicht so war. Als ihr Vater sechs Monate zuvor gestorben war, hatte Margaretha geerbt; und gemäß ihrem Ehevertrag stand ihrem Mann keine Verfügungsgewalt über ihr Vermögen zu. Im Übrigen hatte sie dafür gesorgt, dass er gar nicht erst wusste, wie groß dieses Vermögen war. »Ich glaube, wir könnten durchaus ein bisschen in ein Syndikat investieren«, fügte sie hinzu.

»Es ist riskant«, warnte er.

Das wusste sie. Einige der größten Investoren in der Kolonie waren reiche Witwen und Ehefrauen. Margaretha hatte sie alle konsultiert.

»Kein Zweifel. Aber ich vertraue deinem Urteilsvermögen.« Sie sah, dass er ins Nachdenken geriet. Hatte er ihren Plan durchschaut? Wahrscheinlich. Doch es war kaum ein Angebot, das man ablehnen konnte. Ein Lächeln hellte seine Gesichtszüge auf.

»Meine liebe Frau«, antwortete er mit zärtlicher Stimme, »dein Vertrauen ehrt mich, und ich werde für unsere Familie alles tun, was ich kann.«

Den weisesten Rat hatte ihr die reichste Frau der Kolonie gegeben, eine Witwe, die sich gerade ihren dritten jungen Ehemann zugelegt hatte. »Zwingen Sie Ihrem Mann nicht Ihren Willen auf. Aber legen Sie die Bedingungen fest, unter denen er seine Entscheidungen treffen wird.« Van Dyck, schätzte Margaretha, würde nicht lange brauchen, um Geschmack an größeren Transaktionen zu bekommen. Und an den damit einhergehenden gesellschaftlichen Beziehungen. Bald würde er in Neu-Amsterdam zu sehr beschäftigt sein, um noch Indianerinnen in der Wildnis nachzusteigen. Und hatte er sich erst einmal an das neue Leben gewöhnt, würde er, selbst wenn ihm der Sinn nach Seitensprüngen stehen sollte, zu sehr befürchten, sie könnte ihm den Geldhahn zudrehen.

»Ich werde trotzdem weiterhin den Fluss hinauffahren müssen«, bemerkte er.

»Ach?« Sie runzelte die Stirn.

»Ich kann mein Fellgeschäft nicht aufgeben. Jedenfalls nicht sofort. Wir brauchen diese Einkünfte noch, oder?«

Sie zögerte. Seine Einnahmen waren in der Tat nützlich; und solange sie nicht bereit war, ihm zu verraten, wie viel Geld sie wirklich besaß, war sein Argument stichhaltig. Aber sie durchschaute sein Spiel. Er versuchte, vom Haken zu kommen. Verdammt!

Hatte er eine Frau da draußen in der Wildnis? Oder gleich mehrere? Dieses Indianerkind, da war sie sich sicher, hatte er gezeugt. Das könnte ihm noch ernsthafte Schwierigkeiten eintragen. In seiner leidenschaftlichen Liebe zu Sitte und Anstand hatte Stuyvesant geschlechtliche Beziehungen zu Eingeborenen unter Strafe gestellt. Doch was immer sie auch von der Sache halten mochte – ihren Ehemann vor den Richter zu bringen hätte schwerlich das Problem gelöst. Nein, sie würde ruhig bleiben. Sollte er ruhig zappeln und sich winden, sie konnte ihn trotzdem überlisten. Sie würde ihn so sehr beschäftigen, dass er auf lange Zeit hinaus keine Gelegenheit finden würde, den Fluss hinaufzufahren.

»Du hast recht«, sagte sie zuckersüß. Sollte er sich doch einbilden, er habe gewonnen.

*

Die nächsten Wochen liefen für Dirk van Dyck gut. Er trat bald mit einer Gruppe von Handelsherren in geschäftliche Beziehungen, die Tabak über den Atlantik zu den großen Verarbeitungsbetrieben in Alt-Amsterdam verschifften. Er und Margaretha verkehrten mit einem Male in den Häusern von Großkaufleuten, in die er bis dahin kaum je einen Fuß gesetzt hatte. Er hatte sich einen neuen Hut und sogar mehrere Paar feine Seidenstrümpfe gekauft. Der Kaminaufsatz in der Stube war mit schönen blau-weißen Delfter Kacheln verziert worden. Margaretha hatte sich sogar den Sklavenjungen Quash, der bis dahin im Haus eine Art Mädchen für alles gewesen war, vorgenommen und ihm beigebracht, bei Tisch zu servieren. Als der alte Geistliche ihnen die Ehre seines Besuchs erwies, hatte er sie zur Anstelligkeit des Sklavenjungen beglückwünscht.

Eines Tages, im Juni, als van Dyck sich von einer Kegelspielrunde verabschiedete, redete ihn ein junger holländischer Kaufmann mit baas an. Und wenn ein Niederländer einen als baas titulierte, so bedeutete dies, dass man ein wichtiger Mann war, eine Respektsperson. Sein Gang strahlte eine neue Selbstsicherheit aus; seine Frau schien sehr stolz auf ihn zu sein.

Insofern kam der Streit für ihn vollkommen überraschend.

Es war ein Abend im Juli. Am nächsten Morgen wollte er flussaufwärts. Margaretha wusste das schon seit geraumer Zeit. Deswegen erschien es ihm kaum nachvollziehbar, als sie plötzlich sagte: »Ich glaube, du solltest morgen besser nicht fahren.«

»Warum denn nicht? Es ist schon alles vorbereitet.«

»Weil du deine Familie nicht in solcher Gefahr alleinlassen darfst.«

»Was für einer Gefahr?«

»Das weißt du sehr gut. Die Engländer.«

Sie hatte natürlich nicht unrecht. Der Kaufmann Springsteen, dessen Ansichten er achtete, hatte es ihm erst neulich sehr klar auseinandergesetzt. »Die Engländer wollen unseren Fell- und Sklavenhandel an sich reißen. Der Tabak, der in diesem Hafen umgeschlagen wird, wäre für sie zehntausend Pfund im Jahr wert. Aber vor allen Dingen, mein Freund, wenn sie Neu-Amsterdam haben, haben sie den Fluss, und dann kontrollieren sie den gesamten Norden.«

Die Engländer waren zunehmend aggressiver geworden. Drüben auf der Langen Insel, deren hinteres Ende sie kontrollierten, hatten sie das Manhattan zugewandte Territorium bislang immer den Niederländern überlassen. Letztes Jahr aber verlangte Gouverneur Winthrop von Connecticut von einigen niederländischen Siedlungen Steuern, und nicht alle hatten sich getraut, sie ihm zu verweigern.

Ein noch größerer Schreck war erst kürzlich gekommen.

Mochte König Karl II. von England auch ein amüsanter Gauner sein – sein jüngerer Bruder Jakob, der Herzog von York, war aus härterem Holz geschnitzt und weniger beliebt. Die Leute hielten ihn für hochmütig, unnachgiebig und ehrgeizig. Entsprechend groß war die Erschütterung gewesen, als die Nachricht kam: »Der König hat die amerikanischen Kolonien seinem Bruder geschenkt, von Massachusetts bis fast hinunter nach Maryland.« Dieses Gebiet schloss auch die Neu-Niederlande ein. Und der Herzog von York entsandte eine Flotte nach Amerika, um seinen Anspruch durchzusetzen.

Pieter Stuyvesant war außer sich gewesen. Er hatte angefangen, die Befestigungsanlagen zu verstärken, und Wachen aufgestellt. Die Westindien-Kompanie schickte zwar weder Geld noch Truppen, trotzdem hatte sie ihm befohlen, die Kolonie zu verteidigen. Und der furchtlose Gouverneur war fest entschlossen, zumindest Neu-Amsterdam zu halten.

Doch dann kam aus dem Mutterland eine weitere Botschaft: Die britische Regierung hatte den Niederlanden – mit absoluten Garantien – zugesichert, keinerlei Ansprüche auf deren Kolonie zu erheben. Die Flotte war unterwegs nach Boston. Kurz darauf trafen tröstliche Nachrichten ein. Die Flotte hatte Boston erreicht und blieb auch dort. Die Krise war ausgestanden. Stuyvesant war schon flussaufwärts aufgebrochen, um gewisse Probleme mit den dort ansässigen Mohawk-Indianern zu regeln.

Als Margaretha also die englische Bedrohung ins Feld führte, um ihn davon abzuhalten, den Fluss hinaufzufahren, durchschaute van Dyck ihre List sofort als das, was sie war: ein Versuch, ihn zu kontrollieren. Dem er sich nicht zu beugen gedachte.

»Und meine Geschäfte?«, fragte er.

»Die können warten.«

»Das glaube ich nicht.« Er schwieg kurz, während sie ihn anstarrte. »Du und die Kinder werdet nicht in Gefahr sein«, fuhr er fort.

»Sagst du.«

»Weil es die Wahrheit ist.«

»Heißt das, du weigerst dich, hierzubleiben?«

»Selbst der moskowitische Großfürst glaubt, dass jetzt keine Gefahr mehr droht«, sagte er leichthin. So nannten die Bürger von Neu-Amsterdam Stuyvesant, dessen despotische Regierungsweise sie ihm oft übel nahmen, hinter seinem Rücken.

»Es besteht keine Veranlassung, auf den Gouverneur mit diesem albernen Namen anzuspielen«, sagte sie zornig.

»Wie du meinst.« Er zuckte die Schultern. »Dann eben Stelzfuß.«

Tatsache war, dass Stuyvesant bei den Kaufleuten, die reichen Freunde seiner Frau eingeschlossen, nicht sonderlich beliebt war – wie übrigens die ganze Westindien-Kompanie. Etlichen von ihnen, schätzte van Dyck, hätte es kaum gleichgültiger sein können, welches Land Anspruch auf die Kolonie erhob, solange der Handel ungestört weiterlief. Er fand es irgendwie leicht belustigend, dass die Freunde seiner Frau eher seine als ihre Ansichten teilten.

»Er ist zehn von deiner Sorte wert!«, schrie sie wütend.

»Mein Gott«, lachte er, »ich glaube gar, du bist in ihn verliebt!«

Er war zu weit gegangen: Jetzt explodierte sie förmlich.

»Hast du nichts anderes im Kopf? Vielleicht solltest du nicht von dir auf andere schließen! Und was deine Besuche bei den Indianern anbelangt …« Sie spie die Worte mit bitterer Verachtung aus – was sie damit sagen wollte, war unzweifelhaft klar. »Wenn du weiterhin Wert auf mein Geld legst, sieh besser zu, dass du in drei Wochen zurückkommst!« Diese letzte Drohung stieß sie schreiend aus, während sie aufstand. Ihre Augen loderten vor Wut.

»Ich werde zurückkommen«, sagte er mit eisiger Ruhe, »sobald meine Geschäfte erledigt sind.« Aber sie war schon aus dem Zimmer gestürmt.

Er verließ das Haus im Morgengrauen, ohne sie wiedergesehen zu haben.

*

Es war ein herrlicher Sommermorgen, als das breite Klinkerboot, mit vier Ruderern bemannt, Kurs nach Norden nahm. Van Dycks Reise führte heute allerdings nicht direkt zu Hudsons großem Fluss, sondern begann auf der anderen Seite von Manhattan, auf dem Ost-Fluss. Den Mittelteil des Bootes nahm ein gewaltiger Stapel des dicken, unverwüstlichen Stoffes ein, den die Niederländer duffel nannten. Diese legale Ladung würde jedes neugierige Auge zufriedenstellen.

Es war eine friedvolle Szene. Nach einer Weile zogen sie an einer langen, flachen Insel vorbei, und dann, als sie den Hafenkai von Neu-Amsterdam fast acht Meilen hinter sich gelassen hatten, hielten sie hart nach Steuerbord auf einen kleinen Landungssteg auf der Ostseite zu, wo eine Anzahl von Männern mit einer Wagenladung Fässer sie erwarteten. Denn das war ihre eigentliche Fracht.

Es nahm einige Zeit in Anspruch, alle Fässer zu verladen. Der Vormann, ein korpulenter holländischer Bauer, fragte van Dyck, ob er die Ware prüfen wolle.

»Ist er so wie bisher?«, fragte dieser.

»Genauso.«

»Ich vertraue Ihnen.« Sie hatten schon häufig Geschäfte miteinander gemacht.

Branntwein. Die Indianer konnten nicht genug davon kriegen. Ihnen Alkohol zu verkaufen verstieß streng genommen gegen das Gesetz. »Aber das Verbrechen ist weniger schlimm«, hatte der Vormann van Dyck leutselig mitgeteilt, »weil ich das Zeug verdünnt habe.« Nur ein bisschen – die Indianer merkten den Unterschied nicht –, aber genug, um van Dycks Gewinnmarge um weitere zehn Prozent zu erhöhen. Als alle Fässer verstaut waren, legte das Boot ab.

Bei dieser Operation gab es nur ein Problem: Die Fracht musste den Ost-Fluss hinaufbefördert werden. Wollte van Dyck nicht den Umweg zurück über Neu-Amsterdam nehmen, war er gezwungen, weiter die Ostseite Manhattans entlangzufahren, bis er Hudsons großen Nordfluss erreicht hatte. Und das brachte Gefahren mit sich.

Denn an seinem oberen Ende gabelte sich der East River. Nach links führte ein schmaler Wasserweg um die Nordspitze Manhattans herum. Nach rechts bog ein breiterer Kanal ostwärts ab und mündete in den gewaltigen Sund, dessen stilles Wasser sich, durch die Lange Insel vor dem Ozean geschützt, fast hundert Meilen weit hinzog. Die Gefahr lag an der Gabelung. Denn auch wenn alle drei Wasserwege ruhig erschienen, unterlagen sie dem Sog und Druck jeweils geringfügig unterschiedlicher Gezeiten und Strömungen, sodass an ihrer Schnittstelle ein komplexer Strudel entstand, der aufgrund mehrerer kleiner Inseln, die an diesem Schnittpunkt lagen, noch schwieriger abzuschätzen war. Selbst am windstillsten Tag, wenn draußen im Sund das sanfte Wasser das Röhricht kaum in Bewegung zu versetzen schien, konnte ein unerfahrener Fährmann, der die Gabelung erreichte, mit seinem Kahn unvermutet in die Wirbel und Strudel geraten und hilflos gegen eine Wasserwand geschmettert werden, die wie ein zorniger Gott aus der Tiefe aufgetaucht zu sein schien. »Höllentor« wurde diese Stelle genannt. Wenn irgend möglich, mied man sie.

Deswegen bogen sie vorsichtig, sich dicht an die Küste Manhattans haltend, in die enge Rinne zur Linken ein und wurden zwar kräftig gerüttelt, kamen aber sicher hindurch.

Links von ihnen lag die kleine Siedlung Haarlem. Die Nordspitze Manhattans war zwar nur eine knappe Meile breit, doch sie erhob sich zu beträchtlicher Höhe. Zu ihrer Rechten begann Broncks Land. Der enge Kanal zog sich ein paar Meilen hin, bis er, an einigen alten indianischen Höhlen und verlassenen Lagern vorbei, durch eine steile, gewundene Schlucht in den großen Nordfluss mündete. Hier kam eine weitere Stelle mit gefährlichen Querströmen, die es zu bewältigen galt. Als sie endlich auf dem großen Fluss waren, stieß van Dyck einen Seufzer der Erleichterung aus.

Von da ab war es einfach. Wenn die Flut des Atlantiks durch die Bucht hereinkam und den Fluss sanft zurückdrängte, ging die Strömung viele Meilen weit bergauf. Sie hatten die Tide im Rücken. Deswegen bewegte sich das schwer beladene Boot, ohne dass sich die Ruderer besonders anzustrengen brauchten, rasch nach Norden. Zu ihrer Rechten zog das ausgedehnte Gut des Jonkers vorbei. Backbords setzten sich die steinernen Palisaden des Westufers fort, bis sie einem buckligen Hügel wichen. Und jetzt, auf Steuerbord, sah van Dyck auch schon sein Ziel, das Indianerdorf direkt oberhalb der östlichen Uferböschung. »Hier«, sagte er zu den Ruderern, »werden wir bis morgen rasten.«

*

Sie freute sich sehr, ihn zu sehen, und führte ihn vergnügt durch das kleine Dorf, damit er alle Familien begrüßen konnte. Die aus u-förmig gebogenen jungen Bäumchen und einer Rindenverkleidung bestehenden Häuser standen ohne jede schützende Palisade nebeneinander auf einer lang gestreckten Anhöhe am Wasser. Das größte Haus, ein langes, schmales Gebäude, beherbergte fünf Familien. Neben diesem Haus waren zwei Walnussbäume, und in den Sträuchern dahinter wuchsen wilde Reben. Unten am Flussufer hingen riesige Fischernetze auf Trockenstangen. Im seichten Wasser am Rande des Röhrichts gründelten Schwäne und Stockenten.

So arm sie auch ist, dachte van Dyck, lebt meine Tochter nicht schlechter als ich.

Am frühen Abend aßen sie saftigen Fisch aus dem Fluss. Es lagen noch einige Stunden Helligkeit vor ihnen, als Bleiche Feder ihn einlud, mit ihr den Hang hinauf zu einem Vorsprung zu steigen, von dem aus man einen schönen Ausblick auf das Wasser hatte. Er bemerkte, dass sie ein mit Blättern umwickeltes Päckchen bei sich trug. Sie saßen in der Abendsonne und betrachteten die Adler, die hoch über ihnen kreisten. Nach einer Weile sagte sie: »Ich habe ein Geschenk für dich. Es ist selbst gemacht.«

»Darf ich es sehen?«

Sie reichte ihm das Päckchen. Er schlug die Blätter auseinander. Und dann lächelte er entzückt.

»Wampum!«, rief er aus. »Er ist wunderschön.« Gott allein wusste, wie viele Stunden sie gebraucht haben mochte, um ihn herzustellen.

Wampum. Kleine Scheibchen von Meeresschneckenhäusern und Muscheln, in der Mitte durchbohrt und aufgefädelt. Weiß vom Gehäuse der Uferschnecke; Purpur oder Schwarz von der Venusmuschel. Aneinandergenäht oder gewoben wurden die Perlenschnüre zu Gürteln, Stirnbändern, allen möglichen Zierraten.

Und Geld. Bei den Indianern waren Wampumschnüre Zahlungsmittel für Waren, Ehefrauen, Tribute. Und da er Reichtum darstellte, achteten die weisen Männer des Stammes immer darauf, dass Wampum unter die verschiedenen Familien aufgeteilt wurde.

Aber er war mehr als Schmuck und Zahlungsmittel. Wampum besaß oft eine besondere Bedeutung. Weiß bedeutete Frieden und Leben; Schwarz bedeutete Krieg und Tod. Aber beim Weben von Wampum war es auch ohne Weiteres möglich, kunstvolle Muster und kleine geometrische Piktogramme zu erzeugen, die sich dann lesen ließen. Breite, viele Fuß lange Zeremonialgürtel hielten wichtige Ereignisse oder Friedensschlüsse fest. Heilige Männer trugen Wampum mit Symbolen von tiefer Bedeutung.

Die Niederländer hatten nicht lange gebraucht, um herauszufinden, dass sie mit Wampum – den sie sewan nannten – Felle kaufen konnten. Aber die englischen Puritaner oben in Massachusetts waren noch einen Schritt weitergegangen. Traditionell sammelten die Indianer die Muscheln und Schnecken im Sommer und erledigten die langwierige Arbeit des Durchbohrens, für die sie nur Steinwerkzeuge besaßen, im Winter. Nur hatten die Engländer mithilfe von Stahlbohrern, die die Arbeit beschleunigten, eine eigene Produktion begonnen und damit die Indianer ausgestochen. Schlimmer noch: Da das Angebot an Wampum ebenso schnell stieg wie die Nachfrage nach Waren, brauchte man immer mehr Wampum, um die gleichen Waren zu kaufen. Für die niederländischen und englischen Kaufleute war eine solche Inflation nichts Ungewöhnliches; aber die Indianer, die es gewohnt waren, die Schönheit des Wampums und den ihm wesenhaft innewohnenden Wert zu sehen, hatten bald den Eindruck, dass die Weißen sie betrogen.

Was van Dyck jetzt in den Händen hielt, war ein Gürtel. Er war weniger als drei Zoll breit, aber sechs Fuß lang, sodass er ihm mehr als zweimal um die Taille gehen würde. Vor einem Hintergrund aus weißen Muschelscheibchen hoben sich in Purpur gehaltene kleine geometrische Figuren ab. Das Mädchen zeigte stolz auf sie.

»Weißt du, was das heißt?«, fragte sie.

»Nein«, gestand er.

»Es heißt« – sie strich mit dem Finger darüber – »›Vater von Bleiche Feder‹.« Sie lächelte. »Wirst du ihn tragen?«

»Immer«, versprach er.

»Das ist gut.« Sie sah ihm glücklich zu, wie er den Gürtel anlegte. Dann saßen sie dort lange beisammen und schauten zu, wie die Sonne langsam rot wurde und über den Wäldern jenseits des Stromes niederging.

Am nächsten Morgen versprach er beim Abschied, dass er sie auf der Rückfahrt noch einmal besuchen werde.

*

Diesen Sommer verlief Dirk van Dycks Reise angenehm. Das Wetter war schön. Am westlichen Ufer zogen sich die ausgedehnten Waldgebiete hin, die noch immer von den Algonkin sprechenden Stämmen kontrolliert wurden, zu denen auch das Volk seiner Tochter gehörte. Er kam an Mündungen von kleinen Flüsschen vorbei, die er gut kannte. Und er reiste, wie er zu sagen pflegte, als Gast des Flusses. Der mächtige Gezeitenstrom vom Ozean konnte seinen Puls hundertfünfzig Meilen weit Hudsons Fluss hinaufschicken, bis zum Fort Oranje. Im Sommer gelangte sogar das salzige Meerwasser fast sechzig Meilen stromaufwärts. So ließ er sich größtenteils bequem von der Strömung seinem Ziel, hoch oben im Mohawk-Territorium, entgegentreiben.

Viele fürchteten die Mohawks. Die Indianer, die im Gebiet rund um Manhattan lebten, sprachen alle Algonkin-Sprachen, aber die Mohawks und andere mächtige Stämme, die die riesigen Wälder im Norden kontrollierten, sprachen Irokesisch. Und die irokesischen Mohawks hatten wenig für die Algonkin übrig. Es war mittlerweile vierzig Jahre her, dass sie angefangen hatten, sie zu bedrängen. Sie überfielen die Algonkin und forderten von ihnen Tribut. Doch trotz des furchterregenden Rufes der Mohawks hatten die Niederländer von Anfang an einen pragmatischen Standpunkt eingenommen.

»Wenn die Mohawks die Algonkin überfallen, umso besser. Mit ein wenig Glück bedeutet dies, dass die Algonkin zu sehr damit beschäftigt sind, die Mohawks zu bekämpfen, um uns Schwierigkeiten zu machen.« Die Niederländer hatten sogar den Mohawks Schusswaffen verkauft.

In van Dycks Augen barg diese Politik gewisse Risiken. Die nördlichen Außenposten der Neu-Niederlande, wie Fort Oranje und Schenectady, lagen auf Mohawk-Territorium. Manchmal machten die dortigen Mohawks Probleme. Genau solche waren es, die Pieter Stuyvesant kürzlich nach Fort Oranje gerufen hatten. So wenig er Stuyvesant auch leiden mochte, hegte van Dyck keinen Zweifel daran, dass der zähe alte Gouverneur mit den Mohawks fertigwerden würde. Sie mochten kriegslustig sein, aber sie würden verhandeln, weil es in ihrem eigenen Interesse lag.

Van Dyck selbst hatte keine Angst vor den Mohawks. Er sprach Irokesisch, und er kannte ihre Sitten und Gebräuche. Außerdem wollte er gar nicht bis nach Fort Oranje hinauf, sondern zu einem Handelsposten an einem kleinen Nebenfluss, ungefähr eine Tagesreise südlich des Forts. Nach seinen Erfahrungen waren Kaufleute, was immer sonst auf der Welt auch gerade passieren mochte, jederzeit willkommen. Er würde in die Wildnis gehen und den Mohawks verwässerten Branntwein verkaufen und mit einer schönen Ladung Felle zurückkehren.

»Vertrau dem Handel«, pflegte er zu sagen. »Königreiche kommen und gehen, aber der Handel bleibt immer bestehen.«

Natürlich war es schade, dass er gezwungen war, mit den Mohawks Handel zu treiben. Denn das Volk der Algonkin, zu dem seine Tochter gehörte, mochte er lieber. Doch was konnte er tun? Die Gier des Weißen Mannes nach Fellen und die Begierde der Indianer, diese zu liefern, hatten die Biber am Unterlauf von Hudsons Fluss so dezimiert, dass die Algonkin nicht mehr genug anzubieten hatten. Selbst die Mohawks mussten Raubzüge in das noch weiter nördlich gelegene Territorium der Huronen unternehmen, um die unerschöpfliche Nachfrage der Weißen zu befriedigen. Aber die Mohawks lieferten. Also waren sie jetzt seine wichtigsten Handelspartner.

Seine Reise dauerte zehn Tage. Auch als er sich weiter in das Landesinnere hineinwagte, stieß er auf keinerlei Schwierigkeiten. Der Handelsposten der Mohawks war, anders als die meisten Algonkin-Dörfer, eine dauerhafte Siedlung mit einer Palisade. Die Mohawks waren hart und barsch, aber sie akzeptierten seinen Branntwein. »Obwohl es besser gewesen wäre«, erklärten sie ihm, »wenn du Gewehre gebracht hättest.«

Er kehrte mit einer der größten Ladungen von Fellen zurück, die er je den Fluss hinabgeschifft hatte. Doch trotz der kostbaren Fracht, die er jetzt mit sich führte, hatte er es nicht eilig, nach Manhattan zurückzukehren. Er überlegte sich Möglichkeiten, Zeit zu schinden – einen Tag hier, einen Tag dort.

Er wollte Margaretha warten lassen.

Nicht zu lang. Er hatte es genau kalkuliert und beschloss, die Frist, die sie ihm gesetzt hatte, nicht einzuhalten. Natürlich würde er ihr erzählen, seine Geschäfte hätten ihn länger aufgehalten, als er zunächst erwartet hatte. Sie würde vermuten, dass er log, aber was konnte sie schon ausrichten? Etwas Ungewissheit würde ihr guttun: Das schien ihm die richtige Methode zu sein. Er liebte seine Frau, aber er musste ihr klarmachen, dass sie ihn nicht herumkommandieren konnte. Eine knappe Woche Verspätung würde wohl ihren Zweck erfüllen. Also strengten sich seine Ruderer, auf seinen Befehl hin, bei ihrer Fahrt nach Süden nicht über Gebühr an; und van Dyck zählte die Tage und bewahrte einen kühlen Kopf.

Nur eine Sache bereitete ihm Sorge – etwas Unerledigtes. Eine Kleinigkeit vielleicht, doch sie ging ihm nicht aus dem Sinn.

Er hatte kein Geschenk für seine Tochter.

Der Wampum-Gürtel, den sie ihm geschenkt hatte, besaß natürlich einen bestimmten materiellen Wert. Aber der ideelle Wert war unschätzbar. Bleiche Feder hatte ihn mit ihren eigenen Händen für ihn gefertigt, hatte die Perlen aufgefädelt, die Schnüre in langwieriger Arbeit zu dieser einen schlichten Botschaft der Liebe zusammengenäht.

Was konnte er als Gegengabe schenken? Handwerklich hatte er keinerlei Geschick. Ich kann weder schnitzen noch zimmern noch weben, dachte er. Ich besitze diese uralten Fertigkeiten nicht. Ich kann nur kaufen und verkaufen. Wie soll ich ihr meine Liebe zeigen außer mit kostspieligen Geschenken?

Beinahe hätte er den Mohawks ein Gewand für sie abgekauft. Aber vielleicht würde sie ein Mohawk-Gewand nicht tragen wollen. Außerdem wollte er ihr etwas von seinem eigenen Volk schenken, zu dem sie schließlich durch ihn auch gehörte. So sehr er sich auch den Kopf zerbrochen hatte, er war zu keiner Lösung gelangt.

Sie hatten wieder Algonkin-Gebiet erreicht, als er seine Männer anwies, ans westliche Ufer zu pullen zu einem Dorf, in dem er schon früher Geschäfte gemacht hatte. Er legte Wert darauf, seine Kontakte zu pflegen, und außerdem war es eine gute Möglichkeit, seine Heimkehr noch ein bisschen weiter hinauszuzögern.

Er wurde freundlich empfangen. Die Dorfbewohner hatten alle Hände voll zu tun, weil gerade Erntezeit war. Wie die meisten Indianer in dieser Region hatten sie im März Mais gesät und im Mai Gartenbohnen, die sich dann um die hohen Maispflanzen ranken konnten. Jetzt wurde beides geerntet. Van Dyck und seine Männer blieben zwei Tage im Dorf und halfen bei der Ernte. Es war harte Arbeit in der heißen Sonne, aber er hatte Freude daran. Außerdem hatten die Algonkin zwar nur wenig Felle, aber sie konnten dem Weißen Mann noch immer Mais verkaufen, und van Dyck versprach, in einem Monat zurückzukehren und eine Ladung Mais für sie flussabwärts zu schaffen.

Die Ernte verlief gut. Am dritten Tag hatten sie sich alle zur Abendmahlzeit gesetzt, und die Frauen trugen gerade das Essen heraus, als in der Ferne ein kleines Boot auftauchte. Es wurde von einem einzelnen Mann gepaddelt.

Van Dyck beobachtete, wie das Boot näher kam. Als es das Ufer erreichte, stieg der Mann aus und zog das Boot an Land. Er war ein blonder junger Bursche, Anfang zwanzig mit leicht vorstehenden Zähnen. Trotz des warmen Wetters trug er Reitstiefel und einen schwarzen Mantel, der mit Schlamm bespritzt war. Er hatte harte, aber nicht unsympathische Gesichtszüge und stechende blaue Augen. Jetzt holte er eine Ledertasche aus dem Boot und schlang sie sich über die Schulter.

Die Indianer beobachteten ihn argwöhnisch. Einer von ihnen sprach ihn an, doch offensichtlich beherrschte er kein Algonkin. Durch eine einfache Geste gab er zu verstehen, dass er um Speise und Unterkunft bat; und es war bei den Algonkin nicht Brauch, derlei zu verweigern. Van Dyck bedeutete dem Fremden, sich neben ihn zu setzen.

Er brauchte nur wenige Augenblicke, um herauszufinden, dass der junge Mann ebenfalls kein Niederländisch sprach. Seine Muttersprache war Englisch, was van Dyck leidlich verstand. Allerdings erwies sich der blonde Mann im dunklen Mantel auch in dieser Sprache als wortkarg.

»Wo kommen Sie her?«, fragte van Dyck.

»Boston.«

»Was sind Sie von Beruf?«

»Kaufmann.«

»Was führt Sie hierher?«

»Ich war in Connecticut. Bin ausgeraubt worden. Hab mein Pferd verloren. Ich dachte, ich fahr den Fluss runter.« Er nahm die Schüssel Mais, die ihm angeboten worden war, und fing an zu essen, wodurch er weiteren Fragen auswich.

In Boston gab es nach van Dycks Kenntnis zwei Sorten von Leuten. Die erste waren die Gottesfürchtigen, die strengen Puritaner, deren Gemeinden im Lichte des Herrn lebten. Doch es war ein unbarmherziges Licht. Wenn Stuyvesant keine Toleranz gegen Außenseiter wie die Quäker zeigte und sie, wann immer er konnte, aus der Kolonie hinauswarf, so war das nichts gemessen daran, wie man in Massachusetts mit ihnen verfuhr: Man peitschte sie halb zu Tode, nach dem, was man so hörte. Allerdings schien ihm der Fremde keiner von den Gottesfürchtigen zu sein. Die zweite Sorte waren die Männer, die nach Neuengland gekommen waren, um durch Fischerei und Handel Geld zu verdienen. Zähe, harte Männer. Möglicherweise fiel der junge Fremde in diese Kategorie. Aber seine Geschichte klang wenig glaubwürdig. War er, aus welchem Grund auch immer, auf der Flucht und hatte sich nach Westen geschlagen, um seine Verfolger abzuschütteln? Und vielleicht auch noch das Boot gestohlen? Van Dyck beschloss, ihn im Auge zu behalten.

*

Tom Master hatte eine wahre Odyssee hinter sich. Seine Überfahrt nach Boston mit der englischen Kriegsflotte war von Stürmen begleitet gewesen. Als er Boston erreicht hatte und zum – jetzt von seinem Bruder bewohnten – Haus seiner Eltern gegangen war, hatte ihn Eliot mit einem Ausdruck des Entsetzens empfangen, dem ein stundenlanges Schweigen folgte, das, wie Tom befand, noch unangenehmer als die Stürme auf See war. Sein Bruder warf ihn nicht regelrecht aus dem Haus, doch er stellte auf seine ruhige, ernste Weise klar, dass ihrem Vater, mochte er auch tot sein, gehorcht werden müsse und dass Tom durch seinen Versuch, wieder in die Familie aufgenommen zu werden, gegen jede Regel des Anstands verstoßen habe.

Zuerst war Tom verletzt gewesen, dann zornig. Am dritten Tag hatte er beschlossen, die ganze Angelegenheit als einen Scherz zu behandeln; als sein Bruder gerade nicht im Zimmer war, hatte er gelacht.

Aber in Boston eine Anstellung zu finden erwies sich als weniger spaßig. Ob es nun an seinem schlechten Ruf lag oder aber daran, dass Eliot alle vor ihm gewarnt hatte – jedenfalls machte ihm keiner der Kaufleute, die er kannte, Hoffnungen. So viel war klar: Wenn er in Boston blieb, würde das Leben schwierig werden.

Er fragte sich außerdem, ob sein Vater ihn wohl in seinem Testament bedacht hatte. Doch als er seinen Bruder fragte und dieser erklärte: »Ja, aber nur unter gewissen Bedingungen, die du nicht erfüllst«, zweifelte er keinen Moment daran, dass dies der Wahrheit entsprach.

Was sollte er also tun? Nach London zurückkehren? Eliot würde ihm die Überfahrt wahrscheinlich bezahlen, wenn dies bedeutete, dass er endgültig aus Boston verschwand. Aber es ärgerte ihn, dass er sich von seinem eigenen Bruder aus der Stadt jagen lassen sollte.

Außerdem war da immer noch die andere Überlegung, die ihn überhaupt hierhergeführt hatte.

Die Flotte des Herzogs von York blieb im Hafen von Boston, und der Kommandant kümmerte sich nach außen hin um die Angelegenheiten des Herzogs in der Stadt. Aber eine Unterhaltung mit einem jungen Offizier hatte bald bestätigt, was Tom schon die ganze Zeit vermutete. Die Flotte sollte weiter nach Neu-Amsterdam segeln, und zwar schon bald. »Wenn der Herzog den Holländern die Neu-Niederlande abnehmen kann, wird er hier Herr eines großen Reiches sein«, erklärte ihm der Offizier. »Wir haben genügend Kanonenkugeln und Pulver geladen, um Neu-Amsterdam in Grund und Boden zu schießen.« Die Zusage des Königs von England an die Niederländer, sie in Ruhe zu lassen, war die Lieblingstaktik dieses schnurrigen Monarchen gewesen: eine schamlose Lüge.

Und wenn dem so war, dann würden sich die Aussichten für einen jungen Engländer in den amerikanischen Kolonien bald deutlich verbessern. Es wäre schiere Dummheit, dachte Tom, ausgerechnet jetzt nach England zurückzukehren. Was er brauchte, war ein Plan.

Die entscheidende Idee kam ihm am nächsten Tag. Wie viele von Toms Ideen war sie haarsträubend, entbehrte aber nicht eines gewissen Humors. In einer Schenke hatte er ein Mädchen getroffen, an das er sich von früher her erinnerte – ein Mädchen von lockerem Lebenswandel –, und sich eine Zeitlang mit ihr unterhalten. Am nächsten Tag setzte er die Unterhaltung mit ihr fort. Als er ihr sagte, was er von ihr wollte, und den Preis nannte, den er dafür bezahlen würde, lachte sie und willigte ein.

An dem Abend sprach er mit seinem Bruder.

Er begann mit einer Apologie. Er sagte Eliot, er bereue seine früheren Missetaten. Dies wurde kommentarlos zur Kenntnis genommen. Dann erklärte Tom, er wolle sich häuslich niederlassen, wenn auch in bescheidensten Verhältnissen, und versuchen, ein besseres Leben zu führen.

»Nicht hier, will ich hoffen«, sagte sein Bruder.

Doch, sagte Tom, das sei in der Tat sein Plan. Und nicht nur das, er glaube sogar, bereits eine Ehefrau gefunden zu haben. Bei dieser Eröffnung starrte ihn Eliot sprachlos vor Erstaunen an.

Es gebe da eine Frau, erklärte Tom, die er von früher her kenne, eine Frau, die ebenfalls kein ganz vollkommenes Leben geführt habe, die aber bereit sei, sich zu bekehren. Was könne es für eine bessere Möglichkeit geben, christliche Vergebung und Demut zu zeigen, als sie zu retten?

»Wer ist es?«, fragte Eliot kalt.

Tom nannte ihm den Namen des Mädchens und den der Schenke, in der sie arbeitete. »Ich hatte gehofft«, sagte er, »dass du uns helfen würdest.«

Schon am Mittag des folgenden Tages hatte Eliot genug in Erfahrung gebracht. Das Mädchen war nicht mehr und nicht weniger als eine gemeine Hure. Ja, hatte sie zu ihm gesagt, sie sei froh, Tom zu heiraten und gerettet zu werden und, wie bescheiden auch immer, hier in Boston zu leben. Denn alles sei besser als ihr gegenwärtiger sündhafter Zustand. Zwar witterte Eliot die Gefahr, dass dies alles ein Jux sein konnte, doch er begriff nicht, worin der Witz liegen sollte. Letztlich spielte es keine Rolle, ob die Geschichte stimmte oder nicht. Ganz offensichtlich war Tom willens, ihm Schwierigkeiten zu bereiten und ihn zu kompromittieren. Andererseits, nahm Eliot an, würde Tom auch bereit sein zu gehen – wenn der Preis stimmte. An dem Abend unterhielten die Brüder sich ein weiteres Mal.

Das Gespräch wurde in jenem kummervollen Ton geführt, der Eliots Spezialität zu sein schien, und fand in dem kleinen quadratischen Raum statt, den er als Arbeitszimmer benutzte. Auf dem Schreibtisch zwischen den Brüdern befanden sich ein Tintenfass, eine Bibel, ein Gesetzbuch, ein Brieföffner und eine kleine Kiefernholzschachtel, die einen frisch geprägten Silberdollar enthielt.

Eliots Angebot war die Erbschaft, die Adam Master seinem jüngeren Sohn für den Fall – und ausschließlich für den Fall – zugedacht hatte, dass er sich der Gemeinschaft der Gläubigen angeschlossen habe. Wahrheitsgemäß teilte Eliot seinem Bruder mit: »Indem ich dir das gebe, missachte ich das Gebot unseres Vaters.«

»Selig sind die Barmherzigen«, sagte Tom feierlich.

»Du weigerst dich, nach England zurückzukehren?«

»Ja.«

»Dann wird dich dieser Brief bei einem Kaufmann in Hartford, Connecticut, einführen. Da unten«, sagte Eliot trocken, »sind sie nachsichtiger gegen deinesgleichen. Die Bedingung ist, dass du nie, nie wieder nach Massachusetts zurückkehrst. Nicht einmal für einen Tag.«

»Im Evangelium kehrte der verlorene Sohn zurück und wurde mit offenen Armen empfangen.«

»Er kehrte einmal zurück, wie du das bereits getan hast. Nicht zweimal.«

»Ich werde Geld für die Reise brauchen. Dein Brief nützt mir nichts, bevor ich in Hartford bin.«

»Wird das genügen?« Eliot reichte ihm eine gewisse Menge Wampum und einen Geldbeutel, der mehrere Shilling enthielt. Mit einem Teil davon würde er das Mädchen in der Schenke auszahlen, und der Rest, schätzte Tom, würde seine Reisekosten decken.

»Danke.«

»Ich fürchte um deine Seele.«

»Ich weiß.«

»Schwöre, dass du nicht zurückkehren wirst.«

»Ich schwöre«, erklärte Tom Master.

»Ich werde für dich beten«, fügte sein Bruder hinzu, der allerdings große Zweifel hegte, dass seine Bemühungen etwas nützen würden.

Am Morgen darauf zog Tom in aller Frühe los. Bevor er das Haus verließ, schlich er sich in das Arbeitszimmer seines Bruders und stahl den Silberdollar mitsamt der Schachtel. Nur um Eliot zu ärgern.

Er nahm sich Zeit, ritt gemächlich in westlicher Richtung durch Massachusetts, übernachtete unterwegs auf Bauernhöfen. Als er den Connecticut River erreichte, hätte er eigentlich nach Süden abbiegen müssen, um nach Hartford zu gelangen. Aber die Vorstellung, sich von seinem Bruder etwas vorschreiben zu lassen, missfiel ihm so sehr, dass er sich noch ein paar Tage lang weiter nach Westen treiben ließ. Er hatte es nicht eilig. Das Geld, das er in einem kleinen Ranzen verwahrte, würde noch eine Weile vorhalten. Wie oft hatte er schon gehört, der große Nordfluss biete einen majestätischen Anblick. Vielleicht würde er bis dorthin reiten, ehe er umkehrte und sich nach Hartford aufmachte.

Von Connecticut war er auf niederländisches Territorium gelangt. Aber er bekam niemanden zu Gesicht und zog vorsichtig, auf der Hut vor Indianern, ein, zwei Tage lang weiter. Am Abend des zweiten Tages begann das Land sich zu senken, und bald sah er den Bogen des großen Stromes. Auf der Terrasse oberhalb des Flussufers entdeckte er ein holländisches Gehöft. Es war klein: eine eingeschossige Hütte mit einem breiten Vordach, einer Scheune an der einen, einem Stall und einem niedrigen Wirtschaftsgebäude an der anderen Seite. Eine Wiese zog sich hinunter zum Flussufer, wo sich ein Anlegesteg und ein Boot befanden.

Ein dünner Mann um die sechzig öffnete ihm mit einem sauertöpfischen Gesicht. Als Tom zu verstehen gab, dass er Unterkunft für die Nacht suchte, bedeutete ihm der Bauer, der kaum Englisch sprach, mürrisch, dass er im Haus essen könne, dann aber in der Scheune schlafen müsse.

Nachdem er sein Pferd in den Stall gebracht hatte, betrat Tom die Hütte, wo sich der Bauer, zwei Männer, die er für Knechte hielt, und ein Schwarzer, der vermutlich ein Sklave war, gerade zum Abendessen eingefunden hatten. Die Hausherrin, eine kleine blonde Frau, erheblich jünger als der Bauer, forderte die Männer auf, sich zu setzen, und wies Tom seinen Platz zu. Von Kindern sah er keine Spur. Tom hatte gehört, dass die holländischen Bauern mit ihren Sklaven zusammen aßen, also war mit Sicherheit der gesamte Haushalt an diesem Tisch versammelt.

Die Frau war eine hervorragende Köchin. Der Eintopf schmeckte köstlich und wurde mit Bier hinuntergespült. Anschließend gab es einen großen Obstkuchen. Die Tischgespräche hielten sich allerdings in Grenzen, und da Tom kein Niederländisch sprach, konnte er selbst nichts beisteuern.

Die Frau machte ihn neugierig. War der Bauer ein Witwer, der noch einmal geheiratet hatte? Konnte sie seine Tochter sein? Oder war sie so etwas wie eine Haushälterin? Trotz ihrer kleinen Körpergröße hatte sie üppige Brüste und dazu eine entschieden sinnliche Ausstrahlung. Der grauhaarige Bauer redete sie mit Annetje an. Die Männer begegneten ihr mit Respekt, aber zwischen dem Bauern und ihr schien eine gewisse Spannung zu bestehen. Als sie ihm die Schüssel mit dem Eintopf vorhielt, sah Tom, dass er sich zurücklehnte, wie um nicht mit ihr in Berührung zu kommen. Und während sie stumm dasaß und der Unterhaltung folgte, glaubte Tom so etwas wie unterdrückte Gereiztheit in ihrer Miene zu bemerken. Ein- oder zweimal hatte er den Eindruck, dass sie ihn beobachtete. Nur einmal, als sich ihre Blicke begegneten, lächelte sie ihm zu.

Als die Mahlzeit vorüber war, begaben sich die Knechte und der Sklave zum Schlafen ins Nebengebäude, und Tom ging hinaus in die Scheune. Es war schon fast dunkel, aber er fand ein paar Strohballen und breitete seinen Mantel darüber aus. Und er wollte sich gerade hinlegen, als er eine Gestalt mit einer Lampe sah, die auf ihn zukam.

Es war Annetje. In der Hand hielt sie einen Krug Wasser und eine Serviette, in die Kekse eingeschlagen waren. Als sie ihm diese gab, berührte sie seinen Arm.

Tom sah sie überrascht an. Er wusste, woran man erkannte, dass eine Frau einem Avancen machte, und sie sah jetzt ganz eindeutig danach aus. Er betrachtete sie im Licht der Lampe. Wie alt mochte sie sein? Fünfunddreißig? Sie war wirklich sehr anziehend. Er sah ihr in die Augen und lächelte. Sie drückte seinen Arm leicht, wandte sich dann ab; und er blickte der Lampe nach, die den Hof durchquerte und im Haus verschwand. Dann aß er die Kekse, trank ein bisschen Wasser und legte sich hin. Die Nacht war warm. Das Scheunentor stand offen. Er konnte sehen, dass durch die Läden des Bauernhauses Licht drang. Nach einiger Zeit verlosch es.

Er wusste nicht, wie lang er gedöst hatte, als ihn ein Geräusch aufweckte. Es kam vom Bauernhaus, und es war laut. Der Bauer schnarchte. Man hätte es wahrscheinlich noch vom Flussufer aus hören können. Tom hielt sich die Ohren zu und versuchte wieder einzuschlafen – es war ihm schon fast gelungen, als er bemerkte, dass er nicht allein war. Das Scheunentor war jetzt geschlossen. Annetje lag neben ihm. Und ihr Körper war warm. Vom Haus her war immer noch das Schnarchen zu vernehmen.

Als er aufwachte, wurde es schon hell. Er konnte einen fahlen Schimmer unter der Tür ausmachen. Annetje lag nach wie vor neben ihm und schlief. Vom Haus her war kein Schnarchen mehr zu hören. War der Bauer wach? Er stupste Annetje an, und sie regte sich. In diesem Augenblick knarrte das Scheunentor, und ein bleiches, kaltes Licht fiel auf die beiden.

Der alte Bauer stand in der Tür. In den Händen hielt er ein Steinschlossgewehr. Und das war auf Tom gerichtet.

Annetje starrte den alten Mann verständnislos an. Doch der Bauer achtete nur auf Tom. Er bedeutete ihm aufzustehen. Tom gehorchte und streifte sich dabei seine Sachen über, dann hob er seinen Mantel und seinen Ranzen auf. Der Bauer winkte ihn zur Tür heran. Würde er ihn draußen erschießen? Aber sobald sie auf dem Hof waren, zeigte der Bauer auf den Pfad, der den Hang hinaufführte. Die Botschaft war klar: Raus hier!

Tom seinerseits deutete auf den Stall, in dem sein Pferd stand. Der Bauer spannte den Hahn seines Gewehrs. Tom machte einen weiteren Schritt. Der Bauer legte an. Würde der alte Holländer ihn wirklich erschießen? Sie waren meilenweit von jeglicher Zivilisation entfernt. Wen würde es schon kümmern, wenn er spurlos verschwand? Widerstrebend wandte sich Tom wieder zum Pfad und stieg hinauf in den Wald.

Sobald er aber außer Sichtweite war, blieb er stehen. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, schlich er zum Bauernhof zurück. Es war nichts zu hören. Was immer zwischen dem Bauern und Annetje vorgefallen sein mochte, war jetzt anscheinend vorbei. Tom machte einen Bogen um das Haus und stahl sich zur Stalltür.

Der Knall ließ ihn fast aus seiner Hose springen. Die Kugel sauste dicht über seinen Kopf hinweg und schlug vor ihm in der Stalltür ein. Er drehte sich um und sah den alten Bauern. Er stand unter dem Vordach und lud sein Gewehr nach.

Tom suchte nach einem Fluchtweg, rannte hinunter zum Fluss, hielt auf den kleinen Steg und das Boot zu. Er brauchte nur einen Moment, um es loszumachen. Gott sei Dank lag ein Paddel im Boot. Doch er war kaum eingestiegen, als ein weiterer Schuss ertönte und ein Aufklatschen im Wasser ihm verriet, dass der alte Mann ihn lediglich um ein, zwei Fuß verfehlt hatte. Er griff nach dem Ruder, stieß sich ab und paddelte wie verrückt stromabwärts. Er legte keine Pause ein, schaute nicht einmal zurück, ehe er eine Viertelmeile hinter sich gebracht hatte. Seitdem war er mit der Ebbe stromabwärts gefahren und hatte angelegt und gerastet, wenn die Flut kam.

Während seiner Ruhezeiten war ihm allerdings bewusst geworden, dass er immer noch nicht wusste, ob Annetje nun die Ehefrau oder die Tochter des Alten war oder in einer ganz anderen Beziehung zu ihm stand. Eines war allerdings sicher: Der Bauer hatte sein Pferd, und das war eine ganze Menge mehr wert als das Boot, das er gestohlen hatte.

Dieser Gedanke ärgerte ihn.

*

Van Dyck ließ Tom zunächst in Ruhe essen. Nach einer Weile fragte er ihn, ob er in Boston die englische Flotte gesehen habe. Tom schien einen Moment zu zögern, bevor er mit Ja antwortete.

»Und was genau macht die Flotte eigentlich?«, fragte van Dyck.

Wieder zögerte der junge Mann. »Als ich aufgebrochen bin«, erklärte er schließlich, »hatten die noch in Boston zu tun.« Er nahm sich einen Maiskuchen und kaute, die Augen zu Boden gerichtet, ein paar Momente daran.

Van Dyck hatte den Eindruck, dass er mehr wusste, als er verriet. Die Indianer fragten ihn, ob der Fremde ein guter Mann sei. »Ich weiß es nicht«, antwortete er auf Algonkin. »Ihr solltet ihn im Auge behalten.«

Die Indianer baten van Dyck, nach dem Ende des Sommers zurückzukehren und sich ihnen bei der Jagd anschließen. Tatsächlich hatte er schon bei früheren Gelegenheiten mit ihnen gejagt. Die großen Jagden waren unterhaltsam, wenn auch erbarmungslos. Sobald das Wild aufgespürt worden war, fächerte sich eine riesige Gruppe -je mehr Männer, desto besser – zu einem großen Bogen auf und zog lärmend und mit Stöcken schlagend durch den Wald, um die Hirsche auf den Fluss zuzutreiben. Wenn die Tiere im Wasser waren und nur noch langsam vorankamen, war es ein Leichtes, sie zu erlegen. Solange es Hirsche gab, lebten diese Algonkin gut. Van Dyck versprach, dass er kommen werde. Und dann plauderte und lachte er noch eine Zeitlang mit ihnen.

Es war klar, dass seine offensichtlich guten Beziehungen zu den Indianern den jungen Engländer verblüfften. Und so fragte er van Dyck nach einer Weile, ob es für die Holländer normal sei, mit den Eingeborenen auf so freundschaftlichem Fuß zu verkehren.

»Ihr Engländer habt kein Interesse daran, die Sitten der Indianer kennenzulernen?«, fragte der Niederländer.

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Die Bostoner sind fleißig dabei, sich ihre Indianer vom Hals zu schaffen. Das ist nicht weiter schwierig. Dazu brauchen sie nur eins.«

»Und das wäre?«

»Wampum.« Der junge Mann lächelte schief. »Die Bostoner verlangen von den Stämmen Tributzahlungen in Wampum, abhängig von der Anzahl der Männer, Frauen und Kinder, die zu ihnen gehören. Aber in der Regel schaffen es die Indianer nicht, die erforderliche Menge Wampum schnell genug anzufertigen. Und dann müssen sie uns stattdessen Land abtreten. Die indianische Bevölkerung schrumpft Jahr für Jahr.«

»Und wenn sie doch zahlen?«

»Dann erlegen ihnen unsere englischen Richter Bußgelder für ihre Straftaten auf.«

»Was für Straftaten?«

»Hängt davon ab.« Tom zuckte die Achseln. »Massachusetts fällt immer etwas ein, das eine Straftat darstellen könnte. Eines Tages wird es dort überhaupt keine Indianer mehr geben.«

»Ich verstehe.« Van Dyck sah den jungen Mann voller Abscheu an. Er hätte ihn am liebsten geschlagen. Doch dann kam ihm zu Bewusstsein: War das Verhalten der Niederländer auch nur im Mindesten besser? Jährlich ging die Zahl der Algonkin in den Neu-Niederlanden zurück. Die Jagdgründe auf Manhattan waren fast völlig verschwunden. Auf den Herrengütern Broncks und Jonkers wurden die Indianer ausgekauft und von ihrem eigenen Land vertrieben. Auf der Langen Insel sah es nicht anders aus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch hier oben entlang des großen Flusses, wo die Niederländer bislang lediglich ein paar isolierte Außenposten unterhielten, die Algonkin zurückgedrängt wären. Beschleunigt wurde dieser Prozess durch die verheerende Wirkung der aus Europa eingeschleppten Krankheiten wie Masern und Blattern. Nein, dachte er traurig, es ist gleichgültig, aus welchem Landstrich wir kommen, früher oder später rottet der Weiße Mann die Indianer aus.

Wenngleich diese Überlegungen seinen Widerwillen gegen den Fremden etwas dämpften, verspürte van Dyck doch das Bedürfnis, diesen jungen Spund in seine Schranken zu weisen. Und als Tom bemerkte, Wampum gelte zwar als gut genug für die Indianer, in Boston werde aber heutzutage alles in englischen Pfund abgerechnet, sah er seine Gelegenheit gekommen.

»Das Problem mit euch Engländern«, sagte er, »ist, dass ihr zwar von Pfund redet, aber nichts habt, was man tatsächlich in die Hand nehmen könnte. Die Indianer haben wenigstens Wampum. In der Hinsicht«, fügte er kühl hinzu, »scheinen mir die Indianer Ihnen einen Schritt voraus zu sein.« Er verstummte, um festzustellen, wie der Bursche das aufnahm.

Denn es war absolut wahr. In England fand man die traditionellen Pennies, Shillings und Gold-Florins. Aber die größeren Münzwerte waren knapp. Und draußen in den Kolonien herrschten geradezu primitive Verhältnisse. In Virginia beispielsweise war die gängige Währung nach wie vor der Tabak, und die Wirtschaft basierte zu einem großen Teil auf Tauschhandel. In Neuengland rechneten Kaufleute untereinander zwar in Pfund Sterling ab und stellten eigene Kreditbriefe aus, aber englische Silber- oder Goldmünzen waren praktisch nicht in Umlauf.

Doch wenn er vorgehabt hatte, den jungen Engländer in Verlegenheit zu bringen, schien er damit keinen Erfolg zu haben. Tom lachte nur. »Das kann ich nicht bestreiten«, räumte er ein. »Das hier ist die einzige Währung, der ich vertraue.« Und er holte aus der Innentasche seines schwarzen Mantels eine kleine flache Schachtel heraus, klopfte leicht darauf und reichte sie dann dem Niederländer. Die Schachtel bestand aus Kiefernholz und war weniger als handtellergroß. Van Dyck schob den Deckel zurück. Das Innere war mit Stoff ausgekleidet, und darauf ruhte eine einzelne Münze, die im schwindenden Licht glänzte.

Es war der Silberdollar, den Tom seinem Bruder gestohlen hatte.

Daalder nannten das die Niederländer, aber letztlich stammte das Wort vom deutschen »Taler« ab. Kaufleute verwendeten den »Dollar« mittlerweile seit fast anderthalb Jahrhunderten, und die Niederländer prägten den größten Teil der Dollar, die in der Neuen Welt in Umlauf waren. Es gab davon drei Sorten. Einmal war da der dukaat, besser bekannt als der Dukaten, auf dem ein Reiter abgebildet war und der sechs englische Shilling wert war. Als Nächstes kam der rijksdaalder, von den Engländern »rix dollar« genannt und fünf Shilling wert – oder acht spanische Reales, wenn man nach Süden segelte. Aber am weitesten verbreitet war der Löwendollar.

Diese Münze war zwar etwas weniger wert als die anderen Dollar, dafür aber die schönste. Die Vorderseite zeigte einen stehenden Ritter, dessen Schild das Bildnis eines aufgerichteten Löwen trug; und auf der Rückseite füllte jener Löwe die ganze Fläche aus. Die Münze hatte einen kleinen Mangel: Sie war nicht immer fehlerlos geprägt. Aber das spielte kaum eine Rolle. Von Neuengland bis hinunter zu den spanischen Besitzungen war der schöne niederländische leeuwendaalder in Gebrauch.

»Holländisches Geld«, sagte Tom grinsend, als van Dyck die Münze aus der Schachtel nahm und sie betrachtete.

Löwendollar waren meist abgerieben, doch dieser hatte nicht einmal den kleinsten Kratzer. Er war prägefrisch und glänzte herrlich. Und während van Dyck die Münze bewunderte, kam ihm plötzlich eine Idee.

Er stand auf und ging hinüber zu zwei Indianermädchen, die etwa so alt wie Bleiche Feder sein mochten. Er zeigte ihnen die Münze und erlaubte ihnen, sie in die Hand zu nehmen. Während sie die blanke Scheibe hin und her wendeten und die Motive und die Lichtreflexe der sinkenden Sonne betrachteten, leuchteten ihre Gesichter auf. Woran lag es bloß, fragte sich van Dyck, dass Gold- und Silbergegenstände Männer und Frauen gleichermaßen zu faszinieren schienen? »Das ist schön«, sagten sie. Als er zu dem jungen Burschen aus Boston zurückkam, sagte van Dyck: »Ich kaufe ihn Ihnen ab.«

»Der wird Sie« – Tom überlegte – »einen Dukaten und ein Biberfell kosten.«

»Was? Das ist Halsabschneiderei!«

»Die Schachtel gibt’s umsonst dazu«, ergänzte Tom vergnügt.

»Sie sind ein junger Gauner«, sagte der Niederländer belustigt. »Aber einverstanden.« Er sparte es sich zu feilschen, denn er hatte gerade sein Problem gelöst. Das Fell war ein Opfer, das er geradezu gern erbrachte. Jetzt hatte er ein Geschenk für seine Tochter.

Um sicherzugehen, dass Tom nichts stahl, schlief der Holländer in dieser Nacht in seinem Boot. Als er sich auf den Fellen ausstreckte und nach der kleinen Holzschachtel mit dem Silberdollar tastete, die sicher im Beutel an seinem Gürtel lag, und der leichten Brise in den Baumkronen lauschte, stellte er sich vor, er könne, so wie seine Tochter versprochen hatte, ihre Stimme hören. Und er lächelte zufrieden.

*

Am Morgen darauf trennte sich van Dyck von dem jungen Engländer. Er würde noch vor Abend Bleiche Feders Dorf erreichen, den ganzen morgigen Tag dort bei seiner Tochter verbringen und am Tag darauf nach Manhattan weiterfahren.

Es war warm, und er trug ein offenes Hemd. Seinen Ledergürtel hatte er gegen den Wampum-Gürtel ausgetauscht, den Bleiche Feder ihm geschenkt hatte. Daran hing ein kleiner Beutel mit dem Silberdollar.

Auf dem Fluss waren nur wenige Boote. Gelegentlich sahen sie ein Indianerkanu im Flachwasser; doch als sie mit der Tide weiter stromabwärts kamen, hatten sie die Wasserstraße ganz für sich. Das hohe Westufer schützte den Fluss vor der leichten Brise, und das Wasser war spiegelglatt. Rings um sie nichts als Stille. Nach einiger Zeit fuhren sie um eine Biegung, wo auf der Westseite eine auffällige Anhöhe wie ein Wachposten über dem Wasser ragte. Van Dyck hatte für solche Landmarken eigene Namen. Diese hier nannte er westpunt, Westpunkt; oder West Point, wie er vielleicht dem jungen Engländer erklärt hätte. Kurze Zeit später machte der Fluss eine weitere Biegung, diesmal um einen Hügel herum, den van Dyck wegen seines abgeflachten Buckels »Bärenberg« getauft hatte. Jenseits davon öffnete sich der Fluss zu einem breiteren Strom, zwei bis drei Meilen von Ufer zu Ufer, der sich fünfzehn Meilen weit in südlicher Richtung hinzog, bis er sich wieder zum großen langen Kanal verengte, der an Manhattan vorbeifloss und in die gewaltige Bucht mündete.

Sie waren noch immer einige Meilen oberhalb des Kanals, als einer der Ruderer van Dyck zunickte, woraufhin er sich umdrehte und den Fluss hinaufspähte und sah, dass ihnen, in vielleicht fünf Meilen Abstand, ein anderes Boot folgte. Er behielt es im Auge und merkte, dass das Boot rasch aufholte. »Die scheinen es ja ganz schön eilig zu haben«, sagte er.

Als sie sich eine halbe Stunde später der Einfahrt in den Kanal näherten, warf er wieder einen Blick zurück und staunte, wie nah das andere Boot schon gekommen war. Es war viel größer als seines und hatte einen Mast zum Segeln; aber da die Brise von Süden kam, ruderten die Männer. Der Abstand zwischen den zwei Booten war auf die Hälfte geschrumpft und nahm rasch weiter ab. Er konnte nicht sehen, wie viele Riemen das Boot führte, doch eines war sicher:

»Diese Jungs«, sagte er, »pullen wie die Irren.«

Sie fuhren jetzt in den engen Kanal ein, und van Dyck erlaubte seinen Männern, langsamer zu rudern. Sie kamen auf der Westseite des Flusslaufs herunter. Über ihnen fing die graue Steinpalisade der Klippen die Strahlen der Nachmittagssonne auf. Jetzt wurde das Wasser leicht kabbelig. Er schaute zurück, aber die Biegung des Flusses verbarg das Boot, das ihnen, wie er vermutete, in den Kanal folgen würde.

Plötzlich tauchte es hinter ihnen auf. Er konnte jedes Detail erkennen: eine große klinkergebaute Schaluppe mit einem Aufbau im Mittelteil, aus dem der Mast emporragte. Acht Männer bedienten die vier Riemenpaare. Sie lag hoch im Wasser, konnte also keine Fracht geladen haben. Warum hatte es dieses leere Boot nur so eilig? Im Heck stand eine Gestalt, die van Dyck nicht genauer erkennen konnte.

Das Boot lag inzwischen lediglich zwei Längen hinter ihnen zurück, dann eine Länge. Jetzt war es auf ihrer Höhe. Neugierig schaute er hinüber zur Gestalt im Heck.

Und starrte unvermutet in ein Gesicht, das er nur allzu gut kannte. Das Gesicht eines Mannes, dem er, wie ihm ein Instinkt verriet, eigentlich lieber nicht begegnet wäre. Und der Mann starrte seinerseits zurück.

Pieter Stuyvesant.

Er sah schnell weg, aber es war zu spät.

»Dirk van Dyck.« Die barsche Stimme hallte über das Wasser.

»Guten Tag, Gouverneur«, rief er zurück. Was hätte er auch sonst sagen können?

»Beeilung, Mann! Warum beeilen Sie sich nicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Stuyvesant jetzt an van Dycks Ruderer. »Rudert schneller!«, brüllte er. »Pullt!« Und da die Ruderer den furchterregenden Gouverneur erkannten, gehorchten sie augenblicklich, und das Boot machte einen Satz nach vorn. »So ist’s richtig«, schrie er. »Gut so! Bleiben Sie an mir dran. Wir fahren zusammen runter, Dirk van Dyck.«

»Aber warum?«, rief van Dyck zurück. Der Gouverneur hatte ihn schon um ein kleines Stück überholt, aber seine Männer schafften es jetzt, dieselbe Geschwindigkeit aufrechtzuerhalten, sodass die zwei Männer während der Weiterfahrt ihre gebrüllte Konversation fortsetzen konnten.

»Sie wissen es nicht? Die Engländer liegen vor Manhattan. Die ganze Flotte.«

Dann war die englische Flotte also doch gekommen. Er hatte nichts davon gehört, aber das war nicht weiter verwunderlich. Die Menschen von Neu-Amsterdam hatten höchstwahrscheinlich einen reitenden Boten nach Fort Oranje geschickt, um den Gouverneur zu informieren, der jetzt, von der Ebbe unterstützt, flussabwärts jagte. Die Nachricht würde sich zweifellos bald auch unter den Indianern verbreiten – eine Weile würde es allerdings schon noch dauern.

Die Engländer hatten offensichtlich gelogen. Er dachte an den jungen Burschen aus Boston. Hatte Tom gewusst, dass sie kommen würden? Bestimmt. Deswegen zögerte er auch, als van Dyck nach der Flotte fragte.

»Und was werden wir unternehmen?«, schrie van Dyck dem Gouverneur stromabwärts zu.

»Kämpfen, van Dyck. Kämpfen. Wir werden jeden Mann brauchen.«

Das Gesicht des Gouverneurs war wie aus Flint gemeißelt. Hochgewachsen und straff, auf sein Holzbein gestützt, hatte er noch nie unbeugsamer ausgesehen. Man konnte den Mann nur bewundern. Aber wenn die ganze englische Kriegsflotte von Boston heruntergekommen war, würde man es mit einem mächtigen Gegner zu tun haben. Die Schiffe trugen mit Sicherheit Geschütze. Trotz aller Anstrengungen, die Stuyvesant in jüngster Zeit unternommen hatte, konnte sich van Dyck nicht vorstellen, dass die Uferbefestigung von Neu-Amsterdam ihnen lange standhalten würde. Wenn Stuyvesant entschlossen war zu kämpfen, würde es eine blutige und unergiebige Unternehmung werden.

Gleichsam in Einklang mit seinen Gedanken schob sich eine Wolke vor die Sonne, und die hohen Steinpalisaden über ihnen entfärbten sich zu einem düsteren Grau, das grimmig und bedrohlich wirkte.

Ungeachtet dessen, was Stuyvesant sagte, kam van Dyck rasch ein weiterer Gedanke. Wenn ich die Gefährlichkeit dieser Strategie erkenne, kann das jeder andere Kaufmann in der Stadt auch. Würden die Männer von Neu-Amsterdam ihren Gouverneur gegen die Engländer unterstützen? Wahrscheinlich nicht, falls die Engländer in voller Stärke heranrückten. War seine Familie in Gefahr? Unwahrscheinlich. Konnten die Engländer ein Interesse daran haben, die Stadt in Schutt und Asche zu legen und sich die niederländischen Kaufleute zu Feinden zu machen? Er bezweifelte es. Die Engländer wollten eine reiche Hafenstadt, keinen rauchenden Trümmerhaufen. Sie hatten jeden Grund, großzügige Bedingungen anzubieten. Nach van Dycks persönlicher Überzeugung machten Politik und Religion die Menschen gefährlich. Der Handel dagegen machte sie klug. Trotz Stuyvesant, schätzte er, würde man sich handelseinig werden.

Sollte er also zusammen mit Stuyvesant wie ein Racheengel auf Manhattan niederstoßen?

Er schaute den Fluss voraus. In dem Tempo würden sie in einer Stunde die Nordspitze von Manhattan erreichen. Er warf einen Blick auf seine Ruderer. Würden sie es schaffen, diese Schlagzahl beizubehalten? Wahrscheinlich nicht. Umso besser. Wenn er sich diskret zurückfallen ließ, müsste es ihm eigentlich gelingen, bevor sie Neu-Amsterdam erreichten, sich von Stelzfuß zu trennen.

Er wartete. Das Boot des Gouverneurs war schon ein paar Längen voraus.

»Aufschließen!«, schrie Stuyvesant. Er stand ihnen jetzt zugewandt, um sie im Auge zu behalten.

»Ich folge Ihnen, mein General«, rief van Dyck zurück. Als sie das hörten, legten sich seine Männer noch mehr in die Riemen, und eine Zeitlang blieb der Abstand zur Schaluppe konstant. Umso besser. Sollten sie sich ruhig verausgaben. Solange nur der Gouverneur fürs Erste zufrieden war.

Der Bug seines Bootes traf auf eine kleine Welle, hob sich und klatschte dann wieder aufs Wasser zurück, und van Dyck beugte sich leicht nach vorn, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als er sich erneut aufrichtete, schlug der Beutel an seinem Gürtel leicht gegen seinen Oberschenkel. Er schaute hinunter, dachte an den Silberdollar in seiner Schachtel, sicher verwahrt in seinem Beutel. Da wurde ihm siedend heiß bewusst: Sie waren fast auf der Höhe von Bleiche Feders Dorf. Durch diese unerwartete Begegnung mit Stuyvesant hatte er seine Tochter vergessen. Der leichte Schlag gegen seinen Oberschenkel war eine Mahnung gewesen.

Bleiche Feder. Was sollte er jetzt tun?

Stuyvesant beobachtete ihn nach wie vor mit Argusaugen. Van Dyck wagte es nicht, Kurs auf das Dorf nehmen zu lassen. Am Ende hätte der Gouverneur gewendet und ihn gewaltsam flussabwärts geschleppt. Der Mann war zu so etwas durchaus imstande.

Minuten verstrichen. Die zwei Boote jagten, durch die unsichtbare Kraft von Stuyvesants Willen aneinandergekettet, zusammen den Fluss hinab. Jetzt passierten sie gerade das Dorf drüben am Ostufer. Van Dyck konnte die Indianer sehen, die mit Netzen im seichten Wasser fischten. Andere Gestalten, wahrscheinlich Frauen, standen weiter oben auf der Böschung und schauten herüber. War Bleiche Feder unter ihnen? Er konnte es nicht erkennen. Sah sie ihn jetzt gerade? Wusste sie, dass er, trotz seines Versprechens, an ihr vorüberfuhr, ohne auch nur für einen Moment an Land zu kommen? Musste sie nicht glauben, dass ihr Vater sich von ihr losgesagt hatte?

Er starrte auf die andere Flussseite, wandte aber rasch den Blick wieder ab. Wenn seine Tochter dort stand, sollte sie wenigstens sein Gesicht nicht sehen. Eine alberne Maßnahme. Selbst mit ihren scharfen Augen hätte sie ihn von dort aus nicht erkennen können. Er senkte den Kopf, starrte auf die Felle zu seinen Füßen und schämte sich. Weit drüben am jenseitigen Ufer fiel das kleine Indianerdorf allmählich zurück. Er drehte sich um, konnte noch immer die Reihe von Frauen sehen, aber jetzt nur undeutlich und verschwommen.

Sie glitten weitere hundert Ellen flussabwärts. Dann weitere hundert.

»Überwechseln«, befahl er. Die Ruderer sahen ihn erstaunt an.

»Aber Baas«, sagte einer.

»Überwechseln!« Er zeigte auf das Ostufer. Er war schließlich der Baas. Widerwillig gehorchten sie ihm.

Als das Boot sich quer zur Strömung zu drehen begann, sah Stuyvesant es sofort.

»Was zum Teufel treiben Sie?«, brüllte er über das Wasser.

Van Dyck zögerte. Sollte er antworten? Er überlegte rasch.

»Ich komme nach!«, rief er mit einer Stimme, die zum Ausdruck bringen sollte, dass er keinen anderen Wunsch hatte, als an der Seite des Gouverneurs zu sein. »Wir holen Sie bald wieder ein!«

»Kurs halten!«, brüllte Stuyvesant zurück. Eine Sekunde später hallte Stuyvesants Stimme erneut über das Wasser. »Vergessen Sie Ihren Indianerbastard, van Dyck! Denken Sie an Ihr Land!«

Woher wusste er von Bleiche Feder? Van Dyck verfluchte leise den Gouverneur. Es war ein Fehler gewesen, das Mädchen nach Neu-Amsterdam mitzunehmen. Er hätte das niemals tun dürfen.

»Folgen Sie mir, Dirk van Dyck!«, ertönte Stuyvesants Stimme wieder. »Vergessen Sie Ihr Halbblut und folgen Sie mir, oder Ihre Frau wird von der Sache erfahren, das verspreche ich Ihnen!«

Van Dyck stieß einen weiteren Fluch aus. Hatten sich der Gouverneur und seine Frau über das Mädchen unterhalten? Welcher Art waren überhaupt die Beziehungen zwischen Stuyvesant und seiner Frau? Aber die Drohung, Margaretha davon zu erzählen, war ernst zu nehmen. Eine Sache war es, sie in Ungewissheit darüber zu lassen, wo er sich befand. Aber wenn sie wirklich erfahren sollte, dass er sich dem Gouverneur widersetzt, dass er seine Familie nicht beschützt hatte – denn so würde sie das darstellen –, und alles wegen seiner Halbbluttochter … Das würde ernste Folgen haben. Margaretha würde ihm das nicht durchgehen lassen. Gott allein wusste, was das für Auswirkungen auf sein Geschäft, auf sein Familienleben hätte. Verfluchter Stelzfuß! Zur Hölle mit ihm! Er nickte seinen Männern zu.

»Wir folgen ihm«, sagte er resigniert.

Der Bug des Bootes schwang herum, richtete sich wieder stromabwärts.

Van Dyck starrte nach vorn. Wie sinnlos das alles! War er jetzt dazu verdammt, Stelzfuß bis zum bitteren Ende zu folgen? Genau das, was er zu vermeiden versucht hatte.

Durch sein Zögern hatte sich der Abstand zwischen seinem Boot und dem des Gouverneurs erheblich vergrößert. Er dachte an die englische Flotte, die sie erwartete, an den entschlossenen, sturen Gouverneur und an das verletzte und zornige Gesicht seiner Frau. Er dachte an seine unschuldige, schutzlose Tochter, die auf ihn wartete. Die graue Felspalisade über ihm schien von einer dumpfen Klage widerzuhallen. Wieder warf er einen Blick zurück: Die Indiandersiedlung war, von den Bäumen verborgen, nicht mehr zu sehen. Er war zu seiner Tochter gekommen und dann einfach an ihr vorbeigefahren.

»Wenden.«

»Baas?«

»Wir fahren zurück. Wenden!«, befahl er. Die Männer wechselten unschlüssige Blicke. »Wollt ihr lieber gegen die Engländer kämpfen?«, schrie er. Wieder warfen sich die Männer Blicke zu. Und gehorchten. Der Bug schwang herum und richtete sich auf das Ostufer.

Stuyvesant beobachtete sie noch immer. Er sah, und er verstand. Und jetzt schallte seine Stimme als ein gewaltiger Schrei das Flusstal herauf.

»Verräter!« Das Wort erreichte van Dyck wie ein Donnerschlag. Und es mochte ebenso gut weiterhallen, den großen Strom hinauf bis zu seiner Quelle hoch oben im Norden: »Verräter.«

Er blickte zurück zum Boot des Gouverneurs, doch er änderte seinen Kurs nicht. Hier trennten sich ihre Wege, und das wussten sie beide, während der große Fluss Stuyvesant mit seiner mächtigen Strömung nach Süden riss und van Dyck, wenigstens für einen Augenblick frei, zurückkehrte, um seiner Tochter den glänzenden Silberdollar zu bringen.