DER BLIZZARD

1888

Die drei Männer setzten sich im Delmonico’s an einen Tisch. Frank Master war nervös. Er war höchst überrascht gewesen, als Sean O’Donnell ihn bat, sich mit Gabriel Love zu treffen, und hatte ernsthaft erwogen, nicht zu erscheinen.

Gabriel Love mochte eine bekannte Persönlichkeit sein, aber er und Master verkehrten in unterschiedlichen Kreisen, und Frank verspürte nicht den leisesten Wunsch, mit einem solchen Mann Geschäfte zu machen.

»Kommen Sie einfach und hören Sie ihm zu«, sagte Sean. »Betrachten Sie es als eine persönliche Bitte.« Und so erklärte sich Frank, da er O’Donnell etliche Gefälligkeiten schuldete, schließlich widerstrebend einverstanden.

Zumindest war das Restaurant eine gute Wahl. Das Delmonico’s befand sich früher weiter im Süden der Stadt, jetzt lag es an der Ecke 26th und Fifth Avenue, mit Blick auf Leonard Jeromes altes Stadtpalais, jenseits des Madison Park.

Doch bevor er das Restaurant betrat, wandte Frank sich zu Sean und sagte bestimmt: »Vergessen Sie nicht, O’Donnell, irgendwas Illegales, und ich gehe.«

»Keine Sorge«, sagte Sean. »Vertrauen Sie mir.«

Sean O’Donnell war zu einem sehr eleganten Herrn geworden. Nichts erinnerte mehr an den »Teufel« von einst, wie Mary, seine Schwester, ihn genannt hatte. Sein Gesicht war glatt rasiert, sein Haar noch voll, aber silberfarben. Er trug einen tadellos geschnittenen perlgrauen Anzug. Der Knoten seiner Fliege saß perfekt, und die Knöpfe an seiner Hemdbrust bestanden aus zierlich gefassten Diamanten. So blank poliert, wie seine Schuhe waren, konnte man sich kaum vorstellen, dass deren Besitzer eine Gosse je auch nur von Weitem gesehen hatte. Er hätte auch ein Bankier sein können. Sicher, ihm gehörte der Saloon nach wie vor, und er ließ sich auch von Zeit zu Zeit dort blicken, aber er wohnte schon seit fast zwanzig Jahren nicht mehr dort. So lange besaß er nämlich bereits ein Haus an der unteren Fifth Avenue – keinen Palast zwar, jedoch so groß wie Masters Haus in Gramercy Park. Sean O’Donnell war ein reicher Mann.

Wie hatte er das erreicht? Master konnte sich das ziemlich genau denken. Während Fernando Wood wusste, wie man die Stadtverwaltung nach Strich und Faden ausnahm, und sein Nachfolger, der große Boss Tweed von Tammany Hall, diese Geschäftsmethode zur Kunstform erhob, war es O’Donnell gelungen, den beiden – erst dem einen, dann dem anderen – die ganze Zeit über geschäftlich nahe zu bleiben und davon unmäßig zu profitieren. Er hatte es geschafft, in der unaufhaltsam wachsenden Stadt Aberdutzende von Grundstücken zu erschließen und sie dann mit gewaltigem Gewinn zu vermieten oder weiterzuverkaufen. »Ich habe noch keinen einzigen ›gepolsterten Vertrag‹ bekommen«, erklärte Sean stolz. Tweed hatte damit die Stadt um Millionen gerupft. »Wohl aber hat er mir erlaubt, 10000 Dollar in seine Druckerei zu investieren.« Anschließend schanzte Tweed sämtliche städtischen Druckaufträge – zu überhöhten Preisen – seiner Druckerei zu. »Ich habe auf eine Investition von 10000 Dollar jahrelang eine Dividende von 75000 Dollar ausgeschüttet bekommen«, gestand Sean.

Und als Tweed aufflog und sein engster Kreis in Ungnade fiel, schaffte O’Donnell es wie viele andere, seine Spuren zu verwischen und unbehelligt weiterzumachen.

Und dann gab es da noch die Geschäfte mit der Wall Street.

Dort waren Männer wie Gabriel Love zu Hause.

Gabriel Love war beleibt. Er saß Frank Master gegenüber, und seine wässrig blauen Augen ruhten milde auf Franks Gesicht, während sein weißer Rauschebart wie ein Wasserfall die gewaltige Ausdehnung seines Bauches, der sich an die Tischkante schmiegte, hinabwallte.

Jeder kannte Mr Gabriel Love. Er sah wie der Weihnachtsmann aus, und die Geldgeschenke, mit denen er wohltätige Stiftungen der Stadt bedachte, waren legendär. Er galt als begeisterter Gottesdienstbesucher und sang die Kirchenlieder mit einem hohen, fast falsettartigen Tenor. Seine Taschen waren immer voller Süßigkeiten für Kinder. »Daddy Love« nannten ihn die Leute. Es sei denn natürlich, sie waren Opfer einer seiner verheerenden finanziellen Transaktionen geworden. Dann schimpften sie ihn den Baissespekulanten.

Gabriel Love begrüßte Master höflich. Als die Kellner das Essen brachten, verkündete er, dass er ein Tischgebet sprechen würde, was er dann mit ehrfürchtiger Stimme auch tat. Anschließend überließ er es Sean, den Löwenanteil der Konversation zu bestreiten, bis er ein Hähnchen vollständig aufgegessen hatte. Erst dann wandte er sich zu Frank und erkundigte sich:

»Wetten Sie gern, Mr Master?«

»Gelegentlich«, sagte Master vorsichtig.

»Wie ich die Sache sehe«, erklärte Gabriel Love, »ist ein Wall-Street-Mann der geborene Zocker. Ich habe schon Männer den ganzen Nachmittag lang Wetten darüber abschließen sehen, welcher Regentropfen an einer Fensterscheibe als Erster unten ankommen wird.« Er nickte gedankenversunken. »Ein Wall-Street-Mann ist außerdem gierig. Woran nichts auszusetzen ist. Ohne Gier, pflege ich immer zu sagen, gäbe es keine Zivilisation. Aber der Wall-Street-Mann hat nicht die Geduld, den Boden zu beackern oder Dinge herzustellen. Er ist gescheit, jedoch ohne Tiefgang. Er investiert in Unternehmen, bei denen es ihn eigentlich nicht weiter interessiert, was sie sind oder was sie tun. Was er will, ist auf sie wetten. Die Wall Street wird immer voll von jungen Männern sein, die Wetten abschließen.«

»Jungen Männern?«, sagte Sean. »Und was ist mit den älteren Männern, Gabriel?«

»Ah. Tja nun, wenn ein junger Mann älter wird, gründet er eine Familie, übernimmt Verantwortung. Und dadurch ändert er sich – das liegt einfach in der menschlichen Natur. Man sieht es auf der Straße auf Schritt und Tritt. Ein Mann mit Verpflichtungen wettet anders. Er geht anders vor.«

»Inwiefern anders?«

Gabriel Love fixierte sie beide, und plötzlich schienen seine blassblauen Augen härter zu werden.

»Er hilft dem Glück nach«, sagte er scharf.

Er hatte es gewusst. Als Frank Gabriel Loves trügerischen weißen Rauschebart anstarrte, sagten ihm alle seine Instinkte, dass es Zeit sei zu gehen.

Sean O’Donnell war eine Sache. Sean mochte imstande sein, einen zu töten, aber nicht, wenn man auf seiner Seite stand. Das Schicksal hatte sie – erst durch Mary, dann auch über andere Kanäle – aneinander gebunden. Sean konnte er vertrauen. Gabriel Love hingegen war ein anderes Paar Stiefel. Wollte er sich wirklich, in seinem Alter, mit ihm einlassen?

Master war inzwischen zweiundsiebzig Jahre alt. Man sah es ihm nicht an – die meisten Menschen hielten ihn für zehn Jahre jünger. Sein Haar hatte sich gelichtet, und sein Schnauzbart war weiß, aber er war noch immer ein kräftiger, gut aussehender Mann – und nicht wenig stolz darauf. Er ging täglich ins Kontor. Und wenn er, ab und an, einen leichten Schmerz verspürte, ein Gefühl der Enge in der Brust, so tat er es mit einem Achselzucken ab. Falls er alt wurde, wollte er es nicht wissen.

Doch er genoss durchaus den Respekt, den sein Alter und seine lange berufliche Laufbahn ihm eingebracht hatten. Sein Vermögen war beträchtlich, und er konnte es leicht weiter vermehren, ohne unnötige Risiken einzugehen. Zumal es inzwischen Enkel gab, an die er denken musste. Und Gabriel Love hatte ihm gegenüber gerade so gut wie gestanden, dass er etwas Unehrliches im Schilde führte. Er machte Anstalten aufzustehen.

»Meine Herren«, sagte er, »ich bin zu alt, um ins Gefängnis zu gehen.«

Schon lag Sean O’Donnells Hand auf seinem Arm.

»Warten Sie, Frank – mir zuliebe –, hören Sie sich einfach Mr Loves Vorschlag an.«

*

Eine Woche später brach Lily de Chantal in ihrer Kutsche auf und machte sich von Dakota aus auf den Weg zum Gramercy Park.

Dakota. Nach wie vor kein Staat, sondern eine ungeheure, wüste Wildnis. Aber als der Bauunternehmer Edward Clark ein paar Jahre zuvor an der Westseite des Central Park, oben auf Höhe der 72nd Street, ein riesiges frei stehendes Etagenhaus errichtet hatte, nannte er es »Dakota«. Mr Clark schien ein Faible für indianische Namen zu haben, denn ein anderes Etagenhaus von ihm trug den Namen »Wyoming«, und er hatte gehofft, einen der Boulevards auf der West Side »Idaho Avenue« nennen zu können. Abgelegen, von Blocks umgeben, die, abgesehen von ein paar kleinen Läden und Hütten, noch unbebaut waren, hätte das wuchtige Dakota für die elegante Gesellschaft tatsächlich in irgendeinem fernen Territorium liegen können.

»Niemand wohnt da oben, um Himmels willen«, sagten sie. »Und überhaupt – wer lebt schon in einer Wohnung?«

Die Antwort darauf war ganz einfach. Bis vor ein paar Jahren hatten nur arme Leute in geschossweise aufgeteilten Mietshäusern oder gar in Mietskasernen gewohnt, bei denen sogar die einzelnen Stockwerke in verschiedene Wohnungen aufgeteilt waren. Prächtige, herrschaftliche Wohnungen mochte es in großen europäischen Hauptstädten wie Wien und Paris geben. Nicht aber in New York. Die Leute, die man kannte, wohnten in Häusern.

Doch es gab bereits Anzeichen von Veränderung. Elegante Mietshäuser entstanden in der Stadt – wenngleich keines davon so prunkvoll wie das Dakota. Das Gebäude – eine scheunenartige Interpretation der französischen Renaissance – blickte recht trübsinnig über den Central Park und den Teich hinweg, auf dem die Leute im Winter Schlittschuh liefen. Allerdings besaß es, wie man zugeben musste, seine Vorteile.

Abgesehen von den monumentalen indianischen Motiven, mit denen Mr Clark das Gebäude ausschmücken ließ, waren die Wohnungen riesig und wiesen genug Dienstbotenquartiere auf. Mit ihren hohen Decken standen die Empfangszimmer der größten Wohnungen denjenigen in den meisten Stadtpalais nicht nach. Und bald wurde den Leuten noch etwas anderes bewusst: Diese Wohnungen waren recht praktisch. Wenn man beispielsweise den Sommer in seinem Landhaus verbringen wollte, konnte man einfach die Tür abschließen und abreisen, ohne sich auch nur um jemanden kümmern zu müssen, der während der Abwesenheit das Haus hütete. Schon bald sagten die Leute sogar: »Oh, ich kenne jemanden, der dort wohnt!«

Mittlerweile in den Fünfzigern hatte Lily de Chantal beschlossen, es mit dem Dakota zu versuchen. Schon bald erklärte sie, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen könne, woanders zu wohnen. Ihr eigenes Haus hatte sie vermietet, ihre Ersparnisse investiert, und damit war es ihr möglich, im Dakota mit ein paar Dienstboten ein ruhiges und angenehmes Leben zu führen. Ihr Lebensstil war umso behaglicher, als Frank Master ihr in aller Diskretion die Hälfte der Miete bezahlte.

An diesem Nachmittag aber würde sie aufgrund einer schriftlichen Einladung, die sie am Vortag erhalten hatte, nicht mit Frank, sondern mit Hetty Tee trinken. Und verständlicherweise war sie ein wenig nervös.

Was mochte Hetty von ihr wollen?

Wenngleich erst Anfang März war es überraschend warm. Als sie an der Südseite des Central Park entlangfuhr, sah sie weite Flächen voll blühender Osterglocken. Erst als sie das obere Ende der Sixth Avenue überquerte, runzelte sie die Stirn.

Sie hatte sich mit der langen, hässlichen Hochbahntrasse, die sich seit einiger Zeit die Sixth entlangzog, nie anfreunden können. »The El« wurde sie genannt – diese elevated railroad, deren schnaufende, rußende Dampfloks ihre rasselnden Waggons über den Köpfen gewöhnlicher Sterblicher, sieben Meter über dem Straßenniveau, entlangzogen. Weitere Linien verkehrten auf der Second, Third und Ninth Avenue – sie beförderten Unmengen von Fahrgästen, repräsentierten in Lilys Augen aber die hässliche Seite des gewaltigen Fortschritts, den die Stadt erlebte.

Der Anblick der El war schon bald vergessen, und einen langen Häuerblock weiter, an der Ecke des Parks, bog sie in die Fifth Avenue ein.

Wenn die Hochbahn der notwendige Motor von New Yorks wachendem Wohlstand war, so entwickelte sich die Fifth Avenue allmählich zu dessen funkelnder Krone. Der Boulevard der Paläste, das Tal der Könige. Sie war erst ein kurzes Stück gefahren, als sie das einst frei stehende Haus der bösen Madame Restell passierte. Die berüchtigte Dame weilte nicht mehr unter den Lebenden, und auf der anderen Straßenseite hatten die Vanderbilts ihre prächtigen Stadthäuser erbaut.

Sie fuhr an der St.-Patricks-Kathedrale vorbei, die sich in irisch-katholischem Triumph über die Paläste der reichen Protestanten emporschwang.

Die großen Herrenhäuser waren nach wie vor lediglich fünf Stockwerke hoch; und selbst die größten Geschäftsgebäude mit den gusseisernen Verstrebungen erreichten selten mehr als zehn Geschosse.

Die Stadt mochte mittlerweile ausufern, bewahrte dabei jedoch ihre Anmut. Und vielleicht weil sie selbst in die Jahre kam, bedeutete das viel für Lily.

Sie passierte das Reservoir an der 42nd Street. Dann erblickte sie die Herrenhäuser der Astors, und schließlich bog die Kutsche in den Gramercy Park ein.

Als sie in den Salon geführt wurde, hieß Hetty sie mit einem Lächeln willkommen.

»Ich bin sehr froh, dass Sie gekommen sind, Lily«, sagte sie und forderte ihren Gast mit einer Handbewegung auf, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen.

Man musste schon zugeben, dachte Lily, dass Hetty Master sich sehr gut gehalten hatte. Ihr Haar war grau. Aber das wäre meines ja auch, dachte Lily, wenn ich nichts unternähme. Ihre Büste war matronenhaft, jedoch nicht übermäßig, und ihr Gesicht noch immer schön. Jeder vernünftige Siebzigjährige hätte stolz sein müssen, eine solche Frau zu haben.

Aber welcher Mann, gleich welchen Alters, war schließlich vernünftig?

Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte, dachte Lily, mussten sie sich, sei es in der Oper, sei es bei verschiedenen Empfängen, mehrmals pro Jahr begegnet sein. Und zu all diesen Gelegenheiten benahm Hetty sich ihr gegenüber stets höflich, ja sogar liebenswürdig. Einmal, etwa fünfzehn Jahre zuvor, hatte sie ihr nach einer – natürlich von Frank finanzierten – Soiree sogar einige recht intelligente musikalische Fragen gestellt. Es war ein großes Haus mit einem eigenen Musikzimmer gewesen, also führte Lily sie ans Klavier und zeigte ihr, welche Partien am schwierigsten zu singen waren, und warum. Sie hatten ein recht langes Gespräch geführt, in dessen Verlauf sie den Eindruck gewann, dass Hetty ihr als Sängerin – was immer sie ansonsten für sie empfinden mochte – aufrichtigen Respekt entgegenbrachte.

Wusste Hetty, dass Frank ihr Liebhaber war? Obwohl sie und Frank sich immer um äußerste Diskretion bemühten und Frank ihr ständig versicherte, dass seine Frau nicht die leiseste Ahnung habe.

Jetzt schenkte Hetty den Tee ein. Allerdings wartete sie, bis die Zofe den Raum verlassen hatte, ehe sie das Wort ergriff.

»Ich habe Sie hierher gebeten, weil ich Ihre Hilfe benötige«, sagte sie ruhig.

»Wenn ich kann, gern«, sagte Lily etwas unsicher.

»Ich mache mir Sorgen wegen Frank«, fuhr Hetty fort. Sie warf Lily einen kurzen Blick zu. »Sie nicht?«

»Ich?«

»Ja«, sagte Hetty in geschäftsmäßigem Ton. »Ich mache mir Sorgen wegen dieses Mädchens. Sind Sie ihr schon begegnet?«

Lily war für einen Augenblick stumm. »Ich glaube, da haben Sie mir etwas voraus«, sagte sie vorsichtig.

»Tatsächlich?« Hetty lächelte. »Ich weiß schon lange, dass Sie Franks Geliebte sind, wissen Sie?«

»Oh«, sagte Lily. »Wie lange?«

»Zwanzig Jahre.«

Lily blickte auf ihre Hände hinab. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte sie.

»Wenn es schon jemand sein musste«, sagte Hetty, »dann war es mir wohl am liebsten, dass Sie es waren.«

Lily sagte dazu nichts.

»Sie waren sehr diskret«, fuhr Hetty fort. »Ich bin froh darüber.«

Lily sagte immer noch nichts.

»Zum Teil war es meine eigene Schuld, das ist mir mittlerweile klar. Ich habe ihn fortgetrieben, also hat er sich anderweitig Trost gesucht.« Hetty seufzte. »Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich anders handeln. Es ist schwer für einen Mann, wenn er glaubt, seine Frau achte ihn nicht.«

»Sie sind sehr philosophisch.«

»Das muss man in meinem Alter sein. In Ihrem auch, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Jedenfalls ist es mir immer noch lieber, die Ehefrau zu sein und nicht die Geliebte.«

Lily nickte. »Sie haben immer noch Ihre Ehe.«

»Ja. Die Ehe mag kein idealer Zustand sein, aber sie bietet Schutz, insbesondere wenn man älter wird. Und wir werden alle älter, meine Liebe.« Sie warf Lily einen kurzen Blick zu, ehe sie fortfuhr. »Ich habe noch immer mein Zuhause, meine Kinder und Enkelkinder. Und auch einen Ehemann. Frank mag abgeirrt sein, doch er ist immer noch mein Mann.« Sie fixierte Lily gelassen. »In jeglicher Hinsicht.«

Lily senkte den Kopf. Was konnte sie schon sagen?

»Ich war verletzt, als Frank sich eine Geliebte nahm, das will ich gar nicht bestreiten, aber ich ziehe trotzdem meine Rolle der Ihren vor. Besonders jetzt.«

»Jetzt?«

»Diese junge Frau. Die, die Ihnen Frank weggenommen hat.«

»Oh.«

»Was wissen Sie über sie?«

»Nicht viel.«

»Nun, ich weiß eine ganze Menge.« Sie betrachtete Lily kurz. »Möchten Sie es gern hören?« Und als Lily zögerte: »Miss Donna Clipp ist eine kleine Hexe. Eine Goldgräberin. Und nicht nur das – sie stand in Philadelphia wegen Diebstahls vor Gericht. Mir liegen Beweise vor.«

»Ich verstehe.«

»Ich habe einen Anwalt Erkundigungen über sie einziehen lassen. Die natürlich Frank bezahlt hat, auch wenn er das nicht weiß. Er dachte, das Geld sei für Vorhänge. Er ist ihr völlig gleichgültig. Sie hat es lediglich auf sein Geld abgesehen.«

»Das denken Sie vermutlich auch von mir«, sagte Lily traurig.

»Ganz und gar nicht, meine Liebe. Ich bin sicher, dass er großzügig ist, aber das kann er sich schließlich leisten. Ich glaube zwar nicht, dass es der kleinen Miss Clipp gelingen wird, viel aus ihm herauszuholen. Wenn’s ums Geld geht, ist Frank alles andere als ein Dummkopf. Doch sie könnte ihn bei dem Versuch umbringen.« Sie seufzte. »Wir wissen beide, dass mein Mann allmählich alt wird. Und er ist eitel wie die meisten Männer. Sie ist eine junge Frau – erst dreißig, wissen Sie –, und ich bin mir sicher, er möchte sich beweisen.«

»Und Sie befürchten, es könnte zu viel für sein Herz sein?«

»Sie etwa nicht?«

»Vielleicht«, sagte Lily.

Hetty sah sie fest an. »Lieben Sie meinen Mann?«

»Er ist mir sehr ans Herz gewachsen.«

»Dann werden Sie mir helfen.«

»Wobei?«

»Nun, diese junge Frau loszuwerden, meine Liebe. Wir müssen Donna Clipp loswerden.«

*

Als Mary O’Donnell erfahren hatte, dass Mrs Master Lily de Chantal zum Tee erwartete, war sie überrascht gewesen. Sie wusste, dass die zwei Frauen sich nur entfernt kannten, und so nahm sie an, dass Mrs Master die Sängerin für eine ihrer Benefizveranstaltungen gewinnen wollte. Als ihr ausgerichtet wurde, Mrs Master wolle sie ebenfalls sprechen, konnte sie sich keinen Grund dafür vorstellen.

Als sie eintrat, saßen die beiden ganz zwanglos nebeneinander auf dem Sofa.

»Nun, liebe Mary«, erklärte Mrs Master mit einem Lächeln, »wir brauchen deine Hilfe.«

»Ja, Mrs Master«, sagte Mary. Was konnte sie nur wollen?

»Wir kennen uns seit vielen Jahren, Mary«, fuhr Mrs Master fort, »und jetzt möchte ich dich bitten, vollkommen ehrlich zu mir zu sein und außerdem ein Geheimnis für dich zu behalten. Würdest du das für mich tun? Würdest du es mir versprechen?«

Nach fünfunddreißig Jahren Güte?

»Ja, Mrs Master, ich verspreche es.«

»Nun dann. Ich mache mir Sorgen wegen meines Mannes. Ebenso Miss de Chantal. Miss de Chantal ist eine liebe Freundin meines Mannes.« Sie lächelte Lily zu. »Wir machen uns beide um ihn Sorgen, Mary, und wir glauben, dass du vielleicht helfen könntest.«

Mary starrte sie an. Was sagte sie da? Wie viel wusste sie?

»Wie du weißt, Mary, hat dein Bruder Sean seit vielen Jahren geschäftlich mit meinem Mann zu tun. Und wie Miss de Chantal mir mitteilte, ist dein Bruder auch mit ihr bekannt. Was wir jetzt wissen müssen: Hat dein Bruder je über Miss de Chantal gesprochen?«

»Über Miss de Chantal?«

»Ja. Als eine Freundin meines Mannes?«

»Also …« Trotz ihres Versprechens war Mary drauf und dran zu lügen. Nur dass sie errötete. Und Mrs Master sah das.

»Es ist schon gut, Mary«, sagte Hetty Master. »Ich weiß es seit zwanzig Jahren. Wie lange weißt du es schon?«

»Seit zehn«, sagte Mary verlegen.

»Sean hat es dir erzählt?«

Mary nickte. Er hatte es lange für sich behalten, das musste man ihm schon lassen, aber es am Ende doch erzählt.

»Gut«, sagte Mrs Master, »das könnte von Nutzen sein. Und hat er dir auch von Miss Donna Clipp erzählt?«

»Miss Clipp?« Mary zögerte. »Der Name sagt mir nichts.« Das war die Wahrheit. Zwei Wochen zuvor hatte Sean gebrummelt, Master sei dabei, sich lächerlich zu machen, und in seinem Alter sollte er besser vorsichtig sein. Aber mehr als das äußerte er nicht.

»Nun, so heißt sie jedenfalls. So, Mary, und jetzt brauchen wir deine Hilfe. Mr Master ist kein junger Mann mehr, und wir müssen ihn beschützen. Wann siehst du deinen Bruder wieder?«

»Ich gehe oft am Samstag zu ihm«, sagte Mary.

»Das wäre morgen«, sagte Hetty Master hochbefriedigt. »Könntest du ihn dann besuchen?«

»Wenn Sie möchten, sicher.«

»Dann musst du Folgendes für uns tun.«

*

Es bestand für Sean kein Zweifel, dass Gabriel Loves Plan ein wahres Kunstwerk war. Und mit zu seiner Schönheit trug der Umstand bei, dass es nichts war, was man von Daddy Love erwartet hätte.

Daddy Love besaß ein Faible für sogenannte Leerverkäufe. Wenn er witterte, dass der Wertpapiermarkt fiel, wenn er private Informationen erhielt, dass eine bestimmte Aktie in absehbarer Zeit in den Keller gehen würde, dann bot er anderen Börsianern an, zu einem festgelegten Zeitpunkt ein Aktienpaket weit unter dem gegenwärtigen Kurswert zu verkaufen. Sobald der Stichtag kam, war der Preis der fraglichen Aktie, so sicher wie das Amen in der Kirche, weit tiefer gefallen, als man sich je hätte träumen lassen, und dann kaufte er selbst sie zum günstigen Tageskurs, während die anderen sie ihm für den vereinbarten, höheren Preis abkaufen mussten – was für ihn einen erklecklichen Profit und für die anderen einen gewaltigen Verlust bedeutete.

Diesmal wollte Gabriel Love den umgekehrten Weg wählen.

Sein Gegner würde ein gewisser Cyrus MacDuff sein.

»Er hasst mich«, hatte Mr Love Sean erklärt, »schon seit zwanzig Jahren.«

»Wieso das?«

»Weil ich ihn einmal um eine Wagenladung Geld betrogen habe. Aber das ist keine Entschuldigung. Wenn Mr MacDuff sich in christlicher Nächstenliebe übte, wenn er fähig wäre, seinen Schuldigern zu vergeben, dann ließe sich das schreckliche Schicksal, das über ihn hereinzubrechen droht, vielleicht noch abwenden. Doch seine böse Natur, dessen bin ich gewiss, wird ihn mit Blindheit schlagen, worauf ihn die Strafe des Herrn ereilen wird.«

»Klingt gut, finde ich«, sagte Sean. »Und wie wird Gottes Wille geschehen?«

»Durch die Hudson Ohio Railroad«, sagte Mr Love.

Im Jahr 1888 gab es nur eines, was man über das Eisenbahngeschäft mit Gewissheit sagen konnte: Es war schmutzig.

Mit der Erschließung des gewaltigen amerikanischen Westens expandierte das Volumen des Gütertransports auf dem Schienenweg mit einer rasanten Geschwindigkeit. Große Summen wurden umgesetzt. Während die Briten ihr ausgedehntes Imperium ausbauten und die europäischen Mächte Afrika kolonisierten, trieben die Unternehmer der Ostküste im Eiltempo Eisenbahnlinien durch die Weiten des amerikanischen Westens.

Bisweilen entbrannte ein Kampf um die Kontrolle einer bestimmten Strecke – oder einer Gesellschaft, die eine Linie bereits in trockenen Tüchern hatte. Es kam vor, dass zwei konkurrierende Gruppen praktisch nebeneinander Gleise verlegten, um zu sehen, wer als Erster am Ziel war. Waggonladungen von Bewaffneten in Diensten rivalisierender Gesellschaften trugen Meinungsverschiedenheiten durchaus auch mit dem Colt aus – nicht umsonst sprach man vom Wilden Westen. Mitunter gingen Konkurrenten aber auch subtiler vor.

Die Niagaralinie war ursprünglich eine recht bescheidene Angelegenheit. Ein nettes kleines Eisenbähnchen, das einer landwirtschaftlichen Region im mittleren Westen Wohlstand bringen sollte, sobald sie an eine der größeren Eisenbahnlinien, die Güter herüber zum Hudson transportierten, angeschlossen wäre. Mr Love hatte drei Jahre zuvor die Aktienmehrheit der Niagaralinie aufgekauft und glaubte, deren Anschluss an die Hudson Ohio sei eine abgemachte Sache.

»Und dann, Sir, hat dieser Mr Cyrus MacDuff die Hudson Ohio unter seine Kontrolle gebracht und mir den Weg verbaut. Nur um mich zu ärgern. Er hat, ohne mit der Wimper zu zucken, auf die zusätzlichen Profite verzichtet, die uns die Strecke eingebracht hätte, nur um mich bluten zu sehen. Ich habe mich bei der Niagara stark engagiert, aber wenn ich sie nicht an die Hudson-Ohio-Linie anbinden kann, sind meine Aktien wertlos. Heißt das«, fragte Gabriel Love, »etwa christlich handeln?«

»Heißt es nicht«, sagte Sean. »Was schlagen Sie also vor?«

»Ich werde Licht in die Finsternis bringen«, sagte Mr Love in gottesfürchtigem Ton. »Ich werde ihm die Aktienmehrheit der Hudson-Ohio unter der Nase wegkaufen und die Linie mit der Niagara verbinden.«

»Das ist ein gewagter Plan«, sagte Sean. »Die Hudson-Ohio ist eine große Gesellschaft. Können Sie das wirklich schaffen?«

»Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Aber ich werde MacDuff dazu bringen, dass er glaubt, ich könnte es. Und der Glaube«, sagte Gabriel Love mit einem engelsgleichen Lächeln, »ist etwas Wunderbares.«

Erst als Mr Love den Rest seines Plans skizzierte, ging Sean auf, was Love in besonderer Weise auszeichnete.

Zunächst einmal hatte er Geduld. Zwei Jahre zuvor hatte er still und unauffällig begonnen, Anteile der Hudson Ohio Railroad aufzukaufen. Immer nur in geringen Mengen, immer durch Maklerfirmen und Mittelsmänner. Er hatte es so geschickt angefangen, dass nicht einmal Mr MacDuffs Habichtsaugen etwas davon mitbekamen.

»Zum jetzigen Zeitpunkt«, erklärte er Sean, »besitze ich sechsunddreißig Prozent des Unternehmens. MacDuff hält vierzig. Weitere zehn Prozent gehören anderen Eisenbahngesellschaften und Investoren, von denen ich mit Sicherheit weiß, dass sie nicht verkaufen wollen. Eine Handvoll Kleininvestoren halten insgesamt weitere zehn Prozent der Aktien, und die verbleibenden zehn liegen in den Händen Ihres Freundes Frank Master.«

»Ich wusste nicht, dass er so kapitalstark ist.«

»Es ist sein größtes Aktienpaket. Er hat es nach und nach aufgebaut und damit seinen Geschäftssinn bewiesen – es ist eine ausgezeichnete Investition.« Er lächelte. »Falls er mir seinen Anteil verkauft, dann hätte ich die Kontrolle über die Gesellschaft. Und da Sie mit ihm befreundet sind, würde ich Sie bitten, uns miteinander bekannt zu machen.«

»Sie möchten, dass er Ihnen seine zehn Prozent verkauft?«

Gabriel Love lächelte. »Nein. Aber ich möchte, dass MacDuff glaubt, er könnte es vielleicht tun.«

Und aus diesem Grund hatte Sean das Dinner im Delmonico’s arrangiert. Als sie beim Digestif angelangt waren, kannte Seans Bewunderung für den alten Gabriel Love keine Grenzen mehr. Die Eleganz, die Symmetrie des Plans war von wahrhaft klassischer Schönheit. Und was musste Frank Master dabei tun? Nichts – außer die Stadt für ein paar Tage verlassen.

Am nächsten Freitag würden sie sich noch einmal, wieder im Delmonico’s, treffen und die letzten Feinheiten abklären.

*

Am Samstagnachmittag ließ sich Sean gerade diese Angelegenheit erneut durch den Kopf gehen, als seine Schwester Mary erschien.

Sie verbrachten eine angenehme Stunde miteinander, plauderten über dies und jenes, und nach einer Weile wandte sich das Gespräch der Familie Master zu.

»Weißt du noch, wie du mir mal gesagt hast, Frank Master würde sich zur Witzfigur machen, und er sollte sich besser vorsehen?«, fing Mary an. »Also, gehe ich recht in der Annahme, dass er sich eine junge Dame zugelegt hat?«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht. Er sieht sehr mit sich zufrieden aus, doch auch ein bisschen angestrengt. Da bin ich einfach neugierig geworden.«

»Tja«, sagte Sean lächelnd, »du hast richtig geraten. Sie heißt Donna Clipp. ›Clipper‹, wie er sie zärtlich nennt. Und er sollte die Sache beenden.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Glaubst du vielleicht, dass seine Frau etwas ahnt?«

»Es hat in all den Jahren nie Anzeichen gegeben, dass sie von Lily de Chantal etwas wusste«, antwortete Mary. »Wenn sie von ihr nie erfahren hat, warum sollte sie dann von dieser Neuen wissen?«

»Freut mich zu hören«, sagte Sean. »Sie ist eine gute Frau, auf ihre Weise, und es täte mir leid, wenn ihr wehgetan würde.« Er schwieg kurz. »Wusstest du, dass Master nächsten Sonntag geschäftlich den Fluss hinauffährt? Er wird ein paar Tage wegbleiben, und er nimmt das Mädchen mit.« Er zuckte die Achseln. »Ich hoffe bloß, die Sache ist bald vorbei.«

»Alter schützt vor Torheit nicht«, sagte Mary.

»Aber behalt’s für dich.«

»Hast du mich je als Plaudertasche erlebt?«

»Nein«, sagte Sean beifällig, »das kann ich wirklich nicht behaupten.«

*

Eine Stunde später teilte Mary Hetty Master mit: »Am Sonntag nimmt er sie mit auf den Flussdampfer. Und er nennt sie Clipper.«

»Gut«, sagte Hetty. »Das passt ausgezeichnet.«

*

Frank Master hatte lange gezögert, doch am folgenden Mittwoch gelangte er endlich zu einem Entschluss. Er verließ am späten Vormittag das Haus, ging die 14th in östlicher Richtung bis zur El-Haltestelle, stieg dann die offene Treppe hinauf und erreichte den Bahnsteig.

Auf der Treppe war ihm kurz unwohl gewesen, aber das schien jetzt zu verfliegen, also atmete er tief durch, drückte die Brust heraus, gratulierte sich zu seiner noch immer verdammt guten Form und steckte sich eine Zigarre an.

Wegen der späten Vormittagsstunde waren nicht viele Leute unterwegs. Er schlenderte den Bahnsteig entlang und blickte hinunter auf das Gewirr von Drähten, die zwischen den Telegrafenstangen gespannt waren, und auf die Schieferdächer der kleinen Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Dächer waren vom Rauch der Züge, die über sie hinwegfuhren, ganz verrußt, und sie sahen zu dieser Zeit des Jahres, im Vorfrühling, normalerweise traurig und hoffnungslos aus. Dieser März allerdings war so warm, dass sie in der Morgensonne zwar dreckig, aber fast vergnügt wirkten.

Frank brauchte nicht lange zu warten, bis ein lauter werdendes Schnaufen und Rattern ankündigte, dass ein Zug der Hochbahn sich näherte. Während der Zug ihn in Richtung Downtown beförderte, wünschte sich Frank, er wäre nicht eingestiegen. Aus zwei Gründen. Erstens würde er seinem Sohn begegnen. Zweitens bedeutete dies, dass er in die Wall Street musste.

Es war ein paar Wochen her, dass er Tom zuletzt gesehen hatte. Natürlich liebte er seinen Sohn, doch wenn sie zusammen waren, lag immer eine leichte Spannung in der Luft. Nicht dass Tom je etwas gesagt hätte – das war nicht seine Art –, aber seit jenem Tag, an dem die Einberufungskrawalle begannen, wurde Frank das Gefühl nicht los, dass Tom nicht viel von ihm hielt. Etwas in seinem Blick schien zu sagen: Du hast meine Mutter im Stich gelassen, und wir beide wissen es. Tja, vielleicht war das so. Doch das lag inzwischen lang, lang zurück – lange genug, um inzwischen eigentlich vergeben und vergessen zu sein. Sicher, er hatte während fast dieser ganzen Zeit sein Verhältnis mit Lily de Chantal fortgeführt, wobei er sich ziemlich sicher war, dass Tom nichts davon wusste. Das war also keine Entschuldigung.

Trotzdem konnte er auch ganz nützlich sein. Und gerade jetzt, während der Zug ihn in Richtung Downtown beförderte, hatte Frank das Gefühl, dass er Tom brauchte.

Er stieg an der Fulton aus und ging zu Fuß weiter bis zur Wall Street.

Warum fühlte er sich dort so unbehaglich? Früher hatte er diese Straße durchaus gemocht. Die Trinity Church ragte noch immer in all ihrer feierlichen Pracht über das Westende der Straße empor – ein tröstlicher Anblick. War Trinity nicht die Seele der Wall Street und all dessen, was sie verkörperte? Gehörten die Masters nicht schon seit Generationen – meist als Kirchenälteste – der Trinity-Gemeinde an? Er hätte sich in der Wall Street eigentlich zu Hause fühlen müssen. Doch dem war nicht so.

Wie immer wimmelte die Straße von Menschen. Burschen in dunklen Gehröcken, die, das Hutband ihrer Zylinder mit Auftragszetteln gespickt, durch die Eingangstür der Börse ein und aus eilten. Büroschreiber, die an ihre Pulte hasteten. Botenjungen, Straßenhändler, Droschken, die Großkaufleute gleich ihm absetzten.

Er passierte ein strenges, wuchtiges Gebäude. Hausnummer 23. Der Sitz von Drexel, Morgan. Während er vorüberging, musste er sich zusammennehmen, um nicht instinktiv den Kopf zu neigen. Ja: Er, ein Master, dessen Vorfahren schon Freunde der Stuyvesants und Roosevelts, der Astors und Vanderbilts gewesen waren, musste ein ehrfürchtiges Schaudern unterdrücken, als er am Hauptsitz von Morgan vorüberging. Das war das Problem. Deswegen gehörte er nicht mehr hierher.

Wohl aber sein Sohn Tom. Und kurz darauf stand er vor dessen Tür.

*

»Vater. Ein unerwartetes Vergnügen.« Tom schob seinen Sessel von seinem Rollschreibtisch zurück. Sein Frack hing an einem Kleiderständer, und seine graue Weste war so makellos wie sein weißes Hemd, seine Seidenkrawatte und die Perlnadel, die sie an ihrem Platz hielt. Alles an ihm brachte zum Ausdruck: Dieser Mann befasst sich nicht mit Waren, er befasst sich nur mit Geld. Tom war kein einfacher Kaufmann wie seine Vorfahren; er war Bankier.

»Einen Augenblick Zeit?«, sagte sein Vater.

»Für dich natürlich.« Tom brauchte nicht darauf hinzuweisen, dass er viel zu tun hatte. Die goldene Uhrkette an seiner Weste erklärte einem unmissverständlich, dass seine Zeit kostbar war.

»Ich bräuchte deinen Rat«, sagte Frank.

»Gern zu Diensten«, sagte Tom. Aber in seinem Blick – wie in dem eines Geistlichen, den ein Gemeindemitglied um ein Gespräch unter vier Augen bittet – glomm ein leichter Argwohn auf, gepaart mit einem sich bereits abzeichnenden Richtspruch. Das ist das Problem mit Bankiers, dachte Master. Ein Kaufmann möchte Bescheid wissen, ehe er ein Geschäft abschließt. Ein Bankier ist nicht weniger als er auf Profit bedacht, aber zusätzlich hat er sich eigenmächtig zum strafenden Gewissen des Händlers ernannt, und deswegen legt er eine herablassend überlegene Miene an den Tag. Sein Sohn Tom war mittlerweile in den Vierzigern, aalglatt, stinkreich und aufgeblasen. Was soll’s, dachte er. Er brauchte seinen Rat, und zumindest den würde er nicht in Rechnung gestellt bekommen.

»Mir gehören zehn Prozent einer Eisenbahngesellschaft«, sagte Frank. Sein Sohn starrte ihn plötzlich verblüfft an. Er hatte das nicht gesagt, um Eindruck zu schinden – er wollte lediglich eine schlichte Tatsache festhalten. Doch Tom schien plötzlich wie umgewandelt.

»Zehn Prozent einer Eisenbahngesellschaft?« Tom war ganz Ohr.

»Von welcher Größenordnung?«

»Mittlere Größe.«

»Ich verstehe. Dürfte ich fragen, um welche es sich handelt?« In Toms Stimme schwang eine Höflichkeit mit, die sein Vater noch nie bei ihm erlebt hatte.

»Das ist vorerst noch vertraulich.«

»Wie du möchtest.«

Es bestand kein Zweifel – er sah es in Toms Augen: Sein Sohn begegnete ihm mit neu erwachtem Respekt. Es war so, als sehe er sich keinem lumpigen Krämer, sondern einem ernst zu nehmenden Stifter gegenüber. Als er seine neue Situation erkannte, zögerte er nicht, sie noch ein wenig auszubauen.

»Meine zehn Prozent«, sagte er ruhig, »geben mir quasi einen beherrschenden Einfluss.«

Tom lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und blickte seinen Vater voller Liebe an. Jetzt werden mir, dachte Frank, alle meine Sünden mit einem Mal vergeben und ich trete unter Jauchzen und Frohlocken durch die Himmelstür.

»Nun, Vater«, sagte sein Sohn, »das ist exakt unser Metier.« Auf seinem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. »Willkommen in der Wall Street!«

*

Was die Wall Street wirklich verändert hatte, war der Bürgerkrieg. Der und dann der Wilde Westen. Es war ein gewaltiger Kapitalfluss erforderlich gewesen, um den einen zu finanzieren und den anderen zu zivilisieren. Und wo ließ sich Kapital finden? An einem einzigen Ort, dem Geldzentrum der ganzen Welt: London.

Und London hatte dann auch Amerika finanziert. Hatte die amerikanische Wirtschaft im vergangenen Jahrhundert auf dem Dreieck des Londoner, New Yorker und westindischen Zuckerhandels – und später auf den Baumwollexporten der Südstaaten – beruht, so hielt sie jetzt ein neuer, weniger sichtbarer, aber gleichermaßen effektiver Motor in Gang: der Kredit- und Aktienfluss zwischen London und New York.

Damit begann der Aufstieg des Hauses Morgan. Junius Morgan, ein achtbarer Gentleman aus Connecticut, dessen walisische Vorfahren sich zwei Jahrhunderte zuvor in Bristol nach Amerika eingeschifft hatten, kehrte ins Land seiner Ahnen zurück und ließ sich in London als Bankier nieder. Man schätzte ihn, man vertraute ihm, er war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, und er war klug genug, dies alles zu erkennen. Er vermittelte Kredite von London nach Amerika, und diese Kredite erreichten ein immer größeres Volumen. Im Laufe seines ruhigen, achtbaren Geschäftslebens wurde er ein sehr reicher Mann.

Doch jetzt stand sein Sohn, John Pierpont Morgan, am Ruder. Fast ein Meter neunzig groß, mit einer breiten Brust, einer gewaltigen Nase, die bei Aufregung wie ein ausbrechender Vulkan aufglühte, und herrischen Augen, die einen wie die Scheinwerfer einer herandonnernden Lokomotive fixierten, war Mr J.P. Morgan dabei, zu einer lebenden Legende zu werden. J.P. Morgan und einige wenige Männer gleich ihm waren mittlerweile die Könige der Wall Street, und an ihnen lag es, dass selbst ein Handelsherr wie Frank Master sich dort nicht mehr zu Hause fühlte. Denn die Geschäftsabschlüsse der Bankiers und Industriekonsortien, die Beträge, die dabei den Besitzer wechselten, erreichten ein solches Volumen, dass Leute wie Master keinen großen Einfluss mehr besaßen. Die Bankiers handelten nicht mit Waren; sie handelten mit Firmen. Sie finanzierten keine Frachtschiffe; sie finanzierten Kriege, ganze Industrien, ja sogar kleinere Staaten.

Sicher, Morgan gehörte demselben Kirchenvorstand an; Frank verkehrte durchaus in denselben New Yorkern Häusern, wo er ihm auch gelegentlich begegnete. Aber Morgans Spiel war einige Nummern zu groß für ihn, und beide wussten das. Frank empfand die Tatsache als demütigend. Und kein Mann wird gern gedemütigt.

Doch Bankiers waren an Eisenbahnen interessiert. Dieses Geschäft war ihnen groß genug.

Mr Morgan war selbst in dieser Branche aktiv tätig und hatte ungeheure Mengen der besten Eisenbahnaktien bei Londoner Investoren platziert.

Doch jetzt schien Mr Morgan entschlossen, dass es an der Zeit sei, das Chaos zu entwirren. Wie ein Monarch, der sich mit einem Land voller barbarischer Kriegsherren konfrontiert sieht, bestellte er die Eisenbahnbarone in sein Haus, um nach Möglichkeit dem Krieg ein Ende zu bereiten und Ordnung in die konkurrierenden Gesellschaften zu bringen. Zwar machte er schon gewisse Fortschritte, doch blieb den unbotmäßigen Baronen noch genügend Zeit für ein paar spektakuläre Raubzüge.

*

»Ich habe Grund zu der Annahme, dass demnächst ein Krieg um die Kontrolle dieser Eisenbahn ausbrechen wird«, erklärte Master. »Wenn es dazu kommt, wird einer der Kontrahenten versuchen, seinen Aktienanteil aufzustocken. Aber solange ich nicht verkaufe, wird der Markt nicht genug hergeben. Und diese Knappheit wird den Wert meiner Anteile in die Höhe treiben.«

»Klingt gut«, sagte sein Sohn.

»Ich beabsichtige, nichts zu unternehmen. Soll der Preis ruhig steigen. Doch sobald er eine gewisse Höhe erreicht, könnte ich mir überlegen, wenigstens eine gewisse Stückzahl zu verkaufen.«

»Es ist dir gleichgültig, wer die Gesellschaft kontrolliert?«

»Völlig. Die einzige Frage ist: Verstoße ich damit gegen irgendwelche Gesetze?«

Tom Master dachte nach. »Nach dem, was du mir erzählt hast, würde ich sagen, es ist alles in Ordnung. Gibt’s noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Einer der Kontrahenten bittet mich, mit dem Verkauf zu warten, um den Markt weiter anzuheizen. Er will, dass der andere ihn auszahlt, aber zu einem möglichst hohen Preis.«

»Hmm. Bezahlt er dich dafür?«

»Nein.«

»Dann würde ich sagen, es hängt davon ab, was er sonst noch tut und was du sonst noch weißt. Heutzutage gibt es bestimmte Spielregeln.« Tom lächelte. »Wir Bankiers versuchen, etwas Ordnung in den Aktienmarkt zu bringen.«

Wir Bankiers: Wie stolz Frank war, ein Bankier zu sein! Er verehrte Morgan – hatte sogar einen Rollschreibtisch wie sein Held. Doch man konnte es ihm nicht verdenken. Und wenn die Bankiers sich als moralische Instanzen gerierten und jedem strenge Verhaltensregeln vorschrieben, ließ sich nicht bestreiten, dass sie gute Argumente hatten.

Tatsache war, dachte Frank, dass die New York Stock Exchange in den letzten Jahrzehnten – ja, eigentlich solange er zurückdenken konnte – kaum als respektabler Ort galt. War die Eisenbahn eine große Attraktion gewesen, so fungierte die Börse als dazugehöriger Jahrmarkt. Man konnte sich dort praktisch alles leisten.

Der einfachste Trick bestand darin, eine Gesellschaft unter seine Kontrolle zu bringen. Männer wie Jay Gould gaben munter neue Aktien aus, ohne den alten Aktionären auch nur ein Wort davon zu sagen, und nahmen durch neue Aktionäre neues Geld ein, während sie damit gleichzeitig den Börsenwert der alten Anteile verringerten. Das Kapital verwässern nannte man das. Man konnte neue Gesellschaften gründen und damit die alten aufkaufen, bis keiner mehr wusste, wem was eigentlich gehörte. Man konnte Politiker kaufen, damit sie für Konzessionen stimmten, die der eigenen Gesellschaft zugute kommen würden, und sie mit Geschäftsanteilen bezahlen. Vor allen Dingen konnte man den Börsenwert des eigenen Unternehmens manipulieren und dann mit seinen Aktien spekulieren.

Doch jetzt pochten solide Männer wie Morgan auf die Einhaltung neuer Spielregeln. Der Markt wurde aufgeräumt – wenn auch langsam. »Am meisten verpönt«, erklärte Tom, »sind zur Zeit Firmen, die den Kurs ihrer eigenen Aktie manipulieren. Ein Beispiel: Eine Firma bietet dir eine größere Anzahl Anteile zu einem Vorzugspreis an. Dann erzeugt die Firma durch falsche Informationen und andere Tricks den Eindruck, ihre Aktien seien wertlos. So kann sie deine Order bedienen, indem sie ihre eigenen Aktien zu einem Schleuderpreis kauft. Eine Woche später ist die künstliche Panik vorüber, und die Firma hat einen fetten Gewinn gemacht. Manche Firmen haben dieses Spiel schon mehrmals durchgezogen. Und wenn Börsenmakler anfangen, Wetten auf Kursentwicklungen abzuschließen, können sie durch solche Manipulationen natürlich böse auf die Nase fallen. Gabriel Love ist einer der Hauptakteure in diesem Schwindelgeschäft. Kennst du ihn?«

»Der Name sagt mir was«, erwiderte Frank Master vorsichtig.

»Er gehört ins Zuchthaus«, sagte Tom bestimmt. »Aber dein Eisenbahngeschäft klingt nicht danach. Im Klartext würdest du durch dein Aktienkapital eine marktbeherrschende Stellung einnehmen und könntest entsprechend davon profitieren. Solange nichts anderes hinter den Kulissen abläuft …«

»Du meinst also, es ist in Ordnung?«

»Wenn du möchtest, wäre es mir ein Vergnügen, das Geschäft für dich abzuwickeln.«

»Das ist nett von dir, Tom, aber ich glaube, das schaffe ich schon selbst.«

»Wie du möchtest. Wenn dir allerdings irgendetwas zu Ohren kommen sollte, was dich argwöhnisch macht, hast du ja eine ganz einfache Option: Behalte deine Aktien. Verkaufe sie nicht oder warte damit zumindest, bis sich die ganze Sache beruhigt. Die Aktie behält unter Umständen ihren hohen Wert, und du könntest sie dann immer noch abstoßen und damit einen hübschen Gewinn machen. Das wäre völlig legitim.«

»Danke, Tom.«

»War mir ein Vergnügen. Du willst mir nicht verraten, um welche Eisenbahngesellschaft es sich handelt?«

»Nicht zu diesem Zeitpunkt.«

»Nun, viel Glück. Vergiss nur eins nicht: Halt dich von Gabriel Love fern.«

»Danke«, sagte Frank. »Das werde ich mir merken.«

*

Das zweite Geschäftsessen im Delmonico’s fand am folgenden Freitag statt. Sie waren wieder unter sich: Frank, Sean O’Donnell und Gabriel Love. Wie schon das erste Mal ließ Love seine Leibesfülle langsam auf seinen Stuhl sinken und blickte seine zwei Tischgenossen über seinen weißen Rauschebart hinweg gütig an. Und Sean lächelte Frank beruhigend zu, als wolle er sagen: »Ist er nicht eine tolle Nummer?« Master hatte sich auf dieses Treffen gründlich vorbereitet.

»Mr Love«, sagte er, sobald sie die Getränke bestellt hatten, »ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir diese geplante Transaktion noch einmal in allen Einzelheiten schildern würden.« Er lächelte. »Nur damit ich weiß, auf was ich mich da einlasse.«

Wieder richteten sich die wässrigen blassblauen Augen mild auf ihn. Oder versteckte sich hinter ihrem Wohlwollen bereits ein Anflug von Ungeduld?

»Das Geschäft, meine Freunde«, sagte Mr Love in sanftestem Ton, »ist die Einfachheit selbst. Und Ihre Rolle dabei erfordert lediglich, dass Sie für ein, zwei Tage die Stadt verlassen – dass Sie sich eine kleine Ruhepause gönnen, fernab aller geschäftlichen Verpflichtungen, an einem Ort, an dem Sie telegraphisch nicht erreichbar sind. Das ist alles.« Er lächelte beschwichtigend. »Mit einem Wort: einen sorglosen Urlaub.« Er wandte sich zu Sean. »Ist es nicht so?«

»So ist es«, sagte Sean. »Flussaufwärts.«

»Morgen ist Samstag«, fuhr Gabriel Love fort. »Die Aktienmärkte haben bis Mittag noch geöffnet, um dann für den Rest des Wochenendes zu schließen. Und morgen Vormittag, unmittelbar vor Börsenschluss, werde ich im Namen mehrerer Anleger einige Aktienpakete im Gesamtwert von einem halben Prozent der Hudson Ohio Railroad kaufen. Ich weiß, dass ich sie bekomme, weil sie sich bereits im Besitz meiner Makler befinden, die so liebenswürdig sein werden, sie mir zu überlassen. Diese Transaktionen dürften keinerlei Unruhe auslösen, an der Börse aber durchaus zur Kenntnis genommen werden. Mr Cyrus MacDuff ist derzeit in Boston. Er wird morgen bei der Hochzeit seiner Enkelin zugegen sein. Im unwahrscheinlichen Fall, dass sein Bevollmächtigter ihn über den erfolgten Aktienkauf informieren sollte, besteht die Möglichkeit, dass er versuchen wird, Ihnen ein Kabel zu schicken. Wenn er das tut, werden Sie nicht antworten. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass er von diesen Vorgängen überhaupt nichts mitbekommt.

Am Sonntag speist ein gewisser mit mir bekannter Richter mit Mr MacDuff zu Abend. Er wird ihn darüber informieren, dass ich heimlich über sechsunddreißig Prozent seiner Eisenbahn gekauft habe und meine Agenten Gerüchten zufolge am Samstagvormittag noch weitere Anteile erworben haben sollen. Währenddessen werde ich dafür sorgen, dass das Gerücht in New York in Umlauf gesetzt wird.« Er nickte weise. »Und da, meine Freunde, wird Cyrus MacDuff seiner eigenen Schlechtigkeit zum Opfer fallen. Der Teufel wird diesen Mann fest in den Klauen haben.

Er wird versuchen, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, damit Sie ihm versichern, dass Sie Ihre zehn Prozent nicht zu verkaufen gedenken. Oder aber, dass Sie sie ihm und nicht mir verkaufen. Zuerst wird er versuchen, Sie telegraphisch zu erreichen. Oder sich sogar in einen Zug nach New York setzen, falls es so spät noch einen gibt. Aber es wird ihm nicht gelingen, mit Ihnen in Kontakt zu treten, denn Sie werden schon abgereist sein. Alle seine Bemühungen, Sie zu erreichen, werden scheitern. Er wird nicht wissen, ob Sie halten oder verkaufen und sich in einem Zustand größter Besorgnis befinden. Und warum? Alles nur, weil er mich hasst und nicht will, dass ich an seiner Eisenbahn beteiligt bin. Da wird Heulen sein, Gentlemen, und Zähneklappern.

Am Montagmorgen werden Cyrus MacDuff oder seine Agenten versuchen, Anteile der Hudson Ohio Railroad zu kaufen, es dringend machen, den Preis der Aktie in die Höhe treiben. Aber es wird kaum Aktien zu kaufen geben.

Tatsächlich werden meine Agenten ihnen ein paar meiner Anteile überlassen, damit die Sache nicht einschläft. Allerdings nicht annähernd so viele, wie sie brauchen. Der Markt wird es merken und sich aufheizen. Und dann wird er sich an etwas anderes erinnern. An etwas, worauf meine Agenten darauf hinweisen werden. ›Wenn Gabriel Love die Hudson-Ohio unter seine Kontrolle bringt‹, werden sie sagen, ›dann kann er die Niagara damit vereinigen, und der Wert der Niagara Railroad wird auf ein Vielfaches steigen.‹ Während MacDuffs Männer den Markt nach Hudson-Ohio-Aktien abgrasen, wird der Kurs der Niagara wie eine Rakete in die Höhe schießen. Es ist schließlich eine ziemlich sichere Wette. Und während dieser Zeit werde ich meine Niagaraanteile verkaufen und bis Börsenschluss voraussichtlich draußen sein.«

»Und während dieser Zeit soll ich nichts unternehmen?«, sagte Master.

»Sie werden nicht da sein, Sie werden nichts von alledem wissen. Aber schon im Anschluss an unser erstes Treffen haben Sie Ihrem Makler geheime Instruktionen gegeben.«

»Wenn der Kurs der Hudson Ohio über Einszwanzig steigen sollte, soll er die Hälfte meines Pakets zum besten Preis verkaufen, den er realisieren kann.«

»Vernünftige Instruktionen, wie sie jeder Investor geben könnte. Und ich glaube, dass der Kurs noch weit höher steigen wird. Denn bis dahin wird der ganze Markt hinter dieser Aktie her sein. Ohne dass jemand weiß, was sich da abspielt. Ich plane meine Anteile ebenfalls zu verkaufen. Wir werden beide einen hübschen Gewinn machen, Mr Master. Einen sehr hübschen Gewinn.«

»Ein wunderschöner Plan«, sagte Sean.

»Seine Schönheit«, sagte Mr Love gütig, »liegt darin, dass jeder bekommt, was er will. Ich werde mit einem großen Profit aus dem Geschäftsleben aussteigen. Der hier anwesende Mr Master wird ebenfalls einen Gewinn machen, ohne Risiken eingegangen zu sein. Selbst diejenigen, die Niagaraaktien kaufen, werden profitieren. Denn sobald Mr MacDuff erfährt, dass ich aus dem Geschäft raus bin, wird er keinen Grund haben, das Naheliegende zu tun und die Niagara der Hudson-Ohio anzugliedern, was eine Wertsteigerung für ihre Aktien bedeuten wird. Selbst MacDuff bekommt, was er will, denn er wird eine unumschränkte Mehrheitsbeteiligung an der Hudson-Ohio besitzen.« Und hier verhärteten sich Mr Loves wasserblaue Augen nicht nur, sondern schienen sich auch zu verengen, bis sein ganzes Gesicht, statt dem des Weihnachtsmanns zu ähneln, mit einem Mal an eine große weiße Ratte erinnerte. »Aber«, flüsterte er, »er wird mir dafür einen Wucherpreis bezahlt haben.«

Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann erschienen drei Kellner mit je einem Teller Hummer Newburg. Das Delmonico’s war dafür berühmt.

»Ich werde das Tischgebet sprechen«, sagte Gabriel Love. Er legte die Finger aneinander und betete mit sanfter Stimme: »O Herr, wir danken Dir für diese Deine Gabe von Hummer Newburg. Und gewähre uns auch, so es Dein Wille ist, die Kontrolle über die Hudson Ohio Railroad.«

»Aber wir wollen die Kontrolle über die Hudson-Ohio doch gar nicht«, wandte Sean leise ein.

»Stimmt«, sagte Gabriel Love, »aber das braucht der Allmächtige jetzt noch nicht zu wissen.«

War die Sache koscher? Es sah so aus. Frank warf Sean einen Blick zu. Sean lächelte beruhigend.

»Was mir besonders gefällt«, sagte Sean, »ist die Tatsache, dass die ganze Sache hundertprozentig legal ist. Sie kaufen Aktien, MacDuff gerät in Panik, der Markt kocht über, Sie und Master verkaufen mit Gewinn. Da ist nichts dran auszusetzen. Und es wird funktionieren. Solange MacDuff nicht Unrat wittert.«

»Deswegen habe ich gewartet, bis er nicht in der Stadt sein würde«, sagte Gabriel Love. »Könnte er in Masters Kontor spazieren und ihn persönlich zur Rede stellen, ja könnte er ihn auch nur telegraphisch erreichen, fiele mein Plan wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Aber wenn er das nicht kann, wird er unsicher, und Unsicherheit gebiert Angst. Sein inneres Gleichgewicht dürfte ohnehin gestört sein. Die da heiratet, ist seine Lieblingsenkelin, und MacDuff ist ein sentimentaler Mensch.« Er seufzte. »Die menschliche Natur, meine Herren. Es ist stets die Erbsünde, die den Menschen in sein Unglück treibt.« Er blickte sie beide mit heiterer Gelassenheit an. »Ich bin Börsenspekulant, meine Herren, und damit Teil von Gottes Plan. Der Mensch lernt nur durch Leiden. Also bestrafe ich die menschliche Schwäche, und Gott belohnt mich dafür.«

»Amen«, sagte Sean O’Donnell mit einem Grinsen.

Sie hatten ihren Hummer aufgegessen. »Charlotte russe« wurde als Dessert vorgeschlagen und akzeptiert; den Abschluss würden Weinbrandbirnen bilden. Das Gespräch wandte sich dem Theater zu, dann dem Pferderennen, begleitet von einem französischen Dessertwein. Frank fühlte sich etwas unwohl; seine Stirn war feucht. Er gelangte zu dem Schluss, dass er zu viel aß, und lehnte dankend ab, als ihm eine zweite Portion Charlotte russe angeboten wurde.

»So«, sagte Sean währenddessen zu Gabriel Love, »was werden Sie nach diesem Coup als Nächstes tun?«

»Als Nächstes?« Mr Love ließ den Blick gelassen über die Tafel schweifen. »Nichts, Mr O’Donnell. Ich werde nichts tun.«

»Das sieht Ihnen nicht ähnlich«, sagte Sean.

»Ich setze mich zur Ruhe«, verkündete Gabriel Love. »Ich widme mich fortan ausschließlich frommen Werken.«

»Den Geschmack an der Börse verloren?«

»Zu viele Vorschriften, Mr O’Donnell. Zu viele Bankiers wie Morgan. Die sind mir zu mächtig. Und außerdem« – er schüttelte dabei wehmütig den Kopf- »verbannen sie leider das Leben und die Süße aus dem Geschäft.«

Es entstand eine Pause, während die zwei Männer sich an die einstige Süße des Lebens erinnerten.

»Die Sechziger«, sagte Sean O’Donnell. »Das waren noch Zeiten.«

»Wie wahr«, sagte Gabriel Love.

»Sie hatten alles im Griff«, sagte Sean. »Sie und Boss Tweed.«

»Unser System«, sagte Love, »war damals nahezu vollkommen.« Frank hörte schweigend zu. Natürlich erinnerte sich jeder an die Jahre nach dem Bürgerkrieg. Wenn die heutigen Eisenbahnbarone Renaissancefürsten ähnelten, war die Wall Street der späten Sechzigerjahre das finstere Mittelalter gewesen – damals, als die New Yorker Korruption auch die Börse erfasste. Die Geschichte aus dem Mund eines der einstigen Hauptakteure zu hören war eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen durfte.

»Ich habe schon immer gesagt, dass Ihr Freund Fernando Wood sogar noch mehr für sich erreicht hätte«, sagte Gabriel Love zu Sean, »wenn er nicht zu Tammany Hall auf Distanz gegangen wäre.«

»Stimmt wohl«, räumte O’Donnell ein.

»Tammany Hall ist die Antwort auf jedes Problem in dieser Stadt, und Boss Tweed wusste das. Ein bisschen Geld kann man auch ohne die Politik verdienen. Aber um das große Geld zu machen, muss man die Legislative kaufen. Anders geht das nicht.«

»Öffentliche Aufträge«, sagte O’Donnell mit zärtlicher Stimme.

»Öffentliche Aufträge, sicher«, echote Love. »Gar keine Frage, mit öffentlichen Aufträgen kann man Unsummen verdienen. Doch für einen Mann mit Weitblick sind sie nur der Anfang. Und Boss Tweed hatte Weitblick. Sie wollen, dass Ihre Eisenbahn einen bestimmten Streckenverlauf nimmt, und brauchen dafür die Genehmigung der Stadt oder des Staates? Dann müssen Sie die Abgeordneten bezahlen. Ein paar von ihnen einen Direktorenposten geben. Ihre Firma wird verklagt? Dann müssen Sie einen Richter kaufen. In der Tammany Hall wurde das alles geregelt. Boss Tweed war der Mann, den Sie brauchten.«

Er schloss für einen Moment die Augen und schwelgte in der Erinnerung. »Die Polizei bestand ausschließlich aus strammen Tammany-Jungs. Die Richter, die Stadtverordneten, selbst der Gouverneur des Staates New York – alle standen sie auf seiner Lohnliste. An der Wall Street haben wir nur abgesahnt. Man konnte Aktienkapital verwässern, Leerverkäufe auf Kosten der eigenen Aktionäre tätigen, alles möglich. Und wenn ein Richter gegen einen entschied, was soll’s, dann besorgte Tweed einem ein gegenteiliges Urteil, mit dem die Sache noch jahrelang in der Schwebe blieb.

Das waren goldene Zeiten für Visionäre. Jay Gould – in meinen Augen der größte Spekulant überhaupt – schaffte es beinahe, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, damals Ulysses Grant, dazu zu überreden, die Goldreserven zurückzuhalten, sodass Gould den Goldmarkt beherrscht hätte. Ja, Sir, er spannte keinen Geringeren als den Präsidenten ein. Und wenn nicht ein hergelaufener Intrigant Grant auf die Nase gebunden hätte, was Mr Gould im Schilde führte, dann hätte er die Sache auch durchgezogen. Das wäre wundervoll gewesen.« Er seufzte. »Aber die Börse und die verdammte Anwaltskammer, dazu Mr Morgan und seinesgleichen, die machen das alles zunehmend schwieriger.« Er schüttelte den Kopf über die Narrheit der Menschen. »Die Freude verabschiedet sich vom Aktienmarkt, meine Herren. Dem Glück lässt sich nicht mehr angemessen nachhelfen. Und Gabriel Love nimmt ebenfalls seinen Abschied.«

»Das Spiel ist noch nicht vorbei«, sagte Sean. »Man kann in der Wall Street nach wie vor viel erreichen – schauen Sie doch, was Sie gerade durchziehen!«

Blitzartig, so schnell, dass man es kaum sah, warf Mr Love O’Donnell einen warnenden Blick zu.

»Ach was, selbst Mr Morgan könnte das machen, was wir machen«, sagte er tadelnd. Dann seufzte er wieder. »Ich habe mich zur Ruhe gesetzt, O’Donnell«, sagte er. »Für mich ist das Spiel vorbei.«

Frank hatte diesem Gespräch mit zunehmend entsetzter Faszination gelauscht. Nicht dass ein bisschen Korruption ihm je zu schaffen gemacht hätte – die gehörte zum Leben in der Stadt einfach dazu. Aber zu hören, wie diese zwei Männer, seine Geschäftspartner, die ganze gewaltige Maschinerie des Schwindels und der Korruption mit solcher Liebe und Vertrautheit beschrieben, das machte ihn nervös. Die geplante Aktion schien juristisch unanfechtbar zu sein, aber was, wenn da noch etwas war, das er nicht wusste? Wenn Jay Gould imstande gewesen war, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu seinem Handlanger zu machen, dachte er, könnte Gabriel Love dann nicht dabei sein, ihn hereinzulegen? Und die Worte seines Sohnes Tom hallten Unheil kündend in seiner Erinnerung: »Halt dich von Gabriel Love fern.«

Wieder spürte er ein klammes Gefühl an der Stirn.

»Sind Sie absolut sicher, dass dieses Geschäft legal ist?«, platzte er plötzlich heraus.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Sean lächelnd. »Vertrauen Sie mir.«

Gabriel Love lächelte nicht. Er sah ihn mit einem sehr merkwürdigen Blick an, einem Ausdruck, der Master überhaupt nicht gefiel.

»Sie werden mich doch nicht etwa hängen lassen, oder?«, fragte er.

»Nein«, sagte Frank widerwillig.

»Lassen Sie mich ja nie hängen«, sagte der alte Gabriel Love.

»Er wird Sie nicht hängen lassen«, sagte Sean schnell.

Gabriel warf Sean einen Blick zu. Dann ging sein Gesicht lächelnd in die Breite.

Die Weinbrandbirnen wurden aufgetragen.

*

Am nächsten Morgen brachte Frank Master das Frühstück schnell hinter sich. Dann ging er hinaus in den Garten. Es war noch immer verblüffend warm für die Jahreszeit, gut über zehn Grad. In einem Zeitungsartikel war von einem Sturm im Mittleren Westen die Rede gewesen, aber der Wetterbericht verhieß für das Wochenende warmes Wetter, mit später zunehmender Bewölkung und vereinzelten Schauern. Jetzt war der Himmel blau. Die Krokusse blühten schon seit Tagen und bildeten überall im Garten reizvolle Kleckse von Lila, Weiß und Gelb.

Nachdem er eine Zeitlang auf und ab spaziert war, beschloss Frank, sich in die Wall Street zu begeben. Diesmal nahm er allerdings eine Droschke – ein Fehler, wie sich herausstellte. Denn als sie die Lower East Side erreichten, stießen sie auf eine nicht enden wollende Kolonne von hoch beladenen Fuhrwerken auf dem Weg in die Stadt. Der Zirkus Barnum, Bailey und Hutchinson kam nach New York. Er hätte daran denken sollen. Er und Hetty durften nicht vergessen, mit ihren Enkelkindern eine Vorstellung zu besuchen. Jetzt aber blockierte der Zirkus die Straßen, und es dauerte eine Weile, bevor die Droschke weiterfahren konnte.

Samstagvormittags war in der Wall Street gewöhnlich nicht viel los, obwohl der Handel erst um Mittag schloss. Master betrat die Börse. Nachdem er sich auf dem Parkett rasch umgesehen und festgestellt hatte, dass der Aktienhandel ruhig verlief, stieg er hinauf zu einem Makler.

»Irgendwas los?«, fragte er.

»Nicht viel. Gerade sind ein paar Hudson-Ohio-Aktien gekauft worden. Nichts Aufsehenerregendes.«

»Ist eine solide Aktie«, sagte Master achselzuckend.

Also hatte Gabriel Love seine Geschäfte getätigt. Die Falle war aufgestellt worden. Master wartete noch eine Weile. Die Börse schien ohne Aufregungen ins Wochenende zu gehen.

Was sollte er tun? Diese Frage stellte er sich, seit er am Morgen aufgewacht war. Der Rat seines Sohnes war zweifellos vernünftig gewesen: im Zweifelsfalle nichts. Wenn Gabriel Loves Transaktion legal war, würde der Wertgewinn seines Aktienpakets erheblich sein. Bei Einszwanzig hätte er sein Geld verdoppelt. Und der Preis konnte leicht noch weiter steigen. Es war verlockend, keine Frage.

Bestand wirklich der geringste Grund zur Sorge? War am vergangenen Abend im Delmonico’s nicht bloß seine Phantasie mit ihm durchgegangen?

Weitere zwanzig Minuten trieb er sich herum, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen. Zum Teufel mit der Feigheit, schalt er sich selbst. Sei ein Mann! Am nächsten Tag würde er mit Donna Clipp den Fluss hinauffahren, ohne dass eine Menschenseele wusste, wo er war. Er würde sich prächtig amüsieren, sein Makler würde verkaufen und er selbst bei seiner Rückkehr ein verdammtes Stück reicher sein. Was zum Teufel sprach dagegen?

Das war die Wall Street. Das war New York. Und er war verflixt noch mal ein Master! Groß genug, um mitzuspielen. Von einem Gefühl mannhaften Triumphs erfüllt, verließ er die New York Stock Exchange.

Er war hundert Yard gegangen, als er J.P. Morgan sah.

Der Bankier stand an einer Straßenecke. Mit seinem hohen Zylinder und seinem Frack, seinem ausdruckslosen Gesicht und seiner breiten, gewölbten Brust wirkte er wie eine Mischung zwischen einem römischen Kaiser und einem Preisboxer. Er war noch keine einundfünfzig Jahre alt, schien aber schon zu den Unsterblichen zu gehören. Wollte J.P. Morgan eine Droschke nehmen? Er stand einfach nur am Straßenrand und ließ den Blick, wie den Strahl eines Leuchtturms, über den Verkehr gleiten.

Und der große Bankier stand ihm direkt im Weg. Frank schritt auf ihn zu. Als er näher kam, drehte sich Morgan um.

»Mr Morgan.« Er verbeugte sich höflich.

Der Bankier nickte ihm knapp zu. Es war schwer zu erkennen, aber unter seinem buschigen Schnurrbart meinte er sogar ein schwaches Lächeln zu sehen.

*

Es wurde schon dunkel, als Mary das Haus am Gramercy Park verließ. Der Nachmittag war ereignislos verstrichen. Frank Master hatte nach seiner Rückkehr von der Wall Street etwas niedergeschlagen gewirkt, aber nach einem Nickerchen war er wieder obenauf gewesen und hatte sich mit den Vorbereitungen für seine morgige Schiffsfahrt nach Albany befasst.

Sie nahm eine Droschke, die sie rasch die Fifth Avenue hinunter zum Haus ihres Bruders fuhr. Nachdem sie einige Zeit mit der ganzen Familie verbracht hatte, bat sie ihn um ein Gespräch unter vier Augen.

»Du musst mir einen Gefallen tun, Sean«, sagte sie.

»Worum geht’s?«

Sie holte einen Brief heraus. Ein einziges, kleines Blatt in einem versiegelten Umschlag. Er war an Donna Clipp adressiert. Sie reichte ihrem Bruder das Kuvert, und er warf einen Blick darauf.

»Das ist Frank Masters Handschrift«, stellte er fest.

Mary lächelte. Tatsächlich waren die Adresse auf dem Umschlag und der kurze Brief darin schon vor ein paar Tagen von Hetty Master geschrieben worden, die mehr als genug Schriftproben ihres Mannes zum Kopieren besaß. Doch das brauchte Sean nicht zu wissen.

»Der Brief muss morgen Vormittag der Dame persönlich zugestellt werden. Ich muss sicher sein, dass sie ihn bekommt. Könntest du das einrichten?«

»Ich habe einen Jungen, der ihn hinbringen kann, sicher.«

»Und wenn sie danach fragt, muss der Junge sagen, dass du ihm den Brief gegeben hast.«

»In Ordnung.«

»Und vor allen Dingen – von mir hast du ihn nicht, Sean. Du hast ihn erst Sonntag früh bekommen, also morgen. Ein Gentleman, bei dem es sich, wie du vermutest, um Frank Master handelte, hat ihn in aller Eile bei einem Diener an deiner Haustür abgegeben und ihm eingeschärft, er müsse umgehend zugestellt werden.«

»Das ist der Gefallen?«

»Das ist alles. Vergiss nur nicht, dass du den Brief nicht von mir hast.«

Sean nickte. »Warum?«

»Besser, wenn du es nicht weißt.«

»Wenn du meinst …«

»Du kannst mir glauben«, sagte sie. »Es ist zu deinem eigenen Besten.«

Er steckte den Umschlag in seine Brusttasche. »Betrachte es schon als erledigt.«

Als Mary an diesem Abend heimkehrte, sagte der Droschkenfahrer zu ihr: »Vorhin gab’s unten in der Stadt einen großen Zirkusumzug. Man könnte glatt meinen, es wird schon Sommer.«

*

Laut Fahrplan hätte die Fähre am Sonntagnachmittag um vier ablegen sollen. Um fünf lag sie noch immer am Pier. Es gab ein Maschinenproblem.

Der Kapitän entschuldigte sich für die Verzögerung, versicherte seinen Fahrgästen aber, dass bald alles in Ordnung sei. Für Frank Master ein schwacher Trost.

Wo zum Teufel blieb Donna Clipp? Weit und breit nichts von ihr zu sehen. Sie hätte um drei da sein sollen. Zwanzig Minuten später stieg er in eine Droschke und fuhr zu ihr. Aber auch zu Hause traf er sie nicht an, und ihre Hauswirtin sagte, sie sei schon über eine Stunde weg und habe ihr gesagt, sie würde erst ein paar Tage später zurückkommen. Er hetzte zum Pier zurück, aber sowohl der Fahrkartenkontrolleur als auch der Steward hatten versicherten ihm, eine Dame, auf die seine Beschreibung passte, sei während seiner Abwesenheit nicht aufgetaucht. Mittlerweile war es fast vier, also begab er sich an Bord.

Hatte sie einen Unfall gehabt? Möglich. Wahrscheinlicher jedoch, dachte er, war etwas anderes. Sie hatte umdisponiert und ließ ihn wie einen Idioten sitzen. War – anders konnte es gar nicht sein – mit einem anderen Mann abgezogen. Einem jüngeren ohne Frage. Ein Übelkeit erregendes Gefühl stieg in ihm auf, das er zuletzt als junger Mann, als er Hetty noch nicht kannte, verspürt hatte.

Er war in den Schiffssaloon gegangen und hatte einen Brandy getrunken. Alle paar Minuten ging er an die Tür und suchte mit den Augen den Pier ab für den Fall, dass sie doch noch kam. Aber es war nichts von ihr zu sehen. Nur die leere Landungsbrücke, ein paar Männer in Ölzeug und eine nicht angezündete Laterne, die im Wind schwankte.

Und der Regen.

Der Regen machte alles nur schlimmer. Ein gleichmäßiger Landregen peitschte das Wasser des Hudson auf und trommelte freudlos auf das Dach über dem Saloon, während von Zeit zu Zeit Männer aus dem Maschinenraum auftauchten, dem Kapitän Bericht erstatteten und dann wieder verschwanden.

»Es könnte noch ein, zwei Stunden dauern«, teilte ihm der Kapitän um sechs mit.

Frank hatte ihn schon zweimal gefragt, was das Problem sei. Ein Ölleck, hieß es das erste Mal. Dann, ein Problem mit dem Zylinder. Die Erklärungen ergaben überhaupt keinen Sinn. Normalerweise wäre er längst in den Maschinenraum gegangen, um sich selbst ein Bild zu machen – er kannte sich mit Sicherheit nicht schlechter aus als der Schiffsingenieur. Aber er fühlte sich alt und niedergeschlagen, deswegen blieb er still sitzen und nippte in Abständen an seinem Brandy. Die meisten anderen Passagiere hatten sich in ihre Kabinen zurückgezogen. Drei, vier saßen plaudernd zusammen in der Bar.

Um sieben Uhr fragte er sich, ob er nicht die ganze Sache abblasen und nach Hause fahren sollte. Wenn es nur um Donna Clipp gegangen wäre, hätte er es getan. Doch da war ja noch die Sache mit Gabriel Love und der Eisenbahn. Dass er die Stadt verlassen sollte, galt nach wie vor. Also versuchte er nur daran zu denken, wie viel er an der Hudson Ohio Railroad verdienen würde, schenkte sich Brandy nach und starrte eine weitere Stunde lang grimmig in sein Glas. Genau in diesem Moment, erinnerte er sich, erfuhr Cyrus MacDuff oben in Boston von Gabriel Loves Anschlag auf seine Eisenbahn. Wenigstens einer, dachte er, erlebte einen noch schlimmeren Abend als er. Schon bald, nahm er an, würde MacDuff versuchen, ihn telegraphisch zu erreichen. Und ihn nicht finden. Dieses verfluchte Schiff war sein Versteck für die Dauer dieses Abenteuers. Er mochte einsam sein, aber er war unsichtbar. Dieser Gedanke heiterte ihn etwas auf.

Um acht kündigte der Kapitän an, dass sie bald ablegen würden. Frank Master warf einen weiteren vergeblichen Blick über den Pier, setzte sich dann an einen Tisch und bestellte eine Fleischpastete mit Gemüsebeilage. Wenigstens darauf brauchte er nicht lange zu warten.

Um neun flüsterte ihm der Kapitän zu, der Schaden sei behoben und sie müssten nur noch die Maschine Probe laufen lassen. Frank entgegnete ziemlich unhöflich: »Sagen Sie mir, wenn’s erledigt ist«, und entließ ihn mit einer Handbewegung. Er hörte die Maschine erst anspringen, dann wieder verstummen. Kurz vor zehn sprang sie erneut an. Diesmal blieb sie nicht stehen, und ein paar Minuten später schob sich das Schiff hinaus in den Strom und wurde von der gewaltigen schwarzen Regenwand verschluckt.

*

Donna Clipp hatte die Nase gestrichen voll. Dieser Frank Master konnte sich achtkantig zum Teufel scheren. Sein Brief war eindeutig gewesen.

 

Liebe Clipper, es hat sich eine Planänderung ergeben. Wir treffen uns in Henry’s Hotel in Brooklyn.

Ich werde so früh wie möglich nach drei da sein. Wir fahren nach Long Island.

Ich kann’s nicht erwarten, dich zu sehen.

EM.

 

Typisch, dachte sie. Kann’s nicht erwarten, mich zu sehen, und kreuzt dann nicht auf. Die Männer waren doch alle gleich – und sie konnte es wahrhaft beurteilen. Sie hatte eine ganze Reihe kennengelernt.

Einige von ihnen mit Geld. Die älteren jedenfalls – aber die knauserten oft. Sei es aus Gewohnheit, sei es aus purem Geiz.

Klar, ein bisschen was ließen die schon immer springen.

Es war zehn Uhr abends, stockdunkel, und es goss wie aus Kübeln, und sie hockte da in diesem Hotel auf der falschen Seite der Brooklyn Bridge, und von ihrem sogenannten Liebhaber war nichts zu sehen.

Donna Clipp war ein hübsches Mädchen. Sie hatte dichtes blondes Haar – sogar naturblond – und blaue Augen, die lachen oder vor Leidenschaft lodern konnten, ganz wie sie es wollte. Sie war nie auf den Strich gegangen. Hatte immer anständige Sachen gemacht. Sie hatte Kleider genäht und verkauft, denn sie besaß ein Auge für die Mode. Sie hatte auch ein gewisses Schauspieltalent und versucht, am Theater unterzukommen, aber man bedeutete ihr, sie sei nicht groß genug. Bei Begegnungen der persönlicheren Art waren ihre Körpergröße und ihre eher dralle Figur nie ein Hindernis gewesen, und sie war von mehreren Männern mehr oder weniger ausgehalten worden. Als sie nach New York kam, fand sie in Greenwich Village ein anständiges Logis. Binnen einem Monat hatte sie Frank Master kennengelernt. Aber obwohl sie sich mittlerweile seit einiger Zeit trafen, war ihre bisherige Ausbeute nicht der Rede wert.

Deswegen überlegte sie sich seit drei Wochen, was sie in der Sache unternehmen sollte.

Und da war noch was anderes, was ihr in letzter Zeit auf der Seele lag. Vor ein paar Wochen war ein Brief von einer Freundin gekommen, mit der sie sich in Philadelphia ein Zimmer geteilt hatte. Der Brief war vorsichtig formuliert gewesen, aber sie hatte die eigentliche Aussage durchaus verstanden.

Jemand hatte sich nach ihr erkundigt. Ihre Freundin schien nicht zu wissen, ob es ein Polizist gewesen war oder vielleicht einfach jemand, der wütend auf sie war. Scheinbar war da jemand auf der Suche nach gewissen verschwundenen Wertgegenständen. Dem goldenen Armband etwa, das sie gerade trug.

Sie könnte behaupten, man habe es ihr geschenkt. Aber war es wirklich wahrscheinlich, dass ein reicher Mann seiner eigenen Frau den Schmuck stahl, um ihn seiner Geliebten zu schenken? Würde eine Jury das glauben? Sie hatte da ihre Zweifel.

Wenn er sie nicht unter einem Vorwand ins Haus geholt, und wenn sie nicht all die schönen Dinge gesehen hätte, die seine Frau besaß, wäre das gar nicht passiert. In gewissem Sinne war es seine Schuld. Aber das würde ihr kaum weiterhelfen. Wenn die ihr in Philadelphia auf die Spur gekommen waren, würden die sie dann auch in New York finden? Möglich. Nicht gleich, aber eines Tages. Sie war sich unschlüssig, was sie in der Sache unternehmen sollte.

Das Einfachste wäre gewesen, die belastenden Dinge loszuwerden – dann hätte man ihr nichts mehr beweisen können. Aber sie waren wertvoll. Bevor sie sich dazu entschloss, musste Frank Master wirklich etwas springen lassen.

Als er die Flussreise nach Albany vorgeschlagen hatte, und dazu mit dem ganzen Komfort des luxuriösesten Dampfers, hatte sie gedacht, dass sich alles vielleicht doch noch zum Besseren wenden könnte. Sie hatte sich sorgfältig vorbereitet. Und sie war ziemlich enttäuscht gewesen, als gerade am Abfahrtstag sein Brief gekommen war, der die Planänderung ankündigte. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig als mitzuspielen und zu schauen, was ihr angeboten wurde.

Also hatte sie ihr Gepäck in eine Droschke geladen und war von Greenwich Village nach Brooklyn aufgebrochen.

Nur schade, dass es regnete. Als die Brooklyn Bridge, diese gigantische Hängebrücke, fünf Jahre zuvor eröffnet worden war, hatte man sie als eines der Neuen Weltwunder bezeichnet. Über 1 800 Meter lang, bis zu 44 Meter über dem Südende des East Rivers aufragend, gestützt von zwei mächtigen spitzbogenförmig durchbrochenen Pylonen und getragen von den gewaltigen durchhängenden Kurven der Stahltrossen, verkörperte sie die Pracht dieses neuen Industriezeitalters.

Die Mitte der Fahrbahn nahm eine doppelte Straßenbahntrasse ein. Zu beiden Seiten davon verliefen Fahrbahnen für Pferde und Fuhrwerke. Und oberhalb der Gleise spannte sich in einer elegant ansteigenden Kurve, in der Luft schwebend, ein scheinbar endloser Fußgängerüberweg zwischen den zwei Firmamenten des Flusses und des Himmelgewölbes.

Wenn man mit einer Droschke die äußere Fahrbahn entlangfuhr, genoss man einen atemberaubenden Blick auf den Fluss.

Heute aber nicht. Durch den unerbittlich herabströmenden Regen konnte sie weder das Wasser unten noch auch nur den vor ihr aufragenden Pylon sehen. Es war vielmehr so, als sei sie in die Regenwolke selbst eingetaucht.

Den ganzen Nachmittag lang hatte sie noch angenommen, Master sei lediglich aufgehalten worden. Als es Abend wurde, hatte sie sich gefragt, ob ihm etwas zugestoßen sein konnte. Um acht war sie zu dem Schluss gelangt, dass er wegen des schlechten Wetters die Reise abgeblasen hatte; aber zumindest hätte er ihr ein paar Zeilen schicken können – und eine Droschke, die sie wieder nach Haus befördern würde. Sie hatte beim Kellner eine Kanne Tee bestellt und ausgeharrt, nur für den Fall, dass er doch noch kommen würde. Um neun hatte sie eine heiße Brühe bestellt. Jetzt war es nach zehn, und ihr reichte es. Es war ihr egal, was ihm passiert war, sie fuhr jetzt nach Haus. Sie bat den Hotelportier, ihr eine Droschke zu rufen.

Doch eine Stunde verging, und eine Droschke war weit und breit nicht zu finden.

*

Es war schon nach Mitternacht, als Lily de Chantal beschloss, sich zu Bett zu legen. Sie hatte ihren Text für den nächsten Tag einstudiert. Nicht, dass ihre Rolle schwierig gewesen wäre, aber sie wollte sicher sein können, dass sie sie perfekt spielen würde. Und um ehrlich zu sein, freute sie sich auch darauf. Denn Rache – und das galt selbst für einen herzensguten Menschen wie sie – schmeckte süß.

Neun Uhr morgens, dachte sie, wärs genau die richtige Zeit. Falls die kleine Miss Clipp nicht schon jetzt von ihrem gescheiterten Rendezvous zurückgekehrt war, würde sie es bis dahin allemal sein. Und dann auf dem falschen Fuß erwischt werden, ehe sie überhaupt ihre Gedanken ordnen konnte.

»Ich kann das unmöglich tun, meine Liebe«, hatte Hetty gesagt, »denn wenn Frank jemals davon erfahren sollte, würde er es mir übelnehmen. Aber Sie könnten das tun. Ein Mann kann seiner Geliebten eher verzeihen als seiner Ehefrau. Außerdem«, hatte sie mit einem Lächeln hinzugefügt, »schulden Sie mir, glaube ich, einen Gefallen.«

Also waren die Aufgaben verteilt worden. Hetty hatte den kurzen Brief geschrieben, Mary hatte die Zustellung arrangiert, und sie, Lily de Chantal, würde jetzt das kleine Miststück zum Teufel jagen.

Von Hetty mit Stichworten versorgt, hatte Lily ihre Rede gründlich einstudiert.

»Wie ich Ihnen leider mitteilen muss, Miss Clipp, bin ich im Besitz von Beweisen – unwiderleglichen Beweisen –, dass sie Mrs Linfort in Philadelphia Juwelen gestohlen haben. Ich habe sogar Zeugen, die zweifelsfrei aussagen können, sie nach dem Diebstahl mit den fraglichen Schmuckstücken am Körper gesehen zu haben. Sie werden ins Gefängnis kommen, Miss Clipp. Es sei denn, natürlich, Sie möchten New York noch heute verlassen – und dies, ohne Mr Master ein Wort davon zu sagen. Und sollten sie irgendwann in der Zukunft den Versuch unternehmen, mit ihm in Kontakt zu treten, werden wir uns mit all diesen Beweisen an die Polizei wenden.«

Danach würde Donna Clipp schleunigst verschwinden. Es würde ihr nichts anderes übrigbleiben.

Hetty hatte ihr das angestrebte Ergebnis ihres Plans skizziert.

»Ich möchte, dass Frank glaubt, sie habe ihm den Laufpass gegeben. Sei nicht am Fährhafen erschienen und habe sich dann vor seiner Rückkehr abgesetzt. Das wird ihn zwar in seinem Stolz treffen, fürchte ich, aber es wird ihn auch wieder zur Vernunft bringen. Er wird Trost suchen; er wird zu uns zurückkehren.«

»Zu uns?«

»Zu Ihnen, zu mir, zu dem Leben, wie es vorher war. Ich glaube, wir sind zu alt für derlei Haarspaltereien, meinen Sie nicht auch?«

»Sie«, sagte Lily de Chantal, »sind eine bemerkenswerte Frau, und er kann sich glücklich schätzen, Sie zu haben.«

»Danke, meine Liebe«, sagte Hetty. »Ich bin ganz Ihrer Meinung.«

Ja, dachte Lily jetzt, es würde ihr ein Vergnügen sein, die kleine Miss Clipp in die Wüste zu schicken – um ihrer beider willen.

Daher war sie zutiefst erstaunt, als zwanzig Minuten später der Portier an die Wohnungstür klopfte und fragte, ob sie einen Besucher zu empfangen bereit sei. Und noch erstaunter war sie, hinter ihm, bis auf die Haut durchnässt, Frank Master stehen zu sehen.

*

Um ein Uhr nachts entbrannte in Henrys Hotel in Brooklyn ein erbitterter Machtkampf. Zum großen Ärgernis des Direktors hatte Donna Clipp ein Zimmer verlangt, sich aber mit der Begründung, es sei die Schuld des Hotels, wenn sie keine Droschke bekommen habe, geweigert, dafür zu bezahlen.

»Ich könnte Sie vor die Tür setzen«, hatte er gesagt.

»Probieren Sie es nur«, hatte sie erwidert. »Sie haben mich noch nie schreien gehört.«

Er trat zwar trotzdem vor die Tür mit der Absicht, sie rauszuwerfen, aber als er draußen stand, bemerkte er etwas Seltsames. Der Regen ging zunehmend in Schnee über. Und die Temperatur, die die ganze Woche über so angenehm gewesen war, fiel rapide. Er wollte gerade wieder hineingehen, als er aus Richtung des Flusses ein gewaltiges Grollen und Stöhnen hörte. Und eine Sekunde später raste eine heulende Windbö die Straße herauf, knallte mit Fensterläden, bog kleine Bäume und warf den Hoteldirektor mit ihrer eisigen Faust fast zu Boden. Sich an den Türstock klammernd zog er sich zurück ins Vestibül und knallte die Tür hinter sich zu.

»Hier.« Er gab ihr einen Schlüssel. »Bei dem Wetter kann man niemanden auf die Straße jagen.« Er deutete zur Treppe. »Da rauf. Zweite Tür links.«

Das Gepäck sollte sie gefälligst selbst tragen.

*

Während Frank ein heißes Bad nahm, stand Lily de Chantal an ihrem Fenster und schaute zu, wie der Wind Tornados von Schneeflocken über die freien Flächen des Central Park peitschte. Am Gramercy Park starrte Hetty währenddessen eine Zeitlang ratlos auf ein merkwürdiges Telegramm, das am Abend aus Boston gekommen war und in dem Frank gefragt wurde, ob er beabsichtige, eine Eisenbahn zu verkaufen. Doch als sie das seltsame Heulen und Pfeifen des Windes hörte, zog sie den Fenstervorhang zurück und sah zu ihrem Erstaunen einen Mahlstrom von Schnee, und da hoffte sie, dass dem armen Frank in solch einer entsetzlichen Nacht, fern auf den kalten Fluten des Hudson, nichts zustoßen möge.

Woher in aller Welt, fragte sie sich, konnte ein solcher Blizzard nur gekommen sein?

*

Er kam aus dem Westen. Ein gewaltiger Schneesturm raste, vom Pazifik her, auf einem eisigen Luftstrom neunhundert Kilometer pro Tag über die Breite des Kontinents. Und von Georgia zog gleichzeitig eine riesige, feuchte Warmfront herauf. Nahe der Mündung des Delaware, rund hundertzwanzig Meilen südlich von New York, waren die beiden zusammengestoßen.

Die Temperatur war gefallen, der Luftdruck gesunken, und plötzlich schäumten Meer und Fluss zu wütenden Ungeheuern auf. Dann fraß sich ein gewaltiger Blizzard die Küste entlang nach Norden. Kurz nach Mitternacht ging der New Yorker Regen in Schnee über, die Temperatur fiel unter den Gefrierpunkt, und der Wind begann mit Böen von achtzig Meilen die Stunde zu wehen.

Dieses Unwetter währte die ganze Nacht über. Und es hörte nicht auf. Als die Dämmerung kam – oder hätte kommen sollen –, erstickte der Blizzard sie. In den Vormittagsstunden versank die ganze Nordostküste mitsamt all ihren Bewohnern in einem weißen Orkan.

*

Es gab nichts, was die Hausverwaltung des Dakota-Gebäudes nicht für die Bewohner getan hätte. So protestierte der Portierssohn auch nicht gegen den Auftrag von Lily de Chantal; er schien die Herausforderung sogar zu genießen, und der Portier selbst versicherte ihr: »Dieser Junge fände den Weg zum Nordpol und zurück, Miss de Chantal. Machen Sie sich um den man keine Sorgen.«

Beruhigt drückte sie dem jungen Skip den Brief in die Hand und bat ihn, vorsichtig zu sein.

Es war Montagvormittag zehn Uhr, als er das Gebäude verließ. Skip war vierzehn Jahre jung, für sein Alter etwas kurz geraten, aber drahtig. Er trug derbe Stiefel mit dicker Sohle, und die Gamaschen waren mit einer Schnur fest um seine Waden gebunden. Drei Jumper übereinander und ein kurzer Mantel sollten gegen die Kälte schützen. Ebenso eine dicke Wollmütze, Ohrenschützer und ein um das Gesicht gewickelter Schal.

Als er die Sicherheit des großen Innenhofs verließ, mied er den Central Park – heute eine einzige arktische Landschaft, über der der Blizzard mit unverminderter Wut heulte – und wandte sich stattdessen einen halben Block weit nach Westen, um dann in die Ninth Avenue einzubiegen. Ein paar Blocks weiter südlich würde er auf die große Diagonale des Broadway stoßen.

Er kam nur sehr mühsam voran. Die eisigen Böen fegten ihm fast die Beine unter dem Körper weg, der Wind war so stark, dass der Schnee keine, gleichmäßige Decke bilden konnte. An manchen Stellen hatten sich Verwehungen gebildet, die den Jungen bereits überragten. An anderen Stellen konnte Skip das blank gefegte Straßenpflaster sehen.

Der Boulevard war fast menschenleer. Die Leute hatten versucht, zur Arbeit zu gehen – schließlich lebten sie in New York –, aber die meisten waren gezwungen gewesen, wieder umzukehren. Auch die Züge fuhren nicht. Die Gleise der Hochbahn waren so dick vereist, dass selbst eine Lokomotive nicht von der Stelle gekommen wäre.

Nachdem er sich zwei Blocks weit nach Süden gekämpft hatte, entdeckte Skip einen von zwei geduldigen Pferden gezogenen Wagen, der sich langsam voranpflügte. Skip zögerte keinen Moment. Als der Wagen vorüberfuhr, sprang er auf den Bock neben den Kutscher. Der Mann wollte ihn schon hinunterstoßen, doch eine barsche Stimme aus dem Wageninneren rief: »Lass ihn!«

»Du hast Glück«, sagte der Kutscher.

»Wo kommen Sie her?«, fragte Skip.

»Yonkers, Westchester County«, antwortete der Mann.

»Das ist ein ganzes Ende weg«, sagte Skip.

»Wir sind schon seit sechs Uhr unterwegs. Ich dachte, die Pferde würden mir verrecken, aber die halten durch. Starkes Herz.«

»Warum nicht besser zu Hause bleiben?«

»Mein Gentleman hinten hat heut noch was in der Stadt zu erledigen. Meint, so ein Blizzard würde ihn nicht von seinen Geschäften abhalten.«

»Mich von meinen auch nicht«, sagte Skip vergnügt. Das war der Geist von New York, dachte der Junge. Er hätte nirgendwo anders leben mögen.

»Keine Züge aus Westchester?«, erkundigte er sich.

»Wir sind über ’ne Brücke gefahren und haben einen gesehen, der im Schnee festsaß. Ich schätz mal, allen übrigen geht’s auch nicht anders.«

An der 65th Street bogen sie auf den Broadway ein. Als sie die Südwestecke des Central Park erreichten, hielt der Wagen auf die Eighth Avenue zu, und Skip sprang ab. Er wollte auf dem Broadway bleiben.

Die Anwohner schippten schon seit einer ganzen Weile Schnee beiseite und taten ihr Bestes, um wenigstens auf einem der Bürgersteige einen Pfad frei zu halten. Es war eher ein Graben. Skip bemerkte, dass die Bänder der Telegrafenleitungen völlig vereist und an einer Stelle durch ihr eigenes Gewicht sogar heruntergefallen waren und in einem einzigen, mehrere Blocks langen Gewirr von Eis und Draht herumlagen. Auf Höhe der 55th rutschte er aus und stürzte, doch war er so dick vermummt, dass er sich nicht weh tat. Er lachte und schaute sich nach einer weiteren Mitfahrgelegenheit um. Vergeblich: Weit und breit war nichts zu sehen. Keine Droschken, keine Fuhrwerke, kaum Fußgänger. Ein paar Läden und Kontore schienen geöffnet zu haben, aber niemand ging hinein oder heraus. Er rutschte und schlitterte zwei weitere Blocks entlang und erreichte einen Saloon. Er trat ein. Ein paar Männer, ebenso vermummt wie er, standen am Tresen. Er wickelte sich den Schal vom Kopf.

»Was zu trinken, mein Sohn?«, fragte der Schankwirt.

»Kein Geld«, sagte Skip, obwohl das nicht stimmte.

Einer der Männer am Tresen legte ein paar Münzen hin und winkte ihn heran. Es roch nach Whiskey und heißem Rum.

»Geht auf mich, Junge«, sagte der Mann. »Gib ihm ’n ›Fuhrmann‹«, sagte er zum Wirt, der nickte. »Ist bloß Ale mit rotem Pfeffer«, erklärte er Skip. »Ist das, was Kutscher trinken. Hält dich für ’ne Weile warm.«

Skip trank langsam. Er spürte die Wärme in seinem Magen. Nach einer Weile dankte er seinem Wohltäter und verließ das Lokal. Den Schal wickelte er sich fest um den Kopf. Kaum stand er wieder auf dem Broadway, als ihm der Schnee ins Gesicht peitschte, als wolle er ihm den Schal wegreißen. Doch Skip hielt sich an einem Geländer fest, senkte die Stirn und wankte weiter.

Und dann, ein paar Blocks weiter runter, hatte er erneut Glück: ein Brauereiwagen. Hinter dem Schal verzog sich sein Mund zu einem Grinsen. Die Brauereien ließen sich durch nichts aufhalten. Sollte die Bierversorgung in New York je zum Erliegen kommen, dann würde man wissen, dass das Ende der Welt gekommen war.

Der Wagen war groß und hoch beladen mit Alefässern. Schwerfällig wie ein Ozeandampfer durch ein Packeisfeld dümpelte er voran. Er wurde von nicht weniger als zehn mächtigen Kaltblütern gezogen. Vom Kutscher unbemerkt sprang Skip hinten auf. Und kam so, langsam, aber bequem, bis zur 28th Street hinunter. Von dort kämpfte er sich, an Geländer und jeden anderen Halt geklammert, durch den Blizzard zum Gramercy Park durch.

*

Hetty Master war äußerst erstaunt, als Skip ihr einen Brief von Lily de Chantal aushändigte, aber sie las ihn sofort. Es waren nur wenige Zeilen-Franks Schiff, schrieb Lily, war vergangene Nacht zur Umkehr gezwungen worden. Er sei völlig durchnässt angekommen und schien sich einen Schnupfen geholt zu haben. »Aber ich habe ihn ins Bett gesteckt und gebe ihm einmal die Stunde ein Gläschen heißen Whiskey. Er will nicht, dass irgendjemand von seiner Anwesenheit in der Stadt weiß, sagt allerdings nicht, warum.« Hetty konnte ein Lächeln nicht unterdrücken; zumindest war Frank in Sicherheit, und Lily würde sich um ihn kümmern. Dann kam ein Postskriptum:

 

Ganz offensichtlich ist unsere kleine Freundin nie an der Fähre aufgetaucht. Ich frage mich, ob sie in Brooklyn festsitzt!

Ich werde sie auf jeden Fall, wie vereinbart, aufsuchen, bevor ich Frank wieder aus dem Haus lasse.

 

Hetty musste beinahe lachen. Sie hoffte, dass die kleine Miss Clipp, wo immer sie sein mochte, sich gerade die Zehen abfror. Auf ganz eigene, unerwartete Weise schien der Plan doch noch aufzugehen.

*

Tatsächlich stand Donna Clipp in diesem Augenblick vor der Auffahrtsrampe zur Brooklyn Bridge. Und sie wurde allmählich wütend.

Sie hätte natürlich im Hotel bleiben können, aber der Direktor verlangte immer hartnäckiger, dass sie bezahlen sollte. Überdies langweilte sie sich. Donna Clipp gefiel es nicht, nichts zu tun. Einer der anderen Gäste bot an, ihr ein Buch zu leihen. Aber Donna hatte noch nie eingesehen, was Lesen für einen Sinn haben sollte.

Also beschloss sie heimzugehen. Sie hatte die wenigen Wertsachen, die sie besaß, genommen und in ihre Handtasche gestopft, nach einem Stück Seil verlangt und ihren Koffer damit verschnürt und mit einer ganzen Reihe von komplizierten Knoten gesichert, an denen sich jeder, der sie zu lösen versuchte, die Fingernägel abbrechen würde. Anschließend ließ sie sich vom Hoteldirektor eine Quittung für den Koffer ausstellen und erklärte, sie würde diesen in ein paar Tagen wieder abholen, und, wenn er nicht mehr da wäre, die Polizei rufen. Dann machte sie sich auf den Weg. Droschken oder sonstige Beförderungsmittel gab es keine. Ganz Brooklyn traute sich nicht aus dem Haus. Trotzdem versuchte der Direktor nicht, sie aufzuhalten. Er hoffte, dass sie im Schneesturm erfrieren würde.

Inzwischen hatte Donna Clipp sich bis zur Brooklyn Bridge durchgekämpft, die nicht weit entfernt war. Und auch wenn sie, als sie dort ankam, wie eine wandelnde Schneefrau aussah, schien ihre Energie ungebrochen, schließlich verkehrten Stadtzüge über die Brücke, und war sie erst einmal auf der anderen Seite, würde sie es auch irgendwie schaffen, nach Hause zu kommen. Doch plötzlich hielt sie ein Polizist auf.

»Die Brücke ist geschlossen«.

Das riesige Bauwerk lag in der Tat wie ausgestorben da. Sein gewaltiger Bogen stieg in den Blizzard empor und verschwand im Weiß. Die Fahrbahn war gesperrt, und die Triebwagen standen festgefroren an den Bahnsteigen. Der Polizist war so gescheit gewesen, sich in dem Mauthäuschen zu verschanzen, wo Fußgänger ihren Penny entrichten mussten, um hinüberlaufen zu dürfen. Er hatte eine Laterne bei sich und war nicht einmal bereit, das Fensterchen zu öffnen, um mit ihr richtig zu sprechen.

»Was soll das heißen, geschlossen?«, schrie sie. »Das ist eine gottverdammte Brücke!«

»Die Brooklyn Bridge ist geschlossen. Zu gefährlich, Lady«, brüllte er zurück.

»Ich muss nach Manhattan«, protestierte sie.

»Unmöglich. Es geht keine Fähre, und die Brücke ist gesperrt.«

»Dann lauf ich eben rüber.«

»Sind Sie übergeschnappt, Lady?« Dem Polizisten riss der Geduldsfaden. »Ich hab Ihnen grad gesagt, dass die Brücke gesperrt ist! Besonders für Fußgänger.« Er deutete auf den höher gelegenen Fußgängerweg, der in dem Schneesturm kaum noch zu erkennen war.

»Also, wie viel macht die Maut? Da steht ein Penny. Ich zahl nicht mehr als einen Penny.«

»Sie zahlen keinen Penny«, brüllte der Polizist, »denn ich hab Ihnen schon dreimal gesagt, dass die Brücke gesperrt ist!«

»Das sagen Sie

»Das sag ich allerdings. Verschwinden Sie hier, Lady!«

»Ich bleib stehen, solang’s mir passt. Ich verstoß gegen kein Gesetz.«

»Jeesses!«, schrie der Polizist. »Dann bleiben Sie eben da und erfrieren Sie! Aber über die Brücke kommen Sie nicht!«

Fünf Minuten später stand sie immer noch da. Entnervt kehrte der Polizist ihr den Rücken zu und verharrte so ein, zwei Minuten. Als er sich wieder umdrehte, war sie, Gott sei Dank, verschwunden. Er seufzte, warf einen Blick auf die Brücke und stieß einen Wutschrei aus.

Er sah sie hoch oben auf dem Fußgängerweg, schon fünfzig, sechzig Meter entfernt und kurz davor, im Schneegestöber zu verschwinden. Wie zum Teufel war sie am Mauthäuschen vorbeigekommen? Er öffnete die Tür, und der eisige Sturm schlug ihm ins Gesicht. Fluchend und schimpfend machte er sich an die Verfolgung dieses frechen Weibes.

Dann blieb er stehen. Jeden Augenblick konnte der Wind sie packen und über das Geländer wehen, um sie dann entweder auf die Gleise oder, noch besser, in das eiskalte Wasser des East River fallen zu lassen. Er kehrte zum Häuschen zurück. »Die hab ich nie gesehen«, murmelte er.

Donna Clipp marschierte entschlossen voran. Das Mauthäuschen war schon lang nicht mehr zu sehen, und sie wusste, dass sie jetzt jeden Augenblick den Scheitelpunkt der langen Fußgängerhängebrücke erreichen würde. Der Wind stöhnte, und in Abständen steigerte sich das Stöhnen zu einem Heulen, als ob ein unermesslich wütender Leviathan unten in der Bucht und im East River um sich schlüge, eine gigantische Seeschlange, die sie als Beute an sich reißen wollte. Ihr Gesicht fühlte sich schon ganz taub von den stechenden Schneeflocken an. Sie hatte nicht bedacht, dass die Kälte dort oben, so hoch über dem Wasser, noch viel schlimmer sein würde, und sie begriff, dass sie, wenn sie nicht bald einen Unterschlupf fand, hier womöglich erfror.

Donna Clipp wollte nicht sterben. Das war in ihren Plänen auf lange, lange Sicht nicht vorgesehen.

Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich weiter durch diesen entsetzlichen weißen Tunnel voranzukämpfen und auf der anderen Seite wieder hinunterzusteigen.

Sie kam grausam langsam vorwärts. Wenn sie das Geländer auch nur einen Augenblick losließ, konnte der Sturm sie fortreißen und in den Abgrund schleudern. Sie vermochte sich nur mit aller Kraft festzuhalten und sich Schritt für Schritt weiterzuschleppen. Sie wusste, dass sie nicht stehen bleiben durfte. Wenn sie es nur auf die andere Seite schaffte … Wenn sie nur in Bewegung bleiben konnte …

Sie schaffte es, den Scheitelpunkt zu erreichen, wo der lange Abstieg begann, weitere zehn Meter hinter sich zu bringen. Und noch einmal zehn. Dann sah sie unmittelbar vor sich etwas, das sie bis ins Innerste entsetzte.

Donna blieb stehen.

*

Der Blizzard wütete den ganzen Tag weiter. Manche nannten ihn den »weißen Orkan«. Schon bald aber fanden die Leute einen anderen Namen für ihn. Wegen der endlosen Schneeflächen, die man, zu Recht oder Unrecht, mit dem Territorium in Verbindung brachte, tauften sie ihn den »Dakotablizzard«.

Auch wenn die Straßen noch unpassierbar waren, versuchten einige Hochburgen des Konsums wenigstens einen guten Eindruck zu machen. Macy’s Kaufhaus öffnete für ein paar Stunden, obwohl Kunden sich keine blicken ließen, und die armen Verkäuferinnen mussten bis zum Abklingen des Blizzards ausharren, da sie nicht nach Hause konnten. Ein paar Banken wollten ebenfalls öffnen, beschlossen jedoch, ihre Darlehen um ein paar Tage zu verlängern, da niemand zu ihnen gelangte. Die New Yorker Börse öffnete und schaffte es sogar, dass an diesem Montagvormittag ein paar Aktien den Besitzer wechselten. Aber es saß nur eine Handvoll Händler da, und kurz nach Mittag waren sie so vernünftig aufzugeben.

Von den wenigen Aktien, die gehandelt wurden, betraf keine einzige die Hudson Ohio Railroad. Denn Mr Cyrus MacDuff war völlig außerstande, irgendwelche Anweisungen an seine Makler zu übermitteln, da die Telegrafenverbindung zwischen Boston und New York unterbrochen war. Ebenso wenig konnte der wutschäumende Gentleman persönlich zur Rettung seiner Eisenbahngesellschaft eilen, da sämtliche Straßen fußhoch zugeschneit, die Eisenbahnlinien unbefahrbar waren und auf dem vom Sturm aufgepeitschten Meer bereits Dutzende von Schiffen entlang dieses Küstenabschnitts in Seenot geraten waren.

Während draußen der Dakota-Blizzard wütete, pflegte Lily de Chantal im großen Mietshaus gleichen Namens weiter Frank Master, der gegen Abend etwas Fieber bekam.

Dienstag früh schien es ihm etwas besser zu gehen. Doch die Stadt blieb von der Außenwelt abgeschnitten, und der Blizzard tobte mit unverminderter Kraft weiter.

Im Laufe des Nachmittags jedoch feierte der menschliche Einfallsreichtum einen kleinen, aber wertvollen Triumph. Ein paar gescheite Köpfe in Boston entdeckten, dass es möglich war, trotz des Unwetters eine telegrafische Verbindung nach New York herzustellen. Sie benutzten das internationale Seekabel und sandten ihre Botschaften, um zwei Ecken, über London.

*

Am Mittwochmorgen endlich begann der Sturm nachzulassen. Die Stadt war weiter wie gelähmt, aber die Menschen fingen an, sich freizuschaufeln. Als die Windgeschwindigkeiten zurückgingen, stiegen auch die eisigen Temperatur ein wenig an.

Dennoch war Hetty Master zutiefst überrascht, als um elf Uhr vormittags ihr Sohn Tom und ein ihr nicht bekannter Gentleman erschienen und Frank zu sprechen wünschten.

»Er ist nicht da«, sagte sie.

»Ich muss ihn erreichen, Mutter«, sagte Tom. »Es ist dringend. Kannst du mir bitte sagen, wo er ist?«

»Ich glaube, nein«, antwortete sie leicht verlegen. »Kann es nicht ein, zwei Tage warten?«

»Nein«, sagte ihr Sohn, »das kann es nicht.«

»Könnte ich dich allein sprechen?«, sagte sie.

*

Es war für Lily de Chantal ein ziemlicher Schock, als gegen Mittag Tom Master und ein weiterer Gentleman an ihrer Wohnungstür im Dakota erschienen. Wie sie erfahren hatten, dass Frank sich bei ihr aufhielt, und welche Erklärung man ihnen für seine Anwesenheit gegeben haben konnte, war ihr ein Rätsel. Sie schienen jedenfalls nicht das geringste Interesse zu haben, derlei Fragen zu erörtern. Umso dringender verlangten sie, Frank zu sprechen.

»Es geht ihm nicht sehr gut«, sagte sie. »Er hatte Fieber.«

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte Tom.

»Ich werde fragen, ob er Sie empfangen kann.«

*

Frank Master starrte vom Bett aus seine Besucher an. Es war ihm absolut schleierhaft, wie sie ihn ausfindig gemacht hatten, aber das war jetzt unwichtig.

Bei Toms Begleiter handelte es sich um einen zurückhaltenden gut gekleideten Mann von Mitte dreißig, der wie ein Bankier aussah.

»Das ist Mr Gorham Grey«, sagte Tom. »Von Drexel, Morgan.«

»Oh«, sagte Frank.

»Danke, dass Sie mich empfangen haben, Mr Master«, sagte Gorham Grey höflich. »Sie sollten wissen, dass ich Mr J.P. Morgans persönlicher Assistent bin und er mich beauftragt hat, Sie aufzusuchen.«

»Oh«, sagte Frank noch einmal.

»Da ich Ihren Sohn kenne, habe ich mich zunächst ihn an mich gewandt und ihn gebeten, die Vorstellung zu übernehmen«, sagte Gorham Grey.

»Richtig«, sagte Tom.

»Worum geht es?«, fragte Frank und krampfte nervös die Finger um die Kante des Bettlakens.

»Mr Morgan wünscht, Ihnen ein Aktienpaket abzukaufen«, sagte Gorham Grey. »Von der Hudson Ohio Railroad. Nach meinen Informationen halten Sie zehn Prozent der ausgegebenen Anteile.«

»Oh«, sagte Frank.

»Ich sollte ohne Umschweife erklären«, fuhr Gorham Grey fort, »dass Mr Morgan gestern eine dringende Depesche von Mr Cyrus MacDuff erhielt, der sich gegenwärtig in Boston aufhält und der, wie Ihnen bekannt sein wird, der größte Anteilseigner der Hudson-Ohio ist. Mr MacDuff war es nicht möglich, Sie persönlich zu erreichen, da er in Boston festsitzt. Also hielt er es für am klügsten, die ganze Angelegenheit Mr Morgan anzuvertrauen, damit er sie nach eigenem Ermessen regelt.«

»Richtig«, sagte Tom.

»Einfach ausgedrückt«, sagte Grey, »glaubt Mr MacDuff, dass Mr Gabriel Love versucht, ihm seine Gesellschaft zu stehlen. Kennen Sie Mr Love?«

»Flüchtig«, sagte Frank lahm.

»Wir zogen Erkundigungen ein, und wie uns scheint, liegt das Problem darin, dass Mr Love Anteile der Niagaralinie besitzt und dass MacDuff bislang den Anschluss der Niagara an die Hudson Ohio verhindert hat.«

»Wirklich?«, sagte Frank.

»Die Lösung scheint Mr Morgan ganz einfach zu sein. Er hat Mr MacDuff mitgeteilt, dass er in dieser Angelegenheit nur tätig werden wird, wenn er Mr Loves Niagaraaktien zu einem vernünftigen Preis erwerben kann und wenn Mr MacDuff ihm die Zusicherung gibt, dass die Niagaraline an die Hudson-Ohio angeschlossen wird. Damit hat sich Mr MacDuff unter der Voraussetzung einverstanden erklärt, dass es ihm gelingt, sich die absolute Mehrheit am Aktienkapital der Hudson-Ohio zu sichern. Dies bedeutet, Sir, dass wir Ihnen die Hälfte Ihrer zehn Prozent abkaufen möchten.«

»Oh«, sagte Frank. »Und was ist mit Gabriel Love?«

»Vor drei Stunden habe ich ihm seine Niagaraaktien abgekauft«, sagte Gorham Grey. »Er hatte, glaube ich, gehofft, einen größeren Gewinn zu erzielen. Aber sobald ich ihm erklärte, dass Mr Morgan überhaupt nichts kaufen würde, solange nicht alle Rahmenbedingungen zu seiner Zufriedenheit erfüllt seien, und dass Mr MacDuff ohne Mr Morgans Empfehlung überhaupt nichts kaufen wird, ist es uns gelungen, zu einer Einigung zu kommen. Mr Love hat mit ansehnlichem Profit verkauft, also steht er besser da als vorher.«

»Was werden Sie für meine Anteile zahlen?«, fragte Frank.

»Die Hudson-Ohio-Aktie wird gegenwärtig für sechzig gehandelt. Sollen wir siebzig sagen?«

»Ich hatte auf einszwanzig gehofft«, sagte Frank.

»Loves Plan ist geplatzt«, sagte Mr Gorham Grey ruhig.

»Aha«, sagte Frank.

Es trat ein kurzes Schweigen ein.

»Mr Morgan glaubt, dass die künftige Hudson-Ohio-Niagara eine logische Verschmelzung und für alle Beteiligten von Vorteil sein wird«, fuhr Gorham Grey fort. »Ihre verbleibenden Hudson-Ohio-Aktien werden zweifellos im Wert steigen. Und obwohl er weit mehr als den aktuellen Marktpreis bezahlt hat, rechnet Mr Morgan damit, dass die von ihm gekauften Niagaraaktien ihm zu gegebener Zeit einen ansehnlichen Gewinn verschaffen werden. Kurz gesagt: Jeder bekommt etwas. Solange« – er warf Master einen strengen Blick zu – »niemand zu gierig wird.«

»Ich verkaufe«, sagte Frank nicht ohne Erleichterung.

»Richtig so«, sagte Tom.

Das Wetter besserte sich im Laufe des Tages weiter. Am Donnerstagvormittag kehrte Frank in sein Haus am Gramercy Park zurück, wo er von Hetty so empfangen wurde, als sei gar nichts geschehen.

*

Drei Tage später suchte Lily de Chantal Hetty Master auf.

»Ich habe Neuigkeiten für Sie«, sagte sie. »Über Miss Clipp.«

»Ach?«

»Ich bin zu ihrem Logis gegangen, aber sie war nicht da.«

»Noch immer in Brooklyn?«

»Ich bin zum Hotel gefahren. Sie hat es in der Nacht auf Montag verlassen. Ihr Koffer steht noch immer da.«

»Sie meinen doch nicht etwa …?«

»Wie Sie wissen, sind überall in der Stadt Leichen ausgegraben worden. Menschen, die vom Blizzard überrascht wurden und erfroren sind.«

»Fast fünfzig, habe ich gehört.«

»Eine Frau hat man oben auf dem Fußgängerweg der Brooklyn Bridge gefunden. Hatte ihre Handtasche dabei. Darin ein Notizbuch mit ihrem Namen und ein paar andere Dinge. Niemand hat sich nach ihr erkundigt, und die Stadtverwaltung hat so schon alle Hände voll zu tun. Soweit ich weiß, werden morgen die meisten Toten begraben.«

»Sollten wir irgendetwas unternehmen? Ich meine, wir haben sie schließlich nach Brooklyn geschickt. Es ist unsere Schuld.«

»Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich wollen?«

»Nein. Aber ich fühle mich abscheulich.«

»Wirklich?« Lily lächelte. »Ach, Hetty, Sie sind zu gut für diese Welt!«

*

So endete der große Dakotablizzard. Bereits die Woche darauf fuhren alle Züge wieder, und New York schickte sich langsam an, zur Normalität zurückzukehren.

Niemand achtete sonderlich auf die adrett gekleidete Dame mit dunklem Haar und einem neuen Koffer, der eine neue Garderobe enthielt, die am darauffolgenden Mittwoch den Zug nach Chicago bestieg. Im Waggon saß sie für sich, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Ihr Name lautete Prudence Grace.

Als der Zug allmählich beschleunigte, starrte sie durch das Fenster auf die langsam zurückweichende Stadt. Und wenn einer der Mitreisenden ihr zufällig einen Blick zugeworfen hätte, als die letzten Häuser der Stadt verschwanden, dann wäre ihm aufgefallen, dass sie etwas zu flüstern schien, was ohne Weiteres ein kurzes Gebet gewesen sein könnte.

Dann seufzte Donna Clipp zufrieden auf.

Ihr war eine plötzliche Eingebung gekommen, als sie auf der Brooklyn Bridge diesen Körper vor sich liegen sah. Schon stocksteif gefroren. Die Frau ähnelte ihr nicht besonders, war aber mehr oder weniger im selben Alter, braunhaarig und nicht zu groß. Durchaus einen Versuch wert. Es war die Sache einer Minute gewesen, der toten Frau ihre Handtasche unterzuschieben, in der sie gerade genug Identifizierbares ließ, um der Leiche einen Namen zuordnen zu können.

Danach zwang sie sich weiterzumarschieren, diese lange, entsetzliche Fußgängerbrücke hinunter, selbst schon mehr tot als lebendig, aber jetzt mit einem neuen Grund, unbedingt am Leben zu bleiben.

Sollte die Polizei sie jemals suchen, würde sie feststellen, dass sie tot war. Sie besaß jetzt einen neuen Namen, eine neue Identität. Es war an der Zeit, in eine neue Stadt zu ziehen, möglichst weit weg. Und in ein neues Leben.

Sie war frei, und das erheiterte sie. Deswegen hatte sie, als New York aus ihrem Blickfeld verschwand, ein letztes und endgültiges Mal an Frank Master gedacht und geflüstert: »Ade, du alter Scheißkerl.«