Siebenunddreißig

Wenigstens hatte Forbes sie nicht mit Gewalt verschleppt. Der Gedanke daran bewahrte mich davor, auf der Interstate die Fassung zu verlieren. Dennoch hielt ich die Tachonadel stur bei neunzig Meilen, dem Protest des alten Fords zum Trotz. Die Vibrationen brachten das Armaturenbrett zum Summen und das Lenkrad fing an zu flattern. Die Temperaturanzeige ging allmählich in den roten Bereich. Zehn Meilen westlich von Las Cruces krochen Dampfschwaden unter der Motorhaube hervor. Ich fuhr auf einen Rastplatz mit Blick auf das Mesilla Valley. Es war eine Stunde vor Sonnenaufgang. Über der schwarzen Silhouette der Organ Mountains wölbte sich der Himmel in einem sternlosen Blaugrau – eine unechte Morgendämmerung, unter der die Lichter von Las Cruces funkelten.

Der Mercedes stand neben den Toiletten. Es war das einzige Auto weit und breit, also ging ich davon aus, dass Forbes in die Stadt zurückgefahren war. Trotzdem hatte ich zur Sicherheit die Mossberg dabei, als ich mich dem Wagen näherte.

Jillian lag auf dem Rücksitz, ob schlafend oder tot, vermochte ich nicht zu sagen. Die Türen waren verriegelt. Ich klopfte mit dem Gewehrkolben ans Fenster. Sie fuhr hoch, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Sie hatte fest geschlafen und befand sich jetzt in diesem Dämmerzustand zwischen Wachen und Traum. Nachdem sie die Tür entriegelt hatte, stieg ich ein, legte die Mossberg auf den Boden und nahm Jillian in die Arme. Ich küsste sie, küsste ihre Augen, ihr Gesicht und ihre Lippen.

»Mein Güte, du zitterst ja«, sagte sie.

»Du machst mir Angst.« In mehr als einer Hinsicht, hätte ich hinzufügen können.

Ihr Lächeln drückte Zufriedenheit aus. Ihr gefiel es, wenn ich mir ihretwegen Sorgen machte. Sie küsste mich. »Ich bin fast von der Straße abgekommen«, sagte sie. »Ich musste einfach etwas schlafen. Ich habe kein Auge zugemacht, seit wir miteinander im Bett waren. Du vollbringst wahre Wunder, was mich betrifft, Mr. Universum.« Sie strich sich das Haar nach hinten. Auf ihrer Wange sah man den Abdruck des genarbten Leders ihrer Handtasche, die sie als Unterlage für den Kopf benutzt hatte. »Wieso hast du eine Waffe dabei?«

»Na rate mal! Wegen der Typen, die mich umbringen wollen.«

»Nein, nicht mehr. Das hab ich dir doch erklärt. Es gibt keinen Grund mehr für sie, dich zu töten.«

»Ich glaube nicht, dass die dazu ’nen Grund brauchen.«

»Was hast du dann hier zu suchen? Wenn du von dem überzeugt bist, was du sagst, solltest du mich meiden wie der Teufel das Weihwasser.«

»Ich habe niemals behauptet, die Vernunft gepachtet zu haben«, sagte ich und zog sie an mich. »Ich will mit dir zusammen sein, Jillian. Ich glaube, wir könnten es schaffen.«

»Es?«

»Es. Wie auch immer du es nennen willst. Liebe. Nenn es Liebe.«

Ihre Fingerspitzen berührten mein Gesicht. Sie lächelte. Es war ein trauriges, fatalistisches Lächeln. Ich mochte es nicht. »Du hattest Recht«, sagte sie. »Ich habe dich belogen. Ich habe die Bilder nicht an die Presse gegeben, um dein Leben zu retten – obwohl das so eine Art Bonus sein könnte. Ich habe es aus Rache getan.«

Meine Lippen fuhren über ihren Hals. Ihr beschleunigter warmer Atem streifte mein Ohr. Nur das wollte ich hören, dieses sanfte Raunen ihres Atems.

»Dieser verdammte Fernie«, sagte sie und machte sich von mir los. »Er hat alles kassiert. Das Haus, die Bankkonten, die Abfindung. Ich wollte ihn ein wenig rotieren lassen. Wollte ihm einen Hieb versetzen.«

»Wie kann er dir das Haus wegnehmen?«

»Clive und mir gehört überhaupt nichts, nicht mal die Möbel. Ich habe dir doch erzählt, dass Clive nur ein Strohmann war. Wir hatten nicht mal unser eigenes Bankkonto. Fernie gestattete uns, das, was wir brauchten, von einem Sonderkonto abzuheben, bis zu einer Million jährlich, aber das Geld blieb Eigentum der Bank. Wir hatten eine Art Abfindung vereinbart, und zwar eine, die sich sehen lassen konnte, nur war ich im Falle von Clives Tod nicht als Begünstigte eingetragen. Wir haben unsere Rollen gut gespielt und hätten einen Haufen Geld verdienen können, wenn Clive sich mit seiner Vorliebe für Perverses nicht selbst den Saft abgedreht hätte.« Sie verlor fast die Beherrschung, hielt inne, um ihre Fassung zurückzugewinnen. »Diese Mistkerle haben mir alles weggenommen, Uri«, sagte sie. »Alles.«

»Clive und Fernie.«

»Ich geb dir gern die vollständige Liste. Hast du einige Stunden Zeit?« Ich dachte darüber nach. Ihre Liste begann sicher in Coos Bay, mit Caleb Brisbane, dem Fischer, und ihren Brüdern. Dann waren da noch ihre Exmänner und andere, von denen ich gar nichts wissen wollte.

»Deshalb hast du die Fotos an das Boulevardmagazin geschickt«, sagte ich.

Sie lächelte und kniff dabei die Augen zusammen. »Unterschätz mich nicht, Tiger. Ich sorge immer für Gleichstand.«

»Warum willst du dann zurückfahren? Was hat Forbes dir erzählt?«

»Fernie will die Wogen glätten. Keine Ahnung, warum. Weil ich der Bankenaufsicht nichts über den Cibola-Waschsalon gesteckt habe vielleicht. Ich weiß es nicht. Er hat mir angeboten, mich als alleinig Begünstigte für Clives Abfindung einzusetzen, unter der Bedingung, dass ich nach Oregon zurückkehre. Es handelt sich dabei um eine halbe Million. Deshalb will ich zurück. Das kann ich mir nicht entgehen lassen. Ich will nicht wieder arm sein.«

»Du hast geweint, als du ausgecheckt hast«, warf ich ein.

»Das hat dir dieser geile Bock von der Rezeption erzählt, stimmt’s? Ich hab vor Freude geheult, Uri. Zuerst bin ich pleite, weiß nicht, wohin, und in der nächsten Minute bin ich um eine halbe Million reicher. Meine Güte, das waren Tränen der Erleichterung. Natürlich war ich erst mal fertig. Aber kannst du das nicht nachvollziehen?«

Sie ging etwas auf Tuchfühlung, doch ich reagierte nicht darauf. Wir stiegen aus dem Wagen, streckten uns und atmeten die kühle Morgenluft ein.

»Warum überweist Solís das Geld nicht einfach per Post?«, fragte ich.

»Erstens habe ich keine Postadresse. Offiziell habe ich keinen festen Wohnsitz. Zweitens hasst Fernie alles Unpersönliche. Er ist noch von der alten Schule, alles wird persönlich geregelt. Im 19. Jahrhundert würde er sich wie zu Hause fühlen. Außerdem lässt er mir etwas Zeit, was meine Abreise betrifft. Er hat nichts dagegen, wenn ich übers Wochenende im Haus bleibe. Es hätte wesentlich schlechter für mich laufen können. Ebenso gut hätte ich als Konkubine seiner Privatarmee enden können. Drüben, in Juárez, stehen an die hundert Männer Gewehr bei Fuß, ständig. Er will nicht, dass sie Bordelle aufsuchen. Sie müssen immer bereit sein zum Einsatz, und er will verhindern, dass es zu Schwierigkeiten kommt, nur weil sie sich eine Geschlechtskrankheit eingefangen haben. Deshalb führt er ihnen saubere Frauen zu. Die Frauen werden anständig behandelt, aber eine Wahl haben sie nicht.«

Ein hässlicher Gedanke durch und durch. Ich schob ihn augenblicklich beiseite. »Wie hat Forbes dich aufgespürt?«, fragte ich.

»Forbes war Cop, hier in der Stadt, und er verfügt immer noch über einige Beziehungen. Sie haben für ihn die Kreditkartendaten verfolgt. Der Kerl im Motel hat meine Daten beim Einchecken eingegeben. Vermutlich hat es Forbes lediglich einen Anruf und fünf Minuten Wartezeit gekostet, um mich ausfindig zu machen.«

Ich schloss sie in die Arme. »Geh nicht zurück, Jillian.«

Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und küsste mich. »Danke«, sagte sie. »Du bist der Erste, der sich um mich sorgt. Aber es ist alles okay, Süßer. Ich kenne Fernie. Er steht zu seinem Wort.«

Sie fuhr vorneweg, ich hinterher, als wir nach Las Cruces aufbrachen. Dort hielten wir an einem Café, um zu frühstücken. Ein chorizo Omelett und schwarzer Kaffee erweckten ihren Optimismus zu neuem Leben. Ich hatte Haferflocken mit fettarmer Milch, ohne Zucker.

»Eine halbe Million ist heutzutage auch kein Vermögen mehr«, meinte sie, »aber ich hab ein Händchen, was Geld betrifft. Einen Teil davon werden wir investieren und vielleicht ein kleines Geschäft aufmachen.«

»Wir«, sagte ich.

»Als Partner. Wenn du es nicht Liebe nennen willst, Uri, nenn es Partnerschaft.«

Das klang einfach zu gut. Zu einfach. Doch was immer sie mir auch anzubieten hatte, ich wollte es. Mehr als alles, was ich bisher gewollt hatte.

Draußen, vor dem Café, sagte sie: »Ich werde einen Stopp in Mesilla einlegen. Ich habe diese kleine Stadt immer geliebt. In gewisser Weise scheint sie gegen diese ganze Scheiße, die überall passiert, immun zu sein, als wäre die Zeit dort vor zweihundert Jahren stehen geblieben.«

Ich folgte ihr die wenigen Meilen bis zu der alten spanischen Siedlung unweit von Las Cruces. Wir stellten unsere Wagen am Rande des Marktplatzes ab. Eine Mariachi-Band hatte den Pavillon in Beschlag genommen und probte für ihren nachmittäglichen Auftritt. Die Souvenirläden waren noch nicht geöffnet, die Straßen leer. Auf der Nordseite des Platzes stand die alte, ehrwürdige San-Albino-Kirche, das dominierende Element des gesamtem Ensembles.

»Sollten wir jemals heiraten«, sagte sie, »dann in dieser Kirche. Das nächste Mal möchte ich die Zustimmung der katholischen Kirche, auch wenn ich ihr den ganzen Hokuspokus nicht abkaufe.«

»Wir könnten einen Priester wecken und Nägel mit Köpfen machen«, sagte ich.

Sie drückte meine Hand. »Wir machen es, wenn wir nach Oregon aufbrechen«, sagte sie.

Was hatte ich mir dabei gedacht? Nichts. Ich dachte überhaupt nicht. Denken war etwas für Leute mit realitätsnaher Sichtweise.

Sie stieg die Stufen zur Kirche hoch und zog die Tür auf, trat aber nicht ein. »Hier wohnt er«, sagte sie und sah hinein.

Ich fragte nicht, was sie damit gemeint hatte. Es war mit einem Male sehr windig geworden und aufgewirbelter Sand verdunkelte den Morgenhimmel. Ich schmeckte die feinen Körner, die sich vom Wüstenboden gelöst hatten, und musste unwillkürlich an den Friedhof der narcotraficantes denken und an den Sand, der sich in den aufgerissenen Mündern der Toten sammelte.

»Der Gott der Selbstaufopferung«, sagte sie. »Das hier ist sein Haus. Der heilige Mörder lauert in der Basilika. Ich könnte ihn um Gnade bitten, doch er schachert mit niemandem um Gnade. Ihm geht’s ums Blut. Gottes Gnade heißt Tod. Deshalb fühlt er sich im Land der Azteken so zu Hause.«

»Liebe zählt nicht?«, fragte ich.

»Was meinst du damit?«

»Als eine Art Gnade.«

»Doch, aber sie kommt nicht von Gott. Liebe ist etwas Menschliches – die arme, ach so verlorene Menschheit, die sich mit aller Macht an das eigene teure Leben klammert.«

Sie drehte sich zu mir um und lächelte. Es war das traurige, selbstgefällige Lächeln der Fatalistin. Wieder machte sie mir Angst.