10. KAPITEL

„Bist du irre?! Was soll das heißen: Du brauchst eine Pause vom Modeln? Das kann nicht dein Ernst sein! Ich habe gesagt, dass du in Mailand und Paris dabei bist!“, rief David aufgebracht, als Zoe ihm ihren Entschluss am Telefon mitteilte.

„Nun, dann musst du wieder absagen“, entgegnete Zoe ruhig. „Außerdem ist es unverschämt, dass du dich über meinen Willen hinwegsetzt. Ich habe dir gesagt, dass ich es mir überlege. Und ich habe mich gegen die Reise nach Europa entschieden.“

„Du musst in Mailand und Paris dabei sein! Ich befehle es dir!“

„Jetzt klingst du irre. Niemand befiehlt mir irgendetwas. Und meine Antwort lautet nein!“

„Wenn du nicht läufst, verklage ich dich.“

„Mach das ruhig. Ein Mörder jagt mich. Wie wird ein Richter wohl entscheiden, wenn er hört, dass du mein Leben für dein Geschäft in Gefahr bringen willst? Außerdem bin ich schon am Flughafen. Ich fliege zu meiner Mom. Und zwar in genau einer Viertelstunde. Ich muss jetzt einchecken. Mach’s gut.“

„Undankbares Miststück! Ich mache dich fertig! Das schwöre ich dir!“, brüllte David.

Doch Zoe beendete die Telefonverbindung.

„Lass mich raten. Er hat dir eine gute Reise gewünscht“, meinte Tom spöttisch, nahm Zoes Handgepäck und schlenderte mit ihr zum Schalter.

„Ich glaube, David bastelt gerade eine Voodoo-Puppe mit meinen Haaren und wünscht mir den Stalker an den Hals.“ Zoe hakte sich bei Tom ein.

Gemeinsam bestiegen sie den Flug nach Los Angeles.

„Du bist noch nie in Los Angeles gewesen? Warum hast du das nicht gleich gesagt? Dann machen wir in der Stadt der Engel einen Zwischenstopp.“ Zoe hob ihren Koffer am Flughafen von L.A. vom Gepäckband.

„Warte! Ich mache das.“ Tom nahm ihr den Koffer ab und trug ihn zusammen mit seinem zum Ausgang des Terminals. „Es ist lieb von dir, dass du mir L.A. zeigen willst, aber du sehnst dich doch so nach deiner Mom und deinen Freunden.“

„Schon, aber ich bin jetzt weit weg von New York und dem Stalker. Ich fühle mich wie befreit. Und ich möchte dir einen Gefallen tun und mich bedanken, weil du mir in meiner schweren Zeit beistehst und der beste Bodyguard der Welt bist.“

„Das ist zwar gnadenlos übertrieben. Aber danke schön.“ Tom lächelte verlegen.

Zoe fand ihn ungemein charmant. Dass sie ihm einen Gefallen tun wollte, war nur die halbe Wahrheit. Sie hatte auch große Lust, einen Tag nur mit ihm und ohne Angst vor einem Angriff, zu verbringen.

Sie fuhren mit dem Bus zur Autovermietung. Dort holten sie die reservierte Corvette ab. Zoe setzte sich hinters Steuer und fuhr zum Freeway.

„Du hast die Abfahrt in Richtung Barstow verpasst“, meinte Tom nach einer halbe Stunde Fahrt, während der sie geschwiegen hatten.

„Ich weiß.“ Zoe lächelte. „Ich fahre nach Santa Monica. Wir bleiben hier, und ich zeige dir Los Angeles.“

„Du bist verrückt“, sagte Tom und klang sehr ernst. Aber Zoe sah an seinem glücklichen Lächeln, dass er sich auf ihre Zeit in L.A. freute.

Sie fuhr zum Strand nach Santa Monica und checkte mit ihm ins Art-dèco-Hotel „Georgian“ ein. Sie nahmen zwei Einzelzimmer mit Meerblick, die durch eine Tür miteinander verbunden waren.

Nachdem Zoe geduscht hatte, zog sie sich ihr Lieblingskleid an. Es war kein Designerstück, sondern ein geblümtes langes Kleid im Hippie-Look, das sie vor Jahren in Barstow gekauft hatte. Schnell schminkte sie sich und klopfte dann lächelnd an die Zwischentür.

„Bist du fertig?“ Sie lächelte vorfreudig.

„In einer Minute.“ Er öffnete die Tür und stand, nur mit einer Jeans bekleidet, vor ihr. Offenbar hatte er ebenfalls geduscht. Von seinem nackten, durchtrainierten Oberkörper perlten die Wassertropfen. Tom fuhr sich durch das nasse Haar und griff nach einem weißen Hemd, das auf dem Bett lag. Seine Bewegungen waren geschmeidig und elegant.

Bei seinem Anblick verschlug es Zoe die Sprache. Ein unbändiges Verlangen nach ihm stieg in ihr auf.

Schnell wandte sie sich ab. „Ich warte unten in der Lobby auf dich.“

„Was soll denn der Quatsch! Ich bin immer noch dein Bodyguard, auch in L.A.“ Er zog das Hemd an, legte das Halfter um und streifte sich ein Jackett über. „Auf geht’s!“

Lächelnd nahm er ihre Hand, zog Zoe an sich und küsste sie auf die Wange. „Danke für die Einladung.“

„Schon okay“, murmelte Zoe und hoffte, dass er ihre Verlegenheit nicht bemerkte. Als sie seine Lippen auf ihrer Wange gespürt hatte, war ein wohliges, sinnliches Kribbeln durch ihren Körper gerieselt.

„Wo fahren wir hin?“, fragte er wenig später, als sie mit heruntergelassenem Verdeck den Pacific Coast Highway entlangfuhren und der warme Abendwind ihnen das Haar zerzauste.

„Lass dich überraschen.“ Zoe lachte. Sie fühlte sich unbeschwert und glücklich wie lange nicht mehr. Am liebsten wäre sie für den Rest ihres Lebens mit Tom an der kalifornischen Küste entlanggefahren.

Zwanzig Minuten später fuhr sie auf den Parkplatz des „Beachcomber“, eines Strandrestaurants, das polynesisches Essen und einen traumhaften Blick aufs Meer bot. Es war ein angesagter Treffpunkt, von dem Zoe vor einiger Zeit gehört hatte und den sie unbedingt mit jemand Besonderem besuchen wollte.

„Wow! Das ist ja unglaublich!“, rief Tom, nachdem sie an einem Zweiertisch mit Blick auf den Pazifik Platz genommen hatten.

Zoe genoss es, dass sie Tom eine Freude bereitet hatte. Sie bestellten Thunfisch in Kokosmilch und Hinano, tahitisches Bier, lauschten der Musik, die die Band spielte, alberten herum, aßen und betrachteten versonnen den Sonnenuntergang.

Nach dem Essen schlenderten sie am Strand entlang. Erst als die Nacht blauschwarz über die Küste hereinbrach, kehrten sie um.

„Das war ein wunderschöner Abend“, meinte Tom begeistert, als sie zu ihrem Wagen zurückgingen.

„Warte ab, was ich morgen mit dir vorhabe“, entgegnete Zoe geheimnisvoll.

Sie standen schweigend voreinander und lächelten.

Küss mich, dachte Zoe und befeuchtete sich die Lippen. Doch plötzlich hatte sie das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden.

Tom machte einen Schritt auf sie zu und streckte die Arme aus. Doch Zoe wich zurück. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken, und sie drehte sich in die Richtung um, aus der sie glaubte, angestarrt zu werden.

Im Mondlicht erkannte sie den Umriss eines Mannes, der beim Restaurant in der Nähe der Müllcontainer stand. Der Mann trug ein Sweatshirt und hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Von der Statur her konnte er der Stalker sein. Er hatte sich Zoe zugewandt. Obwohl sie seine Gesichtszüge nicht erkennen konnte, spürte Zoe, dass er sie anstarrte.

„Da! Der Kapuzenmann!“, flüsterte sie.

Tom zog sofort seine Waffe und lief in die Richtung, in die Zoe zeigte. Sie hörte ein Rumpeln und Scheppern. Dann erklangen Schritte auf dem Asphalt. Jemand rannte weg.

„Halt! Stehen bleiben!“, rief Tom. Die Waffe im Anschlag, eilte er dem Fremden hinterher.

Zoe blieb allein zurück und zitterte vor Angst. „Tom!“

Keine Antwort.

Unwillkürlich stellte sie sich vor, dass der Stalker Tom in eine Falle lockte und ihn überwältigte. Was, wenn er ihm die Pistole wegnahm und ihn tötete?

„Tom!“

Ein Mann kam auf sie zu. Er atmete schwer. Zoe wusste nicht, was sie tun sollte. Im ersten Moment fürchtete sie, es wäre ihr Verfolger. Dann fiel jedoch das Mondlicht auf sein Gesicht, und sie erkannte Tom. Erleichtert atmete sie auf.

„Ich hatte solche Angst, dass dir etwas passiert ist.“ Sie umarmte ihn fest.

„Mir doch nicht.“ Er grinste und drückte sie an sich.

Lange blieben sie so stehen.

„Bist du sicher, dass du den Kapuzenmann gesehen hast?“, fragte Tom schließlich und schob sie sanft von sich.

Zoe schwieg. „Nein“, gab sie leise zu. „Er hatte nur dieselben Sachen an wie der Stalker. Und weil er im Dunkeln stand und uns beobachtet hat …“

Tom seufzte. „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er uns aus New York hierher gefolgt ist. Woher soll der Stalker wissen, dass wir in Los Angeles sind? Vermutlich habe ich gerade einem nächtlichen Spaziergänger oder einem armen Strandpenner einen furchtbaren Schrecken eingejagt.“

„Ja … vermutlich“, erwiderte Zoe zögernd.

„Lass uns ins Hotel fahren.“ Tom legte den Arm um ihre Schulter und brachte Zoe zum Wagen. Er bat sie um die Autoschlüssel, öffnete die Beifahrertür und wartete, bis Zoe eingestiegen war. Dann stieg er auf der Fahrerseite ein und fuhr zum „Georgian“.

„Lass die Zwischentür heute Nacht offen“, bat Zoe, als sie Tom eine gute Nacht wünschte.

„Ich lasse auch das Licht bei mir brennen, wenn du dich dann sicherer fühlst“, meinte er und überprüfte, ob die Zimmertüren verschlossen waren.

„Danke“, erwiderte Zoe und ging zu Bett.

Sie kuschelte sich unter ihre Decke, lag jedoch die halbe Nacht wach und lauschte auf Toms regelmäßigen Atem, den sie aus dem Nachbarzimmer hörte. Tom hat recht. Es kann nicht sein, dass der Stalker hier ist, sagte sie sich immer wieder. Aber überzeugen konnte sie sich nicht. Instinktiv wusste sie, dass sie sich nicht geirrt hatte.

Am nächsten Morgen fühlte Zoe sich besser. Bei Tageslicht betrachtet, kam ihr die vermeintliche Begegnung mit ihrem Stalker lächerlich vor. Und Zoe ärgerte sich darüber, dass sie sich mit einem Wildfremden und ihrem Verfolgungswahn den schönen Abend und ihren ersten Kuss von Tom verdorben hatte.

Nach dem Frühstück besuchten sie die Universal Studios. Danach zeigte Zoe Tom den Hollywood Boulevard, wo die Sterne der Stars waren, sowie das berühmte Kino Grauman’s Chinese Theatre. Dann fuhren sie zum Venice Beach, flanierten an der Strandpromenade, aßen Eis, bewunderten die Stunts der Skateboardfahrer und amüsierten sich über die Bodybuilder, die ihre Muskeln zeigten.

Der Tag war herrlich, und Zoe genoss die Stunden mit Tom in vollen Zügen, bis sie sich wieder beobachtet fühlte. Sie versuchte, das unangenehme Gefühl abzuschütteln. Und sagte sich immer wieder, dass sie sich es einbildete. Dennoch drehte sie sich alle paar Meter vorsichtig um.

„Wie lange willst du das noch machen?“, fragte Tom schließlich und blieb stehen.

„Was?“, erwiderte Zoe gespielt ahnungslos.

„Du bist eine schlechte Lügnerin. Ich habe dich beobachtet. Du glaubst, der Stalker ist hinter dir her.“

„Oh Tom, ich wünschte, ich könnte die Gedanken an ihn loswerden“, brach es aus Zoe hervor. „Ich habe immer noch diese schleichende Angst, dass er plötzlich vor mir auftaucht und mich mit einer Schere oder Säure attackiert oder direkt erschießt.“

Tröstend nahm Tom sie in die Arme. „Deine Furcht ist unbegründet. Außerdem bin ich noch da. Traust du mir denn gar nichts zu?“

„Natürlich! Ich vertraue dir absolut. Wenn mich jemand beschützen kann, dann du.“

„Dann entspann dich. Alles wird gut.“ Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste Zoe sanft auf die Stirn.

Sein angenehmer Duft umgab sie. Tief atmete Zoe ein. Wenn Tom sie hielt und so fest an sich zog wie jetzt, fühlte sie sich sicher und geborgen. Sie hätte ewig so stehen bleiben können.

Da klingelte ihr Handy.

Das durfte ja nicht wahr sein! Jedes Mal, wenn Tom und sie einander näher kamen, rief jemand an und störte! Seufzend hob Zoe ihr Handy ans Ohr.

„Hallo, Detective Abraham.“ Zoe hörte gespannt zu, während er ihr berichtete, was sich neues in dem Fall ergeben hatte.

„Ist das wirklich wahr? Ich kann’s nicht glauben!“, rief sie schließlich.

„Was ist?“, fragte Tom ungeduldig, nachdem sie sich überschwänglich bei dem Polizisten und seinen Kollegen bedankt und das Gespräch beendet hatte.

„Sie haben ihn“, verkündete Zoe glücklich. „Sie haben den Stalker!“

„Ich hab’s dir ja gesagt. Alles wird gut!“ Lächelnd hob Tom sie hoch und wirbelte sie im Kreis herum.

Zoe lachte überglücklich.

„Los! Erzähl! Was ist es für ein Kerl? Kennst du ihn?“, wollte Tom wissen.

„Nein. Ich habe seinen Namen nie zuvor gehört. Er heißt Stephen Brandt, ist 26 und jobbt als Kurierfahrer in einer Werbeagentur, die mit verschiedenen Modelabels zusammenarbeitet. Er hat schon öfter Models verfolgt und belästigt. Aber keine hat ihn angezeigt. Deshalb waren seine Fingerabdrücke und seine Daten auch nicht in der polizeilichen Datenbank.“

„Und wie haben sie ihn erwischt?“

„Eins seiner Opfer hat die Handyaufnahmen von der Scherenattacke gesehen und ihn wiedererkannt. Sie hat sofort die Cops angerufen und sich sogar entschuldigt, ihn nicht gemeldet zu haben, als er sie belästigt hat. Sie hat ausgesagt, er habe ihr vor ihrer Wohnung aufgelauert und sie mit Rosen und kleinen Geschenken überhäuft. Als sie ihm gesagt hat, dass er sie in Ruhe lassen sollte, hat er sie beschimpft, ist danach aber nie wieder bei ihr aufgekreuzt.“

„Hat er schon ein Geständnis abgelegt?“

„Wohl zum Teil. Er hat die Namen der Models genannt, die er gestalkt hat. Meiner war dabei. Außerdem haben die Polizisten in seiner Wohnung meine Haarsträhne gefunden. Er hatte sie mit einer Schleife zusammengebunden auf seinem Nachttisch liegen. Ich will lieber nicht daran denken, was er mit ihr gemacht hat.“

„Und weiter?“

„Na ja, er leugnet, in unsere WG eingebrochen zu sein und meine Halskette gestohlen zu haben. Vor allem streitet er ab, das Säureattentat und den Mord an Phoebe begangen zu haben.“

„Das wundert mich nicht. Für Mord geht er lebenslänglich ins Gefängnis.“ Tom drückte sie an sich. „Bist du erleichtert?“

„Ja, schon. Aber ich glaube, ich kann erst richtig aufatmen, wenn er ein vollständiges Geständnis abgelegt hat.“

„Das wird er“, erwiderte Tom zuversichtlich. „Glaub mir. Detective Abraham und seine Kollegen werden ihn schon dazu bringen.“ Er ließ sie los und lächelte sie schräg an. „Dann ist meine Aufgabe hier wohl erfüllt, und du brauchst mich nicht mehr.“

„Nein!“ Allein bei der Vorstellung wurde Zoe mulmig zumute. Sie wollte Tom nicht verlieren. Jetzt nicht und auch in nächster Zeit nicht. „Äh … ich möchte, dass du bleibst. Ich denke, wir sind mehr als nur Bodyguard und Kundin. Wir sind Freunde, oder irre ich mich? Willst du etwa gehen?“

Tom schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte gern bleiben und finde, wir sind mehr als Freunde.“ Er sah ihr tief in die Augen, umfasste ihr Gesicht und küsste sie lange und zärtlich auf den Mund.

Ein tiefes Glücksgefühl durchflutete Zoe, und sie hatte das starke Verlangen, mit Tom allein in ihrem Schlafzimmer zu sein.

„Lass uns ins Hotel fahren“, flüsterte sie, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten.

Tom nickte, nahm ihre Hand und führte Zoe zum Wagen. Auf dem Weg zog er sein Handy aus der Hosentasche und schrieb eine SMS.

„Wem schreibst du?“, fragte Zoe neugierig.

„David. Ich schreibe ihm, dass ich kein Geld von ihm haben will. Meine Freundin beschütze ich aus freien Stücken.“

In dieser Nacht erfuhr Zoe, wie sich wahre Liebe anfühlte. Tom entführte sie in ein erotisches Abenteuer, von dem sie bislang nur geträumt hatte. Sie überwand ihre Scheu und wagte sinnliche Berührungen, für die ihr bislang der Mut und das Vertrauen in ihren Partner gefehlt hatten.

Mit Tom war alles möglich. Da konnten die Rips und Cassidys dieser Welt nicht mithalten.