2. KAPITEL

„Willkommen im ‚Big Apple‘! Ich bin David Calhourn, Chef von ‚Model Inc.‘ und dein persönlicher Ansprechpartner und Agent.“ Mit diesen Worten empfing ein gut aussehender Mann Zoe am JFK-Airport in New York. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Er nahm ihr die Reisetasche ab und führte Zoe aus dem Flughafengebäude hinaus zu den Parkplätzen. „Es tut mir leid, dass ich nicht in Los Angeles beim Casting gewesen bin. Aber mein Terminkalender ist derart voll! Darum habe ich den Wettbewerb und die Entscheidung meiner West-Coast-Kollegen via Konferenzschaltung verfolgt und mich als einer der Juroren ganz klar für dich ausgesprochen. Du warst auf Anhieb meine Favoritin. Du bist ein Naturtalent auf dem Laufsteg!“

„Danke.“ Zoe lächelte verlegen. „Ich fand mich eher schlecht. Ich bin gestolpert und …“

Abrupt blieb er stehen und hob den Zeigefinger. „Sag so etwas nie wieder! Keins meiner Models ist schlecht. Den Begriff streichst du aus deinem Wortschatz. Okay? Stattdessen benutzt du: unkonventionell. Verstanden?“

Zoe nickte schüchtern.

„Wo ist dein Selbstbewusstsein? Du hast keine Ahnung, wie schön du bist, oder?“ David musterte sie.

Prompt wurde sie rot.

David lächelte, legte ihr den Arm um die Schulter und tätschelte sie aufmunternd. „Das kriegen wir schon hin. Du wirst unser strahlender Stern am Modehimmel. Glaub mir.“

Nach zehn Metern blieb David vor einem Porsche stehen und öffnete per Funkfernbedienung die Zentralverriegelung. Er stellte Zoes Tasche hinter den Beifahrersitz und meinte: „Spring rein! Ich fahr dich in deine Model-WG.“

„Holen Sie alle neuen Models persönlich ab?“, fragte Zoe, während sie in den Sportwagen einstieg.

„Nein. Nur die, von denen ich glaube, dass sie es ganz nach oben schaffen.“ David zwinkerte ihr zu. „Und lass das Siezen. Nenn mich David.“ Er nahm auf dem Fahrersitz Platz und ließ den Motor aufheulen.

Schnell setzte er den Porsche zurück und fuhr aus der Parklücke.

Auf der Fahrt nach Manhattan kam Zoe aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die gigantischen Hochhäuser, die Straßenschluchten voller Menschen, die Betriebsamkeit und das Lichtermeer am Time Square beeindruckten sie sehr. Zoe sah im Rückspiegel, dass ihre Augen glänzten. Sie freute sich unbändig darauf, Teil dieser Welt zu sein.

David steuerte SoHo an, das In-Viertel New Yorks, in dem die Fashion- und Musikszene zu Hause war. Er parkte in der Greene Street vor einem der für die Gegend charakteristischen Gusseisen-Bauten aus der Gründerzeit und zog seinen Blackberry aus der Hosentasche.

Kurz nachdem er eine Kurzwahltaste gedrückt hatte, sagte David ins Telefon: „Phoebe? Wir sind da. Ich setze Zoe ab und fahre direkt ins Büro. Du kümmerst dich um sie, ja? Zeig ihr alles. Und bring sie morgen Mittag in den Meatpacking District, 300 West, 14th Street. Du weißt schon, zum Prada-Shooting.“ Er wartete die Antwort seiner Gesprächspartnerin nicht ab, sondern unterbrach die Verbindung, beugte sich über Zoe und öffnete die Beifahrertür von innen.

Nachdem er die Tür aufgestoßen hatte, deutete er auf ein cremefarbenes Gebäude. „Dort, wo das Schild ‚Alice’s Antiques‘ hängt, ist der Eingang“, meinte er. „Klingle bei Apartment C. Phoebe holt dich am Aufzug ab. Sie ist auch eins unserer Nachwuchsmodels. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.“

Mit einer Handbewegung bedeutete er Zoe, dass sie aussteigen sollte.

Sie kletterte aus dem Wagen. David hob ihre Reisetasche vom Rücksitz und reichte sie ihr. „Wir sehen uns morgen bei deinem ersten Kunden. Ruh dich aus. Leb dich ein. Und geh früh schlafen. Morgen wird ein harter Tag. Ich habe die Prada-Repräsentantin mit einem Foto von dir davon überzeugt, dich bei der Kampagne einzusetzen. Das ist eine große Sache! Normalerweise bucht niemand ein Model, ohne es vorher persönlich zu sehen. Also enttäusch mich nicht.“

Er zog die Tür mit einem Ruck zu und brauste los.

Zoe sah dem Porsche nach, bis er im Verkehr verschwand. Sie – Morgen – beim Prada-Shooting?! Das sagte David ihr in einem Nebensatz und ließ sie dann stehen!

Zoe hatte gehofft, dass er sie in die Model-WG begleitete und sie ihrer Mitbewohnerin vorstellte. Nun ja, was erwartete sie? Er war nicht ihr Kumpel. Er war ihr Boss.

Mit einem Mal stand ein junger Typ mit einer Sonnenbrille und in einem Sweatshirt, dessen Kapuze er sich in die Stirn gezogen hatte, vor ihr. „Kann ich dir helfen?“

„Nein, danke“, antwortete Zoe freundlich, aber entschieden. Der Typ war ihr in seiner Aufmachung nicht geheuer. Zielstrebig eilte sie zum Hauseingang und klingelte bei Apartment C.

Er folgte ihr. „Bist du ein Model?“

Zoe antwortete nicht. Stattdessen klingelte sie ein zweites Mal.

„So wie du aussiehst, bist du bestimmt ein Model.“

„Nein, du irrst dich.“ Zoe warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er mochte Mitte zwanzig sein, war kräftig gebaut, hatte eine gerade Nase und einen schmalen Mund. Unter der Kapuze ragten ein paar blonde Haarsträhnen hervor. Seine Augen konnte Zoe nicht sehen, die Sonnenbrille war zu dunkel.

„Du lügst“, sagte der Typ mit aggressivem Unterton. „Du bist ein Model! Ich weiß, dass die neuen Mädchen von ‚Model Inc.‘ hier wohnen. In welchem Stock ist euer Apartment? Im zweiten? Im vierten?“

„Lass mich in Ruhe! Ich weiß nicht, wovon du sprichst!“, rief sie, blockierte ihm die Sicht auf die Klingelschilder und klingelte bei Apartment C Sturm.

„Wie sprichst du denn mit mir?!“, fuhr er sie an. „Hältst dich wohl für was Besseres?“ Er packte sie am Arm.

Zoe schrie. „Lass mich los! Ich rufe die Polizei!“

„Dazu kommst du nicht mehr!“, sagte er, mit einem Mal in ruhigem Ton.

In dem Moment wurde die Tür geöffnet. Zoe fuhr herum und schlug blindlings mit ihrer Reisetasche nach dem Kerl, der sie belästigte. Zum Glück ließ er sie los, um die Schläge abzuwehren. Die Gelegenheit nutzte Zoe geschickt und sprang in den Flur. Als sie die Eingangstür hinter sich zuschlagen wollte, stellte der Typ einen Fuß in den Türrahmen. Geistesgegenwärtig trat Zoe ihm gegen das Schienbein. Er gab einen ächzenden Laut von sich und zog seinen Fuß zurück. Blitzschnell schlug Zoe die Tür zu.

Sie lehnte sich von innen dagegen. Ihr Herz raste, während sie den Fremden vor dem Hauseingang fluchen hörte.

„Ich krieg dich noch, du kleines Miststück!“, stieß er wütend hervor.

Zoe wich von der Tür zurück.

„Hast du einen Geist gesehen?“

Irritert blickte Zoe in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Am Ende des Flurs entdeckte sie die offen stehende Aufzugskabine, in der eine sehr junge, sehr schöne und sehr große Frau stand und ihr zulächelte.

„Von wegen Geist!“ Zoe eilte auf sie zu. „Vor der Tür hat mich ein äußerst realer Typ attackiert! Er hat versucht, mich über die Model-WG auszufragen. Dann hat er mich angegriffen und wollte ins Haus eindringen!“

„Entspann dich. Das ist halb so wild. Und du bist ihn ja losgeworden. Der Typ ist einer von vielen. Es gibt halt eine Menge Männer, die scharf auf uns sind und unbedingt ein Model zur Freundin haben wollen. Du wirst dich dran gewöhnen. Ich bin übrigens Phoebe“, erwiderte sie gelassen und gab Zoe zur Begrüßung einen Kuss auf die rechte und dann auf ihre linke Wange.

„Ich will mich aber nicht an solche … solche kranken Kerle gewöhnen!“, protestierte Zoe aufgewühlt.

„Das gehört leider zum Beruf“, antwortete Phoebe und zog Zoe in die Aufzugskabine. „Ignorier sie. Und wenn so einer noch mal aufdringlich wird, sag David Bescheid. Er besorgt dir einen Bodyguard oder eine andere Unterkunft.“ Phoebe strich sich das lange rote Haar mit einer eleganten Bewegung zurück und drückte den Knopf für den vierten Stock. „Wir sind hier in New York“, fügte sie hinzu, als erklärte das alles.

Zoe sah sie mit großen Augen an. Wie souverän Phoebe mit der Situation umging! Dagegen kam sie sich wie ein naives Landei vor, das beim ersten Problem in Panik geriet. Schnell wechselte sie das Thema. „Ähm, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Zoe.“

„Ich weiß. David hat sein ‚California Girl‘ schon angekündigt.“ Phoebe lehnte sich lächelnd an die Metallwand der Fahrstuhlkabine und musterte Zoe unverhohlen neugierig von oben bis unten. „Jackie wird ausflippen, wenn sie dich sieht“, stellte sie schließlich fest. „Sie hat Blondinen zu ihren Erzfeindinnen erklärt. Und du bist ein Prototyp-Blondie.“

„Was soll das denn heißen? Prototyp-Blondie?“, forschte Zoe nach.

„Das weißt du nicht?“, meinte Phoebe überrascht. „Hast du zu Hause die Spiegel verhängt? Du siehst aus wie Barbie. Der Traum aller Männer und das Lieblingsgirlie der Modeindustrie.“

„Ach, das ist doch Blödsinn!“ Verschämt senkte sie den Blick. Sie hatte bisher nie viel Aufheben um ihr Aussehen gemacht. Natürlich wusste sie, dass sie hübsch war. In Barstow hatte sie sich vor Verehrern kaum retten können. Und ein Jahr nach ihrem Highschoolabschluss war sie beim großen Footballspiel zur Homecoming Queen gekürt worden. Aber Zoe war der Meinung, dass schon Schönere als sie gestorben waren. Dass sie nun in New York war und die ersten Schritte auf dem Weg zur Modelkarriere machte, hielt sie im Grunde immer noch für ein Versehen.

„Wir sind da“, sagte Phoebe plötzlich und schob Zoe durch die offene Aufzugtür direkt in das Model-Apartment.

„Wow!“, rief Zoe wenig später, als sie die moderne und elegant eingerichtete Wohnung sah. Hier war alles vom Feinsten. Weißer Teppich, beige Designermöbel, Andy-Warhol-Bilder an den Wänden … „Sind die echt?“, fragte Zoe und berührte vorsichtig die Pop-Art-Gemälde.

„Ja“, erwiderte Phoebe. „David ist überzeugt, dass eine edle Umgebung sich positiv auf uns auswirkt. Dass wir ein anderes Stilempfinden bekommen. Ich glaube allerdings, das ist Quatsch! David will nur mit seinem Geld angeben und Eindruck schinden. Man weiß ja nie, wer mal zu Besuch kommt.“ Phoebe lachte.

Zoe lächelte. Sie mochte Phoebes freche Art. „Wie viele Models wohnen hier?“

„Du, ich und Jackie.“

„Und wer ist Jackie?“

„Ich“, antwortete eine ebenso sinnliche wie herrische Stimme.

Zoe fuhr herum und blickte in die grünblauen Mandelaugen einer exotischen Schönheit. Jackie erinnerte sie an Prinzessin Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht. Sie hatte langes schwarzes Haar und für ein Model viele Kurven, was ihr eine sexy Ausstrahlung verlieh. Sie sah heiß aus. Das hätte zumindest Cassidy gesagt, wenn er Jackie gesehen hätte. Und an ihrem Gesichtsausdruck erkannte Zoe, dass Jackie sich ihres Aussehens durchaus bewusst war.

Kühl musterte sie Zoe, verzog schließlich geringschätzig den Mund und meinte: „Blond ist so was von out. Wo hatte David nur seine Augen, als er sich für dich entschieden hat?“ Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging in den hinteren Teil des Apartments.

Sprachlos sah Zoe ihr nach. So war sie noch nie begrüßt worden. Sie spürte, dass ihr die Wangen glühten, nachdem sie die beleidigenden Worte gehört hatte. Und Zoe ärgerte sich maßlos, weil ihr keine schlagfertige Antwort eingefallen war. Manchmal hasste sie sich für ihre Zurückhaltung und Höflichkeit.

„Lass dich von ihr nicht beeindrucken“, murmelte Phoebe. „Jackie ist einfach anstrengend und zickig. Sie will unbedingt die Nummer eins bei ‚Model Inc.‘ werden. Und dafür geht sie über Leichen. Sie hasst jede Konkurrentin und versucht, sie mit fiesen Sprüchen einzuschüchtern. Sieh es so: Eigentlich hat sie dir gerade ein Kompliment gemacht. Sie findet dich schön und hat Angst, du könntest ihr die Jobs wegschnappen.“

„Du hast gut reden.“ Zoe spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Mit Bosheit hatte sie noch nie umgehen können. Und wie sollte sie das Prada-Shooting meistern, wenn sie bei jeder Kleinigkeit die Beherrschung verlor? Allein, weit weg von ihrer Mutter und ihren Freunden fühlte sie sich sehr verletzlich.

„Nicht doch.“ Phoebe nahm sie in den Arm. „Keine Tränen! Nicht wegen Jackie! Komm, ich bring dich in dein Zimmer.“

„Normalerweise weine ich nicht so schnell. Aber …“ Zoe brach ab und schluckte hart.

„Hey, du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe die erste Woche in New York auch Rotz und Wasser geheult. Und das, ohne dass Jackie mir doof gekommen wäre. Ich habe mein altes Leben in unserem Dorf in Mississippi vermisst und mich total einsam und überfordert gefühlt. Das vergeht. Glaub mir. Und wenn es ganz schlimm wird, kannst du immer zu mir kommen. Okay?“

„Danke, du bist echt nett.“

„Ach, Quatsch! Ich bin nur froh, dass endlich jemand Sympathisches hier einzieht, und ich mich nicht mehr mit Jackie abgeben muss.“

„Hat sie dich auch so fertiggemacht?“

„Sie hat’s versucht.“

„Und?“

Phoebe lächelte verschmitzt und ballte die Hand zur Faust. „Ich habe ihr Prügel angedroht.“

Zoe lachte. „Das wirkt?“

„Und wie! Jackie hat vor nichts mehr Angst, als dass sie sich die Optik ruiniert.“

Erleichtert stellte Zoe ihre Reisetasche ab. Jetzt waren ihre Tränen wieder fort.

„Lass uns von was anderem reden. Jackie ist keinen zweiten Gedanken wert. Sieh dir lieber dein neues Reich an!“

Kurz darauf stieß Phoebe die Tür zu Zoes Zimmer auf – einem Traum aus dezentem Rosa und Weiß.

„David weiß, wovon Mädchen träumen!“, rief Zoe und sprang auf das romantische Himmelbett.

„Allerdings“, erwiderte Phoebe und warf sich neben sie auf die weiche Tagesdecke. „Aber alles hat seinen Preis. David verwöhnt uns. Doch dafür erwartet er Höchstleistungen. Und wenn du nicht spurst …“ Phoebe schnippte mit den Fingern. „… bist du von heute auf morgen weg.“

Sie lachte. „Ach, Zoe, jetzt guck nicht so entsetzt! Du schaffst das schon. Pass auf! Ich verrate dir, wie es bei ‚Model Inc.‘ läuft …“

Phoebe stützte die Ellenbogen auf und sah Zoe ernst an. „Also, ich erkläre dir jetzt Dos und Don’ts von ‚Model Inc.‘“

Erst als Zoe den Löffel in die Müslischale gelegt hatte, fuhr Phoebe fort: „Erstens: David erwartet Disziplin. Das heißt, wir müssen unser Gewicht halten und auf unsere Ernährung achten. Sport treiben.“

Sie lächelte. „Das bedeutet: Ausgehen ja, ausflippen nein! Ein ‚Model Inc.‘-Girl sollen die Leser auf dem Cover einer Zeitung, nicht in den Klatschspalten sehen – außer es ist der Agentur zuträglich. So sagt David es immer.“

Zoe lächelte. „Klingt nachvollziehbar.“

„Gut. Zweitens ist Pünktlichkeit bei Terminen ein unabdingliches Muss, genauso wie gutes Benehmen und freundliches Auftreten. Egal wie schlecht du gelaunt bist, auf dem Laufsteg oder beim Shooting musst du lächeln.“

Obwohl Zoe nicht sicher war, ob ihr das gelingen würde, hielt sie Phoebes eindringlichem Blick stand.

„Drittens: Gemacht wird, was David sagt. Wenn er entscheidet, dass dein Look zu langweilig ist, wird dein Aussehen nach seinem Gutdünken geändert. Widerworte gegen eine Kurzhaarfrisur oder ein komplett anderes Styling duldet er nicht.“

„Okay.“ Zoe stand auf, stellte das Geschirr in die Spüle und ging ins Bad.

Als sie vor dem Spiegel stand, bereitete sie sich innerlich auf ihren ersten Auftrag vor. Und während sie sich anzog, dachte sie an die Telefonate, die sie am vorherigen Abend mit ihrer Mom und ihren Freunden geführt hatte. Sie hatten ihr Mut zugesprochen und sie wieder aufgebaut. Nachdem Zoe ihrer Mutter von dem Gespräch mit Jackie erzählt hatte, hatte ihre Mutter ihr eingeschärft, sich nicht schikanieren zu lassen. Sie sollte sich wehren. Aber wenn ihr die arroganten Model-Miezen – Zoe musste lächeln, als sie sich an die Formulierung ihrer Mutter erinnerte – zu viel wurden, könnte sie jederzeit nach Hause zurückkehren. Ihre Mom hatte bestimmt fünfmal gesagt, sie wäre auch stolz auf ihre Tochter, wenn sie kein Topmodel wurde.

Megan war am Telefon richtig wütend geworden. „Ich fliege sofort nach New York und lese der dummen Kuh die Leviten, und zwar in Landmädchenmanier“, hatte sie gesagt. Zoe wusste, was Megan damit meinte.

Cassidy und Jason hatten ihr auch gezeigt, dass sie auf ihrer Seite standen. Cassidy hatte sofort angeboten, den Job als ihren Bodyguard zu übernehmen und dem aufdringlichen Model-Verehrer eine Lektion zu erteilen. Und Jason hatte Zoe geraten, einfach nicht hinzuhören und sich ein dickes Fell zuzulegen. Von Jackies Sorte würde sie bestimmt noch eine Menge Frauen kennenlernen. Doch von solchen Nichtigkeiten sollte Zoe sich nicht ablenken lassen, sondern an ihre Karriere denken. Und was den Widerling vor dem Apartmentgebäude betraf, sollte sie die Polizei informieren, wenn der Kerl ihr noch einmal auflauerte.

Zoe betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel und lächelte. Ich schaffe das, dachte sie. Sie warf einen letzten prüfenden Blick auf ihr Outfit, dann fuhr sie mit Phoebe im Taxi zum Shooting.

„Wieso ist Jackie denn auch hier?“, fragte Zoe erstaunt, als sie an Phoebes Seite das Loft in der West 14th Street betrat und ihre zweite Mitbewohnerin im Gespräch mit David und einem sehr gut aussehenden Typen sah, der ihr irgendwie bekannt vorkam.

„Wir sind alle drei gebucht. Aber Jackie ist der ‚Star‘“, murmelte Phoebe, damit Jackie sie nicht hörte. „Sie ist schon für Lagerfeld und Vivienne Westwood gelaufen und hat für Produkte von L’Oreal und Helena Rubinstein geworben. Von Prada bekommt sie eine eigene Fotostrecke, in der sie die kommende Modekollektion vorführt. Sie ist auf dem besten Weg, das neue It-Girl der Fashion-Szene zu werden. Außer es läuft ihr noch eine den Rang ab.“

Sie zuckte die Schultern. „Und diejenige bin ich nicht. Ich bin nur für ein paar Fotos vorgesehen. Was sie mit dir vorhaben, weiß ich nicht.“

„Und wieso ist Jackie nicht mit uns gefahren, wenn wir alle am gleichen Set arbeiten?“, hakte Zoe nach.

„Na, weil sie der Star ist und wir das Fußvolk – zumindest aus ihrer Sicht. Hast du mir nicht zugehört?“ Phoebe grinste Zoe frech an. „Aber nun vergiss Jackie! Hast du nicht gesehen, wer auch beim Shooting dabei ist?“ Phoebe kicherte aufgeregt und deutete auf den dunkelhaarigen Typ. „Rip Rocket!“

„Der Rockstar!“ Zoe starrte ihn an. Rip Rocket und seine Band Daredevils waren der angesagte Rock-Akt des Jahres. Sie hatten drei Songs gleichzeitig in den Charts und füllten Stadien wie den Madison Square Garden, in dem fast 20.000 Zuschauer Platz fanden. Jetzt wusste Zoe, warum er ihr so bekannt vorgekommen war. Aber in natura sah er viel besser aus als auf den Titelseiten der Zeitschriften oder im Fernsehen.

Sie konnte ihn nicht näher beobachten, denn David eilte plötzlich auf sie zu.

„Ah, Zoe! Da bist du ja.“ David führte eine äußerst attraktive und hochnäsig wirkende Mittdreißigerin mit einem schwarzen Bob-Haarschnitt und grellrot geschminkten Lippen zu ihnen. „Ich möchte dir Payton Colby vorstellen. Sie ist die Repräsentantin von Prada und verantwortlich für das heutige Shooting.“

Payton ignorierte Zoes ausgestreckte Hand und musterte sie skeptisch. Dann zog sie die Augenbrauen hoch.

Prompt wurde Zoe rot. Sie fühlte sich, als würde sie unter dem Mikroskop betrachtet werden. Und sie hasste es, wie diese arrogante Frau sie prüfend ansah. Gleichzeitig befürchtete Zoe, ihren Ansprüchen nicht zu genügen. Verunsichert schaute Zoe zur Seite – und spürte im nächsten Moment Rip Rockets Blick auf sich ruhen.

„Ganz nett“, entschied Payton Colby, nachdem sie Zoe ausgiebig begutachtet hatte. „Besser als auf dem Foto.“

Anschließend drehte sie sich um und ging auf ihren bestimmt zehn Zentimeter hohen Absätzen zurück zu dem aufgebauten Set, in dem Jackie in einem eleganten Prada-Outfit und Rip im sexy Shirt auf ihren Einsatz warteten.

Payton nickte dem Fotografen zu. Das war offenbar das Zeichen, dass das Shooting beginnen konnte.

Ein Set-Mitarbeiter stellte Musik und eine Windmaschine an. Der Fotograf brüllte: „Action, Jackie! Rip!“

Jackie posierte professionell. Ihr gelang es tatsächlich sehr gut, sexy, wild und dennoch ladylike zu wirken. Sie schlang ihre schlanken Arme und Beine um Rips durchtrainierten Körper, warf ihr schwarzes Haar zurück, sodass der künstliche Wind den Seidenstoff des edlen Kleides und ihre langen Locken aufbauschte und zu einer fließenden Einheit verschmolz.

Zoe konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Von Jackies Können war sie noch meilenweit entfernt. Und bei der bloßen Vorstellung, sich so eng an einen der schärfsten Männer der Welt schmiegen zu müssen, wurde Zoe verlegen.

Über eine Stunde posierte Jackie mit Rip für den Fotografen, wechselte Outfits, Frisur und Make-up. Während sie umgestylt wurde, wurden von Phoebe Aufnahmen gemacht. Sie führte luftige Sommerschals, Shorts und T-Shirts vor.

Ihr Auftritt unterschied sich himmelweit von Jackies. Denn Phoebe schauspielerte nicht, sondern stellte sich zur Schau. Aufmüpfig, herausfordernd und rotzfrech schaute sie in die Kamera. Ein herrlicher Kontrast zu der feinen Garderobe, fand Zoe.

In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie noch viel lernen musste. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie sich vor der Kamera als Profi geben sollte.

„Und wer bist du?“ Rips dunkle, raue Stimme riss sie aus ihren Überlegungen.

Völlig überrumpelt und von seinem guten Aussehen eingeschüchtert, stammelte sie: „Noch niemand. Ähm … Ich meine: Zoe.“ Oh nein! Wie peinlich! Warum tat sich nicht der Boden unter ihr auf und sie versank darin?

Rip lächelte und betrachtete sie mit seinen haselnussbraunen Augen. „Du bist anders als die Models, die ich sonst so kenne.“

„Ich hoffe, das ist ein Kompliment“, brachte Zoe mühsam hervor. Sie schämte sich für ihre Unbeholfenheit.

„Definitiv“, entgegnete Rip und fuhr sich mit der Hand durch das halblange hellbraune Haar. „Du strahlst so etwas Unbedarftes, Reines aus … Das ist selten. Bewahr dir das.“ Wieder lächelte er sie an.

Zoe lächelte zaghaft zurück. Wollte er sich lustig machen? Rein? Unbedarft? Hielt er sie für ein kleines Mädchen? Vermutlich. So kindisch, wie sie sich aufführte …

„Zoe!“, rief Payton Colby.

„Ich?“ Unsicher blickte Zoe sie an.

Payton verdrehte die Augen. „Wie viele Zoes gibt es denn hier noch?“

Beschämt zuckte sie zusammen.

„Entschuldige“, murmelte sie Rip zu und ging zu der Prada-Repräsentantin, die die Stylistin und den Make-up-Artist zu sich rief und Befehle erteilte.

Binnen weniger Minuten war Zoe perfekt geschminkt und trug einen beigen, körperbetonten Strickanzug, der ihre schlanke Figur betonte. Vor einem auberginefarbenen Hintergrund bat der Fotograf sie zu posieren.

Zoe zog alle Register und zeigte, was sie konnte. Sie wollte ihr tollpatschiges Verhalten wiedergutmachen, sich vor Jackie behaupten und bei Rip Eindruck schinden. Für eine blutige Anfängerin lieferte sie solide Arbeit ab, das fand sie jedenfalls. Doch Payton Colby konnte sie nicht überzeugen.

„Wo ist deine Persönlichkeit?“, fragte die Modeexpertin und zog missbilligend die Augenbrauen hoch.

Hilfesuchend sah Zoe die anderen an. David gestikulierte mit geballten Fäusten, er wollte ihr offenbar sagen, dass sie in die Vollen gehen sollte. Jackie warf ihr ein herablassendes Lächeln zu, während Phoebe sie mitfühlend betrachtete. Rip verfolgte ihren Auftritt stirnrunzelnd, und der Fotograf schien von ihr gelangweilt zu sein.

Einen Moment lang wollte Zoe am liebsten vom Set laufen und alles hinwerfen. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Was wurde von ihr erwartet?

Dann dachte sie an die traurige Zukunft, die sie in Barstow erwartete, wenn sie ihre Chance als Model vermasselte. Zoe sah schon fast Jackies triumphierende, überhebliche Miene vor sich.

Niemals! Was hatte Rip noch gesagt? Sie hatte etwas Reines, Unbedarftes. Das unterschied sie von den anderen.

„Moment! Ich bin gleich zurück“, sagte sie zu Payton und der Crew und hastete zum Schminktisch.

Dort zog sie sich bis auf ihre hohen Stöckelschuhe aus und verwischte sich den knallroten Lippenstift gekonnt, sodass es aussah, als hätte sie soeben mit jemandem geknutscht. Schnell wählte Zoe aus dem Handtaschensortiment, das als Nächstes fotografiert werden sollte, eine rote XXL-Lackledertasche aus und kehrte zum Set und den staunenden Anwesenden zurück. Sie sah niemandem in die Augen, um nicht den Mut zu verlieren, und verdrängte den Gedanken, dass Mädchenschwarm Rip Rocket jeden Millimeter ihres Körpers unverhüllt sah.

Nackt stellte sie sich vor die Kamera und bedeckte ihre Blöße mit der ultramodernen Tasche. Jetzt oder nie, dachte Zoe. Dann warf sie den Kopf zurück und blickte in einer Mischung aus Naivität und Provokation in die Linse.

Der Fotograf legte los und schoss dutzende Aufnahmen.

„Bravo!“, sagte Payton Colby, als sie die Fotos eine halbe Stunde später sah. „Du verkörperst perfekt die verführerische Unschuld vom Lande. Eins der Fotos wird der Aufmacher für unsere Frühjahr-Sommer-Kampagne! Fantastisch!“

Zoe strahlte. Sie hatte die kühle Payton für sich gewonnen. Und was sagte David?

Ihr Chef grinste über das ganze Gesicht, nickte ihr zustimmend zu und hielt beide Daumen hoch. Phoebe lief auf sie zu und schlug mit ihr ein. Wenn Blicke hätten töten können, wäre Zoe tot umgefallen, als sie Jackies funkelnde Augen sah. Aber eine andere Reaktion hätte sie auch sehr überrascht. Und es war ihr schlichtweg egal!

Besonders, als Rip Rocket lächelnd auf sie zuschlenderte und meinte: „Respekt! Das war verdammt mutig! Das hätte ich dir nicht zugetraut. Wenn ich von meiner Welttournee zurückkomme, gehen wir aus. Einverstanden?“