Kapitel 53
Käthe Brandt in ihrem Wohnzimmer wirkte wie aus dem Ohnsorg-Theater entführt. Die weißen Haare in Pusteblumenoptik, eine schimmernde Perlenkette, ein Häkeldeckchen auf dem Nussbaumtisch mit Intarsien. Kalle hatte auf ihre Redseligkeit gesetzt. »Wirklich, Marga, mit älteren Frauen kenn ich mich aus!«
»Soso«, murmelte Marga. Kalles Gesichtsfarbe wechselte von Kreidebleich nach Puterrot. Wer den Schaden hatte, brauchte bekanntlich für den Spott nicht zu sorgen. Armer Kalle. Er schien tatsächlich in Gesa verballert gewesen zu sein. Oder war er es noch? Gesas Wohnung gestern war ihm an die Nieren gegangen, das hatte Marga beobachten können. Und heute Vormittag hatte er angerufen, dass er später käme. Marga schob es auf den Unfall. Vielleicht war das aber nicht der einzige Grund gewesen. So hart es für ihn jetzt auch sein mochte, sie brauchten restlos alles an Informationen über Gesa Clasen. Oder Petra Flemming. Oder wie auch immer.
Die Wohnung in der Seniorenresidenz glich im Schnitt der von Lisbeth Hayenga. Allerdings fehlte die feuerfeste Sicherheitstür. Doch so, wie Käthe Brandt jetzt dasaß, würde sie jeden Angreifer mit ihrer Handtasche in die Flucht schlagen, da war Marga sicher.
»Ich kann uns gerne noch einen Kaffee aufbrühen, beste Bohne, frisch gemahlen …«
»Danke, Frau Brandt, Herr Bärwolff und ich sind wirklich in Eile.«
»Sie mögen doch aber ein Plätzchen, nicht wahr?« Sie hielt Kalle das silberne Schälchen unter die Nase, so dass er gar nicht anders konnte, als zuzugreifen.
»Was hat Lisbeth Hayenga über ihre Tochter erzählt? Bitte versuchen Sie, sich ganz genau zu erinnern. Es ist sehr wichtig.« Schaumgebäckpartikel segelten durch die Luft, als Kalle sprach. Schuldbewusst wischte er über die polierte Oberfläche des Tischchens, und aus den Krümeln wurden helle Streifen.
Marga grinste.
»Nur, dass sie Petra hieß. Aber das wird Ihnen nichts nützen, denn sie lebt nicht mehr.« Käthe Brandt legte die Hände in den Schoß.
»Können Sie uns etwas über das Verhältnis von Frau Hayenga zu ihrer Tochter sagen?«
Die alte Dame zog die Mundwinkel nach unten, und Marga wurde nervös. Ob Käthe Brandt als Infoschalter wirklich etwas taugte? Sie schien keine Tratschtante zu sein.
Kalle räusperte sich. »Frau Brandt, ich oder besser gesagt wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen. Sie haben mir ja schon sachdienliche Hinweise gegeben, ohne die wir uns kein so deutliches Bild von Lisbeth Hayenga hätten machen können. Uns interessiert nun aber insbesondere die Tochter. Sie könnten im Besitz weiterer wichtiger Informationen sein.«
Marga senkte die Stimme. »Quasi wie eine verdeckte Ermittlerin, Sie verstehen?«
Käthe Brandts Augen wurden glasklar, ihre Löckchen wirkten wie elektrostatisch aufgeladen. »Selbstverständlich, junge Frau, ich bin ja nicht von gestern.« Sie griff sich an die Nasenwurzel und ließ ihren Gehirnkasten durchrattern.
Kalle zeigte Marga den erhobenen Daumen, während Käthe Brandt sich konzentrierte. »Petra. Petra. Lisbeth Hayenga hatte eine hässliche Kaiserschnittnarbe von Petras Geburt, die ihren Bauch entstellte.« Käthe Brandt schüttelte den Kopf. »Sie gab doch tatsächlich dem Kind die Schuld dafür. So ein Blödsinn. Danach hatte sie bei mir jegliche Sympathie verloren. Und sie sagte noch, ihre Tochter sei ein Flittchen.« Käthe Brandt bekam zwei rote Kreise auf den Wangen. »Entschuldigen Sie, aber das waren ihre Worte.«
Kalle reichte ihr die Hand. »Frau Brandt, Sie haben uns sehr geholfen.«
Marga hob die Brauen. Echt?
Petra steht an der Gardine, die fein säuberlich in Falten gelegt ist – reinweiß, blütenfrisch –, und blickt auf die Straße. Der schmale Rücken zittert, das kann Theda erkennen, aber ihr bleibt keine Wahl. Es ist nur das Beste für Petra. Und was sollen sonst die Leute denken. »Deine Mutter wird gleich hier sein.« Thedas Stimme ist belegt.
»Sie wird mich zwingen.« Petra dreht sich zu ihrer Tante um.
Hilf mir, steht in ihren Augen. Hilf mir. Am liebsten würde Theda fortlaufen, aber ihre Füße in den schicken Schuhen sind wie einbetoniert. »Es ist das Beste so.« Theda spricht und schluckt, will nichts mehr davon hören. Das Motorengeräusch verstummt. Die Tür geht auf. Lisbeth hat zur Begrüßung ein paar saftige Ohrfeigen für ihre Tochter mitgebracht. »Du Lügnerin! Du Hure!«, zischt sie bei jedem Schlag. Theda wird heiß. Sie spürt den Kochlöffel der eigenen Mutter noch auf der Haut und schließt die Augen. Ihr Körper brennt, und überall ist Scham. Sie müssen still sein! Alle müssen still sein, und nichts wird passieren. Nichts ist passiert.
Marga und Kalle gingen hinunter ins Erdgeschoss.
»Na, so richtig weitergebracht hat uns das aber nicht.« Marga sprang die Stufen hinunter, Kalle hielt sich die kaputte Seite bei jedem Schritt. »Wir wissen jetzt, dass Lisbeth Hayenga kein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter hatte.«
Marga verzog das Gesicht. »Damit ist sie nicht allein auf der Welt.«
Kalles Blick traf Marga unvorbereitet. Ach herrje! »Trotzdem bringt der Großteil der Bevölkerung seine Mutter nicht gleich um.« Hier war weder Zeit noch Ort für einen Seelenstriptease. Sie musste sich sowieso schon die ganze Zeit beherrschen, um kein Wort über Bodos üble Vorlieben und Jettes interne Ermittlungen zu verlieren. Jette hatte sie gebeten, Kalle nichts zu sagen. Sie wollte es beizeiten selbst tun. Toll. Und Marga hatte jetzt den Salat. Auf der einen Seite war sie natürlich zu loyal, um die Quasselstrippe vom Dienst zu spielen, auf der anderen Seite fand sie es Kalle gegenüber auch nicht besonders fair, den Mund zu halten. Abgesehen davon, dass sie fast daran erstickte, mit niemandem über den Fund aus Bodos Wohnung sprechen zu dürfen. Und Jette war immer noch mit der Sichtung des Filmmaterials in Beschlag genommen. Bodo. Hart, aber herzlich. Pottsau! Zu beneiden war Jette wirklich nicht.
»Ich bin fertig.« Kalle seufzte, als sie endlich das Erdgeschoss erreicht hatten.
»Ja, sofort. Ich will nur noch mal schnell bei der Prinz nachhaken. Vielleicht weiß die mehr über Lisbeths Tochter, als wir denken.«
Im Büro von Sophia Prinz trafen sie auf eine junge Frau, die Margas Dienstausweis studierte wie ein abstraktes Gemälde. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm sie endlich ihre Lesebrille von der Nase und stellte sich vor. »Ich bin Valerie Kremers. Die neue Heimleitung.«
Marga und Kalle blickten sich an.
»Und wo ist Frau Prinz?« Marga fand als Erste die Sprache wieder.
»Frau Prinz ist von der Geschäftsführung der Elbblickresidenzen gekündigt worden, Sie müssen jetzt mit mir vorliebnehmen.«
»Wir hätten da noch einige Fragen bezüglich Lisbeth Hayenga.« Kalles Stimme klang eine Spur zu süß, und Marga hörte seine Zähne knirschen.
»Ah ja, die Dame, die ermordet worden ist. Tut mir leid, Sie müssen verstehen, dass ich dazu so gut wie gar nichts sagen kann. Ich muss mich hier erst mal gründlich einarbeiten.« Valerie lächelte, klinisch rein.
»Ach. Aber zu Joris Duncker fällt Ihnen doch sicherlich was ein.« Marga wurde krätzig.
»Wer soll das sein?«
»Der Multifunktionsboy, der hier als Altenpfleger beschäftigt war, nebenbei die Omis mit Drogen versorgt hat und außerdem als Handlanger für Lisbeth Hayenga unterwegs war.«
Valerie Kremers zog beide Augenbrauen bis zum Anschlag hoch. Dann schüttelte sie den Kopf. »Tut mir leid. Der ist hier nie beschäftigt gewesen. Sie können gerne die Personalakten durchgehen. Und bezüglich der anderen Fragen«, sie lächelte Kalle dreist ins Gesicht, »möchte ich Sie bitten, sich an die Geschäftsführung zu wenden.« Valerie kam, sah und siegte.
Und Marga und Kalle beeilten sich, dass sie nach draußen kamen. Kalle bugsierte Marga gerade noch durch die Eingangstür, dann ging ihre Contenance lautstark zu Bruch. »Was war denn das für ’ne abgebrühte Schrulle? Ich hab echt keinen Bock mehr auf den ganzen Mist. Unsereins reißt sich den Arsch auf, und wo du hinkommst, wird gelogen und gemauert. Das ist doch zum Kotzen.« Marga war stinksauer. Und voller grimmiger Entschlossenheit. »Ich würde jetzt zu gerne ins Wohnheim von Jesper fahren und dem noch mal auf den Zahn fühlen, wegen der Sache mit dem Salut.«
Kalle verdrehte die Augen. »Mensch, Marga. Das ist doch gar nicht unser Sachgebiet. Wir können uns nicht um alles kümmern.«
»Nee, können wir nicht. Aber wir können es zumindest versuchen. Kalle, das sind minderjährige Bengels, die da anschaffen gehen. Von dir als Vater hätte ich etwas mehr Mitgefühl erwartet. Und wir könnten Jesper fragen, ob er was von der Rolex weiß.« Kalle blinzelte und starrte auf seine Schuhspitzen. Dann willigte er ein. Ob sie ihn bei seiner Ehre als Vater gegriffen hatte? Ganz egal. Er kam mit, und das war gut so.
»Aber fahr langsam.« Kalle stand der Schweiß schon wieder in Perlen auf der Oberlippe.
Marga rauschte in die Wohngruppe, und Kalle humpelte in ihrer Bugwelle hinterher. Lag es an ihr oder an den männlichen Genen, dass ihre Begleiter immer schlecht zu Fuß waren? Sie fanden Jesper im Aufenthaltsraum, wo er mit Hotte über Schulaufgaben brütete. Jesper schloss sein Gesicht ab, als er Marga und Kalle sah; Hotte war freundlich. Zumindest zu Marga. »Frau Terbeek, richtig? Was kann ich für Sie tun?« Kalle übersah er einfach.
»Wir hätten noch ein paar Fragen an Jesper. Es geht um Joris. Jesper, hat dein Bruder dir mal was von einem Geschenk erzählt, das er von Lisbeth Hayenga bekommen hat?«
»Keine Ahnung, von wem der Geschenke nimmt, und ich will es auch gar nicht wissen«, knurrte Jesper, ohne den Blick von seinem Heft zu lösen.
»Es geht hier nicht nur um die Anschafferei, Jesper. Wir ermitteln in einem Mordfall.« Marga ballte die Hände zu Fäusten. Scheiße.
Hotte machte Marga ein Zeichen und ging mit ihr in den Flur.
Kalle blieb. Marga sah ihn interessiert auf Jespers binomische Formeln schauen. Hotte zog sie mit vor die Tür.
»Jesper geht es nicht besonders gut. Ich möchte nicht, dass Sie ihn weiter befragen. Ich bin mir sicher, dass er Ihnen zu seinem Bruder genauso wenig sagen kann wie ich.« Hotte sprach eindringlich. »Die Mutter der Jungen ist ins Krankenhaus eingeliefert worden, wahrscheinlich ein Suizidversuch. Wir haben Jespers Vater benachrichtigt, doch der ist in Dubai auf einer Baustelle und kann oder will nicht kommen.«
Marga gab klein bei. Es gab keinen Grund, weiter in Jespers Wunden zu pulen. Wenn sie Hottes Worten Glauben schenkte, und das tat sie, war Jesper schon gestraft genug. Vater weg, Mutter weg, Bruder inhaftiert. Hotte versprach ihr, Augen und Ohren offen zu halten. Im Aufenthaltsraum saß Kalle neben Jesper und erklärte ihm seinen Mathekram.
»Lass uns gehen.« Marga schlug Kalle freundschaftlich auf die Schulter. Sie fühlte sich mittlerweile so saft- und kraftlos wie eine ausgepresste Orange. Ihre Wut war verraucht, und zurück blieb nur Frust. Und den ollen Leihwagen musste sie auch noch bei einer Zweigstelle in Hamburg-Sonstwo abliefern. Kalle setzte sich auf den Beifahrersitz wie die Prinzessin auf der Erbse.
»Vorschlag«, sagte Marga. Kalle stöhnte nur und schlug die Hände vors Gesicht.
»Du lotst mich zu der Leihwagenfirma, wo ich die Karre abgeben muss, und ich spendier danach was zu trinken.«
Kalle lugte zwischen den Fingern durch. »Tee und Gebäck?« Seine Stimme klang dumpf.
»Neeisch! Irgendwas mit Alkohol und davon reichlich.« Keine Lösung, aber Marga war danach. Und Kalle scheinbar auch. Er hielt sich am Gurt fest und schloss die Augen. »Gib Gummi.«