Kapitel 50

Hamburg-Winterhude, Semperstraße

Kalle steckte das Handy in die Brusttasche seines Jeanshemdes und seufzte laut und noch einmal lauter. Vielleicht sollte er eine Kontaktanzeige aufgeben: Einsamer Bärwolff, vom Aussterben bedroht, sucht dich mit scharfen Eckzähnen. Gesa wollte ihn nicht. Jay hatte ihn verlassen und danach alle guten Geister sie. Marga rumpelte durch Ostfriesland. Es konnte sich nur um Tage handeln, bis sie endlich zurück in Hamburg sein würde. Und Jette rauschte wie die Linde. Die war Kalle so was von egal. Immerhin hatte er sie erreichen können. Da musste man ja schon dankbar sein. Sie hatte sich sofort auf den Weg in die Semperstraße machen wollen. Tatsächlich saß Bodo Steinhoff in Xenia Borgs Wohnzimmer. »Kalle, da bist du ja endlich.«

Bodo sah kein Stück besser aus als die Leichen der alten Omis. Guntbert hatte ausnahmsweise recht. Bodo schien seinem Job nicht mehr gewachsen zu sein.

»Muss mal an die Luft.«

»Alles klar, Bodo?«

Doch Bodo Steinhoff hatte die Tür bereits hinter sich zugezogen. Nicht dass er noch aus den Latschen kippte.

»Wenn das hier wieder eine Ihrer beknackten Tatort-Nummern ist«, Kalle trat Xenia Borg fast auf die Füße, »dann gibt es echt Ärger, ich schwöre. Rauben Sie mir nicht meine Zeit. Also?«

Xenia Borg setzte zu einer Antwort an, aber der Zombie-zwergenanwalt signalisierte ihr per Wimpernschlag, die Klappe zu halten. Er stellte sich vor seine Mandantin, die ihn um mehr als einen Kopf überragte, in Hausschlappen. Beinahe tat er Kalle leid. »Frau Borg hat etwas in ihrem Golf gefunden, das Sie interessieren wird.«

»Golf?«

»Genau, Golf. Das wissen Sie ja sicher, Herr Bärwolff. Sie sind doch von der Polizei.«

Arschloch. Xenia Borg öffnete die Schublade des antiken Sekretärs und übergab Kalle eine kleine runde Schachtel. »Bitte sehr.«

Kalle öffnete die Schachtel, eine schimmernde Murmel rollte gegen die Wand. Die Murmel war hohl mit zwei gegenüberliegenden Löchern. Das war keine Murmel. Das war eine … Glasperle.

»Diese Perle hat Frau Borg heute in aller Frühe im Seitenfach der Fahrertür gefunden, verborgen in der Falte eines Fensterwischtuchs.«

Kalles Herz polterte gegen seinen Brustkorb. Alarm. Alarm. Solange es niemand aussprach, solange war es nicht wahr, nicht wahr?

»Gesa Clasen …«

Wahr.

»… meine Mandantin ist sich sicher. Die Perle gehört zu einem Armband, ein Hochzeitsgeschenk für eine Freundin. Sie hat keinen Zweifel. Es handelt sich um mundgeblasene Blattgoldperlen aus unterschiedlichen Glassorten, von einer Künstlerin aus Spanien hergestellt. Sie sind einzigartig, unverwechselbar und sauteuer.«

Kalles Hand zitterte, die Perle rollte über den Boden der Schachtel, stieß gegen die Wand, rollte zurück, glitzerte, funkelte SOS in der Schachtel. Kalles Herz hatte aufgehört, im Dreieck zu springen, ruckelte jetzt unregelmäßig in der Brust. Wenn es nach Kalle ging, konnte es auch gleich ganz aufhören zu schlagen.

»Herr Bärwolff? Bitte schön.« Xenia Borgs Anwalt überreichte Kalle mit spitzen Fingern den Schlüssel. »Der Wagen gehörte der verstorbenen Mutter meiner Mandantin. Meine Mandantin hat ihn bereits letzten Sommer nach Hamburg überführt, weil sie ihn verkaufen sollte. Aus beruflichen Gründen musste sie das aber verschieben. Nun ja, jetzt ist der Golf vermutlich für ein Gewaltverbrechen benutzt worden. Meine Mandantin bittet Sie hochachtungsvoll um Nachsicht bei der Spurensicherung. Der Wagen hat keine tausend Kilometer drauf.«

*

Bitte nicht auch das noch. Bleich und leblos hing Bodo Steinhoff im Fahrersitz. Kalle riss die Tür auf. Bodo fiel ihm entgegen. Shit!

»Hey, Bodo.« Kalle richtete den Kollegen auf und tätschelte seine Wangen. Bodo öffnete die Augen und umklammerte das Steuerrad. »Da bist du ja endlich, Kalle.«

*
Hamburg-St. Georg, Asklepios-Klinik

In der Wartezone der Asklepios-Klinik St. Georg wischte ein Putzmann mit einem zerzausten Mopp unter den roten Plastikschalenstühlen herum und summte vor sich hin. Emma feudelte ähnlich fröhlich durch die Lande, besonders, wenn es Streit gegeben hatte. Das reinige die Seele und das bockte, wie sie sich neuerdings ausdrückte. Wo zum Teufel blieb Marga? Kalle bewegte den Kopf ganz langsam nach rechts in Richtung Eingang. Autsch und Hölle! Der Arzt in der Notaufnahme hatte von Glück im Unglück gesprochen, von einem Schutzengel, dem Kalle zu verdanken habe, dass er mit einem Schleudertrauma davongekommen und nicht wie sein Kollege auf der Intensivstation gelandet sei. Der Arzt riet Kalle von einer Halskrawatte ab. Die sei nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen so wirksam wie homöopathische Kügelchen, nämlich gar nicht. Viele Patienten bekämen durch die Krawatte erst recht sogenannte Immobilisationsschmerzen, nicht schön. Stattdessen solle Kalle seinen Nacken vorsichtig bewegen, um die Muskulatur zu beschäftigen. Auf dem Röntgenbild seien keine Risse oder Brüche an den Wirbeln zu erkennen gewesen, Kalle brauche sich keine Sorgen zu machen. Man hatte ihm ein Rezept für Schmerztabletten – nur vorsichtshalber – und eins für Physiotherapie in die Hand gedrückt. Letzteres nur, weil Kalle als Beamter privat versichert war. Marga! Am liebsten hätte Kalle laut gebrüllt. Sollte er hier Wurzeln schlagen, oder was? Normalerweise war Bodo ein umsichtiger Autofahrer. Kalle hatte sich immer gerne von ihm kutschieren lassen. Bodo fuhr defensiv, bremste lieber einmal zu viel als zu wenig. Mit Blaulicht war es flott vorangegangen. Bodo wirkte entspannt. Nicht mal fünf Minuten waren noch zu fahren gewesen bis zu Gesas Haus in der Erichstraße. Wie war dieser grässliche Unfall bloß passiert? Im Nachhinein war man immer schlauer. Es war ein Fehler gewesen, Bodo ans Steuer zu lassen. Er hatte abgewinkt, es sei nichts, und Kalle hatte ihm zu gerne geglaubt. Er hatte andere Sorgen, als sich Gedanken über Bodos Gesundheit zu machen. Gesa. Gesa. Es bewies gar nichts, dass die Perle im Golf gewesen war, falls Xenia Borg sie überhaupt dort gefunden hatte. Das war bisher nur eine dreiste Behauptung. Trotzdem hatte Kalle entschieden, keine Zeit zu verlieren. Er musste Gewissheit haben, und er musste seinen Job machen. Auf der Kennedybrücke hatte Bodo plötzlich angefangen zu quasseln. Kalle hatte zunächst nur mit halbem Ohr zugehört. Die Worte sprudelten aus Bodo heraus. Sein Redefluss überschwemmte Kalle regelrecht. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als zuzuhören. Bodo habe einen fürchterlichen Fehler gemacht, der ihn nicht mehr schlafen ließe. Seine berufliche Existenz stehe auf dem Spiel. Kalle hatte vorgeschlagen, dass Bodo sich an den Personalrat wenden solle, am besten an den Vorsitzenden oder an Kalle selbst. Da ließe sich sicher eine Lösung finden. Bodo war daraufhin über dem Steuer zusammengesackt und verlor die Kontrolle über den Wagen. Der brach auf die linke Spur aus, geriet auf die Gegenfahrbahn und streifte das entgegenkommende Fahrzeug. Der Wagen drehte sich um sich selbst und dann aufs Dach. Wirklich? Kalle konnte es nicht mit Sicherheit beschwören. Vielleicht war das nur gesponnen? Wie er aus dem Wagen herausgekommen und im Krankenhaus gelandet war, daran konnte sich Kalle nicht erinnern. Nur schwarze Nacht war dazu in seinem Hirn vorzufinden. Verdammt, Marga! Wo bleibst du?

»Entschuldigen Sie, Herr Bärwolff?«

Kalle hob behutsam den Kopf. Die Schwester war platinblond und ihre Wimpern aus Plastik. Autsch.

»Tach.«

»Würden Sie bitte so nett sein und die Angehörigen von Herrn Bodo Steinhoff benachrichtigen. Das wäre lieb.« Sie klimperte mit den Augenlidern. Holla, die Waldfee.

»Kein Problem.«

»Gute Besserung.« Ihr Hüftschwung winkte bye, bye.

Kalle betrachtete Bodos Habseligkeiten, Schlüsselbund, Brieftasche, zwei Handys. Das Display von Bodos privatem Handy leuchtete auf, nachdem Kalle auf Menü gedrückt hatte. Telefonliste: Cleanteam, Dr. Dahms, Gert, Hausverwaltung, Pizzaservice, Shakira … Mehr Einträge gab es nicht. Kalle sah auf. Verdammt, Marga! Der Putzmann verstaute den Mopp im Eimer und schob den Rollwagen mit Putzmitteln, Lappen, Müllsack und verschiedenem anderen Zeug den Gang hinunter. »Ich bau dir ein Schloss …«

Kalle steckte Bodos Sachen in die Innentasche seiner Lederjacke.