Kapitel 47
Marga hatte die Nacht überlebt, oh Wunder, die eine oder andere Stunde tief geschlafen, und der Kamillentee war auch dringeblieben. Es ging bergauf. Beim Zähneputzen säuselte ihr Handy. Ein Anruf. Es war Harm.
»Frau Lorei ist vernehmungsfähig.«
Zahncreme tropfte von Margas Zahnbürste – und ihr Magen hüpfte nach oben.
»Kann ich dabei sein?«
»Deshalb ruf ich an. Der Anwalt von der Lorei macht einen ziemlichen Wind, ich möchte nicht, dass irgendwas auf uns zurückfällt.«
»Wann soll das Ganze stattfinden?«
»Heute. Eine dienstliche Anweisung hab ich schon an den Meyer gemailt, wäre schön, wenn du dich freimachen könntest.«
Und wie sie konnte. Marga sprang wie eine Gazelle durch den Raum und packte ihre Sachen. Ihre Hose ließ sich erstaunlich leicht schließen und warf am Po Falten. Obwohl Marga keinen Hunger und erst recht keinen Bock hatte, Jette im Speisesaal über den Weg zu laufen, ging sie hinunter und frühstückte. Nach dem Telefonat mit einem säuerlichen Guntbert Meyer und einer Erklärung ihrerseits war sie für die nächsten Tage vom Hamburger Einsatzplan gestrichen. Xenia Borg schwamm irgendwo im spanischen Mittelmeer, um die mussten sich Jette und Kalle kümmern. Sie musste nach Hause und Annette Lorei vernehmen. Kalle. Sie wollte ihn nicht außen vor lassen und tippte seine Nummer. »Ich bin auf dem Weg nach Emden.«
»Was ist los? Bist du krank?« Er klang besorgt.
Sie klärte ihn auf.
Die Zugfahrt war öde. Marga kaute an den Fingernägeln, bis unter ihrem Sitzplatz überall weiße Fetzen lagen. Langsam kannte sie die Reihe der Bahnhöfe auswendig. In Bad Zwischenahn griff sie zum Telefon und simste Joki. bin gleich in ostfriesland. lg marga.
Kurz darauf kam eine Nachricht zurück. Ik bin tohuus. Komm nach Oldersum, Harm weiß Bescheid.
Wieso zu Hause? Marga schmiss sich genervt gegen die Rückenlehne. Dabei hatte sie so schnell wie möglich nach Aurich gewollt.
Obwohl Marga erst einmal in Oldersum bei Joki und seiner Frau Elfie gewesen war, anlässlich eines runden Geburtstags, fand Marga das Haus am Ems-Seitenkanal sofort wieder. Elfie öffnete ihr die Tür und war freundlich wie immer. Im Wohnzimmer thronte Joki auf dem Sofa im mausgrauen Hausanzug mit Bügelfalte. Er sah fast so sportlich aus wie auf dem rotstichigen Foto in seinem Arbeitszimmer, das ihn als aktiven Handballer beim F. C. Oldersum zeigte. Zwar schon mit Glatze, aber ganz schön schnittig.
»Was ist denn los?«
»Hör bloß auf.« Joki gab die Heulsuse. »Mein Knie bringt mich fast um. Ich bin krankgeschrieben, und der Doc hat gesagt, ich muss in Kürze operiert werden.«
»Oha.«
Elfie brachte Tee und gebuttertes Rosinenbrot. Marga hätte sie knutschen können, sie kam fast um vor Hunger.
»Marga, und nu guck ihn dir an: een Kerl as ’n Boom und schkitt sich vor Angst fast inne Büx.« Elfie nahm kein Blatt vor den Mund: »Lass dir gefälligst einen Termin für dein Knie geben, Johann Flessner!«
Jokis Wangen waren aschfahl, als Elfie den Raum verließ.
»Komm schon, Joki«, versuchte Marga ihn zu beruhigen, »nach der Operation hast du bestimmt keine Schmerzen mehr.«
Jokis Gesicht verfinsterte sich. »Das befürchte ich auch. Weil sie mich mit den Füßen zuerst raustragen.« Er trank seinen Tee. Das Rosinenbrot sah in seiner Hand zierlich aus wie ein Eierplätzchen. Er wirkte nachdenklich. »Ich merk schon seit ein paar Monaten, dass es so nicht mehr weitergeht. Ich hatte aber gehofft, mich bis zur Pension durchzumogeln. Tja, war wohl ’n Satz mit x. Scheiß Arthrose. Ich habe schon mit Harm gesprochen. Und mit Elfie natürlich.«
Natürlich. Marga konnte sich nur schwer vorstellen, dass in diesem Haus etwas ohne Elfies Wissen passierte.
»Für mich ist Schluss, Marga. Ich bin nu über sechzig, ich will noch was vom Leben haben, was nicht mit meiner Arbeit verbunden ist.«
Für Marga sprach er in Rätseln. Joki war Kriminalist durch und durch. Mit gutem Spürsinn und Bauchgefühl. Alles an ihm war untrennbar mit seinem Beruf verbunden. Er konnte doch nicht einfach …
»Ich lass mich vorzeitig pensionieren. Und mein Knie reparieren, dann Reha und dann mit Elfie ab durch die Mitte.«
Doch, er konnte. Marga schluckte. Das waren tatsächlich Neuigkeiten. »Da bin ich aber platt.«
»Ich auch.« Joki prostete ihr mit seiner Teetasse zu. »Ich wollte es dir gerne selbst sagen. Betrifft dich ja auch. Ist alles nich mehr so dolle gelaufen in der letzten Zeit.«
Treffer – versenkt. In der Tat hatte Marga die letzten Monate oft zurückstecken müssen, weil Joki verdammt schlecht zu Fuß unterwegs war. Richtige Sesselpupser waren sie geworden.
»Aber wegen mir brauchst du nicht aufzuhören.«
»Neeisch! Der Zeitpunkt ist zwar ein unfreiwilliger, aber die Entscheidung is in meinem eigenen dicken Kopp gereift, Marga. Ik bin wirklich gespannt, was es auf der Welt noch zu sehen gibt außer meinem eigenen Gartenzaun.« Er grinste.
Obwohl sie seine Unbeweglichkeit oft verflucht hatte, fand Marga Jokis Entschluss schade. Nun müsste sie sich auf ihren eigenen Bauch verlassen. Sie nahm noch ein Stück Rosinenbrot.
»Aber nun erzähl du«, forderte Joki sie auf, »was gibt es für Neuigkeiten in Hamburg?«
Marga fasste alles zusammen, was es in den letzten Tagen an Neuigkeiten in der SOKO Hayenga gegeben hatte.
Joki rieb sich das Kinn. »So richtig schlau werd ich aus dem Fall nicht.«
Marga ließ die Kluntjereste in der Tasse kreisen. »Ich für meinen Teil setze voll auf die Vernehmung von der Lorei.«
Jokis Mundwinkel gingen nach unten. »Ich weiß nicht, Margarethe.«
Annette Lorei sah wesentlich besser aus als bei ihrem letzten Treffen, aber das war auch kein Kunststück. Sie trug einen grauen Pullover mit Schalkragen. Ein buntes Nicki-Tuch verdeckte die Verletzungen an ihrem Hals. Der Anwalt der Lorei, ein markanter Typ mit Dreitagebart, erhob sich und begrüßte Marga mit einem festen Händedruck.
»Ich möchte betonen, dass es Frau Loreis Pflichtbewusstsein und gutem Willen anzurechnen ist, dass wir heute schon aufeinandertreffen. Aus ärztlicher Sicht hätten wir gut noch eine Woche warten können, zumal Frau Lorei sich nur langsam von den Schrecken der vergangenen Tage erholt.«
Marga versuchte, seinen gönnerhaften Ton zu ignorieren, und bemühte sich um Sachlichkeit.
»Wäre Frau Lorei nicht mit einem Kopfsprung in die Scheibe getaucht, hätte die Vernehmung zum Mord an Frau Hayenga schon wesentlich eher stattfinden können.«
Harm hatte einen Pokerblick. Nur seine Nasenflügel blähten sich auf, als hätte er etwas Unappetitliches gerochen. Der Anwalt richtete sich auf. »Ich muss doch sehr bitten. Behalten Sie Ihre Spekulationen für sich. Von einer Beamtin in Ihrer Stellung dürfte man etwas mehr Professionalität erwarten. Und ich finde es sehr befremdlich, dass Sie Ihren rücksichtslosen Kurs beibehalten, nach allem, was Sie damit angerichtet haben.«
Hallo? Jemand zu Hause? Nach allem, was sie, Marga, angerichtet hatte? Ging’s noch? Marga schoss zurück.
»Frau Lorei war eine Tatverdächtige im Mordfall Neehuis. Sie hat das Opfer sediert, das kurze Zeit später verschwand und am Tag darauf tot aufgefunden wurde. In ihrer Obhut befanden sich weitere Frauen, für deren Sicherheit ich zu dem Zeitpunkt nicht garantieren konnte. Im Gegenteil. Es bestand ein dringender Tatverdacht gegen Frau Lorei. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.« Marga spürte, wie die Wut ihr rot den Hals hochkrabbelte. Harm machte unter der Tischplatte Zeichen mit der flachen Hand: Bleib ruhig, Margarethe.
Sie gab sich alle Mühe.
»Nun werden Sie doch nicht albern. Der dringende Tatverdacht war lächerlich und keinen Moment haltbar. Meine Mandantin war zu jeder Zeit um das Wohl von Frau Neehuis bemüht. Und das seit Jahren. Sie hat exzellente Referenzen aus ihrer Arbeit in der Altenpflege und versteht sich mit den Angehörigen der Verstorbenen bis heute ausgezeichnet. Und dann erscheinen Sie auf der Bildfläche und zerstören in wenigen Minuten alles, was sich das Ehepaar in jahrelanger Arbeit aufgebaut hat. Und warum? Weil Sie mit Ihren unüberlegten Verdächtigungen weit über das Ziel hinausschießen.«
Marga beugte sich vor. Am liebsten hätte sie die Zähne gefletscht. »Es ist ein Mord geschehen, darf ich Sie daran erinnern? Frau Neehuis ist das Opfer von brutaler Gewalt geworden, Frau Lorei gehört als Bezugsperson automatisch zum Kreis der Verdächtigen. Und Frau Lorei hat erwiesenermaßen das Opfer kurz vor seinem Tod mit Medikamenten sediert. Und nach ihrer begründeten Festnahme hat sie versucht, sich selbst zu verletzen – und hat sich damit in Lebensgefahr gebracht. Egal, wie Sie es mit dem Tatverdacht halten, den Sprung in die Scheibe sehe ich persönlich als eindeutiges Schuldeingeständnis.«
Der Anwalt lehnte sich behaglich zurück. »Nun kommen Sie mal runter. Es gibt genügend Mediziner, die an einer Verabreichung eines leichten Beruhigungsmittels bei dementen Personen keinen Anstoß nehmen. Das bekommen Sie auf Wunsch auch schriftlich. Außerdem kann von Selbstverletzung keine Rede sein. Frau Lorei ist gestürzt und unglücklich gefallen. Sie hatte einen Schwächeanfall, für den Sie und Ihr unangemessenes Verhalten die Verantwortung tragen. Wir behalten uns rechtliche Schritte gegen Sie vor.«
Marga lachte auf. Frau Lorei spielte das Bambi, und Harm schüttelte den Kopf.
»Meine Herrschaften, das führt doch zu nichts. Wir befinden uns hier nicht in einem Theater-Workshop.« Harms Blick war fest, Naturstein im Block. »Es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie rechtliche Schritte gegen wen auch immer einleiten wollen. Fakt ist, es ist ein Mord geschehen im Umfeld von Frau Lorei, und zu diesem wird sie vernommen. Ich möchte betonen, dass ich als Polizist genau wie meine Kollegin gehandelt hätte. Frau Lorei hat sich durch das eigenmächtige Hantieren mit dem Sedativum äußerst verdächtig gemacht. Den Unfall kann man deuten, wie man will, der steht heute nicht zur Debatte. Ich verbitte mir da ebenfalls Spekulationen. Frau Lorei war bei Kräften und psychisch bis dato unauffällig. Ich kann und werde Frau Terbeek da keinen Vorwurf machen.«
Marga war sicher, mit der Festnahme korrekt gehandelt zu haben – obwohl ihr Gewissen sie piekte, weil sie so siegessicher gewesen war. Und sie war zornig. Sie war auf die heimliche Medikamentengabe angesprungen wie eine Wespe auf den Pflaumenkuchen. Außerdem war sie immer noch sicher, dass die Lorei Dreck am Stecken hatte. Trotzdem dankte sie Harm fürs große Kino. Sie war froh, dass er hinter ihr stand.
Der Anwalt der Lorei rieb sich die Hände. »Gut. Dann lassen wir jetzt den Vorhang fallen. Da laut Staatsanwalt gegen meine Mandantin im Mordfall Neehuis kein hinreichender Tatverdacht besteht, werden Frau Lorei und ich uns jetzt verabschieden. Außerdem wird Frau Lorei hinsichtlich weiterer Ermittlungen gegen ihre Person von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen. Ein entsprechendes Schriftstück habe ich vorbereitet. In doppelter Ausführung.«
Harm unterschrieb den Wisch nach kurzer Prüfung und erhob sich. Der Anwalt knöpfte sein Sakko zu, grüßte knapp und schob die stetig schweigende Lorei nach draußen.
»Und du willst sie einfach so gehen lassen?« Marga starrte Harm an und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
»Ich habe keine Wahl.« Harm stützte sich auf seine Stuhllehne. »Man muss auch wissen, wann’s gut ist, Margarethe. An diesem Punkt kommen wir nicht weiter.«
»Weil der blasierte Anwalt uns in die Schranken weist?« Margas Lippen waren weiß und blutleer. Harm sah sie an. »Weil wir uns an die Fakten und die Rechtsgrundlagen halten müssen. Hast du nicht mit Joki gesprochen? Warum bist du dir so sicher, dass die Lorei Theda Neehuis ermordet hat?«
»Es war eine Beziehungstat, da bin ich mir sicher. Und der Täter stammt aus ihrem Umfeld.« Marga ballte die Hände zu Fäusten. Andererseits war da noch diese Bullifahrerin. Marga war am Ende.
Harm schüttelte den Kopf. »Ab ins Wochenende, Margarethe. Ruh dich aus und leg die Beine hoch. Dein Dauerlauf nützt gar nichts, wenn du in die falsche Richtung rennst.«
Marga wollte etwas erwidern, doch er kam ihr zuvor.
»Keine Widerrede. Und iss was. Du siehst aus wie ein Handstock mit Plünnen.«
Nach Dienstschluss fuhr Marga nach Emden. In einem Supermarkt an der alten Molkerei kaufte sie Brot und Käse, Saft, Tomaten und eine Prinzenrolle. Handstock mit Plünnen. Was fiel Harm eigentlich ein? Nur weil er vom Alter her ihr Vater sein konnte, brauchte er sich noch lange nicht wie einer aufführen. Und iss was. Frechheit. Sie bog in die Bolardusstraße ein. Bei Peter war alles dunkel. Mist. Sie war zwar erleichtert, Peter erst mal nicht unter die Augen zu kommen, wollte Ludger aber unbedingt mit nach Hause nehmen. Der dicke Kerl. Er war bestimmt schon völlig entfremdet. Durch ein ausgeklügeltes Einbahnstraßensystem war Marga gezwungen, zu ihrer Wohnung einmal um den kompletten Pudding zu fahren. Einem inneren Drang folgend, fuhr sie plötzlich wieder stadtauswärts Richtung Harsweg. Dann Richtung Hinte und über die Dörfer. In der Dunkelheit flogen einzelne Baumschatten an ihr vorbei, und das Auto fraß einen weißen Mittelstreifen nach dem anderen. Osterhusen, Cirkwehrum, danach kam Uttum. Sie war seit der Befragung von Derk Kampmann nicht mehr in Uttum gewesen. Es schien Lichtjahre her zu sein. Sie parkte ihren Wagen am Dorfrand, kramte im Kofferraum nach einer Taschenlampe und ging zu Fuß an der Landstraße entlang. Ganz geheuer war ihr das nicht. Ein unaufmerksamer Autofahrer, und sie würde als Pizza Margarethe auf dem Asphalt enden. Das Gelände um das alte Arbeiterhaus war wieder freigegeben. Marga leuchtete ins Dickicht und fand den Bau nach ein paar unwegsamen und feuchten Metern. Hier hatte Theda ihre letzten Stunden verbracht. Marga lief es kalt über den Rücken, als sie in den Schuppen leuchtete. Nichts deutete auf Thedas gewaltsames Ende hin. Hatte sie gespürt, dass sie erstickte? Oder war sie durch das Beruhigungsmittel einfach eingeschlafen und hatte ihren krassen Abgang verpennt? Gerade noch Rosenkohl mit Mehlschwitze, dann plötzlich im Büßerhemd auf der himmlischen Showbühne. Marga hatte keinen Plan. Theda hatte im Leben wie im Tod keine Antworten für sie hinterlassen. Zurück an der Landstraße lief sie wie automatisch den Weg hinein ins Hammrich auf den Hof von Derk Kampmann zu. Dort war Theda geboren. Die Entfernung war Marga bei Tageslicht geringer vorgekommen, ihre Taschenlampe warf kleine Lichtbögen vor und zurück. Hoffentlich würden die Batterien halten. In den Entwässerungsgräben am Straßenrand stand das Schilf mannshoch. Die Luft war feucht, aber kalt und würzig. Marga maschierte stramm durch, niemand begegnete ihr. Der ehemalige Hayenga-Hof lag still und düster da. Eine Funzel über dem Stalleingang gab ein trübes Licht. Derk Kampmann war nirgends zu sehen. Der Wohntrakt war genauso dunkel, auch dort brannte nur die Außenbeleuchtung. Marga umrundete den Hof auf einem schmalen, geklinkerten Weg. An der Stirn des Gebäudes standen uralte Kopflinden. Sie spähte neugierig durch eines der Fenster. Es schien die Küche zu sein, zumindest konnte sie den Umriss eines alten Stangenofens ausmachen. Aus dem Inneren des Hauses meldete sich der heisere Jagdhund. Marga hielt die Luft an. Hoffentlich ließ niemand den Hund nach draußen. Doch nichts rührte sich. Ihr Herz hatte einen Zahn zugelegt. Derk Kampmann war augenscheinlich nicht zu Hause, und das war auch gut so, denn Marga hatte keinen blassen Schimmer, wie sie ihm erklären sollte, warum sie um sein Haus schlich und durch die Fenster schaute. Im Gebüsch neben ihr raschelte es. Marga schwenkte die Taschenlampe, und zwei gelbe Blitze schossen auf sie zu. Dann fauchte es, und Margas Nackenhaare stellten sich auf.
Der Teig ist weich und warm, schmeckt nach Hefe und klebt, wenn Theda ihn von der Fingerspitze lutscht. Lisbeth lächelt und zwinkert der Schwester zu. Die Mutter backt Brot, und die Laibe stehen zum Gehen auf einem großen Holzbrett nah am Stangenofen. Es ist schon dunkel und Mutter noch nicht fertig. Sie wird immer langsamer und muss sich oft den Rücken halten. Mit dem Kochlöffel haut sie nach Thedas und Lisbeths Händen. »Finger aus dem Teig!« Mutter trifft nicht, und Lisbeth lacht sie aus.
»Das kommt, weil du so dick bist. So dick wie Grete kurz vorm Kalben!«
Das war frech, was Lisbeth gesagt hat, findet Theda und guckt zu Boden. Und dann sagt Lisbeth noch: »Wenn Vater dich so sehen könnte.«
Lisbeth weiß doch, dass der Vater nicht da ist, weil er das Land verteidigen muss. Theda mag sich gar nicht mehr bewegen, als auch noch die große Kumme, in der Mutter die Brote formt, auf den Dielen landet.
»Ab in die Kammer«, sagt Mutter, und Theda kriegt Angst.
Ihr wäre es lieber gewesen, Lisbeth hätte ordentlich eins mit dem Löffel bekommen.
Lisbeths Mund ist ganz schmal, als sie ihre Zöpfe löst und sich das Haar bürstet. Anschließend bürstet sie auch Thedas Haar.
»Au, Lisbeth! Nicht so doll.« Dann ist Theda still, weil Lisbeth sonst nur noch fester bürsten würde. Die Mädchen krabbeln zusammen ins Bett, und der dicke Kater legt sich wie ein warmer Pelz am Fußende auf die Decke und schnurrt.
Theda hört die Stalltür schlagen, der Onkel kommt ins Haus. Sie zieht die Decke höher und hofft. Doch seine Stimme in der Küche wird laut, bis die Holzdielen es kreischen: »Er kommt!« Der Kater kann ihn auch nicht leiden, springt herunter und faucht, als der Onkel vorm Bett steht. Ein Tritt, und das Tier fliegt wie ein Vogel, nur nicht so schön.
Erst zieht der Onkel seinen Gürtel aus der Hose, dann Theda aus dem Bett. Scharf brennt seine Hand auf ihrer Wange, vom Schlag dreht sich alles vor ihren Augen. Er schickt sie raus, und sie macht, dass sie davonkommt. Und bevor er die Tür schließt, sieht Theda Lisbeth steif und trotzig im Bett sitzen, die Haare umwallen sie wie ein Vorhang, hoffentlich zieht sie ihn zu. Theda rennt im Hemdchen in die Küche. Sie will es nicht hören, ihr Gesicht wird immer heißer. Wo ist die Mutter? Sie rennt durch die Küche in die Milchküche und aus dem Haus. Sie hält sich die Ohren zu und rennt und rennt.
Ein schwarzer Kater sprintete an Marga vorbei, und ihr Herz flog an einem Gummiband nach unten und wieder hoch. Marga schluckte. Was zum Teufel tat sie hier überhaupt? Sie drehte sich um und ging schnurstracks zurück, von wo sie gekommen war. Am liebsten wäre sie gerannt. Erst kurz vor dem Auto konnte sie erleichtert aufatmen und das ungute Gefühl abschütteln, das sich an ihr festgekrallt hatte wie eine eiskalte Hand. Hinten im Genick.
Das Wiedersehen mit Ludger fand erst am nächsten Tag statt. Ludger freute sich riesig, Marga zu sehen. Peter bat sie herein, doch Marga lehnte ab. »Ich muss erst mal ’ne Runde laufen, bisschen den Kopf freikriegen und so.«
Peter hatte Verständnis. Wie immer.
»Hast du später vielleicht Zeit für eine Tasse Tee? Ich bin voll auf Entzug, in Hamburg trinke ich immer nur Kaffee.« Marga lächelte unbeholfen.
Peter hatte Zeit. Auch wie immer. Marga stiefelte los. Das war also geritzt. Sie war erleichtert. Keine Ahnung warum, denn letztendlich war das Treffen mit Peter nur aufgeschoben. Beim Blumenpavillon ging sie über die Holzbrücke und auf den Wall. Während des Dreißigjährigen Krieges hatte der Wall mit seinen kanonenbewehrten Zwingern Emden vor feindlichen Truppen geschützt. Heute ging hier die ganze Stadt spazieren, und der Wall musste geschützt werden. Vor Hundekacke und Altglas. Ludger trottete mal vor, mal hinter Marga. Der Hund hätte einen guten Ermittler abgegeben. Er steckte seine Nase in alles, was ihn interessierte. In Margas Wohnung war Aufräumen angesagt, und den Rest des Nachmittags verbrachte sie mit Hausarbeit und Wäschewaschen. Um fünf kam Peter zum Tee. Er hatte Butterkuchen dabei. Das Gespräch lief erst schleppend, dann wurde Marga unbefangener. Trotzdem hatte sie das Gefühl, der eine Kuss lag ihr wie ein gefährliches Wort auf der Zunge. Mit einem fetten Ausrufezeichen gleich dahinter. »Ich habe Post bekommen, von dem Jungen, der Theda Neehuis gefunden hat.«
»Was schreibt er?«
»Ihm geht es gut, er ist wieder zu Hause. Nur manchmal träumt er von der Toten.«
»Und wie geht’s dir?«, fragte Peter.
Marga wurde kribbelig. »Geht so.« Hilfe, sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, geschweige denn, was er hören wollte.
»Marga, mach dir wegen mir keinen Stress, okay?«
Zu spät, Sweet Pete. Marga musste sich wirklich überwinden.
»Ich mag dich und ich mag Ludger. Und ich mag, dass du Ludger magst. Aber mehr kann ich im Augenblick nicht sagen.«
Peter lächelte. »Völlig okay.«
Ach? Na denn. Marga lehnte sich zurück und wünschte, sie hätte was von Peters Lässigkeit.
Am Sonntag packten sie Ludger ins Auto und brausten an die Knock, den westlichsten Zipfel der Krummhörn, etwa zehn Kilometer von Emden entfernt. Hier verbreiterte sich die Ems in den Dollart, und man konnte nach Holland spucken oder rüberschwimmen. Zumindest sah es so aus. Marga ließ sich den Wind um den Kopf wehen und das Gehirn durchpusten, bis ihre Nase knallrot gefroren und ihre Gedanken frisch und leicht waren. Peter warf Stöckchen für Ludger. Marga wickelte sich fest in ihren Parka und sah ihnen zu. Völlig okay.
Die Stuhlbeine im Besprechungsraum des Präsidiums am Fischteichweg schabten über die Auslegware. Marga war aufgeregt, aber nachdem sie ins Reden gekommen war, lief alles detailliert und flüssig. Die Kollegen hörten interessiert zu. Harm klärte sie auf, dass die Überprüfung des Alibis von Derk Kampmann nichts ergeben hatte. Er war sauber, Marga hatte nichts anderes erwartet. Ebenso waren die finanziellen Verhältnisse der Rohdens durchleuchtet worden. Sie standen gut da. Ihr Haus war bereits abbezahlt, und es gab Rücklagen. Das dicke Erbe in Form von Thedas kleinem Häuschen, das von der Brandkasse mit einem Marktwert von siebzigtausend Euro veranschlagt war, zog nicht wirklich als Motiv. Außerdem waren die Rohdens zur Tatzeit in der Strandlust am Fähranleger Knock schick essen gewesen. Hochzeitstag. Als Herr Rohden anschließend vom Verschwinden seiner Tante informiert worden war, hatte er sich gleich an der Suche nach ihr beteiligt. Ferner konnten weder den Rohdens noch Derk Kampmann eine Verbindung nach Hamburg, geschweige denn zu Xenia Borg nachgewiesen werden.
»Und über die Loreis wird sich in Pewsum das Maul zerrissen. Keine der alten Damen ist ins Pflegeheim zurückgekehrt, sind alle anderswo untergekommen. Frau Lorei wird die Pflege wohl schließen müssen.« Harm sah nachdenklich aus.
»Aber doch zu Recht, Harm.« Marga runzelte ihre Brauen.
»Selbst wenn sie mit dem Tod der Neehuis nichts zu tun hat, wovon ich immer noch nicht restlos überzeugt bin, hat sie die alte Frau mit irgendwelchen Tabletten aus dem privaten Bestand vollgepumpt, damit sie ihnen nicht auf den Zeiger ging. Und das bleibt ein Vergehen, sowohl ethisch als auch juristisch. Und warum sollte Frau Lorei sonst in die Scheibe gesprungen sein? Ich empfinde das als Schuldeingeständnis.«
»Frau Lorei sagt aus, sie sei gestolpert und unglücklich gefallen.«
»Das hat der Kollege, der sie am Arm hielt, aber ganz anders gesehen.« Marga schnaufte.
»Ich weiß, Margarethe. Aber da steht Aussage gegen Aussage. Das wird im Sande verlaufen.«
War er froh darüber? Harm verzog keine Miene, als er Marga ansah. Sie konnte überhaupt nicht einschätzen, wie er dazu stand.
»Und die Angehörigen der Damen haben sich zwar von den Loreis distanziert, aber belangen will sie keiner.« Er schob seine Papiere zusammen. Thema erledigt. Für ihn war alles klar. Marga fand es zum Kotzen. Immer rein mit der Chemie. Wer aus dem Rahmen fällt, wird eingestellt. Na toll.
»Wir werden sehen, wie die Staatsanwaltschaft diesbezüglich entscheidet, wir haben die Fakten ermittelt, damit ist unsere Arbeit erledigt, und die nächste Instanz ist dran. Sonst noch was?« Harm blickte in die Runde.
Marga presste die Lippen aufeinander. Was sollte sie jetzt noch sagen? Die Kollegen erhoben sich, die Besprechung war beendet, und Marga schwamm in ihrem eigenen Frust. Würde sie hier jemals ein Bein auf den Grund bekommen? Ihre Zunge klebte pelzig am Gaumen, und sie steuerte die Teeküche an. Die Tür fehlte, sie war ausgehängt worden, es war Marga recht. Das blutige Bild von Annette Lorei im Türausschnitt war auch so aufdringlich genug. Gestolpert. Lächerlich. Harm erschien kurz nach Marga. Sie stellte den Wasserkocher an und nahm einen Becher aus dem Schrank.
»Du fährst heute wieder nach Hamburg?«
»Mein Zug geht um zwanzig nach neun.« Sie warf einen Teebeutel in den Becher und goss das kochende Wasser drüber. Vor lauter Schwung und mieser Stimmung war der Beutel samt Rückholleine in den heißen Fluten versunken. Mist.
»Du darfst es nicht persönlich nehmen, Margarethe.«
Sie hielt in der Bewegung inne. Wie jetzt? Handstock mit Plünnen? »Was meinst du?«
»Den Fall, die Ermittlungsergebnisse. Die Fakten. Nimm es nicht persönlich, das trübt den Blick. Bleib objektiv.«
Margas Kiefermuskulatur verhärtete sich. Schon wieder ein väterlicher Rat? Na, vielen Dank.
»Wenn Joki in Pension geht, wirst du alleine zurechtkommen müssen.«
Typisch Harm, kein Freund vieler Worte, und er traf den Nagel auf den offensichtlichen Kopf. Stand er wirklich hinter ihr, wie es bei der Vernehmung von Annette Lorei den Anschein gehabt hatte? Oder war das nur Schadensbegrenzung gewesen?
Harm sah ernst aus. »Du bist auf gutem Wege – mach weiter so.« Er sprach es und verschwand.
Marga starrte verblüfft auf ihren ertränkten Beutel. Das war ein Lob gewesen. Ohne Zweifel. Aus Harms Mund war das ein Lob. Todesmutig steckte sie blitzschnell zwei Finger in das heiße Wasser und rettete den Beutel. Ohne sich zu verbrühen. Dann man weiter so.
Gegen Abend brach Marga wieder auf. Ludger blieb bei Peter. Völlig okay. Und der hastige Abschiedskuss von Marga, der irgendwo auf Peters Mundwinkel landete, war es auch. Sweet Pete. Was hatte sie schon zu verlieren? Und – es wurde schließlich Frühling. Anders konnte sich Marga ihren spontanen Zuneigungsbeweis nicht erklären. Beschwingt ging sie in die Buchhandlung am Bahnhof und erstand einen Spiegel und einen Krimi, der auf Spiekeroog spielte. Friesensturm. Von Birgit Böckli.
»Soll der Knaller sein«, sagte die Verkäuferin und reichte Marga das Wechselgeld. Der Friesensturm war nur der erste Knaller des Tages. Im Spiegel stand, dass sich in den Niederlanden eine dreckige Pädophilen-Partei wegen zu geringer Wählerunterstützung aufgelöst hatte. Der Oberknaller. Und immer noch nicht der letzte. In Bremen war Endstation. Das Bahnpersonal streikte, und es ging kein Zug mehr. Bis sie an einem Informationsschalter nähere Auskunft erhalten hatte, bekam sie auch keinen Mietwagen mehr, und um Peter anzurufen, war es definitiv zu spät. Margas neu gewonnene Unbeschwertheit ging ganz schnell flöten. So ein Schiet! Sie musste unbedingt am nächsten Morgen im Hamburger Präsidium auf der Matte stehen, andernfalls bekäme sie von Guntbert Meyer höchstpersönlich einen Tritt in den Hintern, der sie im hohen Bogen nach Ostfriesland zurückbefördern würde. Einfache Fahrt. Marga kramte nach ihrem Handy und tippte Kalles Nummer. Er musste ihr den Rücken frei halten, wenn noch irgendwas schiefging. Die Leihwagenzentrale war erst ab sieben Uhr morgens wieder besetzt. Sie stapfte stocksauer aus dem Bahnhofsgebäude und suchte sich eine Möglichkeit zum Übernachten.