Kapitel 21
Soeben hatte die Kriminaltechnik ihren vorläufigen Zwischenbericht per E-Mail zugesendet. Lisbeth Hayengas Appartement in der Seniorenwohnanlage war am Nachmittag von den Kollegen auseinandergenommen worden. Kalle starrte auf den Monitor. Sein Kopf schmerzte. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Wie viele Stunden seiner Arbeitszeit hockte er eigentlich vor diesem beknackten Bildschirm herum? Er setzte den Cursor auf das Drucksymbol und klickte die Maustaste. Fehlermeldung. Die Kontrolllampe für die Tinte am Display des Druckers blinkte. Kalle drohte dem Drucker mit der Faust. Die Kontrolllampe blinkte. »Fuck!«
In der Schublade fand Kalle ein einsames Aspirin. Er stand auf, goss sich ein Glas Wasser ein und spülte die Tablette hinunter. In Jettes Blumenstrauß ließen die Gerbera die Köpfe hängen. Kalle kippte den Rest des Wassers in die Vase. Er setzte sich wieder an den Tisch und wählte die Nummer von Elizas Klassenlehrer. Die Mailbox meldete sich. »Guten Tag, Sie sind mit Dr. Rüdiger Kluge verbunden. Leider bin ich zurzeit nicht erreichbar. In dringenden Fällen hinterlassen Sie bitte Ihren Namen und Ihre Rufnummer. Ich setze Ihr Anliegen auf die Warteliste und melde mich, sobald Sie an der Reihe sind.«
»Bärwolff, der Vater von Eliza. Sie baten um meinen Rückruf.« Kalle lauschte. In der Leitung knackte es, mehr war nicht zu hören. Kalle legte auf. Die gute Nachricht war, seine Kopfschmerzen ließen nach. Er öffnete den Anhang der Mail und überflog den Bericht. Der las sich wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Lisbeth Hayenga bewohnte in der Seniorenresidenz zwei geräumige Zimmer, zu denen ein großes Badezimmer mit einem Whirlpool gehörte. Stofftapeten, Perserteppiche, Kristallleuchter. Statt einer Küche gab es eine Minibar wie in Hotels. Zwei Flaschen Edelkirschlikör. Die Alten speisten auswärts. Oder gar nicht? Ab 80 weniger zu essen, stärke das Gedächtnis oder so ähnlich. Irgendeine Studie von irgendwelchen Forschern hatte das herausgefunden. Von Kalle war dann sowieso nichts mehr übrig, außer verkalkte Gebeine im feuchtkalten Grab, huah. Schluss damit und weiter im Text. Vor gut einem Jahr hatte sich die Hayenga eine einbruchhemmende Wohnungstür der höchsten Widerstandsklasse einbauen lassen. Türblatt, Zarge, Schloss und Beschlag waren aus einem Guss gefertigt. Darüber gab es ein Qualitätszertifikat einer Hamburger Firma für Sicherheitstechnik. Hinter den Kacheln im Badezimmer war ein Fach verborgen, in dem eine Schmuckkassette sichergestellt worden war. Das Schloss der Kassette war aufgebrochen, die Kassette leer bis auf einen Ring, der offenbar aus einem Kaugummiautomaten stammte. Ein Scherz des Einbrechers? Im Wohnzimmer befand sich ein Stahltresor, Fassungsvermögen zehn Liter, mit elektronischem Codeschloss. Der Tresor war sichergestellt worden. In den Händen der Kriminaltechniker würde das Schloss zu Wachs werden, wenn nicht heute, dann morgen. Geduld. Bis auf die mit Asche gefüllte Urne, die auf der Fensterbank im Wohnzimmer zwischen den vertrockneten Orchideen gestanden hatte, war Lisbeth Hayengas Appartement eine ordentliche und saubere Wohnung – wie es für eine reiche, alte Dame, die teure Fuchspelzkragenmäntel trug, zu erwarten war. Verwertbare Fingerabdrücke gab es keine. Wieso hatten manche Leute so unverschämt viel Kohle? Kalle rief nochmals bei Dr. Kluge an, der sofort an den Apparat ging – und Kalle, mit seinen Gedanken schon wieder bei der Leiche, nun auf dem falschen Fuß erwischte. »Äh, ja, was wollte ich noch … Bärwolff.«
»Herr Bärwolff, na endlich! Da Sie ja leider beim Elternsprechtag nicht erschienen sind, frage ich mich also immer noch, wieso Sie Elizas unentschuldigtes Fehlzeitkonto so gelassen hinnehmen? Im Halbjahreszeugnis Ihrer Tochter sind fünfundzwanzig Stunden vermerkt. Ich finde, das ist eine dreiste Leistung.«
»Bitte was?« Wie auf Knopfdruck waren die Kopfschmerzen zurück.
»Wir sollten uns dringend zusammensetzen und über das zukünftige Prozedere abstimmen.«
Kalle, der eben noch auf Krawall gebürstet gewesen war, spulte im Geiste die letzten Wochen im Schnelldurchlauf ab. Wo hatte sich die Krabbe rumgetrieben?
»Herr Bärwolff?«
»Das muss ich erst mal verdauen. Es … es macht wohl keinen Sinn, das schönzureden?«
»Sicher nicht. Ich schlage Ihnen übermorgen, neun Uhr dreißig vor. Bringen Sie bitte Zeit mit, dann können wir in Ruhe miteinander sprechen.«
Kalle klemmte den Hörer zwischen Kinn und Brustbein ein und rief den Kalender in seinem Mailprogramm auf. »Ist gebucht. Schönen Abend noch und … danke.« Als Kalle den Termin im Programm bestätigte, kam die Meldung: Termin überschneidet sich mit Arbeitsmedizinischer Dienst Dr. Weber. Die Anpassung der neuen Brille für den Bildschirm musste Kalle schon wieder aufschieben. Vielleicht sollte er lieber gleich einen Blindenstock beantragen. Outlook meldete den Eingang einer E-Mail von Tinta Krieger. Kalle überflog die Daten:
Lisbeth Hayenga, frühere Namen: Flemming, geborene Hayenga. Geburtsdatum: 07. 07. 1928 in Uttum. Geschieden.
Kalle klickte auf Antworten:
Liebe Tinta, bitte Meldeauskunft für den Ex, Flemming, einholen. Danke. Kalle.
»Hey, du.«
»Komm rein.«
Bodo Steinhoff schloss die Tür und setzte sich an Jettes Schreibtisch. Bis auf den verwelkenden Blumenstrauß fehlte immer noch jeder Beweis, dass sie jemals dieses Büro betreten hatte.
»Wo treibt sich Jette denn eigentlich rum?«
Bodo schüttelte den Kopf. »Jetzt sag bloß, du weißt es nicht?«
»Und? Lass dir doch nicht immer alles aus der Nase ziehen.«
Bodo fuhr mit dem Zeigefinger auf der Tastatur von Jettes Computer herum, schnippte die Staubflusen auf den Boden. »Gnädige Frau hat einen Telearbeitsplatz beantragt, aus persönlichen Gründen …«
»… und Guntbert hat zugestimmt.«
»Du hast es erfasst.«
Im Grunde ideal, so musste Kalle sich nicht mit Jettes Marotten arrangieren. Dass sie davon unzählige besaß, war so klar wie Aalsuppe. Abgesehen davon stand Jette Winter aus schleierhaften Gründen unter dem besonderen Schutz von Guntbert, dessen Geheimnistuerei Kalle gründlich auf die Nerven ging. Aber nüchtern betrachtet, war die Nachricht einfach nur göttlich.
»Hey, worüber freust du dich so?«
»Das bildest du dir ein.« Kalle versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. Es ging gründlich schief. Das unterdrückte Grunzen schwoll zu einem Lachanfall an, in den Bodo zunächst zögerlich, dann volle Pulle einstimmte.
»Hallo, noch ganz bei Trost, die Herren Kriminalräte? Oder habt ihr was geraucht?«
Tinta Krieger klatschte die Zeitung auf Kalles Schreibtisch.
»Hier, das Blöd-Blatt meldet: Unheimlicher Gartenlaubenmord. Schwester der Toten auch ermordet. Wisst ihr was davon?«
Wunderbar, die Aussicht auf einen zeitigen Feierabend war versaut. Völlig klar, dass ausgerechnet jetzt das Telefon klingelte. Kalle deutete Bodo an, den Anruf entgegenzunehmen.
»Steinhoff, Landeskriminalamt Hamburg, Mordkommission, Apparat Bärwolff.«
Bodo runzelte die Stirn und schwieg. Kalles Blick schweifte zum Fenster. In der Scheibe spiegelte sich die energiesparlampenbeleuchtete Büroeinrichtung samt Pappnasenbesetzung wider wie eine Bühnenkulisse. Das Dröhnen in Kalles Schädel wurde lauter. Gleich würde die Bombe einschlagen. Das sagte ihm sein Ermittlerinstinkt, und der täuschte sich nur alle Jubeljahre. Bodo schaltete auf Mithören.
»… ungeklärtes Gewaltverbrechen mit Todesfolge. Wir haben Kontakt aufgenommen zum Bundeskriminalamt und eine Recherche in der ViCLAS-Datenbank gestartet. Das Ergebnis lässt keinen anderen Schluss zu, ich denke, wir sollten uns umgehend kurzschließen.«