Kapitel 9

Pewsum, Ostfriesland

Marga drückte auf den Klingelknopf, und ein dreitoniger Gong erklang. Anders als am frühen Nachmittag wurde die Tür geöffnet.

»Kripo Aurich. Herr Rohden? Wir müssen Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen. Es geht um Ihre Tante, Theda Neehuis.«

Der Mann im grauen Feinstrickpullover trat zurück und bat sie herein. »Ich hab mir schon gedacht, dass Sie kommen. Geradeaus durch ist das Wohnzimmer. Ich sag kurz meiner Frau Bescheid.«

Eisige Luft empfing Marga und Joki in dem Raum und schwappte über ihnen zusammen wie kaltes Wasser. Marga versank fast in einem grasgrünen Polstermöbel, und selbst Joki sah in der schweren Wohnzimmergarnitur zierlich aus. »Ich wette, die sitzen hier nur zu Weihnachten.« Er blies seine Atemluft in das Zimmer, um zu sehen, ob sie weiß wurde. Aus dem Inneren des Hauses hörten sie Schritte. In der Tür erschien Tilde Rohden – wie ein rettender Engel. »Oh! Hier ist es doch viel zu kalt.« Sie wandte sich an Marga. »Die Stube nutzen wir nur an Geburtstagen, wenn die Familie kommt. Oder zu Weihnachten.« Tilde Rohden führte sie in die Küche, von der aus es in die weniger gute, dafür warme Stube ging, und Joki zeigte Marga heimlich mit den Fingern ein Victory-Zeichen.

»Möchten Sie Tee?« Ohne die Antwort abzuwarten, begann Frau Rohden in der Küche zu hantieren. Hans Rohden nahm Platz und fuhr sich mit den Handflächen über die Oberschenkel.

»Sie wissen, warum wir hier sind?« Joki suchte nach den passenden Worten.

Hans Rohden nickte. »Helmut Lorei rief vorhin an und teilte mir mit, dass Tante Theda gefunden wurde.«

Jokis Gesicht verdunkelte sich. Schnell ergriff Marga das Wort, mit Jokis Holzhammer waren sie auf dem Bauamt auch nicht weit gekommen. »Herr Rohden, wir möchten Ihnen unser Beileid aussprechen. Und wir müssen Ihnen im Zusammenhang mit dem Tod Ihrer Tante Fragen stellen, die Sie vielleicht unangenehm oder unpassend finden, aber das geschieht nur, um so schnell wie möglich Licht ins Dunkel zu bringen.« Amen. Marga kam sich furchtbar vor. Sie klang wie ein TV-Pfarrer. Egal, weiter im Text, bevor Joki dazwischenfunkte. »Der Leichnam Ihrer Tante ist heute Mittag gegen ein Uhr in Uttum gefunden worden. Der ausführliche Bericht liegt noch nicht vor, aber wir gehen davon aus, dass Theda Neehuis gewaltsam ums Leben gekommen ist.«

Rohdens Gesicht sah aus, als sei es aus grauem Karton. Er schrumpfte in seinem Sessel. In der Küche bollerte der Wasserkessel, Schranktüren klappten auf und wieder zu. Dann kam Tilde Rohden mit dem Tee herein. Sie verteilte Thiele Broken Silber auf knisterndem Kluntje und malte in jede Tasse ein Wölkchen aus Sahne. Eine reichte sie ihrem Mann. »Komm, trink erst mal was.« Sie blickte kummervoll. »Ich hab’s geahnt, dass wir sie nicht lebend wiedersehen«, sagte sie dann. »Komisch, oder? Die Feuerwehr hat den ganzen Sonntag gesucht. Bis in die Nacht hinein. Nichts. Und dann hab ich’s gewusst. Ich hab einfach gewusst, dass das nicht gutgeht.«

Hans Rohden starrte auf die Tischdecke. »Wer macht so was? Und warum?« Er schüttelte den Kopf.

Marga stellte ihre Tasse ab. »Herr Rohden, wie lange kennen Sie das Ehepaar Lorei aus der Pflegeeinrichtung?«

»Lange.« Er winkte ab. »Ihn kenn ich schon ewig, wir sind zusammen zur Schule gegangen. Und ich war heilfroh, dass Tant-Theda zu den Loreis konnte, nachdem es alleine nicht mehr ging.«

»Wo hat sie vorher gewohnt?«

Tilde Rohden schenkte die zweite Runde ein und stellte den Teepott zurück auf das Stövchen. »Nur zwei Straßen weiter, ein Einfamilienhaus aus den Sechzigern. Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie alleine dort. Und seit ihrem Umzug zu den Loreis wird es vermietet. Mein Mann hat sich damals um alles gekümmert. Er war immer so ’n bisschen der Liebling von Tante Theda.« Frau Rohden lächelte. Marga warf Joki einen Blick zu. Fiel dem Ehepaar jetzt zufällig das Haus in den Schoß? Tilde sprach unbekümmert weiter. »Zu Anfang sind wir täglich rüber, haben ihr Frühstück und Abendbrot gemacht. Bis es dann nicht mehr ging. Sie ist nachts aufgestanden, hat den Herd angestellt, weil sie Essen kochen wollte und all solche Sachen. Ich bin berufstätig. Eine 24-Stunden-Pflege kann ich nicht leisten.« Sie wurde leiser. »Tante Theda war zum Schluss sehr unruhig, hat viel geweint und geschimpft. Einmal hat sie mich sogar angespuckt.« Sie suchte beim Sprechen die Hand ihres Mannes. »Wir konnten nicht mehr. Nachdem die Pflegestufe durch war, durfte Tante Theda kurzfristig zu den Loreis. Das schien das Beste zu sein für alle Beteiligten.«

Joki rutschte auf seinem Platz hin und her. »Hatte Ihre Tante Feinde?«

Hans Rohden machte große Augen. »Feinde? Tant-Theda war über 80 und hat die letzten Jahre so gut wie nichts mehr mitgekriegt. Wen sollte die sich zum Feind gemacht haben? Und wodurch? Weil sie nicht mehr wusste, wo sie ihre Puschen gelassen hatte?«

»Vielleicht konnten die Loreis auch nicht mehr?«, warf Marga ein.

»Nun hören Sie aber auf!« Klirrend setzte Tilde Rohden ihre Tasse ab. »Also, für Annette Lorei leg ich die Hand ins Feuer. Die kann wirklich gut mit alten Leuten und hat viel Geduld, und Tante Theda war eine Nette. Sie hat ihr Leben lang ehrenamtlich bei der Kirche mitgeholfen. Beim Kindergottesdienst und beim Frauenkreis für Seniorinnen. Außerdem hat sie im Kirchenchor gesungen.«

»Und hat Sie angespuckt.« Marga wippte bedächtig mit der Fußspitze.

»Kennen Sie sich aus mit Demenz?«, fragte Tilde Rohden ruhig. »Eine heimtückische Krankheit. Sie verlieren Ihre Lieben, obwohl sie noch da sind. Jeden Tag ein Stückchen.«

»Und ihr Erspartes ist mit in die Pflege geflossen«, fügte Rohden hinzu, »wir wollten, dass es ihr gutgeht.«

Joki stellte seinen Löffel in die Tasse, lehnte einen dritten Tee dankend ab. »Aber nun ist sie tot. Und das, weil irgendwer sie wirklich schlecht behandelt hat. Herr Rohden, ich muss Sie bitten, morgen in der Gerichtsmedizin zu erscheinen. Es wäre gut, wenn Sie als nächster Angehöriger Ihre Tante identifizieren.« Joki erhob sich und löste die Teegesellschaft auf.

*

»Wir müssen unbedingt bei den Rohdens die Vermögensverhältnisse abklopfen. Schulden, Kredite, was weiß ich. Immerhin haben sie durch den Tod der Neehuis nu ihr klein Häuschen mit auf der Habenseite.« Joki fuhr Marga zurück zum Parkplatz, wo sie ihren Skoda stehen gelassen hatte, und ließ seinen Gedanken freien Lauf. »Tante Theda hier, Tante Theda da. Wenn’s nach denen geht, haben sie allesamt ’ne saubere Weste und sind Gunst und Güte in Person.«

Marga blickte aus dem Fenster, es war schon dunkel. »Und wenn es doch der große Unbekannte war?«

»Alles nur Zufall? Nee, nie im Leben. Zufällig kommt ein Bekloppter vorbei, der gerade Lust hat, jemanden umzubringen, und trifft auf die Neehuis im Garten. Einen passenden Wagen für den Rollstuhl hat er auch. Nicht zu vergessen, dass das Opfer zufällig aus dem Ort kommt, in dem wir es später wiederfinden. Zufällig sogar auf einem Grundstück, das früher zum Hof der Familie gehörte. Das hältst du doch im Kopp nicht aus, wie das stinkt. Das ist riesengroßer Mist!«

»Gut, dann gehen wir jetzt alles systematisch durch.« Marga rückte sich auf dem Sitz zurecht. »Es ist also kein Zufall. Dann bleibt uns ein Mord im Hause Lorei, ohne ersichtliches Motiv. Wenn die Lorei mit der Pflege von Frau Neehuis überfordert gewesen wäre, hätte sie sich einfach Hilfe holen können.«

»Totschlag?«, warf Joki ein.

»Nur weil der Lorei die Neehuis auf den Keks gegangen ist?«

Marga verzog den Mund. »Kann ich mir jetzt auch nicht wirklich vorstellen. Vielleicht ein Unfall? Oder Mord zur Vertuschung einer Straftat? Die Neehuis kommt bei den Loreis zu Tode, und die beiden inszenieren eine Entführung mit anschließendem Mord, um von sich selber abzulenken.« Marga sah Jokis dicken Schädel hin- und herwiegen.

»Weiß nicht, Marga. Dann hätten sie aber ganz schön fett aufgetragen. Denk an die Erde im Mund. Bleib mal beim Affekt. Was ist mit ihm, dem sauberen Herrn Lorei? Vielleicht hat sie ihn genervt, und er hat sie, sagen wir mal, ein bisschen zu doll geschüttelt?«

»Nicht auszuschließen. Der kann bestimmt ausflippen, wenn ihm was nicht passt.«

»Das kann jeder.«

»Stimmt. Aber nicht jeder wird handgreiflich. Man könnte immer noch den Raum verlassen, bis zehn zählen oder sonst was machen, um sich zu beruhigen.« Marga kaute auf ihrer Unterlippe.

Joki setzte den Blinker und fuhr auf den Parkplatz. Er hielt neben Margas Wagen. Marga fröstelte angesichts der feuchten Kälte, die sie erwartete.

»Und was, wenn genau das die Strategie von Lorei war?« Marga drehte sich zu Joki. »Wer nervt, fliegt raus ins Grüne. Mal ganz ehrlich, ich fand’s arschkalt gestern.«

Joki pfiff und schlug sich mit der Hand auf den Schenkel.

»Jo! Und genau da fängt es schon an zu stinken. Der Lorei liegt auf dem Sofa und ratzt, und die Neehuis muss nach draußen. An die frische Luft.« Joki schnaufte. »Und wir schlucken das. Da müssen wir noch mal ansetzen, aber erst morgen. Wir warten den Obduktionsbericht ab.«