Achtunddreißig
Der Sog-Antrieb war immer noch nicht bereit, maximalen Schub zu liefern. Während sie sich mit einer gemächlichen Beschleunigung von einem Ge dem mutmaßlichen Portal näherten, führte Floyd Auger und Tunguska in sein Quartier.
»Ich hoffe, du hast uns etwas Brauchbares anzubieten«, sagte Auger.
»Hast du eine realistische Alternative?«
»Ich meinte nur … dass du keine falschen Hoffnungen wecken solltest, Floyd. Ich weiß, dass du uns nur helfen willst, aber …«
Er drehte sich zu ihr um und sah sie mit verletztem Stolz an. »Was ›aber‹?«
»Hier geht es um eine sehr technische Angelegenheit«, sagte sie.
»Was sie damit andeuten will«, warf Tunguska in versöhnlichem Tonfall ein, »ist, dass es manche Dinge gibt, bei denen man erwarten kann, dass Sie eine nützliche Ansicht dazu haben … und manche Dinge, bei denen man das eher nicht erwarten kann.«
»Ich verstehe«, sagte Floyd gepresst.
»Und ich fürchte, dass Dinge, die die Hypernetznavigation betreffen, eher in die zweite Kategorie fallen«, fuhr er fort.
»Hören Sie sich wenigstens an, was ich zu sagen habe, Jack.«
»Floyd, ich weiß, dass du es nur gut meinst«, sagte Auger, »aber wir sollten uns wirklich auf den Moment vorbereiten, wenn der Sog-Antrieb wieder funktionsfähig ist.«
»Würden Sie nicht gerne wissen, ob Sie überhaupt auf dem richtigen Weg sind, bevor Sie diese Fackel entzünden?«
Er öffnete die Tür zu den weitläufigen Räumen, die man ihm als vorübergehendes Quartier zur Verfügung gestellt hatte. Er führte sie zum Bett und den paar Möbeln, die darum angeordnet waren.
»Floyd, gib mir wenigstens einen Hinweis.«
»Es war etwas, das du selbst gesagt hast, Auger. Wie, zum Teufel, haben sie etwas Brauchbares aus den Zahlen gemacht, die aus diesem Antennending gekommen sind, wenn sie mit den Möglichkeiten des Jahres 1959 Vorlieb nehmen mussten?«
»Erklär es mir«, sagte Auger.
»Und mir auch, wenn Sie schon mal dabei sind«, sagte Tunguska.
»Wir haben nach einem mikroskopischen Punkt oder etwas in der Art gesucht«, sagte Floyd, »weil wir dachten, dass wir es nur mit zehn oder zwölf Ziffern zu tun haben – den Koordinaten der AGS.«
»Weiter«, sagte Auger, die trotz ihrer Bedenken ein erwartungsvolles Erschaudern verspürte.
»Ich glaube, wir haben ziemlich weit danebengelegen.«
»Floyd, zieh es nicht so in die Länge!«
Floyd setzte sich aufs Bett und bot Tunguska und Auger die zwei Stühle an. »Macht euch klar, dass es von Anfang an hoffnungslos war, nach so etwas suchen zu wollen. Du hast es selbst gesagt, Auger: Die Botschaft könnte sonstwo versteckt sein, im winzigsten Schmutzfleck oder einer minimalen Verschiebung der Position einiger Buchstaben. Man müsste schon ganz genau wissen, wonach man sucht, um es zu finden.«
»Floyd …«, sagte sie in warnendem Tonfall.
»Damit ist aber eine große Frage immer noch unbeantwortet: Wie sind sie an diese Zahlen gelangt? Es war eine Sache, diese Antenne zu bauen, aber zu versuchen, einen Sinn in die Daten zu bringen … Du hast selbst spekuliert, dass es sehr schwierig gewesen sein muss, wenn man den technischen Stand von 1959 bedenkt.«
»In Floyds Welt gibt es keine Computer«, erklärte Auger dem Slasher. »Sie sind technisch noch weiter zurück als wir in diesem Jahr, weil es dort keinen Zweiten Weltkrieg gab, der die Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung angeregt hat.«
»Ich verstehe«, sagte Tunguska und rieb sich das Kinn. »In diesem Fall ist schwer zu verstehen, wie sie die Daten des Gravitationswellendetektors verarbeitet haben. Das wäre selbst heute eine nicht ganz unkomplizierte Angelegenheit.«
»Ich hoffe, dass es nicht zu kompliziert ist«, sagte Floyd, »denn ich glaube, dass Sie diese Berechnungen anstellen müssen.«
»Was haben Sie gefunden?«, fragte Tunguska.
Floyd griff in die Kiste, die am Fuß des Bettes stand, und zog eine Schallplatte heraus. Auger las den Namen Louis Armstrong auf der Hülle.
»Das hier«, sagte er nur.
»Ich hatte eher den Eindruck, dass Sie nicht so sehr von diesen Platten überwältigt waren«, sagte Tunguska.
»Völlig richtig.«
»Und nun?«
»Ich habe mich gefragt, ob das vielleicht der Hinweis ist, nach dem wir die ganze Zeit gesucht haben.« Floyd gab der Hülle einen kleinen Schubs, sodass die Platte in seine Hand rollte. »Ich glaube, die gesuchte Information befindet sich hier.«
»In einem Mikropunkt auf dem Label?«, fragte Auger, die immer noch nichts verstand.
»Nein. Es muss wesentlich komplexer sein. Ich kann mir vorstellen, dass sie in der Musik selbst steckt. Nicht nur zehn oder zwölf Ziffern, sondern die originalen Messwerte der Antenne. Du hattest Recht, Auger. 1959 gab es keine Möglichkeit, die Daten auszuwerten. Also hat man es gar nicht erst versucht.«
Aus Augers erwartungsvollem Erschaudern war nun eine ausgewachsene Gänsehaut geworden. »Und was haben sie stattdessen gemacht«, fragte sie ungeduldig.
»Sie haben die Informationen durch das Portal zurückgeschickt. Auf der anderen Seite sind sie Niagaras Jungs in die Hände gefallen, die dann all die komplizierten Sachen damit anstellen konnten.«
»Also wurde etwas in der Musik verschlüsselt?«
»Irgendwer hat Paris mit billigen Raubpressungen überschwemmt«, sagte Floyd. »Das ging schon seit Monaten so. Jetzt wissen wir auch, warum.«
»Da kann es unmöglich eine Verbindung geben.«
»Doch, kann es. Mein alter Freund Maillol hat mich auf eine Verbindung zwischen dem Fall Blanchard und seinen Ermittlungen gegen die Bootleg-Banden hingewiesen. Damals konnte ich nur noch nicht ahnen, welche Art von Verbindung das ist.«
»Aber jetzt kannst du es?«, fragte Auger.
»Custine hat mit einem von Blanchards Mietern gesprochen, einem Mann namens Rivaud, der eins dieser widerlichen Kinder in der Nähe des Hauses gesehen hatte. Als ich versuchte, persönlich mit Rivaud zu reden, war er nicht aufzutreiben. Ein paar Tage später erzählte Maillol mir, dass man seine Leiche im überfluteten Keller eines Lagerhauses in Montrouge gefunden hatte.«
»Nett«, sagte Auger und rümpfte angewidert die Nase.
»Es kommt noch netter. Der Mann hatte Abschürfungen am Hals, als hätte eins dieser Kinder ihn dazu bewegt, für längere Zeit den Kopf unter Wasser zu halten.«
»Und was hat es mit diesem Lagerhaus auf sich?«
»Dort hat Maillol zufällig auch die Werkstatt der Raubpresser ausgehoben.«
»Glaubst du, Rivaud hat zur Bootleg-Bande gehört?«
»Durchaus möglich«, sagte Floyd. »Aber dann wäre es ein höchst erstaunlicher Zufall, dass er im gleichen Haus wohnte, in dem sich auch Susan White ein Zimmer gemietet hat.«
»Stimmt.«
»Solche Zufälle gibt es für gewöhnlich nicht. Wahrscheinlicher ist, dass Rivaud eins dieser Kinder wiedergesehen und beschlossen hat, dem Geheimnis auf eigene Faust auf die Spur zu kommen. Er könnte das Kind bis zum Lagerhaus verfolgt haben. Vielleicht hat man ihn sogar hingelockt, falls die Kinder der Meinung waren, dass er schon zu viel gesehen hatte.«
»Das klingt alles sehr schlüssig«, sagte Tunguska. »Lassen Sie mich einen Blick auf diese Schallplatte werfen.«
»Ist es ein Original?«, fragte Auger.
»Nein, es ist eine Nachbildung, die auf der Basis von Cassandras Oberflächenscan des Originals erstellt wurde«, sagte Tunguska. »Aber für unsere Zwecke müsste sie hinreichend genau sein, falls darin wirklich latente Informationen versteckt sind.«
»Sie können mir glauben«, sagte Floyd. »Entweder hat dieses Anti-Musik-Virus mich bereits angesteckt, oder mit dieser Schallplatte stimmt wirklich etwas nicht.«
»In der Rille könnte ein Hochfrequenzsignal codiert sein«, sagte Tunguska. »Genug, um einen signifikanten Anteil der Antennendaten zu enthalten. Das lässt sich sehr schnell verifizieren …«
»Wie schnell?«, fragte Auger, die sich von ihrer Ungeduld überwältigen ließ.
Er blinzelte. »Schon passiert. Ich musste nur Cassandras holografische Daten analysieren und nach Anomalien in der Struktur Ausschau halten. Es ist wesentlich leichter, ein Muster zu identifizieren, wenn man eine ungefähre Ahnung hat, wonach man sucht.«
»Und?«, bohrte sie nach. Nun war sie so ungeduldig, dass es sie kaum noch auf ihrem Sitz hielt.
»Floyd hat Recht. Auf dieser Schallplatte ist ein zusätzlicher Informationskanal integriert. Die Signale sind nicht stark genug, um die ursprüngliche Musik unerträglich zu machen, aber es genügt offenbar, um Floyds feine Wahrnehmung zu irritieren.« Er bedachte Floyd mit einem freundlichen, beinahe bewundernden Lächeln. »Das wäre uns niemals aufgefallen.«
Tunguska drehte die Platte hin und her und bewunderte das Spiel des Lichts auf der spiegelnden schwarzen Oberfläche. »Sie hat wirklich eine eigene Schönheit. Aber gleichzeitig ist sie so etwas wie ein zweischneidiges Schwert.«
»Und wir haben ihnen geholfen«, sagte Auger. »Wir haben diese Daten aus Paris geholt und gedacht, wir würden kostbare Artefakte retten.«
»Sie müssen alles über Ihre Bemühungen gewusst haben, kulturelle Daten aus der Stadt herauszuschmuggeln«, sagte Tunguska. »Als Niagaras Agenten zur gleichen Zeit ihre eigenen Daten hinausschmuggeln wollten, müssen sie erkannt haben, dass Ihre Aktionen ihnen dafür den perfekten Rahmen boten. Sie mussten die Informationen nur in diesen Schallplatten verstecken und dafür sorgen, dass sie Susan in die Hände fielen. Den Markt mit Fälschungen zu überfluten war bei weitem die einfachste Strategie.«
»Wissen Sie was?«, sagte Floyd. »Es würde mich nicht überraschen, wenn sie die Pariser Antennenkugel in diesem Lagerhaus aufgestellt hatten. Vielleicht ist Maillol bei seinen Ermittlungen sogar darauf gestoßen, aber er hätte nicht gewusst, welche Bedeutung sie hatte.«
»Sie haben uns ausgetrickst«, sagte Auger, gleichzeitig wütend und beschämt.
»Sie dürfen sich nicht die Schuld daran geben«, sagte Tunguska ernst. »Dank Susans Bemühungen wurde eine große Menge an kostbarem Material aus Paris geborgen. Es ist weder Susans noch Ihre Schuld, dass einige dieser Artefakte gezielt mit einem Makel versehen wurden.«
»Aber diese eine Schallplatte kann unmöglich die Gesamtinformation enthalten«, sagte Auger.
»Wir haben hier eine ganze Kiste voller Platten.« Tunguska blinzelte erneut, während ein Teil seines Geistes davonhuschte, um Cassandras Daten und ihre dazugehörigen Berichte durchzugehen. »Wie es scheint, weist ein Drittel davon eine ähnliche mikroskopische Struktur auf. Der Rest besteht vermutlich aus unverfälschten Aufnahmen.«
»Aber wir haben Schallplatten durch die Verbindung geschafft, seit wir das Phobos-Portal geöffnet haben«, sagte Auger. »Es dürften mehrere hunderttausend Aufnahmen sein.«
»Das spielt vielleicht gar keine Rolle«, sagte Tunguska. »Sie erinnern sich bestimmt, dass Niagara immer sehr darauf erpicht war, die neueste Lieferung in die Hände zu bekommen. Es könnte sein, dass die früheren Sendungen Daten enthielten, die nur vorläufig oder fehlerhaft waren. Vielleicht hat es eine Weile gedauert, bis die Antenne brauchbare Werte lieferte. Dann war sicher einige Zeit nötig, um die Daten von allen drei Kugeln zusammenzuführen … und sie auf diese Schallplatten zu pressen … und sie so zu vertreiben, dass sie Ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Hände fielen … jedenfalls kann ich mir unter diesen Voraussetzungen gut vorstellen, dass die letzte Lieferung die wichtigste war.«
»Dann haben wir eine gute Chance«, sagte Auger. »Natürlich nur, wenn Sie das eingebettete Signal decodieren können.«
»Ich rechne nicht mit unüberwindlichen Schwierigkeiten«, sagte Tunguska. »Vergessen Sie nicht, dass sie eine komplexe Verschlüsselung nur mit großer Computerleistung hätten bewerkstelligen können, was für sie genauso schwierig gewesen wäre wie die Interpretation der Daten auf E2. Ich glaube nicht, dass die Codierung uns vor Probleme stellen wird.«
»Ich hoffe, dass Sie Recht behalten.«
»Ich bin bereits dabei, die Daten zusammenzustellen und zu verarbeiten«, sagte er. »Ich habe einen erheblichen Teil der Rechenleistung meines Schiffes für diese Aufgabe abgestellt. Natürlich könnte es immer noch sein, dass wir Phantomen nachjagen …«
»Nein«, sagte Floyd mit Entschiedenheit.
Mit einer gewissen Ehrfurcht schob Tunguska die Louis-Armstrong-Platte in die Hülle zurück. »Wir sind fast so weit, den Sog-Antrieb wieder in Betrieb zu nehmen. Wir werden auf unserem gegenwärtigen Kurs bleiben und das wahrscheinlichste Portal nehmen. Während des Transits haben wir acht Stunden Zeit, um die Daten zu entschlüsseln und die Position der AGS zu ermitteln. Es könnte schwierig werden – oder sogar unmöglich sein –, aber nun haben wir zumindest die Hoffnung, eine weitere Spur ausfindig zu machen.«
»Manchmal bist du doch ganz nützlich, Floyd«, sagte Auger.
»Der Dank gebührt nicht mir«, sagte Floyd. »Der Dank gebührt der Musik. Ich habe schon immer gesagt, dass die Musik eines Tages die Welt retten wird.«