Vierunddreißig
Sie traten in die Atmosphäre ein. Der Flug war härter, als Auger gedacht hatte, da die aerodynamischen Eigenschaften des Slasher-Schiffs erheblich beeinträchtigt waren. Cassandra schätzte, dass es während der Verfolgungsjagd dreißig Prozent seiner Masse verloren hatte, da es zur Tarnung und Ablenkung Teile abgestoßen hatte, während die Hauptsektion zunehmend verzweifelte Haarnadelkurven und andere Ausweichmanöver geflogen war.
»Ist Caliskan schon durchgekommen?«, fragte Auger.
»Wir haben sein Schiff noch in der Ortung. Er fliegt etwa zwanzig Kilometer voraus und verlangsamt auf Unterschallgeschwindigkeit. Sein Ziel scheint der nördliche Teil von Europa zu sein, und zwar vermutlich …«
»Paris«, sagte Auger. »Es kann nur Paris sein.«
»Dessen scheinst du dir sehr sicher zu sein.«
»Das bin ich.«
»Was hat es überhaupt mit diesem Mittagessen mit Guy de Maupassant auf sich? Ist er ein Kollege von dir?«
»Nicht ganz«, sagte Auger. »Aber darüber können wir uns den Kopf zerbrechen, wenn wir angekommen sind.«
»Dürfte ich vielleicht etwas zum Gespräch beisteuern?«, fragte Floyd.
»Nur zu.«
»Ich bin mir sicher, dass ich Caliskan kenne. Ich habe dir gesagt, dass mir sein Gesicht bekannt vorkommt. Ich glaube, ich kann ihn jetzt einordnen.«
»Ich weiß, dass es ziemlich überheblich klingt«, sagte Auger und versuchte, ihre Worte mit einem Lächeln zu entschärfen, »aber du bist alles andere als qualifiziert, dir eine Meinung über Caliskan zu bilden.«
»Das mag sein, aber trotzdem kenne ich ihn. Ich bin ihm schon einmal begegnet, ich hatte schon mit ihm zu tun, da bin ich mir ganz sicher.«
»Du kannst ihm nicht begegnet sein. Er hat sich die ganze Zeit in der Nähe von E1 aufgehalten. Er kann unmöglich durchs Portal geschlüpft sein, ohne dass jemand anderer etwas davon bemerkt hätte.«
Cassandra beugte sich in ihrem Sitz vor. »Floyd könnte doch Recht haben, wenn er sich in diesem Punkt so sicher ist.«
»Mach ihm keine falschen Hoffnungen.«
»Aber wenn Caliskan von der Phobos-Verbindung wusste, ist es doch denkbar, dass er sie für eine Reise benutzt hat.«
»Nein«, sagte sie entschieden. »Skellsgard hätte es mir gesagt, auch wenn alle anderen darüber geschwiegen hätten.«
»Sofern Skellsgard nicht die ausdrückliche Anweisung hatte, es dir nicht zu sagen«, warf Cassandra ein.
»Ich habe ihr vertraut.«
»Vielleicht wusste auch sie nichts davon.«
»Aber wenn das der Fall ist, können wir uns nicht einmal sicher sein, ob wir Caliskan noch vertrauen können. Und dann stellt sich die Frage, wem wir überhaupt noch vertrauen können.«
»Ich vertraue Caliskan weiterhin«, sagte Cassandra. »Meine geheimen Informanten haben mir nie einen Hinweis gegeben, dass er unlautere Motive haben könnte.«
»Sie können sich getäuscht haben.«
»Oder Floyd könnte sich täuschen.« Cassandra widmete sich für einen Moment ihren Maschinen. »Es gibt noch eine weitere mögliche Erklärung«, sagte sie dann.
Beide sahen das dunkelhaarige Mädchen erwartungsvoll an.
»Und welche?«, fragte Auger.
»Meine biographischen Daten über Caliskan besagen, dass er noch einen Bruder hatte.«
»Ja«, sagte Auger nachdenklich. »Davon hat er mir erzählt.«
»Und?«
»Caliskan glaubte, ich würde gegen die Slasher einen Groll hegen, den er für ungerechtfertigt hielt. Er sagte, wenn irgendjemand das Recht dazu hätte, dann wäre er es. Als Grund nannte er das, was sie seinem Bruder angetan hatten.«
»In den biographischen Daten heißt es, dass sein Bruder während der letzten Phase der Wiedereroberung von Phobos ums Leben kam, als die Slasher ausgeschaltet wurden.«
»Ja«, bestätigte Auger. »Das hat er mir erzählt.«
»Vielleicht hat er sogar daran geglaubt. Aber was ist, wenn sein Bruder gar nicht ums Leben gekommen ist?«
»So könnte es gewesen sein«, sagte Floyd. »Du weißt, dass die Verbindung kurz vor der Wiedereroberung geöffnet war. Nur auf diese Weise können die Kinder nach Paris gekommen sein.«
»Aber Caliskans Bruder hat nicht auf der Seite der Slasher gekämpft«, sagte Auger.
»Vielleicht ist er zu ihnen übergelaufen«, sagte Floyd. »Vielleicht haben sie ihn gefangen genommen und später von ihren Zielen überzeugt. Vielleicht ist er zur gleichen Zeit durch die Verbindung gekommen.«
»Und du bist diesem Mann auf E2 zufällig über den Weg gelaufen?«
»Ich behaupte nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.«
»Du hast mir nichts von irgendwelchen Kindern erzählt«, sagte Cassandra.
»Es waren keine Kinder«, sagte Floyd. »Sie waren wie du …« Er zögerte kurz. »Nur hässlicher.«
Auger seufzte. Nachdem Floyd nun die Katze aus dem Sack gelassen hatte, würde sich Cassandra erst dann zufrieden geben, wenn sie eine Erklärung hatte. »Die neotenische Infanterie. Kriegsbabys, wie wir sie genannt haben. Während der Besetzung von Phobos vor dreiundzwanzig Jahren müssen sie die Verbindung zur AGS geöffnet haben.«
»Und seitdem halten sie sich dort auf?«
»Inzwischen sind sie nicht mehr besonders nett anzuschauen.«
»Die meisten müssten längst gestorben sein«, sagte Cassandra. »Diese Neoteniker der ersten Generation waren nicht auf Langlebigkeit ausgelegt. Diejenigen, die bis heute überlebt haben, müssten dem Tod nahe sein.«
»So sehen sie auch aus. Und so riechen sie auch«, sagte Auger voller Abscheu.
»Warum sagst du mir nicht einfach, was sie da unten gemacht haben? Wie ich bereits andeutete, kann ich es auch aus deinem Gehirn ziehen, wenn du nicht reden willst. Ich würde lieber darauf verzichten, aber …«
»Ich kann dir nur Vermutungen bieten«, sagte Auger. »Sie haben etwas gebaut, eine Art Maschine. Ich glaube, es war ein Gravitationswellensensor. Damit wollten sie die räumliche Position der AGS bestimmen, vermute ich. Das Schwierige daran war, dass sie das Ding mit einheimischer Technik konstruieren mussten.«
Cassandra ließ sich diese Informationen durch den Kopf gehen, dann nickte sie steif. »Und wozu wollten sie diese Information nutzen?«
»Um von außen in die Hülle zu gelangen.«
Das Schiff schüttelte sich, als es auf eine Turbulenz traf. Der Boden zitterte, als wollte er sich emporwölben und sie schützend umschließen.
»Und was wollen sie mit der AGS anstellen?«, fragte Cassandra.
»Sie wollen die Kopie der Erde entvölkern. Sie wollen die Atmosphäre mit Silberregen impfen.«
»Das ist ungeheuerlich.«
»Das ist Genozid eigentlich immer. Vor allem in diesem Ausmaß.«
»Also gut«, sagte Cassandra mit gerunzelter Stirn, als sie die neuen Informationen verarbeitete. »Warum schicken sie den Silberregen nicht über die Verbindung?«
»Weil es nicht geht. Es gibt eine Barriere, die verhindert, dass solche Dinge in Floyds Welt gelangen können. Der einzige Zugang wäre durch die Hintertür möglich.«
»Da wäre dann aber das Problem, wie man durch die Hülle gelangen will«, sagte Cassandra. »Ach … warte! Das hatten wir bereits geklärt, nicht wahr?«
»Der Diebstahl des Antimaterie-Triebwerks der Twentieth«, sagte Auger.
»Das ist also ihr … wie hast du es genannt? Molotow-Apparat?«
»Molotow-Cocktail. So sieht es aus.«
»Die Neoteniker können es nicht allein zusammengebaut haben«, sagte Cassandra. »Sie sind einfallsreich und intelligent, aber sie wurden nicht darauf gezüchtet, strategisch zu denken – und schon gar nicht dreiundzwanzig Jahre lang. In diesen Plan müssen noch andere eingeweiht gewesen sein.«
»Von Niagara wissen wir es bereits.«
»Aber Niagara hatte keine Möglichkeit, mit den Neotenikern zu kommunizieren. Diese Kinder brauchten Führung und Koordination, jemanden, der ihnen Befehle erteilt. Vielleicht Slasher in der Erwachsenenphase.«
»Nein«, sagte Auger. »Es kann nur ein Slasher gewesen sein, der ohne seine Maschinen zurechtkommt. Für die Kriegsbabys war es kein Problem. Sie sind rein biologisch und besitzen keine Implantate. Aber jemand wie du hätte ihnen niemals durch den Zensor folgen können, solange es in deinem Körper vor Nanotechnik wimmelt.«
»Also jemand ohne technische Zusätze, ein normaler Mensch. Wie zum Beispiel Caliskans Bruder.«
»Möglicherweise – falls er zum Verräter wurde.«
»Und wenn es einen gegeben hat, gab es vielleicht mehrere«, sagte Cassandra. »Während der Wiedereroberung sind viele Menschen gestorben oder werden seitdem vermisst.«
»Sie alle könnten tatsächlich noch am Leben sein«, sagte Auger. »Innerhalb der AGS, wo sie den Lauf der Geschichte manipulieren.«
»Aber warum sollten sie das tun?«, fragte Cassandra.
»Um Entwicklungen zu unterdrücken. Um die Bewohner von E2 daran zu hindern, den technischen und wissenschaftlichen Stand zu erreichen, der zu einer Bedrohung für ihren großen Plan werden könnte, sobald sie ihre wahre Situation erkannt hätten.«
»In Anbetracht der vergangenen Zeit und der Häufung zufälliger Abweichungen mussten die beiden Zeitlinien irgendwann auseinander driften«, sagte Cassandra. »Wie kannst du dir so sicher sein, dass es gezielte Eingriffe gab?«
»Weil alles viel zu gewollt aussieht. In Floyds Geschichte gab es nie einen Zweiten Weltkrieg. Wer vor dreiundzwanzig Jahren durch die Verbindung gegangen ist, wusste genug über den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse im Jahr 1940, um ihn ändern zu können. Dazu mussten sie nur dafür sorgen, dass den richtigen Leuten die richtigen Geheiminformationen zugespielt werden. Der Dreh- und Angelpunkt war der deutsche Vorstoß in die Ardennen. In unserer Geschichte wäre er beinahe gescheitert, aber die Alliierten hatten keine Ahnung, wie schwach die vorrückenden Truppen waren. Niemand hat reagiert. In Floyds Geschichte lief es anders ab. Man hat Flugzeuge gestartet und die Panzer in den Schlamm gebombt. Die deutsche Besetzung von Frankreich fand nie statt.«
»Also gab es nie einen zweiten globalen Krieg. Ich vermute, dadurch wurde das Leben von vielen Millionen verschont.«
»Zumindest das.«
»Ist das nicht eher eine gute Entwicklung?«
»Nein«, sagte Auger. »Weil diese Menschenleben nur deshalb verschont wurden, damit jetzt Milliarden ausgelöscht werden können. Es war nicht mehr als ein klinischer Eingriff. Die Rettung von Menschenleben hat damit nichts zu tun. Der einzige Grund war der, diese Menschen in Unkenntnis zu halten.«
»Dann wurde bereits ein Verbrechen begangen. Die Kinder werden bald tot sein. Doch ihr Anführer – oder ihre Anführer – müssen gefunden und vor Gericht gestellt werden.«
»Dann müsst auch ihr die AGS ausfindig machen«, sagte Auger, »bevor aus dem einen Verbrechen ein weiteres wird.«
»Niagaras Verbündete scheinen wirklich kurz davor zu stehen, aktiv zu werden«, sagte Cassandra. »Sie hätten das Linienschiff nicht überfallen, wenn sie nicht bereit für den Angriff auf die AGS wären. Das ist eine sehr ernste Sache.«
»Das kannst du laut sagen«, bemerkte Floyd.
»Je mehr ich darüber nachdenke«, sagte Cassandra, »desto mehr frage ich mich, ob dieser Angriff gegen Tanglewood und die Erde vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver darstellt. In Wirklichkeit wollen sie unsere zerstörte Erde gar nicht zurückerobern, nicht wahr? Letztlich haben sie es auf viel größere Beute abgesehen.«
»Wir müssen sie aufhalten«, sagte Auger.
»Das sehe ich genauso«, stimmte Cassandra ihr zu. »Aber glaubst du wirklich, dass Caliskan uns dabei helfen kann? Glaubst du, dass man ihm wirklich vertrauen kann, wenn sein Bruder tatsächlich ein Verräter sein sollte?«
»Er glaubt, dass sein Bruder tot ist«, sagte Auger. »Ich neige dazu, ihn in diesem Punkt beim Wort zu nehmen. Wir können es uns sowieso nicht leisten, ihm nicht zu vertrauen. Er hat nützliche Kontakte, auch zu Verbündeten in den Kommunitäten.«
»Ich ebenfalls«, sagte Cassandra.
»Aber Caliskan hat mehr politische Schlagkraft. Zumindest könnte er die Pläne der Slasher öffentlich machen und sie vielleicht so sehr beschämen, dass sie davon Abstand nehmen.«
»Das könnte auch eine Falle sein«, sagte Floyd.
»Ich gebe mir alle Mühe, nicht an diese Möglichkeit zu denken«, erwiderte Auger.
Cassandras Blick wurde leer, als sie die Flut von Daten absorbierte, die sie über den Anflug auf Paris erhielt. »Ob es eine Falle ist oder nicht – wir befinden uns jetzt in den Wolken. Gehen auf Unterschallgeschwindigkeit. Ich glaube, tiefer möchte ich mit diesem Schiff nicht gehen. Die Partikeldichte ist für meinen Geschmack schon recht hoch.«
»Können wir jetzt das Shuttle der Twentieth ausschleusen?«
»Jetzt wäre vielleicht der günstigste Zeitpunkt«, sagte Cassandra. »Folgt mir.«
Sie flogen heulend durch Wolken, die so dick wie Kohlenstaub waren, in denen es brüllend donnerte und Blitze in rosafarbenen Entladungen flackerten.
»Hast du Caliskan immer noch im Visier?«, fragte Auger.
»Mit einigen Schwierigkeiten«, sagte Cassandra und wandte sich für einen Moment von der antiken Kontrollkonsole ab. »Hattest du etwas mehr Erfolg bei der Beantwortung der Frage, wer dieser Guy de Maupassant sein könnte, den Caliskan erwähnte?«
»Ja«, sagte sie. »Ich glaube, ich weiß ganz genau, was er gemeint hat. Es wäre kein Problem, wenn wir ihn aus der Ortung verlieren, weil wir trotzdem zum Treffpunkt kommen werden.«
»Hätte er nicht einfach sagen können, wo wir landen sollen?«, fragte Floyd.
»Caliskan mag solche kleinen Spielchen«, sagte Auger mit einem dünnen Lächeln. Die Hülle des Shuttles ächzte und knirschte wie ein sehr alter Stuhl.
»Die Wolkendichte wird geringer«, meldete Cassandra. »Ich glaube, gleich haben wir das Schlimmste überstanden.«
Durch die Kabinenfenster war zu sehen, wie sich das konturlose Grau in strömende Fetzen auflöste und den Eindruck hoher Geschwindigkeit erweckte. Das Schiff durchschlug zwei oder drei letzte Schleier aus verdünnten Wolken, bevor sie freie Sicht auf die Stadt hatten. Es war eine wahre Pariser Nacht, in der es nur dann dunkler wurde, wenn es am Boden einen fatalen Energieausfall gab. Die einzigen Lichtquellen waren die künstliche Beleuchtung, die das Antiquitätenministerium angebracht hatte, auf Gebäuden und Türmen oder an schwebenden Luftschiffen und Drohnenplattformen. Gelegentlich schimmerten Blitze über den Wolken durch die schaltkreisartigen Muster, mit denen die Wolken kommunizierten, und warfen ein negatives Phantombild auf die vereisten Straßen und Gebäude, die sich unter ihnen ausbreiteten.
Sie befanden in etwa fünf Kilometern Höhe – hoch genug für einen Panoramablick über die gesamte Stadt, bis zum künstlichen Burggraben des Périphérique-Verteidigungsrin-ges.
»Ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird«, sagte Auger zu Floyd, »aber willkommen in Paris. Hier bist du noch nie zuvor gewesen.«
Floyd blickte durch die kleinen Fenster hinunter, die in den unteren Teil der Kabine eingelassen waren. »Ich schätze, das bedeutet wohl, dass du mir die ganze Zeit die Wahrheit erzählt hast«, sagte er, während er sich bemühte, die Ungeheuerlichkeit dieser Szene zu erfassen.
»Hattest du immer noch Zweifel?«
»Ich hatte immer noch Hoffnung.«
Sie lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Rand der Stadt, wo die Leuchttürme des Verteidigungsringes abwechselnd grün und rot leuchteten. »Das ist die Périphérique«, sagte sie, »ein Straßenring, der ganz um Paris herumführt. In deiner Version dieser Stadt hat er nie existiert.«
»Was ist das für eine Mauer?«
»Der Eisrand. Er ist mit Metall und Beton gepanzert und mit Sensoren und Waffen bestückt, um die größeren Furien abzuhalten – die groß genug sind, um sie sehen zu können. Die meiste Zeit funktioniert das mehr oder weniger. Aber sie dringen trotzdem immer wieder durch, und wenn es geschieht, kommen sie sehr schnell.«
Das war das Problem mit Paris. Durch das Spinnennetz der Métro und die Straßentunnel gab es zahlreiche einfache Zugangswege von außen. Es spielte keine Rolle, dass die Hälfte der Tunnel nach Einstürzen blockiert war. Die feindseligen Maschinen fanden ständig alternative Routen durch die älteren Systeme der Wasserversorgung oder der Kanalisation. Die kleinsten konnten durch Telefonkabel, Glasfaserleitungen und Gasrohre schlüpfen. Und wenn gar nichts mehr ging, konnten sie sich sogar neue Wege bohren. Sie ließen sich aufhalten und sogar zerstören, aber das war meistens mit untragbaren Schäden an der Stadt verbunden, die die Forscher bewahren und untersuchen wollten.
»Ich erkenne nicht allzu viel wieder«, sagte Floyd.
»Du siehst eine Stadt, die mehr als ein Jahrhundert nach deiner Zeit erfroren ist«, sagte Auger. »Trotzdem müsste es immer noch ein paar markante Punkte geben, die dir vertraut sind. Es kommt darauf an, sie unter all dem Eis zu erkennen.«
»Es ist wie das Gesicht eines Freundes unter einem Leichentuch.«
»Da ist die Schleife der Seine«, sagte Auger und zeigte darauf. »Der Pont Neuf. Notre Dame und die Île de la Cité. Siehst du es jetzt?«
»Ja«, sagte Floyd mit einer Traurigkeit, die ihr das Herz zerriss. »Ja, jetzt sehe ich es.«
»Bitte hasse uns nicht zu sehr für das, was wir getan haben. Wir haben uns alle Mühe gegeben.«
Über ihnen wellten sich die Wolken und brodelten mit einer fremdartigen, gleichgültigen Intelligenz. Das Schiff neigte sich, gierte und sank tiefer. »Darf ich stören und dich nach dem Landeplatz fragen?«, sagte Cassandra.
»Bleib auf der Südseite des Flusses«, sagte Auger. »Siehst du dort das Rechteck aus Eis?«
»Ja.«
»Das ist der Champ de Mars, das Marsfeld. Geh darüber in Position und bring uns auf dreihundert Meter Höhe.«
Sie spürte, wie das Schiff bereits reagierte, als sie noch gar nicht zu Ende gesprochen hatte. Die Servomotoren knirschten und mahlten unter ihren Füßen, während die Oberfläche des Schiffes angepasst wurde.
»Gibt es in diesem Bereich etwas Besonderes?«, fragte Cassandra.
»Ja.«
Ein Blitz wählte genau diesen Moment, um aus den Wolken zu schießen. Er landete in unmittelbarer Nähe des Stumpfes des abrasierten Eiffelturms am Rande des Marsfeldes.
»Das ist unser Ziel«, sagte Auger.
»Diese Metallkonstruktion?«
»Ja. Setz uns auf der obersten Ebene ab, so gut es geht.«
»Das Ding steht schief. Ich bin mir nicht sicher, ob das Metall halten wird.«
»Es wird halten«, sagte Auger. »Das hier sind siebentausend Tonnen solides viktorianisches Gusseisen. Wenn es zweihundert Jahre unter dem Eis überstanden hat, wird es auch unser Gewicht tragen.«
Zwei Jahrhunderte lang war das untere Drittel des dreihundert Meter hohen Turms von Eis umschlossen gewesen. Durch eine vergessene, von niemandem beobachtete Katastrophe waren die oberen fünfundsiebzig Meter fortgerissen worden. Die Trümmer hatten keine Spuren in der ausgegrabenen Senke von Paris hinterlassen. Die beiden unteren Aussichtsplattformen waren noch vorhanden, ebenso der größte Teil der wesentlich kleineren dritten. Sie kauerte an der Spitze eines schiefen, verdrehten Auslegers aus verbogenem Metall, das sich weit über die zugefrorene Seine neigte.
»Ich erkenne ein gelandetes Raumfahrzeug auf der dritten Plattform«, sagte Cassandra. »Das Triebwerk ist noch warm. Die Werte entsprechen dem Shuttletyp, den Caliskan benutzt hat.«
»Das ist unser Treffpunkt. Wenn er nett ist, hat er uns genug Platz zum Landen übrig gelassen.«
»Es könnte knapp werden«, sagte die Slasherin.
»Tu dein Bestes. Notfalls musst du nur einen Moment warten, bis wir ausgestiegen sind oder Caliskan an Bord genommen haben.«
»Und Mister de Maupassant?«
»Er wird nicht dabei sein. Er ist schon seit fast vierhundert Jahren tot.«
»Dann muss ich gestehen …«
»Das ist Caliskans Art von Humor«, sagte Auger. »Er wusste, dass ich es verstehen würde. De Maupassant hat diesen Turm verabscheut. Er hat ihn so sehr gehasst, dass er darauf bestand, hier jeden Tag zu Mittag zu essen. Weil es der einzige Ort in Paris war, wo er ihm nicht den Ausblick verschandelte.«
Unter ihnen ragte der Turm auf. Nun war die extreme Neigung der Spitze noch deutlicher zu erkennen, als sie genau über der dritten Plattform schwebten. Aus dieser Perspektive bog sich das Metallgeflecht nach innen, wie eine unterspülte Böschung, während es auf der Rückseite so stark gekrümmt war, dass sich die Struktur wie das Nackenfell eines Hundes gekräuselt hatte.
Wieder schlug in der Nähe ein Blitz ein. Im Spiel aus Licht und Schatten schien die gesamte Konstruktion wie Gelee zu wackeln.
»Bring uns ran, Cassandra«, sagte Auger. »Je schneller wir unten sind, desto glücklicher bin ich.«
Die Aussichtsplattform war eine rechteckige Ebene aus Metall, die um fünf oder sechs Grad von der Horizontalen abwich. Sie wurde von abgerissenen senkrechten Streben und den Schächten durchstoßen, die einst die Aufzugkabinen zur Spitze des Turms geführt hatten. Die Metallgeländer am Rand der Plattform waren verbogen, aber noch fast vollständig erhalten. Caliskans pfeilförmiges Shuttle stand in einer Ecke, sodass das Heck über die Fläche hinausragte.
»Das ist sein Schiff«, sagte Auger. »Kannst du landen?«
»Ich kann es versuchen.« Cassandra betätigte mehrere Schalter. »Die Landekufen sind ausgefahren und arretiert. Im VTOL werden wir viel Treibstoff verbrennen, aber dagegen kann ich nichts machen.«
Das Schiff schwankte schwebend hin und her, während Cassandra es mit den schwenkbaren Düsen zu stabilisieren versuchte. Sie sanken ein Stück tiefer, hielten inne, und sanken erneut. Als sie sich der Plattform näherten, wehte der Triebwerksschub loses Metall über die Fläche. Es schlug gegen die Geländer und stürzte in die Tiefe. Dann setzten sie auf, und die Landekufen absorbierten den Stoß mit federnder Pneumatik.
Cassandra fuhr die Maschinen herunter, um Treibstoff zu sparen. »Vorläufig müsste dieser Landeplatz in Ordnung sein«, sagte sie.
»Gute Arbeit«, sagte Auger. »Könntest du als nächsten Zaubertrick eine Sprechverbindung zu Caliskan herstellen?«
»Einen Moment.«
Ein Bildschirm flackerte und zeigte dann Caliskans Züge. Er strich sich das wirre weiße Haar aus der glänzenden Stirn. »Sind Sie sicher gelandet?«
»Ja«, sagte Auger, »aber ich weiß nicht genau, ob im Tank des Shuttles noch genug Treibstoff für die Rückkehr in den Orbit ist.« Sie blickte zu Cassandra, die eine unentschlossene Miene zog und die Hand zu einer entsprechenden Geste hob.
»Wie viele Personen haben Sie insgesamt an Bord?«, fragte er.
»Drei«, sagte sie, »und die Fracht. Aber Cassandra hofft, allein mit dem Shuttle zurückfliegen zu können. Nur Floyd und ich müssen an Bord Ihres Schiffs kommen.«
»Hier dürfte genügend Platz für alle drei und die Fracht sein. Glauben Sie, dass Sie es schaffen, zu mir herüberzukommen?«
»Das hängt von der Menge der Furien ab«, sagte Auger.
Er wandte den Blick ab und konsultierte irgendeine Anzeige. »Der Wert ist niedrig genug, um kein Problem darzustellen, vorausgesetzt, Sie legen Schutzanzüge an. Sonst sind keine besonderen Vorkehrungen nötig. Aber passen Sie auf, wo Sie hintreten.«
»Warum wollten Sie sich ausgerechnet hier mit uns treffen? Ich meine, ich verstehe, dass der Orbit nicht der sicherste Ort ist …«
»Wegen der Furien, Auger. Die großen Maschinen kommen nie in diese Höhe. Monsieur Eiffels Monstrosität ist der sicherste Ort in dieser Stadt.«