Fünf
Am Bahnhofseingang versuchte ein bebrillter junger Mann im Überzieher, Floyd ein vervielfältigtes Flugblatt in die Hand zu drücken.
»Lesen Sie das, Monsieur«, sagte er in gebildetem Französisch. »Lesen Sie es, und wenn Sie unsere Ziele teilen, kommen Sie nächste Woche zur Demonstration. Noch kann man etwas wegen Chatelier unternehmen.«
Der Junge war achtzehn oder neunzehn, die Haare unter dem Kinn dünn wie auf einer Pfirsichhaut. Er war wahrscheinlich Medizinstudent oder Rechtsanwalt in Ausbildung. »Warum sollte ich etwas wegen Chatelier unternehmen wollen?«, fragte Floyd.
»Sie sind Ausländer. Ich höre es an Ihrem Akzent.«
»Laut dem Pass in meiner Tasche bin ich Franzose.«
»Das wird bald nicht mehr viel wert sein.«
»Meinen Sie damit, dass ich mich in Acht nehmen sollte?«
»Das sollten wir alle«, erwiderte der junge Mann. Energisch drückte er Floyd das Flugblatt in die Hand. Floyd knüllte es zusammen und wollte es schon wegwerfen, doch dann veranlasste ihn ein mäßigender Impuls, es in die Tasche zu stecken, wo es außer Sicht war.
»Danke für die Warnung, Meister«, sagte er zum Jungen.
»Sie glauben mir nicht, oder?«
»Junge, wenn man so viel rumgekommen ist wie ich …« Floyd schüttelte den Kopf, als ihm klar wurde, dass er es mit einem Erfahrungsunterschied zu tun hatte, der nicht erklärt, sondern nur erlebt werden konnte.
»Es wird mit den üblichen Sündenböcken beginnen«, erklärte der junge Mann. »Aber am Ende erwischt es jeden, dessen Nase ihnen nicht passt.«
»Viel Spaß noch, Junge. Genieß das Gefühl, dass du etwas verändern kannst.« Floyd lächelte. »Es wird nicht ewig anhalten.«
»Monsieur …«, sagte der junge Mann, aber Floyd hatte sich bereits abgewandt und stieg weiter die Bahnhofstreppe hinab.
Der Gare de Lyon tauchte gerade in seinen nächtlichen Dämmerzustand ab. Den klappernden Anzeigetafeln zufolge würden noch ein paar Züge eintreffen und abfahren, aber der abendliche Andrang war eindeutig vorbei. Kühle Luft strömte durch zerbrochene Scheiben im metallenen Gitterwerk, das die Station überdachte. Zum ersten Mal seit Monaten erinnerte sich Floyd daran, wie sich der Winter anfühlte. Es war eine unwillkommene, bis eben noch weggesperrte Erinnerung, die ihn frösteln ließ.
Er griff in die Tasche, um Gretas Brief hervorzuholen, und erwischte stattdessen das politische Pamphlet, das ihm der Junge gegeben hatte. Floyd warf einen Blick zurück, konnte aber nichts mehr von ihm sehen. Er zerknüllte das Papier und warf es in den nächstbesten Abfallcontainer. Schließlich fand er den Brief, den er gesucht hatte, und las ihn noch einmal aufmerksam durch, um sich zu vergewissern, dass er alles richtig verstanden hatte und halbwegs pünktlich war.
»Spät wie immer, Wendell«, sagte hinter ihm eine Frau mit starkem Akzent auf Englisch. Die sofort vertraute Stimme ließ Floyd herumfahren. »Greta?«, setzte er an, als hätte es jemand anderer sein können. »Ich hatte nicht erwartet …«
»Ich habe eine frühere Verbindung genommen. Ich warte hier schon seit einer halben Stunde, in der irrigen Annahme, dass du vielleicht ausnahmsweise früher als eine halbe Minute vorher auftauchst.«
»Dann ist der Zug, der da drüben einfährt, nicht deiner?«
»Deine detektivischen Fähigkeiten haben dich offenbar nicht im Stich gelassen.« In ihrem hüftlangen schwarzen Pelzmantel sah Greta ausgesprochen elegant aus. Eine Hand hatte sie locker in die Hüfte gestemmt, in der anderen hielt sie eine Zigarettenspitze auf Gesichtshöhe. Sie trug schwarze Schuhe, schwarze Strumpfhosen, schwarze Handschuhe und einen schwarzen Hut mit breiter Krempe, den sie bis über die Augen in die Stirn gezogen hatte. Im Hutband steckte eine schwarze Feder, und zu ihren Füßen stand ein schwarzer Koffer. Sie hatte schwarzen Lippenstift aufgetragen und heute auch schwarzen Lidschatten.
Greta mochte Schwarz. Das hatte es Floyd immer leicht gemacht, wenn es darum ging, ihr Geschenke zu kaufen.
»Wann genau ist mein Brief angekommen?«, fragte sie.
»Ich habe ihn heute Nachmittag erhalten.«
»Am Freitag habe ich ihn in Antibes aufgegeben. Eigentlich hättest du ihn spätestens Montag bekommen sollen.«
»Custine und ich waren ein bisschen beschäftigt«, erklärte Floyd.
»Eure schrecklich vielen Fälle?« Greta deutete auf ihr Gepäck. »Würdest du mir damit helfen? Bist du mit dem Auto hier? Ich muss zu meiner Tante, und ich würde es vorziehen, kein gutes Geld für ein Taxi zu verschwenden.«
Floyd machte eine Kopfbewegung in Richtung des einladenden Leuchtens, das aus Le Train Bleu drang, einem Café, zu dem eine kleine Treppe mit Eisengeländer emporführte. »Das Auto steht in der Nähe, aber ich wette, dass du den ganzen Tag, während du im Zug gesessen bist, noch nichts gegessen hast.«
»Ich würde es vorziehen, wenn du mich gleich zu meiner Tante bringst.«
Floyd bückte sich, um den Koffer zu nehmen, als ihm einfiel, was Greta in ihrem Brief geschrieben hatte. »Lebt Marguerite noch in Montparnasse?«
Greta nickte erschöpft. »Ja.«
»Wenn das so ist, haben wir noch Zeit für einen Drink. Der Verkehr über den Fluss ist mörderisch – wir sind eher da, wenn wir noch eine halbe Stunde warten.«
»Ich bin mir sicher, dass du eine genauso einleuchtende Erklärung hättest, wenn sie inzwischen auf diese Seite des Flusses gezogen wäre.«
Floyd schmunzelte und machte sich daran, den Koffer die Treppe hinaufzuschleppen. »Ich verstehe das als ein ›Ja‹. Was hast du hier eigentlich drin?«
»Bettzeug. Das Gästezimmer meiner Tante ist seit Jahren nicht benutzt worden. Nicht mehr, seit ich ausgezogen bin.«
»Du könntest auch bei mir wohnen«, bot Floyd an.
Gretas Absätze klackten auf den Steinstufen. »Und Custine aus seinem Zimmer scheuchen, wie? Du behandelst den armen Kerl wie ein Stück Dreck.«
»Bislang hat er sich nie beschwert.«
Greta stieß die Doppeltür zum Café auf und hielt einen Augenblick auf der Schwelle inne, als würde sie für ein Foto posieren. Von innen war das Café ein Kaleidoskop aus Wandspiegeln und Zigarettenrauch, überdacht von einer opulent bemalten Zimmerdecke, wie eine Miniaturausgabe der Sixtinischen Kapelle. Ein Kellner wandte sich mit offen abweisender Miene zu ihnen um und schüttelte knapp und bestimmt den Kopf.
Floyd ignorierte ihn und ging zum nächsten Tisch. »Zwei Orange Brandys, Monsieur«, sagte er auf Französisch. »Und machen Sie sich keine Sorgen – wir bleiben nicht lange.«
Der Kellner brummte etwas und wandte sich ab. Greta setzte sich Floyd gegenüber, zog Hut und Handschuhe aus und legte sie vor sich auf die Tischplatte aus Zink. Sie drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus und schloss die Augen in tiefer Resignation oder Müdigkeit. Im Licht des Cafes erkannte er, dass sie gar keinen Lidschatten aufgetragen hatte, sondern einfach nur völlig übermüdet war.
»Es tut mir Leid, Floyd«, sagte sie. »Ich bin nicht gerade bester Stimmung, wie du vielleicht bemerkt hast.«
Floyd tippte sich an die Nase. »Mein detektivisches Gespür lässt mich niemals im Stich.«
»Aber reich hat es dich nicht gemacht, oder?«
»Ich warte immer noch auf das Klopfen an der Tür.«
Ihr musste wohl etwas an seinem Tonfall aufgefallen sein – eine Spur von Hoffnung oder Erwartung. Einen Augenblick lang musterte sie ihn, dann griff sie in ihre Handtasche und steckte sich eine neue Zigarette in die Spitze. »Ich bin nicht dauerhaft zurückgekehrt, Floyd. Als ich gesagt habe, dass ich Paris verlassen werde, habe ich es auch so gemeint.«
Der Kellner brachte ihnen die Brandys, wobei er Floyds Glas wie ein schlechter Verlierer beim Schach auf den Tisch knallte.
»Ich habe nicht ernsthaft geglaubt, dass sich etwas geändert hätte«, erwiderte Floyd. »In deinem Brief hast du geschrieben, dass du zurückkommst, um deine Tante zu besuchen, bis es ihr wieder besser geht …«
»Bis sie stirbt«, berichtigte Greta ihn und zündete ihre Zigarette an.
Der Kellner war sichtlich nervös. Floyd suchte in seiner Hemdtasche nach einem Geldschein, fand etwas, das er dafür hielt, und warf es auf den Tisch. Es war die Fotografie von Susan White beim Pferderennen. Das Bild landete mit der Vorderseite nach oben direkt vor Greta.
Greta zog an ihrer Zigarette. »Ist das deine neue Freundin, Floyd? Sie ist ziemlich hübsch, das muss man ihr lassen.«
Floyd steckte das Foto wieder ein und bezahlte den Kellner. »Sie ist ziemlich tot. Das muss man ihr auch lassen.«
»Tut mir Leid. Was …?«
»Unser neuer Fall«, erklärte Floyd. »Die Frau auf dem Bild hat sich im Dreizehnten von einem Balkon im fünften Stock gestürzt. Das war vor ein paar Wochen. Sie war Amerikanerin – und das ist so ziemlich alles, was man über sie weiß.«
»Also ein klarer Fall.«
»Vielleicht«, antwortete Floyd und nahm einen Schluck Brandy. »Übrigens gibt es keine.«
»Keine was?«
»Keine neue Freundin. Ich habe mich mit niemandem getroffen, seit du gegangen bist. Du kannst Custine fragen. Der wird für mich bürgen.«
»Ich habe dir gesagt, dass ich nicht zurückkomme. Meinetwegen musstest du nicht im Zölibat leben.«
»Aber du bist zurück.«
»Nur kurzfristig. Nächste Woche um diese Zeit werde ich wahrscheinlich nicht mehr in Paris sein.«
Floyd blickte durchs beschlagene Schaufenster des Cafes, hinter dem die Bahnhofshalle lag. An einem Bahnsteig fuhr gerade ein Zug langsam in die Nacht hinaus. Er stellte sich Greta in so einem Zug vor, wie sie nach Süden zurückfuhr, wie er sie zum letzten Mal sehen würde, sofern er weichgezeichnete Fotografien in Musikwochenblättern nicht mitzählte.
Schweigend leerten sie ihre Drinks, verließen Le Train. Bleu und durchquerten erneut das stählerne Bahnhofsgewölbe. Inzwischen war es beinahe leer, abgesehen von einer Hand voll Nachzügler, die auf den einen oder anderen letzten Zug warteten. Floyd führte Greta nach draußen, zum Ausgang, den er zuvor genommen hatte. Als sie näher kamen, hörte er einen Aufruhr – Stimmen, die sich in Wut oder Trotz erhoben.
»Was ist da los, Floyd?«, fragte Greta.
»Warte hier.«
Trotzdem folgte sie ihm. Als sie um die Ecke kamen, sahen sie sich einer Szene aus Licht und Schatten gegenüber, wie ein Standbild aus einem Kinofilm. Drei junge Männer ohne Hut standen in angriffslustiger Pose unter einer Straßenlaterne. Sie trugen ordentliche schwarze Kleidung, die Hosenbeine in hohen, polierten Stiefeln. Der junge Mann, der Floyd das Flugblatt gegeben hatte, lag vor ihnen auf dem Boden, den Rücken am Laternenpfahl, als sei er vom Lichtschein auf der Straße festgenagelt worden. Sein Gesicht war blutig, seine Brille lag verbogen und zerbrochen auf dem Gehsteig.
Er erkannte Floyd, und einen Augenblick lang war etwas wie Hoffnung in seinem Gesicht zu erkennen. »Monsieur… bitte helfen Sie mir!«
Einer der Schläger lachte und trat ihm vor die Brust. Der Junge krümmte sich und stieß ein einziges schmerzerfülltes Keuchen aus. Einer der anderen beiden Schläger wandte sich von der kleinen Szene ab. Schatten glitten über sein Gesicht. Er hatte deutlich hervortretende Wangenknochen, sein kurzes, blondes Haar war mit Haarwachs aus dem Gesicht gekämmt und an beiden Seiten und im Nacken fast ganz ausrasiert.
»Halt dich da raus«, sagte der Schläger. Etwas blitzte in seiner Hand auf.
Greta drückte Floyds Arm. »Wir müssen etwas unternehmen.«
»Zu gefährlich«, sagte Floyd und wich zurück.
»Sie werden ihn töten.«
»Sie verpassen ihm nur eine Warnung. Wenn sie es ernst meinen würden, hätten sie ihn längst töten können.«
Der Flugblattverteiler wollte etwas sagen, aber das Wort wurde ihm von einem weiteren sorgfältig platzierten Tritt gegen die Brust abgeschnitten. Stöhnend sackte er mit dem Oberkörper zu Boden. Floyd machte einen Schritt in Richtung des Kampfschauplatzes und wünschte sich, er hätte eine Waffe dabei. Der eine Schläger fuchtelte mit seinem Messer herum und schüttelte betont langsam den Kopf. »Ich hab gesagt, du sollst dich raushalten, Fettsack.«
Floyd wandte sich ab und spürte, wie seine Wangen vor Scham brannten. Schnell führte er Greta vom Geschehen weg in einen anderen Bereich des Bahnhofs, wo es einen weiteren Ausgang gab. Sie drückte seinen Arm erneut, als würden sie an einem Sonntagnachmittag durch die Tuilerien spazieren. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Du hast das Richtige getan.«
»Ich habe nichts getan.«
»Nichts war das Richtige. Die hätten dich aufgeschlitzt. Ich hoffe nur, dass sie den Mann am Leben lassen.«
»Er war selber schuld«, sagte Floyd. »Dieses Zeug einfach so zu verteilen … er hätte es besser wissen müssen.«
»Was genau hat er verteilt?«
»Ich weiß nicht. Ich habe das Flugblatt weggeworfen.«
Sie erreichten den in einer Seitenstraße versteckten Mathis. Jemand hatte ein Flugblatt unter den Scheibenwischer geklemmt. Floyd zog es hervor und hielt es an die Windschutzscheibe, um es im ersterbenden Licht einer Natriumlampe zu begutachten. Es war auf besserem Papier gedruckt als die Exemplare, die der junge Mann verteilt hatte, mit einer Fotografie von Chatelier, wie er glatt und gutaussehend in seiner Militäruniform posierte. Der Text beschwor die Freunde und Verbündeten des Präsidenten, ihn weiterhin zu unterstützen, um dann in kaum verhohlene Angriffe gegen verschiedene Minderheiten überzugehen, darunter Juden, Schwarze, Homosexuelle und Zigeuner.
Greta riss ihm das Flugblatt aus der Hand, um es zu überfliegen. Da sie von einer französischen Tante in Paris großgezogen worden war, hatte sie kaum Schwierigkeiten mit der Sprache.
»Es ist noch schlimmer als zu der Zeit, in der ich gegangen bin«, sagte sie. »Damals hätten sie sich nicht getraut, so etwas offen zu vertreten.«
»Sie haben inzwischen die Polizei auf ihrer Seite«, erklärte Floyd. »Die können sagen, was immer sie wollen.«
»Kein Wunder, dass Custine aufgehört hat. Er war schon immer zu gut für die.« Greta trat mit den Füßen auf der Stelle, um die Kälte zu vertreiben. Handschuhe und Hut hatte sie wieder angezogen. »Wo ist Custine eigentlich?«
Floyd nahm ihr das Flugblatt aus der Hand, putzte sich damit die Nase und warf es in den Rinnstein. »Er kümmert sich um diesen kleinen Mordfall.«
»Das war ernst gemeint?«
»Hast du gedacht, ich hätte es mir ausgedacht?«
»Ich dachte, Mord wäre nicht so deine Sache.«
»Jetzt schon.«
»Aber sollten Custines ehemalige Mitarbeiter nicht etwas mehr Interesse zeigen, wenn diese Frau wirklich ermordet wurde? So sehr können sie doch nicht damit ausgelastet sein, Dissidenten zu terrorisieren.«
Floyd schloss das Auto auf und legte Gretas Koffer auf den Rücksitz. »Wenn sie eine Französin gewesen wäre, wären sie vielleicht eher geneigt gewesen, ein wenig Zeit auf den Fall zu verschwenden. Aber sie war nur eine amerikanische Touristin, und damit sind sie aus dem Schneider. Sie behaupten einfach, dass es ein klarer Fall ist. Sie ist entweder gesprungen oder versehentlich gestürzt. Das Geländer war in Ordnung, also liegt in keinem Fall ein Verbrechen vor.« Er hielt Greta die Tür auf, und sie ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. Dann ging er hinüber zur Fahrerseite und stieg ebenfalls ein.
»Aber du glaubst nicht, dass es so war?«
»Ich bin noch unentschlossen.« Floyd wartete, bis das Auto hustend zum Leben erwachte. »Nach allem, was wir bis jetzt wissen, würde ich weder einen Unfall noch Selbstmord völlig ausschließen. Aber ein paar Dinge passen nicht ganz zusammen.«
»Und wer zahlt für diese unabhängige Ermittlung?«
»Ihr Vermieter.« Floyd lenkte das Auto auf die Straße und fuhr in Richtung des nächsten Flussübergangs. Ein Polizeiauto kam ihnen entgegen und fuhr vorbei, Richtung Bahnhof. Offenbar hatten sie es nicht besonders eilig.
»Was hat ihr Vermieter mit der Sache zu tun?«
»Der ältere Herr war sehr angetan von ihr, und er glaubt, dass mehr hinter der Sache steckt, als man auf den ersten Blick sieht.« Floyd ließ eine Hand am Lenkrad, während er mit der anderen unter seinen Sitz griff, die Keksdose hervorholte und sie Greta reichte. »Sieh mal, ob du daraus schlau wirst.«
Greta zog die Handschuhe aus und öffnete die Dose. »Das hat der toten Frau gehört?«
»Wenn der Vermieter die Wahrheit sagt, hat sie ihm die Dose kurz vor ihrem Tod zur Aufbewahrung gegeben. Warum sollte sie das tun, wenn sie nicht um ihre Sicherheit besorgt war?«
Greta blätterte die Papiere durch. »Ein paar davon sind auf Deutsch«, stellte sie fest.
»Deshalb habe ich dich gebeten, einen Blick darauf zu werfen.«
Sie legte die Papiere zurück in die Dose, machte sie wieder zu und legte sie neben ihren Koffer auf den Rücksitz. »Jetzt kann ich mir das nicht ansehen. Hier drinnen ist es zu dunkel. Außerdem wird mir schlecht, wenn ich im Auto lese. Besonders, wenn du fährst.«
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Floyd. »Nimm die Dose mit und sieh sie dir später an, wenn du Zeit hast.«
»Ich bin gekommen, um mich um meine Tante zu kümmern, nicht, um dir bei deinem Fall zu helfen.«
»Du brauchst doch nur ein paar Minuten dafür. Und du musst es dir ja nicht heute Abend ansehen. Ich schau morgen mal vorbei, dann gehen wir essen. Und dann kannst du mir alles darüber erzählen.«
»Du bist gut, Floyd. Das muss man dir lassen.«
Er versuchte beiläufig zu klingen, als wäre nichts von alledem geplant gewesen. »Da ist was drin, das wie eine Zugfahrkarte aussieht, und ein geschäftlicher Brief, der mit irgendeiner Fabrik in Berlin zu tun hat – vielleicht mit einem Stahlwerk. Ich frage mich, was eine nette junge Dame wie Susan White mit einer Stahlfirma zu tun hat.«
»Woher weißt du, dass sie eine nette junge Dame war?«
»Weil sie alle nett sind, bis das Gegenteil bewiesen ist«, antwortete er ihr mit einem unschuldigen Lächeln.
Während der nächsten zwei Häuserblocks sagte Greta nichts. Sie starrte nur aus dem Fenster, als hätten die vorbeiströmenden Vorder- und Rücklichter sie hypnotisiert. »Ich sehe mir das Zeug mal an, Floyd, aber mehr kann ich dir nicht versprechen. Es ist schließlich nicht so, dass ich gerade nichts anderes im Kopf hätte.«
»Tut mir Leid wegen deiner Tante«, sagte Floyd. Er lenkte das Auto in die Schlange der am Flussübergang wartenden Fahrzeuge. Erleichtert stellte er fest, dass seine Behauptung vom mörderischen Verkehr nicht ganz und gar aus der Luft gegriffen war. Weiter vorne war ein Lastwagen liegen geblieben, und ein paar Männer droschen mit Schraubenschlüsseln auf die freiliegenden Zylinderköpfe ein. Rund um die Szene hatten sich Wachmänner versammelt. Die gebogenen Magazine ihrer billigen Maschinenpistolen glänzten wie Sensen. Sie stampften mit den Füßen auf und reichten eine glimmende Zigarette herum.
Unvermittelt sagte Greta: »Die Ärzte geben ihr zwei bis acht Wochen, je nachdem, wen man fragt. Aber was wissen die schon?«
»Sie tun ihr Bestes«, sagte Floyd. Er wusste immer noch nicht, was Gretas Tante fehlte. Nicht, dass es letztlich eine Rolle gespielt hätte.
»Sie will nicht ins Krankenhaus. Das hat sie ganz klar gesagt. Neununddreißig hat sie miterlebt, wie mein Onkel im Krankenhaus gestorben ist. Ihr bleibt nur noch ihre Wohnung und ein paar Wochen Lebenszeit.« Die Innenseite ihres Autofensters beschlug sich langsam. Floyd beobachtete, wie Greta einen Fingernagel über die Scheibe zog und eine dünne Linie hinterließ. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch lebt. Das letzte Mal habe ich vor einer Woche von ihr gehört. Sie haben ihr das Telefon abgestellt, als sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnte.«
»Hoffentlich bist du noch rechtzeitig gekommen«, sagte Floyd. »Hätte ich das gewusst, hätte ich versucht, dir ein Flugticket zu schicken.«
Sie bedachte ihn mit einem hoffnungslosen Blick. »Du hättest es versucht, Floyd. Mehr nicht.«
»Was ist mit dem Rest der Band? Hätten die nicht genügend Geld zusammenkratzen können, um dich nach Paris zu bringen?«
Das Auto kroch drei weitere Fahrzeuglängen vorwärts, bevor sie antwortete. »Es gibt keinen Rest der Band, Floyd. Ich habe sie verlassen.«
Floyd bemühte sich redlich, jede Spur von Triumph in seinem Tonfall, jede Spur von »Hab ich’s doch gleich gesagt« zu unterdrücken. »Das tut mir Leid. Warum hat es nicht geklappt? Mir kamen sie recht anständig vor. Drogenabhängige, aber nicht schlimmer als andere Jazzmusiker auch.«
»Das ist nicht gerade eine Empfehlung.«
»Du weißt schon, was ich meine.«
»Es war alles in Ordnung mit ihnen. Sie haben mich gut behandelt und die Tour lief gar nicht mal schlecht. In Nizza sind wir gut angekommen, und in Cannes hatten wir ein paar vielversprechende Engagements in Aussicht.«
»Warum hast du sie dann verlassen?«
»Weil es zu nichts geführt hat. Eines Abends hat mich die Erkenntnis wie der Schlag getroffen: Sie werden es nicht schaffen. Ich hätte es auch nicht geschafft, wenn ich bei ihnen geblieben wäre.«
»Hast du das Gleiche empfunden, als du mich und Custine verlassen hast?«
»Ja«, antwortete sie, ohne eine Sekunde zu zögern.
Floyd fuhr am liegen gebliebenen Laster vorbei. Er berührte die Hutkrempe mit einem Finger, als die Wachmänner ihre Waffenläufe in die ungefähre Richtung des Mathis bewegten. »Wenigstens bist du ehrlich.«
»Ich habe festgestellt, dass es vieles einfacher macht«, erwiderte Greta.
Sie hielten die nötigen Papiere bereit. Floyd beobachtete, wie der Wachmann am Kontrollpunkt schnaubend seine Papiere durchsah und sie mit dem Ausdruck schmollenden Missfallens zurückreichte, als hätte Floyd sich eines kleinen Fehlers schuldig gemacht, käme aber mit einer Verwarnung davon. So verhielten sie sich immer, ganz gleich, wie einwandfrei die Papiere waren. Floyd nahm an, dass sie nur auf diese Weise ihren Arbeitstag überstanden.
»Hier«, sagte Greta und reichte ihre Papiere über Floyd hinweg. Der Wachmann nahm sie entgegen und begutachtete sie im Schein seiner Taschenlampe. Er machte bereits Anstalten, sie zurückzugeben, als er zögerte und noch einmal genauer hinschaute. Er leckte einen Finger an und blätterte Gretas Reisepass durch. Gelegentlich hielt er inne, als würde er eine Sammlung seltener Briefmarken oder Schmetterlinge betrachten.
»Sie reisen ziemlich viel für ein deutsches Mädchen«, bemerkte er in schwerfälligem Französisch.
»Dafür hat man schließlich einen Reisepass«, erwiderte Greta mit tadelloser Pariser Aussprache.
Floyd spürte, wie ihm Eiswasser durch die Adern rann. Er legte eine Hand auf Gretas Knie und drückte sanft, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Und eine große Klappe dazu«, sagte der Wachmann.
»Die ist sehr nützlich in meinem Beruf. Ich bin Sängerin.«
»In diesem Fall sollten Sie Manieren lernen.« Der Wachmann reichte die Papiere zurück, wobei er sie bewusst Floyd und nicht Greta gab. »Der Reisepass läuft nächstes Jahr aus. Im Rahmen der neuen Bestimmungen wird es für manche Leute schwer sein, eine Verlängerung zu erhalten. Insbesondere für deutsche Mädchen mit großer Klappe. Vielleicht sollten Sie Ihre Einstellung noch einmal überdenken.«
»Ich glaube kaum, dass ich Schwierigkeiten haben werde«, erwiderte Greta.
»Wir werden sehen.« Der Wachmann nickte seinem Kollegen zu und schlug mit der flachen Hand an den Rahmen der Autotür. »Weiterfahren. Und bringen Sie Ihrer Freundin Manieren bei.«
Floyds Atem normalisierte sich erst wieder, als sie die Seine hinter sich hatten und der Fluss zwischen ihnen und dem Kontrollpunkt lag. »Das war … sehr interessant«, bemerkte er.
»Blödmänner.«
»Blödmänner, mit denen wir leben müssen«, erwiderte Floyd scharf. Nervös würgte er den Gang rein. »Wie dem auch sei, was hast du damit gemeint, dass du keine Probleme kriegen würdest?«
Greta schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nichts gemeint.«
»Für mich klang es, als hättest du dir sehr wohl etwas dabei gedacht.«
»Fahr einfach, Floyd. Ich bin müde, in Ordnung? Ich bin müde und freue mich nicht besonders auf die ganze Sache.«
Floyd bog in Richtung Montparnasse ab. Es fing an zu regnen – zuerst ein leichtes Nieseln, das die Lichter der Stadt zu wässrigen Pastellflecken verschmierte, dann härterer Regen, der die Menschen hektisch in Gaststätten Zuflucht suchen ließ. Floyd versuchte, etwas im Autoradio zu finden. Einen Moment lang hörte er etwas Gershwin, aber als er zurückdrehte, um den Sender wiederzufinden, kam nur Rauschen.
Floyd half Greta, ihr Gepäck in den ersten Stock zu tragen, wo neben der kleinen Küche das Gästezimmer ihrer Tante lag. Im ganzen Haus war es kalt, und es roch leicht verschimmelt. Die Lampen verströmten entweder nur ein schwaches, flackerndes Licht oder funktionierten überhaupt nicht. Das Telefon war, wie Greta erwähnt hatte, tot. Die feuchten, angefaulten Dielen bogen sich unter Floyds Schritten durch. Das zerbrochene Oberlicht im Treppenhaus war mit einer rostigen Eisenplatte geflickt, auf die der Regen mit spitzen, ungeduldigen Fingern eintrommelte.
»Leg meine Sachen aufs Bett.« Greta zeigte auf die winzige Koje, die in eine Ecke des Zimmers gezwängt war. »Ich sehe mal nach, wie es Tante Marguerite geht.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nein«, antwortete sie nach kurzer Überlegung. »Nein, aber trotzdem danke. Ich glaube, es ist am besten, wenn sie von jetzt an nur noch vertraute Gesichter sieht.«
»Ich dachte, ich zähle zu den vertrauten Gesichtern.«
Sie blickte ihn wortlos an.
»Ich sehe mal nach, ob ich uns was zu Essen besorgen kann«, sagte Floyd.
»Du musst hier nicht warten, wenn du nicht willst.«
Floyd legte ihre Sachen zusammen mit der Blechdose, in der sich Susan Whites Zettelsammlung befand, auf dem Bett ab. »Ich gehe nirgendwohin. Zumindest nicht, solange das Wetter nicht aufklart.«
Eine junge Frau, die in einem kleinen Zimmer im dritten Stock zur Miete wohnte, hatte sie ins Haus gelassen. Sie war eine Französin namens Sophie, von Beruf Stenografin, mit einer Kassenbrille und einem nervösen, wiehernden Lachen, das in einem lauten Schnauben endete. Floyd hatte sie unter »ewige Jungfer« einsortiert und sich sofort schuldig gefühlte, als Greta ihm mehr über das Mädchen erzählte.
»Sie ist ein echter Engel gewesen«, hatte Greta erklärt, als Sophie außer Hörweite war. »Sie hat Essen eingekauft, sauber gemacht, Briefe geschrieben und sich für meine Tante um alles gekümmert … und nebenbei hat sie noch Miete gezahlt. Aber jetzt hat man ihr eine Stelle in Nancy angeboten, und sie kann es nicht länger hinauszögern, wenn sie annehmen will. Es war wirklich großartig von ihr, dass sie so lange geblieben ist.«
»Und das ist alles? Keine Verwandten außer dir?«
»Niemand, den man fragen könnte«, antwortete Greta.
Während Greta oben bei Marguerite war, machte Sophie mit Floyd eine Führung durch die emaillierten Metallschränke in der Küche. Alles war makellos sauber, aber die meisten Fächer waren leer. Floyd verabschiedete sich von allen Hoffnungen auf etwas zu essen und machte sich einen Tee. Dann wartete er im Gästezimmer, studierte die Risse im Putz und die fleckige, zerfetzte, fünfzig Jahre alte Tapete. Von irgendwo im Haus waren gesenkte Stimmen zu hören, beziehungsweise eine stark gedämpfte Stimme, die eine halbe Unterhaltung in Gang hielt.
Sophie steckte den Kopf durch die Tür und verkündete, dass sie ausgehen wollte, um mit ihrem Freund einen Film anzusehen. Floyd wünschte ihr alles Gute und lauschte dem Geräusch ihrer Schritte im knarrenden alten Treppenhaus, gefolgt von einem Schnappen, als sie die Tür behutsam von draußen schloss, statt sie zufallen zu lassen.
So leise wie möglich verließ er das Gästezimmer and ging die Treppe ins zweite Stockwerk hinauf. Die Tür zu Marguerites Schlafzimmer stand einen Spaltbreit offen, und er konnte Gretas Stimme jetzt deutlicher hören. Sie las aus dem Lokalteil einer Zeitung vor, um Marguerite über das Pariser Leben auf den neuesten Stand zu bringen. Floyd schlich näher zur Tür und erstarrte, als er auf eine knarrende Diele trat. Greta hielt in ihrem Monolog inne, dann blätterte sie um und fuhr fort.
Floyd erreichte die Tür. Er spähte durch den Spalt und sah Greta mit übergeschlagenen Beinen und der Zeitung auf dem Schoß am Bett sitzen. Dahinter konnte er ansatzweise die Gestalt ihrer Tante im Bett ausmachen. Sie war so zerbrechlich, so leblos, dass es auf den ersten Blick fast aussah, als wäre das Bett einfach nur ungemacht und die Falten im Bettzeug würden zufällig eine menschliche Gestalt andeuten. Marguerites Kopf war von der Tür aus nicht zu sehen -Gretas Rücken verdeckte ihn. Aber Floyd konnte einen Arm ausmachen, der wie ein dünner, vertrockneter Ast aus dem Ärmel ihres Nachthemds stach. Greta hielt die Hand ihrer Tante, während sie aus der Zeitung vorlas, und strich unendlich liebevoll über die Finger der alten Frau. Bei dem Anblick spürte Floyd einen Kloß in der Kehle, und zum zweiten Mal an diesem Abend schämte er sich.
Er zog sich über den Flur zurück, wobei er die knarrende Diele ausließ, und kehrte in Gretas Zimmer zurück. Das konnte nicht Marguerite sein, nicht die lebhafte Frau, die er vor nur wenigen Jahren gekannt hatte. So wenig Zeit konnte unmöglich so viel Schaden anrichten.
Sie war misstrauisch gewesen, als er die ersten Male mit ihrer Nichte ausgegangen war, und sogar noch misstrauischer, als klar wurde, dass er sie in seiner Band haben wollte. Aber nach und nach hatten sie einen Zustand widerwilligen Einverständnisses erreicht, und die Kälte war einer ungewöhnlichen Freundschaft gewichen. Wenn Greta schon zu Bett gegangen war, war Floyd oft noch aufgeblieben und hatte mit Marguerite Dame gespielt oder über die alten Filme aus den Zwanzigern und Dreißigern geredet, die sie beide so sehr liebten. In den letzten Jahren hatten sie sich aus den Augen verloren, vor allem, nachdem Greta sich eine eigene Wohnung am anderen Ende der Stadt genommen hatte, und jetzt empfand er eine Welle der Trauer, die ihn durchströmte wie eine plötzliche chemische Veränderung des Blutes in seinem Körper.
Auf der Suche nach Ablenkung öffnete er die Blechdose und nahm die Postkarte heraus. Erneut fiel ihm auf, wie bestimmt die Worte ›Silber‹ und ›Regen‹ unterstrichen waren. Wenn ›Silberregen‹ wirklich eine Botschaft war – und es gab keinen stichhaltigen Hinweis, dass es sich tatsächlich so verhielt –, welche Bedeutung hatten diese Worte dann für diesen geheimnisvollen Caliskan, an den die Postkarte adressiert war?
Er legte die Postkarte beiseite, als Greta das Gästezimmer betrat.
»Ich sagte doch, dass du nicht warten musst.«
»Es regnet noch«, erwiderte Floyd. »Auf jeden Fall habe ich mir dieses Zeug hier noch einmal angesehen.« Er musterte Gretas Gesicht und stellte fest, dass ihre Augen feucht von Tränen und Müdigkeit waren. »Wie geht es ihr?«, fragte er.
»Sie lebt noch. Das ist schon mal etwas.«
Floyd lächelte höflich, obwohl er sich insgeheim fragte, ob es nicht gnädiger gewesen wäre, wenn sie während Gretas Abwesenheit gestorben wäre. »Ich habe Tee gekocht«, sagte er. »Der Kessel ist noch warm.«
Greta setzte sich neben ihm aufs Bett. »Macht es dir was aus, wenn ich stattdessen rauche?«
Floyd legte die Postkarte in die Dose zurück. »Nur zu.«
Greta zündete sich eine Zigarette an und rauchte mindestens eine Minute lang schweigend, bevor sie schließlich wieder sprach. »Die Ärzte nennen es eine Atemblockade«, sagte sie und zog erneut an ihrer Zigarette. »Damit meinen sie Lungenkrebs, obwohl sie nicht offen damit herausrücken. Sie sagen, es gäbe nichts, was man für sie tun kann. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.« Sie lachte tonlos. »Sie sagen, es liegt an den vielen Zigaretten, die sie geraucht hat. Sie hat mir gesagt, dass ich aufhören soll. Ich habe ihr erzählt, dass ich das schon getan hätte, wegen meiner Singstimme.«
»Ich schätze mal, ein oder zwei Notlügen darfst du dir erlauben.«
»Vielleicht waren es auch gar nicht die Zigaretten. Vor zwanzig Jahren hat man sie in der Rüstungsproduktion arbeiten lassen. Viele Frauen in ihrem Alter sind heute krank, wegen der Asbeststoffe, mit denen sie arbeiten mussten.«
»Kann ich mir gut vorstellen.«
»Gestern hat Sophie mit dem Arzt gesprochen. Jetzt heißt es, dass es noch eine Woche dauern wird, vielleicht auch zehn Tage.«
Floyd nahm ihre Hand und drückte sie. »Tut mir Leid. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das für dich sein muss. Wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann …«
»Niemand kann irgendetwas tun«, erwiderte Greta verbittert. »Das ist es ja.« Sie nahm einen weiteren Zug. »Jeden Morgen kommt der Arzt vorbei und gibt ihr etwas Morphin. Mehr kann man nicht für sie tun.«
Floyd ließ den Blick durch das trostlose kleine Zimmer schweifen. »Kommst du hier zurecht? Du klingst nicht gerade so, als wärst du in der richtigen Verfassung, um hier eingepfercht zu sein. Wenn du deiner Tante gute Nacht gesagt hast, wird sie gar nicht merken, wenn du gehst und gleich morgen früh …«
»Ich bleibe hier«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Ich habe ihr gesagt, dass ich hier bleiben würde.«
»Es war nur ein Angebot.«
»Ich weiß.« Greta gestikulierte abwesend mit der Zigarette in der Hand. »Ich wollte nicht undankbar klingen. Aber selbst wenn ich nicht versprochen hätte, hier zu bleiben … ich kann einfach gerade keine weiteren Komplikationen in meinem Leben gebrauchen.«
»Und ich zähle als Komplikation?«
»Im Moment ja.«
Floyd bemühte sich, nicht zu direkt zu klingen, als er erwiderte: »Greta, du musst doch einen Grund für diesen Brief gehabt haben. Das war doch nicht nur, weil du jemanden gebraucht hast, der dich nach Montparnasse bringt, oder?«
»Nein, es war nicht nur das.«
»Was war es dann? Hatte es etwas damit zu tun, wie du mit diesem Idioten am Kontrollpunkt geredet hast?«
»Das ist dir aufgefallen?«
»War kaum zu vermeiden.«
Greta lächelte dünn. Vielleicht dachte sie daran, wie sie mit dem Kerl umgegangen war – dieser kleine, bedeutungslose Triumph. »Er hat gesagt, dass deutsche Mädchen mit großer Klappe in ein oder zwei Jahren vielleicht Probleme mit ihrem Pass kriegen würden. Nun, ich bin mir sicher, dass er Recht hat. Aber auf mich wird das keine Auswirkungen haben.«
»Warum nicht?«
»Weil ich dann nicht mehr hier sein werde. Ich nehme ein Flugboot nach Amerika, sobald ich hier mit meiner Tante fertig bin.«
»Amerika?«, wiederholte Floyd, als hätte er sie irgendwie falsch verstehen können.
»Ich wusste, dass es mit dir und Custine nichts werden konnte. Ich habe ja gesagt, dass ich Paris deshalb verlassen habe. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich bei der anderen Band das gleiche Gefühl bekommen würde.« Greta rieb sich die Augen, vielleicht, um den Schlaf fern zu halten. »Eines Abends waren wir in Nizza. Die Show war gut gelaufen, und wir saßen hinterher noch in der Bar rum und ließen uns von den Stammkunden Drinks ausgeben.«
»Dann habt ihr gute Arbeit geleistet«, bemerkte Floyd. »Wenn Custine und ich fertig sind, geben wir uns normalerweise alle Mühe, der Kundschaft aus dem Weg zu gehen.«
Greta schüttelte den Kopf. »Du machst dich immer schlecht, Floyd. Immer lebst du in der Vergangenheit und hältst dich an deinem heiß geliebten Sinn fürs Unpassende fest. Ist es da verwunderlich, dass es bei dir nicht gut läuft?«
»Was war nun mit diesem Treffen in der Bar?«
»Da war ein Mann. Ein Amerikaner. Ein fetter Mann mit schlecht sitzendem Anzug, einem noch schlechteren Haarschnitt und einem verdammt dicken Portemonnaie.«
»Es gibt eben immer Qualitäten, die entschädigen. Und wie war sein Name?«
»Den hat er uns zuerst nicht genannt. Er meinte nur, dass er ›in der Stadt‹ sei und dass sein Schiff im Yachthafen in Cannes läge. Er sagte, dass ihm die Band gefallen würde, obwohl er auch ein paar spitze Bemerkungen eingestreut hat, dass wir mit der Zeit gehen müssten, wenn wir jemals ›nach oben‹ kommen wollten. Damit wollte er sagen, dass wir altmodisch waren, aber unsere Sache gut machten.«
»Das kriege ich auch oft zu hören.«
»Jedenfalls hat uns der Mann für den Abend mit Drinks versorgt. Aber du weißt ja, wie die Jungs sind – nach ein paar Stunden wussten sie kaum noch, auf welchem Planeten sie sich befanden, ganz zu schweigen davon, in welchem Club. Nachdem die anderen also beschäftigt waren, konzentrierte sich der Mann auf mich. Er behauptete, Fernsehproduzent zu sein.«
»Fernsehen«, wiederholte Floyd, als wäre das etwas, wovon er irgendwann mal am Rande gehört hatte.
»In Amerika ist das eine größere Sache als hier«, erklärte Greta, »und es wird mit jedem Jahr wichtiger. Es heißt, wenn man sich ein neues Auto leisten kann, kann man sich auch einen neuen Fernseher leisten.«
»Das wird sich nie durchsetzen.«
»Vielleicht nicht, aber es geht darum, dass ich es versuchen muss. Ich muss herausfinden, ob ich es draufhabe. Der Mann hat gesagt, dass sie verzweifelt nach neuen Talenten suchen.« Greta griff in ihre Jackentasche und zeigte Floyd die Visitenkarte, die der Fernsehproduzent ihr gegeben hatte. Sie war auf hochwertiger Pappe gedruckt und trug den Namen und die Geschäftsadresse des Mannes neben den Umrissen zweier Palmen.
Floyd warf einen Blick auf die Karte und gab sie Greta zurück. »Was sollten die mit einem deutschen Mädchen wollen?«
»Ich kann ihre Sprache, Floyd. Und der Mann hat gesagt, die Sache hätte den Reiz des Neuen.«
»Sie werden dich verbrauchen und ausbrennen lassen.«
»Und du weißt natürlich bestens darüber Bescheid, was?«
Floyd zuckte die Achseln. »Ich bin nur realistisch.«
»Dann sollen sie mich verbrauchen. Das ist mir lieber als ein langsamer Tod in irgendeiner Jazzband, die in der Sackgasse steckt, weil sie Musik spielt, die kein Mensch mehr hören will.«
»Du weißt wirklich, wie man Leute verletzt«, bemerkte Floyd.
»Die Sache ist die«, sagte Greta, »dass ich mich ohnehin schon entschlossen habe. Ich habe genug Geld für das Flugboot zusammengespart. Ich gebe ihnen zwei Jahre. Wenn bis dahin nichts passiert ist, komme ich vielleicht nach Europa zurück.«
»Es wird nie wieder das Gleiche sein«, sagte Floyd.
»Ich weiß, aber ich muss es trotzdem versuchen. Ich will nicht in fünfzig Jahren in irgendeinem morschen alten Haus in Paris auf dem Totenbett liegen und mich fragen, was wohl gewesen wäre, wenn ich die einzige Gelegenheit ergriffen hätte, die das Leben mir geboten hat.«
»Ich verstehe«, sagte Floyd. »Glaub mir, ich verstehe das wirklich. Es ist dein Leben, und es geht mich gar nichts an, was du damit anfängst. Aber was ich nicht begreife, ist, warum du mir überhaupt davon erzählst. Du hast immer noch nicht meine Frage von vorhin beantwortet. Warum hast du mir den Brief geschickt?«
»Weil ich dir die Möglichkeit biete, mich zu begleiten. Nach Amerika, Floyd. Nach Hollywood. Wir beide.«
Floyd hatte irgendwie geahnt, dass so etwas kommen würde, seit sie angefangen hatte, von Amerika zu sprechen. »So ein Angebot sollte man nicht leichtfertig machen.«
»Ich meine es ernst«, erwiderte Greta.
»Ich weiß. Das merke ich. Und ich bin dir dankbar, dass du gefragt hast.« Kläglich fügte er hinzu: »Ich verdiene keine zweite Chance.«
»Du bekommst trotzdem eine. Aber es ist mir ernst damit, abzureisen, sobald diese ganze schreckliche Angelegenheit überstanden ist.«
Womit sie meinte: sobald ihre Tante tot war.
Floyd wagte es noch nicht, über die Konsequenzen nachzudenken. Er wagte es nicht, sich von der Idee, sie zu begleiten, verführen zu lassen – bei allem, was es für sein Leben in Paris bedeuten würde.
»Wie wäre es damit?«, sagte Floyd. »Ich komme bald nach, aber ich kann dich nicht sofort begleiten – nicht, solange wir noch an dieser Morduntersuchung arbeiten. Und selbst wenn wir den Fall lösen, habe ich noch eine Menge zu erledigen. Ich kann nicht von einer Woche auf die nächste alles stehen und liegen lassen.«
»Ich will, dass du mich begleitest. Ich will kein vages Versprechen, dass du rüberfliegst, wenn du genug Geld zusammengekratzt hast. Wie ich dich kenne, würde das wahrscheinlich ein Jahrzehnt dauern.«
»Ich brauche einfach nur etwas Spielraum«, sagte Floyd.
»Du brauchst immer Spielraum«, erwiderte sie. »Das ist das Problem mit dir. Wenn es ums Geld geht – ich habe ein bisschen was übrig. Nicht genug für ein Flugticket, aber wenn du das Auto und alles andere, von dem du dich trennen kannst, verkaufst, reicht es.«
»Wie lange danach? Ich meine, nachdem sie …« Floyds Stimme versiegte, unfähig, es offen auszusprechen. »Du hast etwas von einer Woche bis zehn Tagen gesagt.«
»Danach bräuchte ich noch eine Woche oder so, um mich um die Beerdigung zu kümmern. Damit hättest du mindestens zwei Wochen, wenn nicht sogar länger.«
»Ich mache mir Sorgen um Custine.«
»Überlass ihm das Geschäft. Gott weiß, dass er hart genug gearbeitet hat, um es sich zu verdienen.«
Offensichtlich hatte sie sich die Sache bereits gut überlegt, dachte Floyd. Er stellte sich vor, wie sie im Zug nach Norden die Einzelheiten ausgearbeitet hatte, und fühlte sich gleichzeitig geschmeichelt und verärgert, im Zentrum von so viel unverdienter Aufmerksamkeit zu stehen.
»Warum gibst du mir eine zweite Chance?«, wollte er wissen.
»Weil ein Teil von mir dich noch immer liebt«, erklärte sie. »Etwas in mir liebt das, was du sein könntest, wenn du aufhören würdest, in der Vergangenheit zu leben. Du bist ein guter Kerl, Floyd. Das weiß ich. Aber hier kommst du nicht weiter, und wenn ich mit dir hier bleibe, komme ich auch nicht weiter. Und das reicht mir nicht. In Amerika ist es vielleicht anders.«
»Ist das wahr? Dass du mich immer noch liebst?«
»Du wärst nicht zum Bahnhof gekommen, wenn du nicht das Gleiche für mich empfinden würdest. Du hättest den Brief einfach ignorieren können, hättest so tun können, als sei er nie angekommen – oder zu spät.«
»Das hätte ich tun können«, räumte Floyd ein.
»Warum hast du es dann nicht getan? Aus dem gleichen Grund, aus dem ich dir geschrieben habe. Ganz gleich, wie viel Kummer und Schmerz wir uns gegenseitig bereiten, wenn wir zusammen sind – wenn wir voneinander getrennt sind, ist es viel schlimmer. Ich wollte über dich hinwegkommen, Floyd. Ich habe mir sogar eingeredet, dass ich es geschafft hätte. Aber ich war nicht stark genug.«
»Du bist nicht über mich hinweggekommen, aber du wirst mich trotzdem verlassen, wenn ich nicht bereit bin, mit dir nach Amerika zu kommen?«
»Es ist die einzige Möglichkeit. Entweder, wir sind zusammen, oder wir sind nicht auf dem gleichen Kontinent.«
»Ich brauche etwas Zeit, um darüber nachzudenken.«
»Wie gesagt, du hast gut zwei Wochen. Das sollte doch genügen.«
»Ich glaube, es spielt keine große Rolle, ob es eine Woche oder ein Jahr ist.«
»Dann zermartere dir deswegen nicht den Schädel.« Greta rückte näher an ihn heran, nahm seine Hand und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich bin in diesem Zimmer aufgewachsen«, sagte sie. »Es war der Mittelpunkt meines Universums. Ich kann kaum glauben, wie klein und dunkel es jetzt aussieht, wie entsetzlich traurig und erwachsen ich mich hier fühle.« Ihr Griff um seine Hand wurde fester. »Ich war hier glücklich, Floyd. So glücklich wie jedes andere Mädchen in Paris auch. Aber jetzt erinnert es mich nur noch daran, dass ich einen Großteil meines Lebens hinter mir habe und dass viel weniger vor mir liegt, seit ich das letzte Mal hier war.«
»Irgendwann erwischt es jeden«, sagte Floyd. »Das Erwachsenwerden, meine ich.«
Sie rückte noch näher an ihn heran, sodass er ihr Haar riechen konnte – nicht nur den Parfümduft von der letzten Wäsche, sondern auch die angesammelten Gerüche der beschwerlichen Reise, die sie hinter sich hatte, den Rauch und Staub und den Geruch anderer Leute, und – irgendwo tief drinnen – ein Stück Paris.
»Ach, Floyd«, hauchte sie. »Ich wünschte, es würde nicht auf diese Art geschehen. Ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg. Aber wenn sie nicht mehr da ist, möchte ich keine Minute länger als nötig in dieser Stadt bleiben. Hier gibt es zu viele traurige Erinnerungen, zu viele Gespenster, und ich will mich nicht für den Rest meines Lebens von ihnen heimgesucht fühlen.«
»Das solltest du auch nicht«, sagte Floyd. »Und du hast Recht mit dem, was du tust. Geh nach Amerika. Du wirst wie eine Bombe einschlagen.«
»Ich werde auf jeden Fall gehen, aber ich werde nur dann wirklich glücklich sein, wenn du mich begleitest. Denk darüber nach, Floyd. Denk so gut darüber nach, wie du noch nie in deinem Leben über etwas nachgedacht hast. Es könnte genauso deine große Chance sein wie meine.«
»Ich denke darüber nach«, versicherte ihr Floyd. »Aber rechne nicht damit, dass ich vor morgen Früh zu einer Antwort komme.«
Er dachte darüber nach, mit ihr zu schlafen – er hatte daran gedacht, seit er ihren Brief geöffnet hatte. Er zweifelte kaum daran, dass sie es zulassen würde, wenn er es versuchte. Und er zweifelte ebenso wenig daran, dass sie von ihm festgehalten werden wollte, bis sie, emotional und körperlich völlig erschöpft, in einen leichten, unruhigen Schlaf fiel. Sie murmelte Worte auf Deutsch, die er nicht verstand. Sie klangen eindringlich und beschwörend, aber genauso gut konnten sie völlig bedeutungslos sein. Dann wurde sie langsam ruhig.
Um drei Uhr morgens legte er sie behutsam ins Bett, zog die Decke über sie und trat in den Regen hinaus, um sie allein im Zimmer zurückzulassen, in dem sie aufgewachsen war.