Siebzehn

 

 

In der Métro-Station an der Rue Cardinal Lemoine kaufte Auger einen einfachen Fahrschein und stürzte sich ins mittägliche Fahrgastgetümmel. In Paris nahmen die Leute das Mittagessen ernst und fanden nichts dabei, die halbe Stadt zu durchqueren, um sich mit einem Kollegen, Partner oder Liebhaber in irgendeinem guten Café oder Restaurant zu treffen. Auger konnte sich nicht sicher sein, ob man ihr vom Hotel aus gefolgt war, aber sie nutzte die Flut der Fahrgäste, um es einem etwaigen Verfolger möglichst schwer zu machen. Sie drängte sich durch die Menge und hetzte Treppen und Rolltreppen auf- und abwärts. Als sie schließlich am unterirdischen Bahnsteig ankam, wurde sie langsamer und ließ den wartenden Zug ohne sie abfahren. Danach war die Plattform zwar nicht völlig verlassen, aber das wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen. Es gab immer Leute, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten, als ungeachtet der durchfahrenden Züge und umhereilenden Menschen in Métro-Stationen herumzulungern. Ein junger Mann mit karierter Jacke, flacher Mütze und Zigarette im Mundwinkel las gerade die Ergebnisse der Wettrennen in der Zeitung, und eine pummelige, aber hübsche junge Frau brachte ihr Make-up mit Hilfe eines kleinen Messingspiegels in Ordnung. Ihr gespitzter Schmollmund verriet absolute Konzentration.

Auger sah erneut auf die Uhr. Sie konnte es nicht erwarten, die nächste Etappe hinter sich zu bringen. Aber es waren immer noch ein paar Minuten bis Mittag, und der Strom in den Gleisen war noch nicht abgestellt. Sie drückte ihre Handtasche fester an sich und beobachtete, wie nach und nach neue Fahrgäste auf dem Bahnsteig eintrafen. Sie war bis ans hinterste Ende gegangen, wo die Schienen in der Dunkelheit des Tunnels verschwanden. Eine Minute vor Mittag sah sie am anderen Ende des Bahnsteigs, wo eine Biegung die Sicht in den Tunnel versperrte, den Widerschein sich nähernder Zugscheinwerfer auf den Schienen. Mit kreischenden Bremsen und Rädern fuhr der Zug ein. Sie warf erneut einen Blick auf die Uhr und wartete ungeduldig, dass der Zug wieder abfuhr. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, wäre ein Zug, der zwischen dem Bahnhof und ihrem Zugangspunkt im Tunnel feststeckte.

Der Zug fuhr weiter. Es war jetzt beinahe Mittag. Neue Fahrgäste trafen auf dem Bahnsteig ein, und der Zeiger ihrer Uhr teilte ihr mit, dass es Zeit war zu gehen. Der Zustand der Gleise änderte sich nicht sichtbar, aber sie hatte ohnehin nicht vor, sie zu berühren, um zu überprüfen, ob Aveling auch wirklich an alles gedacht hatte. Sie würde schnell genug erfahren, ob er seine Arbeit getan hatte.

Auger handelte eilig, aber ohne übertriebene Hast. In einer einzigen flüssigen Bewegung ging sie an der Bahnsteigkante in die Hocke, schwang die Beine hinunter und ließ sich auf den verschmierten Betonboden nieder, auf dem die Schienen verlegt waren. Ihre Hände waren bereits schmutzig von Ruß und Öl, und zweifellos sah ihr Oberkörper auch nicht besser aus. Aber das spielte keine Rolle. Wenn alles nach Plan verlief, würde sie nicht mehr aus dem Tunnel zurückkehren, und niemand würde sich wundern, wie eine gut gekleidete junge Dame in einen solchen Zustand geraten war.

Jemand rief etwas. Sie blickte sich um und sah, wie der Mann mit der Rennzeitung in ihre Richtung zeigte und ihm die Zigarette von der Unterlippe fiel. Das pummelige Mädchen senkte den Spiegel, um zu schauen, was los war. Aber Auger war bereits in die schützende Dunkelheit des Tunnels geschlüpft, wobei sie sich zwischen der Wand und dem Schienenstrang hielt. Sobald sie weiter als ein paar Meter in den Tunnel vorgedrungen war, würde sie niemand mehr sehen können. Dummerweise konnte auch sie kaum noch etwas sehen, und diesmal konnte sie nicht das helle Licht des Bahnhofs nutzen, um sich führen zu lassen. Den Rücken gegen die Wand gepresst, schob sich Auger so schnell wie möglich in die Schwärze vor. Sie versuchte, nicht an die Mäuse und Ratten zu denken, die zweifellos ganz in der Nähe vor ihren Füßen davonhuschten, oder an die tödliche Spannung, die möglicherweise doch noch in den Schienen lauerte. Schließlich musste sie etwa hundert Meter hinter sich bringen und hatte dafür weniger als zwei Minuten Zeit.

Vor ihr leuchtete etwas in der Dunkelheit auf: ein blutrotes Licht, sehr schwach, aber es bewegte sich. Einen entsetzlichen Moment lang dachte sie, dass es sich um einen entgegenkommenden Zug handelte, obwohl die Bahn eigentlich von hinten statt von vorn hätte kommen müssen. Dann passte sich ihr Raumgefühl an, und sie erkannte, dass es nur eine Taschenlampe sein konnte, mit der jemand im Tunnel in ihre Richtung leuchtete.

»Beeilen Sie sich, Auger«, hörte sie jemanden rufen. »Der Strom muss in dreißig Sekunden wieder eingeschaltet werden, und die Züge werden nicht viel später losfahren!«

»Aveling?«

»Bleiben Sie in Bewegung«, antwortete er. »Wir haben wirklich nicht viel Zeit.«

»Ich glaube, jemand hat gesehen, wie ich in den Tunnel gestiegen bin.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken.«

Als sie weiterging, wurde das rote Licht langsam heller. Nun konnte sie die schwachen Umrisse einer Gestalt ausmachen, die an der Wand kauerte. Die Person schien viel weiter weg zu sein, als sie angenommen hatte – Stimmen trugen im Tunnel offenbar sehr weit.

»Schneller, Auger«, zischte er.

»Ich gebe mir alle Mühe.«

»Gut. Stolpern Sie nicht, die Schienen stehen jetzt wieder unter Strom.«

»Mussten Sie mir das unbedingt erzählen? Wahrscheinlich stolpere ich jetzt erst recht.«

»Haben Sie die Dokumente?«

»Ja«, antwortete sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe die Dokumente.«

Während sie sich ihren Weg suchte, schälte sich die Gestalt mit der Taschenlampe nach und nach aus der Schwärze. Jetzt, wo ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt waren, konnte Auger direkt neben Aveling einen Spalt in der Wand erkennen.

»Schnell jetzt. Wir registrieren einen Stromabfall in den Schienen.«

»Das heißt?«

»Dass bereits wieder Züge fahren. Nach einem Ausfall wird man nicht viel Zeit verlieren, jedenfalls nicht während des Andrangs zur Mittagszeit.«

Nun konnte Auger Avelings Gesicht erkennen. Als sie noch rund zehn Meter von ihm entfernt war, erhöhte sie ihr Tempo und streckte die Hände nach der Zuflucht des schwarzen Spalts in der Tunnelwand aus.

»Ich glaube, ich sehe gerade, wie ein Zug in Cardinal Lemoine einfährt«, warnte Aveling.

»Ich bin fast da.«

»Der Zug fährt wieder los. Beeilung, Auger! Ich bleibe hier nicht mehr lange stehen.«

Ohne allzu viel Rücksicht auf ihre Würde schob er Auger durch den Spalt in der Wand in die Finsternis, die dahinter lag. Das Kreischen des sich nähernden Zuges schwoll an und hallte von den Tunnelwänden wider.

»Helfen Sie mir mit der Tür«, sagte Aveling. »Wir müssen sie wieder zukriegen.«

Er führte ihre Hände zur alten Holztür, und sie spürte, wie sie sich unter ihrem gemeinsamen Druck bewegte und im letzten Moment knirschend zufiel. Der Schein der Zuglichter fiel unter dem schmalen Türschlitz hindurch.

»Das war knapp«, bemerkte Aveling.

»Glauben Sie, dass jemand im Zug uns gesehen hat?«

»Nein.«

»Was ist mit dem Mann auf dem Bahnsteig?« Sie gab Aveling eine kurze Beschreibung.

»Wie gesagt, machen Sie sich keine Gedanken um ihn. Er ist ein Gauner, der den ganzen Tag dort herumhängt und nach Opfern Ausschau hält. Der wird den Behörden nichts melden.« Er schaltete die rote Taschenlampe aus und gleich darauf eine sehr viel hellere ein. Auger kniff die Augen im plötzlichen grellen Licht zusammen und erkannte den engen, schmutzigen Schlund des Zugangstunnels.

»Ich frage Sie noch einmal: Haben Sie die Dokumente?«

»Ja«, antwortete sie erschöpft, »das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Gut. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass Sie ihre Mission vielleicht nicht zu Ende bringen würden. Ich bin froh, dass Sie sich entschieden haben, vernünftig zu sein. Geben Sie mir die Papiere.«

»Bei mir sind sie sicher aufgehoben.«

»Ich sagte, geben Sie mir die Papiere, Auger!« Bevor sie widersprechen konnte, entriss er ihr die Tasche und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. »Sieht nach nicht viel aus. Wenn man die Mühen bedenkt, die Sie dafür auf sich genommen haben.« Er nahm die Papiere heraus und gab ihr die Tasche zurück.

Sie dachte an Susan Whites mutmaßlichen Verdacht, dass es im Team jemanden gab, der nicht vertrauenswürdig war. Vielleicht war es Aveling, vielleicht auch nicht, aber so lange Auger die Dokumente im Blick behalten konnte, waren sie hoffentlich mehr oder weniger in Sicherheit. Sie musste nur sicherstellen, dass Caliskan sie erhielt.

»Ich weiß nicht, worum es bei dieser ganzen Sache geht, Aveling. Im Moment bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich es wissen möchte. Können wir es also einfach hinter uns bringen?«

»Sie können noch nicht zurückkehren«, antwortete er. »Wir haben immer noch Schwierigkeiten mit der Verbindung.«

Ein weiterer Zug rumpelte durch den nahen Tunnel. Durch die Vibrationen rieselte Staub von der Decke.

»Wegen des vorübergehenden Problems, das Ihren Worten zufolge eigentlich inzwischen behoben sein sollte?«

»Es hat sich als nicht ganz so vorübergehend erwiesen, wie wir gehofft hatten.« Aveling hielt inne und richtete die Taschenlampe in den Gang vor ihnen. Langsam ließ er den Lichtkegel den leicht gekrümmten Zugangstunnel entlangwandern.

Auger sah, wie er die Stirn runzelte. »Was ist los?«, fragte sie.

»Nichts. Ich dachte nur, ich hätte etwas gehört.«

»Wahrscheinlich einer Ihrer Leute am Portaleingang«, vermutete Auger.

Aveling zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und steckte die Papiere hinein. »Kommen Sie. Gehen wir weiter.«

Auger fiel auf, dass er gleichzeitig eine Pistole aus der Jacke gezogen hatte. Die einheimische Waffe glänzte ölig blau im Licht der Taschenlampe.

»Da hat sich etwas bewegt«, sagte Auger plötzlich. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

Der Lichtkegel der Taschenlampe zuckte vor ihnen umher wie ein ängstliches Tier. »Wo?«

»Weiter vorn im Gang. Ein Mensch, der sich an die Wand drückt.« Sie sog scharf den Atem ein und fügte flüsternd hinzu: »Es sah aus, als sei es ein Kind.«

»Ein Kind? Erzählen Sie keinen Unsinn.«

»Ein Kind könnte leicht den Weg hierher gefunden haben.«

Aveling schüttelte den Kopf, aber sie sah, dass er verwirrt war. Sie konnte ihm deswegen keinen Vorwurf machen. Auch als sie das erste Mal durch diesen Tunnel gegangen war, hatte es ihr nicht gerade Spaß gemacht, und jetzt erst recht nicht.

»Ist da jemand?«, rief Aveling. »Jemand vom Portal? Barton, sind Sie das?«

»Es war nicht Barton«, sagte Auger. »Und auch nicht Skellsgard.«

Aveling feuerte einen Warnschuss ab. Die Mündung der Pistole spuckte orangefarbenes Feuer durch die Finsternis, und die Kugel biss sich ein Dutzend Meter vor ihnen in den Fels. Die Echos des Schusses eilten ein paar angespannte Augenblicke lang den Gang auf und ab, dann herrschte, abgesehen von ihren Atemgeräuschen, Stille.

»Verdammt«, sagte Aveling.

»Haben Sie was gesehen?«

»Ich glaube, ich habe etwas gesehen. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass Sie mir diese Idee in den Kopf gesetzt haben.«

»Sie haben etwas gehört, bevor ich das Kind gesehen habe«, warf Auger ein.

»Ich glaube, ich habe auch etwas gesehen«, sagte Aveling, und seine Stimme war plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher.

»Etwas wie ein Kind?«

»Es war kein Kind. Wenn es ein Kind war, dann ist etwas sehr Schlimmes …« Er ließ den Satz unvollendet.

»Hier stimmt etwas nicht«, sagte Auger. Sie zog Aveling an die Wand und brachte ihn mit einem Zischen zum Schweigen. »Das wissen Sie genauso gut wie ich.«

»Wir sehen nur Schatten.«

»Oder etwas ist schief gelaufen. Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich habe es mir nicht eingebildet, selbst wenn Sie es vielleicht von sich behaupten.«

Er antwortete ebenfalls mit einem »Psst«, während er mit der Pistole in den Tunnel zielte. Ihr fiel auf, dass seine Hand merklich zitterte.

»Was meinen Sie also?«, fragte er scharf.

»Ich meine, wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen, bevor wir noch mehr Ärger kriegen.«

»Sehen Sie!«, sagte Aveling, als das Licht der Taschenlampe plötzlich auf etwas traf, das zehn bis zwölf Meter weiter am Boden lag. »Da ist jemand.«

Der Körper war zu groß für ein Kind. »Das könnte Barton sein«, stellte Auger mit einem Gefühl hoffnungsloser Unausweichlichkeit fest. »Ich glaube, es ist Barton, und ich glaube, er könnte tot sein.«

»Unmöglich«, sagte Aveling.

Er löste sich aus ihrem Griff und bewegte sich mit der Taschenlampe in der Hand weiter. Das Licht tanzte durch den Tunnel, bis Aveling schließlich den reglosen Körper erreichte. Er ging in die Hocke und untersuchte den Toten. Seine Pistolenhand zitterte noch immer.

»Das ist nicht gut«, murmelte er.

Auger zwang sich, zu Aveling aufzuschließen. Aus der Nähe gab es keinen Zweifel mehr, dass es sich bei dem Toten um Barton handelte. Aveling ließ den Lichtschein über die Leiche gleiten und hielt kurz an mehreren Schusswunden in der Brust inne. Mindestens zwanzig Einschlusslöcher waren zu sehen, die sich wie Mondkrater überlappten. Sie lagen nebeneinander, als hätte man die Kugeln aus unmittelbarer Nähe und in schneller Folge abgefeuert. Barton hatte die Finger noch immer halb um den Griff einer Pistole geschlossen. Auger nahm sie ihm aus der noch warmen Hand.

»Und jetzt nichts wie raus hier«, sagte sie.

Avelings Arm zuckte herum, dann jagte er zwei weitere Schüsse in die Finsternis. Im Mündungsfeuer meinte Auger, ebenfalls etwas zu sehen – eine kleine, puppenhafte Gestalt, die dicht an der grob behauenen Tunnelwand entlanghuschte. Die kindergroße Gestalt trug ein rotes Kleid, aber das Gesicht, das Auger im kurzen Aufblitzen gesehen hatte, war ganz und gar kein Kindergesicht gewesen, sondern verschrumpelt und wild: halb Hexe, halb Dämon mit einem bösartigen Grinsen voll spitzer, schwarzer Zähne. Die Pistole lag schwer in ihrer Hand, als sie sie in die Dunkelheit richtete und dorthin zu zielen versuchte, wo sie die Gestalt vermutete. Sie drückte den Abzug durch, aber nichts geschah. Sie fluchte über ihre Dummheit, machte sich an der Sicherung zu schaffen und versuchte es noch einmal, aber Barton hatte den Munitionsstreifen anscheinend bereits leer geschossen.

»Wir stecken in großen Schwierigkeiten«, sagte Aveling. Er stand auf, hielt sich aber geduckt und bewegte sich langsam von der Leiche fort.

»Diesmal habe ich definitiv etwas gesehen«, sagte Auger, die Pistole immer noch erhoben. »Es sah wie ein Kind aus … aber als ich das Gesicht gesehen habe …«

»Es war kein Kind«, beteuerte Aveling.

»Sie haben mit so etwas gerechnet, nicht wahr?«

»Sie dürfen sich als Klassenbeste betrachten.«

So nutzlos es auch war, sie presste ihm dennoch die Mündung der leeren Waffe in die Seite. »Reden Sie endlich, Sie Schwein!« Das war nicht das Wort, das sie hatte sagen wollen, aber »Schwein« war das Unanständigste, was sie herausbekam, selbst angesichts der angespannten Lage. »Das Kind kommt von E1, nicht wahr?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil es ganz bestimmt nicht hierher gehört. Also sagen Sie mir, was Sie wissen.«

»Es ist eine N1-Infiltrationseinheit«, antwortete Aveling mit Grabesstimme. Er ließ den Lichtkegel über die Wände streichen, aber das Kind war nirgends zu sehen.

»Eine was?«

»Ich bitte Sie, Auger! Sie werden sich doch wohl an diesen hässlichen kleinen Krieg erinnern, über den man heutzutage nur noch ungern redet. Der gegen unsere Freunde von der Föderation der Kommunitäten.«

»Was ist damit?«

»Sie haben ihre Kinder gegen uns eingesetzt. Die neotenische Infanterie, gentechnisch erzeugte, geklonte, psychisch programmierte Killermaschinen, so verpackt, dass sie wie Kinder aussehen.«

Gegen Augers Willen berührte der Schrecken in seiner Stimme etwas in ihr. Etwas, das bei einem Mann wie Aveling eine solche Narbe hinterließ, musste verdammt übel sein.

»Haben Sie gegen sie gekämpft?«

»Ich war in Gefechte mit ihnen verwickelt. Das ist nicht immer das Gleiche. Diese bösartigen kleinen Kreaturen konnten sich an Stellen verkriechen, die wir für sicher hielten, und sich dort wochenlang verstecken. Irgendwie können sie ohne Nahrung überleben … reglos, wie zusammengerollte Schlangen, fast in einer Art Koma … bis sie wieder hervorkommen.« Seine Atemzüge wurden unregelmäßiger, als er tiefer in seine Erinnerungswelt abtauchte. »Sie waren schwer zu töten. Schnell, stark, widerstandsfähig … eine unglaublich hohe Schmerzschwelle. Höchst anpassungsfähiger Selbsterhaltungstrieb … und trotzdem bereit zu sterben, um ein Missionsziel zu erreichen. Und selbst als wir wussten, was sie sind, selbst wenn wir sie direkt vor der Mündung hatten … war es beinahe unmöglich, eine Waffe auf sie zu richten. Sie sahen aus wie Kinder. Wir mussten gegen vier Milliarden Jahre Evolution ankämpfen, die uns sagte, dass wir nicht den Abzug drücken sollten.«

»Kriegsbabys«, sagte Auger. »So haben wir sie genannt, nicht wahr?«

»Also erinnern Sie sich doch an Ihren Geschichtsunterricht.« Der spöttische Tonfall konnte Avelings Angst nicht verbergen.

Auger dachte an Cassandra zurück, die Slasher-Vertreterin, die bei der Mission, die sie erst in diesen ganzen Schlamassel gebracht hatte, erfolgreich als Jugendliche durchgegangen war. Die neotenische Infanterie war ein erster Schritt zur Entwicklung ganzer Slasher-Fraktionen in Kindergröße gewesen. Aber es war auch ein Schritt gewesen, über den man heute nicht mehr gerne redete – vor allem die Slasher selbst.

»Wenn ich mich richtig erinnere, waren sie eine genetische Sackgasse. Sie haben nicht besonders gut funktioniert – sie waren mental instabil und verbrauchten sich schnell.«

»Es waren Waffen«, erwiderte Aveling, »die mit einer programmierten Lebensdauer vom Band kamen.«

»Aber in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren hat niemand mehr ein Kriegsbaby gesehen, Aveling. Bitte sagen Sie mir, was sie in einem Tunnel unter Paris auf E2 zu suchen haben.«

»Überlegen Sie selber, Auger. Die Slasher sind hier. Sie sind bereits auf E2.«

Plötzlich wurde Auger kalt. Sie hatte große Angst und fühlte sich sehr weit weg von zu Hause. »Wir müssen an die Oberfläche zurück.«

»Nein«, widersprach Aveling, der zumindest teilweise die Fassung zurückgewonnen hatte. »Wir müssen zum Portal. Sie dürfen auf keinen Fall Zugriff auf das Portal erhalten.«

»Wenn sie hier sind, haben sie bereits Zugriff auf das Portal. Wie sollten sie sonst hierher gekommen sein?«

Aveling setzte zu einer Antwort an, aber er schien plötzlich Schwierigkeiten mit dem Sprechen zu haben. Stattdessen gab er einen kläglichen Würgelaut von sich und fiel schwer gegen Auger. Taschenlampe und Pistole polterten zu Boden. Auger holte Luft, um zu schreien – eine natürliche menschliche Reaktion, wenn die Person neben einem gerade getötet worden war. Aber irgendwie gelang es Auger, sich zurückzuhalten. Zitternd griff sie nach der Taschenlampe und ersetzte Bartons nutzlose Automatik gegen Avelings, voll darauf konzentriert, zu handeln statt zu denken.

Geduckt leuchtete sie mit der Taschenlampe den Gang entlang. Zufällig gelang es ihr, das Kind im grellen Lichtkegel einzufangen. Einen Moment lang erstarrte es und blickte sie aus seiner schrecklichen, verschrumpelten Parodie eines Gesichts an. Faltige, blutleere Lippen rahmten ein teuflisches Grinsen aus geborstenen Zähnen ein.

Sie verbrauchen sich schnell.

Eine trockene, schwarze Zunge bewegte sich zwischen den Lippen. Es hob die winzige Klauenhand, in der es etwas hielt, das wie eine Schusswaffe aussah. Auger feuerte zuerst und zielte mit der Pistole einfach in die ungefähre Richtung des Kindes. Der Rückstoß drückte den Griff der Waffe gegen ihre Hand. Auger stieß einen leisen, gequälten Schrei des Schmerzes und der Überraschung aus, als das Kind zusammenklappte und aus dem Lichtkreis der Taschenlampe fiel. Seine Waffe landete klappernd auf dem Boden, dann erklang ein abscheuliches, langsam leiser werdendes Kreischen, wie Dampf, der aus einem Teekessel strömte.

Alle ihre Instinkte sagten Auger, dass sie dorthin zurücklaufen sollte, woher sie gekommen war, zurück ans Tageslicht. Sie wusste, dass vielleicht noch mehr dieser Kreaturen im Tunnel lauerten. Aber sie musste nachsehen, was sie soeben getötet oder verletzt hatte.

Sie ging hinüber, die Waffe immer noch schwer in der Hand, in der Hoffnung, dass noch mindestens eine Kugel im Magazin war – genauer wollte sie es gar nicht wissen. Das Kreischen des Kindes erstarb langsam und wurde zu einem schwachen, beinahe rhythmischen Wimmern.

Sie trat die Waffe des Kindes beiseite und ging daneben in die Hocke. Die schwarze Haarmähne war auf einer Seite vom Kopf der Kreatur gerutscht und gab den Blick auf einen faltigen, altersfleckigen, blassen und haarlosen Schädel frei. Aus der Nähe, im erbarmungslosen Licht der Taschenlampe, war das Gesicht des Kindes eine Masse aus schlaffer Haut und wunden Striemen. Es sah aus wie kaputtes Gummi mit einer rissigen Schicht aus verschmiertem Makeup. Die wässrigen Augen hatten einen Gelbstich, und die Zähne waren schwarze, verfaulte Stümpfe, hinter denen sich die angeschwollene Masse einer zerfallenden Zunge wie ein gefangenes Ungeheuer bewegte und versuchte, zwischen Lauten eines pfeifenden Stöhnens und rasselndem Atmens zusammenhängende Worte hervorzubringen. Das Kind stank ekelerregend, wie der hinterste Winkel einer Anstaltsküche.

»Was machst du hier?«, fragte Auger.

Trocken keuchend antwortete das Kind: »Das brauchst du nicht zu wissen.«

»Ich weiß, was du bist. Du bist eine Ausgeburt des Militärapparats, etwas, das man vor Jahrzehnten hätte vernichten sollen. Die Frage ist, warum hat man das nicht getan?«

Flüssigkeit quoll zwischen den geborstenen Zähnen des Kindes hervor. »Wir haben Glück gehabt«, sagte es und stieß einen gurgelnden Laut aus, der entweder ein spöttisches Lachen war oder einen langsamen Erstickungstod ankündigte.

»Das nennst du Glück?«, fragte Auger und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Wunde, die sie dem Kind in den Bauch geschossen hatte.

»Ich habe das getan, wozu ich geschaffen wurde«, erwiderte das Kind. »Das nenne ich Glück.«

Dann starb es – der Kopf sackte plötzlich nach hinten, und die Augen erstarrten in den Höhlen. Auger streckte den Arm in der Dunkelheit aus, tastete umher und schloss die Hand schließlich um die Waffe, die dem Kind gehört hatte. Sie hatte mit einer weiteren Pistole gerechnet – auf jeden Fall mit einem weiteren E2-Artefakt –, aber das Objekt fühlte sich unvertraut und fremdartig an. Sie stand auf, steckte die Waffe in ihre Handtasche und trat von der Leiche zurück.

Hinter sich hörte sie Geräusche: hektisches Scharren und Rascheln. Sie ließ den Taschenlampenschein umherwandern, in der Erwartung, Ratten zu sehen. Stattdessen entdeckte sie einen Jungen und ein Mädchen, die neben Avelings Leiche hockten und in seiner Kleidung wühlten. Als das Licht auf sie fiel, blickten sie Auger an und zischten wütend.

»Weg von ihm!«, befahl sie und richtete die Pistole auf die beiden. »Ich habe bereits einen von euch getötet, und notfalls bringe ich auch den Rest um.«

Der Junge zeigte die Zähne und zog das Dokumentenbündel aus Avelings Jacke. Er war völlig kahl, wie die Miniaturausgabe eines alten Mannes. »Danke«, sagte er böse. »Wir können doch nicht zulassen, dass das hier in die falschen Hände fällt, nicht wahr?«

»Lass die Papiere fallen!«, befahl Auger.

Das Mädchen bellte dem Jungen einen kurzen Befehl zu. Es hielt ebenfalls etwas in der Hand, einen silberglänzenden Gegenstand. Sie richtete ihn auf Auger, aber auch diesmal feuerte Auger zuerst. Die Pistole bockte in ihren Händen, als sie drei Schüsse abgab. Der Junge zischte und ließ die Papiere fallen. Das Mädchen stieß einen zornigen Laut aus und hob die Papiere auf, aber als das Taschenlampenlicht es erneut streifte, sah Auger, dass sie es ebenfalls getroffen hatte – wahrscheinlich mit mehr Glück als Verstand.

»Lass die Papiere fallen!«, wiederholte sie.

Das Mädchen zog sich aus dem Lichtkreis zurück. Der Junge stöhnte und betastete die sternförmige Wunde in seiner Hüfte. Seine Bewegungen hatten etwas entsetzlich Hundeartiges, als würde er die Bedeutung seiner Verletzung nicht ganz erfassen. Er versuchte aufzustehen, aber sein verletztes Bein gab auf eine Art und Weise nach, wie kein Bein jemals hätte nachgeben sollen. Der Junge stieß ein schrilles Kreischen des Zorns und des Schmerzes aus. Er griff in sein kleines Schuljungenhemd und zog etwas Metallenes hervor. Auger schoss noch einmal – und jagte ihm die Kugel diesmal in die Brust.

Er hörte auf, sich zu bewegen.

Sie leuchtete mit der Taschenlampe in den Tunnel, aber von dem Mädchen war nichts mehr zu sehen. Entsetzt und atemlos stolperte Auger hinterher, bis sie etwas am Boden liegen sah, das sich im leichten Luftzug bewegte. Sie hob es auf und erkannte, dass es sich um eines der Dokumente handelte, die sie Aveling gegeben hatte. Anscheinend war es das Einzige, das dem Mädchen entfallen war. Auger stopfte sich den Zettel in die Manteltasche und nahm sich vor, ihn später genauer zu untersuchen – falls sie lange genug lebte. Sie kehrte zum Jungen zurück, vergewisserte sich, dass er tot war, und tat dann das Gleiche bei Aveling, indem sie ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, bis sie sich überzeugt hatte, dass er weder darauf noch je auf irgendetwas anderes reagieren würde.

Von weiter unten im Schacht hörte sie Bewegungen, eine Art Schleifgeräusch. Sie duckte sich, hielt die Pistole mit ausgestrecktem Arm und suchte mit der Taschenlampe nach der Quelle des Geräuschs.

»Auger?« Es war eine schwache, heisere Frauenstimme.

»Wer ist da?«

»Skellsgard. Gott sei Dank, dass Sie noch leben!«

Eine kleine, gedrungene Gestalt löste sich aus der Finsternis. Sie zog sich an der Wand entlang vorwärts. Ihr Bein, das durch die zerrissene Hose zu erkennen war, war eine steife, blutige Masse – das bloß liegende Fleisch sah aus wie rohes Gehacktes. Beim Anblick von Skellsgards Zustand schnappte Auger unwillkürlich nach Luft. Sie senkte die Mündung der Pistole, hielt die Waffe aber weiter bereit.

»Sie sind in schlimmer Verfassung«, stellte Auger fest.

»Ich habe Glück gehabt«, sagte Skellsgard mit trotziger Miene. »Sie haben mich für tot gehalten. Falls ihnen Zweifel gekommen wären, hätten sie die Sache bestimmt zu Ende gebracht.«

»Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir müssen Sie zum Portal zurückbringen.«

»Das Portal ist nicht sicher.«

»Es ist auf jeden Fall sicherer als dieser Tunnel hier.« Auger richtete sich aus ihrer geduckten Haltung auf und eilte der Verletzten entgegen. »Mein Gott, Sie sehen furchtbar aus!«

»Wie ich bereits sagte, ich habe Glück gehabt.« Ihre Stimme klang, als würde jemand zwei Stücke Sandpapier aneinander reiben. Sie hatte sich einen Ärmel abgerissen und ihn sich als provisorische Aderpresse direkt unterhalb der Hüfte um den Oberschenkel gebunden. »Ich habe ziemlich geblutet, aber ich glaube, es wurde nichts Lebenswichtiges getroffen.«

»Sie brauchen Hilfe – aber nicht die Art, die Sie auf E2 bekommen.« Auger blickte sich plötzlich desorientiert um. »Glauben Sie, dass alle weg sind?«

»Es waren drei.«

»Ich habe zwei getötet. Das dritte muss entkommen sein.« Auger sicherte die Pistole und steckte sie sich in den Rockbund. Sie drückte schmerzhaft gegen ihre Seite, aber sie wollte die Waffe an einer Stelle haben, wo sie sie nötigenfalls schnell zur Hand hatte. »Hier, stützten Sie sich auf mich. Wie weit ist es bis zum Zensor?«

»Etwa fünfzig Meter.« Sie machte eine unbestimmte Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen war.

»Schaffen Sie es?«

Skellsgard verlagerte ihr Gewicht auf Auger. »Ich werde es versuchen.«

»Erzählen Sie mir, was passiert ist. Ich muss alles wissen.«

»Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß.«

»Das wird fürs Erste reichen.«

»Was hat Aveling Ihnen erzählt?«

»Nicht besonders viel«, antwortete Auger. Sie bewegten sich nur langsam vorwärts – Skellsgard brachte nicht mehr als winzige, qualvolle Humpelschritte zustande. Auger wollte gar nicht daran denken, welche Schmerzen das zerfetzte Bein ihr bereiten musste. »Offenbar wusste Aveling mehr als ich. Ich habe das deutliche Gefühl, dass ihm die Anwesenheit von Slashern hier bekannt war. Ich weiß allerdings nicht, ob er wusste, wie sie hierher gelangt sind.«

»Wir hatten da einen Verdacht«, erwiderte Skellsgard, »aber bis jetzt haben wir sie nie tatsächlich zu Gesicht bekommen.«

»Und würden Sie eine Vermutung wagen, wie sie hergekommen sind?«

»Es gibt nur einen Weg nach E2«, antwortete Skellsgard. »Dessen sind wir uns ganz sicher. Dieser Weg ist unser Portal, und es wird, seit wir es geöffnet haben, rund um die Uhr bewacht. Alles Fremde auf E2 muss durch das Portal gekommen sein – und durch den Zensor.«

»Das hat man mir auch erzählt«, sagte Auger, »aber der Zensor hat diese … Dinger nicht aufgehalten.«

»Kriegsbabys sind zwar biotechnische Waffen, aber an ihnen ist nichts Mechanisches, nichts, was der Zensor hätte abweisen müssen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie auf die eine oder andere Art durchgekommen sind.«

»In letzter Zeit?«

»Nein«, antwortete Skellsgard. »Diese Kinder können unmöglich hierher gekommen sein, während wir das Portal unter Kontrolle hatten. Vielleicht haben Slasher-Agenten unsere Sicherheit infiltriert, und vielleicht haben sie sich sogar mit Erfolg als Stoker ausgegeben. Aber Kinder? Das hätten wir wohl bemerkt.«

»Irgendwie sind sie hierher gekommen. Wenn das Portal der einzige Weg ins Innere ist, dann sind sie nur dort durchgekommen.«

»Damit gibt es nur eine mögliche Erklärung«, sagte Skellsgard. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir kurz anhalten? Ich brauche eine Pause.«

»Kein Problem.«

Skellsgard hielt eine Minute lang inne. Dann sprach sie weiter, wobei sie die Augen die meiste Zeit geschlossen hielt. »Sie können nicht durchs Portal gekommen sein, während wir die Kontrolle darüber hatten. Damit bleibt nur eine andere Möglichkeit: Sie müssen vorher eingetroffen sein.« Sie verzog das Gesicht, und ihre Augen tränten. Auger vermutete, dass jetzt der Schock einsetzte.

»Haben Sie eine Ahnung, wann das passiert sein könnte?«, fragte sie sanft.

»Wir haben den Mars seit etwa dreiundzwanzig Jahren unter Kontrolle – seit dem Waffenstillstand. Das Portal haben wir erst vor zwei Jahren entdeckt, aber das bedeutet nicht, dass jemand es während all dieser Jahre heimlich benutzen konnte. Wir hätten bemerkt, dass etwas vorgeht. Allein schon die Energie, die nötig ist, um das Portal geöffnet zu halten …«

»Aber offensichtlich hat jemand das Portal benutzt.«

»In diesem Fall muss es vor mehr als dreiundzwanzig Jahren gewesen sein. Kurz vor dem Waffenstillstand gab es eine Phase, in der der Mars und seine Monde unter Slasher-Herrschaft standen. Nicht besonders lange – nur etwa achtzehn Monate.«

»Wollen Sie damit sagen, dass diese Kriegsbabys seit dreiundzwanzig Jahren in Paris sind?«

»Eine andere Erklärung kann ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich sitzen alle Slasher-Agenten hier auf E2 fest, seit wir den Mars zurückbekommen haben. Das würde sogar eine Menge erklären. Die Kriegsbabys waren unfruchtbar, und sie waren nie dazu gedacht, alt zu werden.«

»Aveling hat etwas von einer begrenzten Lebensdauer gesagt.«

»Sie sollten ›aus dem Verkehr gezogen werden‹, bevor der Alterungsprozess einsetzt. Man muss diese Slasher-Euphemismen einfach lieben. Aber diese Kriegsbabys hier hatten die Gelegenheit, älter zu werden. Deshalb sehen sie so aus.«

»Und was haben sie die ganze Zeit gemacht?«

»Das ist eine verdammt gute Frage.«

»Können Sie weitergehen?«, fragte Auger. »Ich glaube, wir sollten uns etwas beeilen.«

Skellsgard grunzte zustimmend und setzte sich humpelnd wieder in Bewegung. »Wir haben die Kontrolle über Susan White verloren«, presste sie zwischen abgehackten Atemzügen hervor. »Eine mögliche Erklärung ist, dass sie für den Feind gearbeitet hat. Wie ich Susan kannte, kommt mir das allerdings nicht sehr wahrscheinlich vor.«

»Mir auch nicht.«

»Ich neige eher zur Ansicht, dass sie sich Teile von dem, was hier vorgeht, zusammengereimt hat – dass sie herausgefunden hat, dass die Slasher bereits hier auf E2 sind.«

»Hat sie es Caliskan gemeldet?«

Skellsgard schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatte wohl Angst, dadurch ihre Tarnung hochgehen zu lassen. Sie hat vielleicht nicht für den Feind gearbeitet, aber möglicherweise hatte sie ihre Zweifel über jemand anderen aus dem Team.«

»Zu diesem Schluss bin ich mehr oder weniger auch gelangt«, sagte Auger vorsichtig.

»Tatsächlich?«

»Ja«, sagte Auger. »Warum sollte sie mich in die Operation hineinziehen? Möglicherweise deshalb, weil sie den Beteiligten nicht traute.«

»Da könnten Sie Recht haben.«

»Das bedeutet, dass ich mich entscheiden muss, wem ich vertraue. Was Aveling und Barton betrifft, hat sich die Frage erledigt. Damit bleiben nur noch wir beide, Maurya.«

»Und?«

»Ich habe keine Ahnung, was Susan von Ihnen gehalten hat. Aber ich schätze, dass ich ohnehin kaum eine andere Wahl habe, als Ihnen zu vertrauen.«

»Das ist ja eine überwältigende Solidaritätsbekundung.«

»Entschuldigung – eigentlich sollte es etwas positiver klingen. Nicht dass es noch eine Rolle spielen würde, nachdem die Dokumente fort sind.«

»Aber Sie haben sie sich doch angesehen, nicht wahr?«

»Ich habe einen Blick darauf geworfen«, sagte Auger.

»Besser als gar nichts. Immerhin haben Sie eine grobe Vorstellung, was so wertvoll daran ist, dass dafür Menschen sterben mussten. Wenn wir Caliskan über diese Neuigkeiten informieren können, lässt sich das Puzzle vielleicht zusammensetzen.«

»Und wenn Caliskan das Problem ist?«

»Susans Briefe waren allesamt an ihn adressiert«, erklärte Skellsgard. »Bis zum letzten. Das lässt vermuten, dass sie ihm vertraut hat, auch wenn sie vielleicht an allen anderen zweifelte.«

»Vielleicht.«

»An irgendeinem Punkt müssen wir ansetzen.«

»Da haben Sie wohl Recht. Aber können wir ihm irgendwie eine Nachricht zukommen lassen? Aveling meinte, es würde Probleme mit der Verbindung geben.«

»Es gibt immer Probleme mit der Verbindung«, erwiderte Skellsgard. »Es ist nur sehr viel schlimmer geworden, seit Sie eingetroffen sind. Haben Sie von der Scheiße gehört, die sich zu Hause zusammenbraut?«

»Aveling hat erwähnt, dass die Kommunitäten Ärger machen.«

»Viel schlimmer. Innerhalb der Kommunitäten tobt ein ausgewachsener Bürgerkrieg zwischen den Moderaten und den Aggressiven. Auf die Frage, wer den Zwist gewinnt, würde derzeit wohl niemand eine Wette abschließen. Und inzwischen bewegen die Aggressiven ihre Aktivposten tief ins Systeminnere – in den Raum der VENS.«

»Stellt das nicht eine Kriegserklärung dar?«

»Das würde es, wenn die VENS nicht zu viel Angst hätten, zurückzuschlagen. Im Moment machen unsere Politiker nur verzweifelt Krach und hoffen, dass die Moderaten die Aggressiven in ihre Schranken verweisen.«

»Und?«

»Wäre nett, wenn es so läuft.«

»Ich mache mir Sorgen um meine Kinder, Maurya. Ich muss zurück und mich um sie kümmern. Wenn die Aggressiven Tanglewood angreifen …«

»Keine Angst. Wir haben von Ihrem Exmann gehört, kurz bevor die Verbindung den Geist aufgegeben hat. Er lässt Ihnen ausrichten, dass er dafür sorgt, dass den Kindern nichts passiert.«

»Das will ich ihm auch geraten haben«, erwiderte Auger.

»Mein Gott, er versucht nur, Sie zu beruhigen. Geben Sie dem Kerl eine Chance.«

Auger ignorierte die Bemerkung. »Erzählen Sie mir von der Verbindung. Wo genau liegt das Problem?«

»Das Problem ist, dass unsere Freunde aus den Kommunitäten dem Mars ungemütlich nahe gekommen sind. Natürlich wissen sie über die Verbindungstechnologie Bescheid. Sie verfügen bereits über die geeigneten Sensoren, um aktive Portale aufzuspüren und zu lokalisieren. Wenn sie auch nur die Spur einer Information über eine Verbindung in der Umgebung des Mars haben, werden sie danach suchen. Also müssen wir die Verbindung so leise wie möglich laufen lassen, und darum stürzt sie dauernd ab.«

»Sie wissen zweifellos schon darüber Bescheid. Wie hätten die Kinder sonst hierher gelangen sollen?«

»Aber als wir ihnen Phobos abgenommen haben, gab es kein Anzeichen, dass sie das Portal jemals entdeckt hätten.«

»Vielleicht wollten sie, dass wir genau das glauben«, gab Auger zu bedenken.

Sie standen vor der schweren Stahltür, die zur Kammer des Zensors führte. Sie stand einen Spaltbreit offen. Ein kränklich gelber Lichtstrahl fiel hindurch.

»Wie ich sie hinterlassen habe«, bemerkte Skellsgard.

»Trotzdem sollten wir mit allem rechnen. Warten Sie kurz hier.« Auger stellte Skellsgard an der Wand ab und zog in der innigen Hoffnung, dass wenigstens noch eine Kugel im Magazin war, die Pistole aus dem Rockbund. Sie trat über die metallene Türschwelle, zwängte sich durch den Spalt in den Raum dahinter und suchte mit der Pistole, so schnell sie konnte, den Raum von einer Wand zur anderen ab.

Keine Kinder – oder zumindest keine, die sie sehen konnte.

Sie half Skellsgard in den Raum und stemmte anschließend die Stahltür zu. Zu zweit drehten sie das schwere Schloss, bis es einrastete – es ließ sich nur von innen öffnen.

»Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte sich Auger.

»Nicht besonders gut. Ich glaube, ich muss die Aderpresse etwas lockern.«

»Erst bringen wir Sie durch den Zensor.«

Die gelb leuchtende Zensorwand war die einzige Lichtquelle im Raum. Sie flackerte am Rande von Augers Gesichtsfeld, doch wenn sie sie direkt ansah, schien sie vollkommen gleichmäßig zu strahlen. Die Maschinerie, die um die Barriere herum ins Felsgestein eingelassen war, wirkte unbeschädigt – genau so uralt und fremdartig wie beim letzten Mal, als Auger sie gesehen hatte.

»Ich gehe vor und sehe nach, ob alles in Ordnung ist«, erklärte Auger. »In ein paar Sekunden bin ich zurück.«

»Oder auch nicht«, sagte Skellsgard.

»Falls ich nicht zurückkomme – falls auf der anderen Seite etwas auf mich wartet – müssen Sie Ihr Glück auf E2 versuchen.«

Skellsgard erschauderte. »Lieber würde ich mein Glück in der Steinzeit versuchen.«

»Hier ist es gar nicht so übel. Es gibt Betäubungsmittel und rudimentäre Kenntnisse in Sachen Keimabtötung. Wenn Sie es in eine Klinik schaffen, haben Sie ziemlich gute Chancen, versorgt zu werden.«

»Und dann? Wenn man anfängt, mir unangenehme Fragen zu stellen?«

»Dann sind Sie auf sich gestellt«, erwiderte Auger.

»Da versuche ich mein Glück doch lieber mit dem Zensor. Lassen Sie mich einfach zuerst gehen. Ich bin ohnehin schon verletzt, und es gibt keinen Grund, warum zwei von uns ein unnötiges Risiko eingehen sollten. Wenn alles in Ordnung ist, stecke ich den Kopf durch und lasse es Sie wissen.«

»Nehmen Sie die«, sagte Auger und hielt ihr die Pistole hin.

»Haben Sie mit dem Ding schon geschossen?«

»Ja, aber ich kann nicht versprechen, dass noch Kugeln drin sind.«

Sie half Skellsgard zum Zensor und trat zurück, als die Verletzte ihr Gewicht der Haltestange über ihrem Kopf anvertraut hatte. Vor Anstrengung und Schmerzen ächzend sammelte Skellsgard genug Schwung, um sich über die Schwelle zu werfen. Die gelb leuchtende Oberfläche gab nach, verdunkelte sich zu einem unregelmäßigen Goldbraun und verschluckte Skellsgard, um anschließend wieder in ihren alten Zustand zurückzuschnappen.

Während Auger wartete, holte sie die Waffe, die sie dem Kriegsbaby abgenommen hatte, aus der Handtasche. Sie war für kleinere Hände als ihre gedacht, aber Auger konnte sie trotzdem, wenn auch unbequem, halten. Die Waffe bestand aus Metall und war, verglichen mit der Pistole, ausgesprochen leicht. Aber es war eindeutig eine Schusswaffe. Es gab einen Abzug mit Bügel und einen Schiebeschalter, bei dem es sich vermutlich um die Sicherung handelte. Vorn befand sich ein perforierter Lauf mit einem Mündungsloch an einem Ende und einem komplizierten Lademechanismus, der sich an einem Scharnier zur Seite herausklappen ließ. Die Waffe war aus glatten, sauber ineinander passenden Teilen gefertigt, und Auger nahm an, dass sie nötigenfalls auch zur Wurf- oder Stichwaffe umfunktioniert werden konnte. Sie sah nicht nach etwas aus, das Auger in der Werkstatt eines Waffenschmieds auf E2 erwartet hätte, aber es handelte sich auch nicht um einen komprimierten Energiestrahler aus dem 23. Jahrhundert, wie er in den Waffenfabriken der Slasher im E1-Raum hergestellt wurde. So fremdartig diese Waffe auch aussah, es handelte sich um etwas, das durchaus im Paris von E2 gefertigt worden sein konnte, unter Anwendung der hier verfügbaren Technologie.

Etwas drückte sich durch die gelbe Oberfläche. Skellsgards Kopf erschien, begleitet vom leisen »Plopp« der gebrochenen Oberflächenspannung. »Hier ist es ungefährlich«, erklärte sie.

Auger sicherte die Waffe und folgte Skellsgard durch das kribbelnde Zensorfeld. Kurz bevor es sich um sie schloss, dachte sie an Skellsgards Geschichte vom endlosen gelben Limbus, den sie einmal auf dem Weg durch den Zensor durchquert hatte – das Gefühl, von Intelligenzen geprüft zu werden, die so alt und riesig wie Berge waren. Auger wappnete sich – ein Teil von ihr wünschte sich diese Erfahrung, ein anderer fürchtete sie bis ins letzte Atom ihres Seins. Aber der Übergang war so kurz wie beim ersten Mal. Wie zuvor verspürte sie einen leichten, elastischen Widerstand, der plötzlich nachließ, als ob sie eine Trommelhaut durchbrochen hätte. Keine Audienz bei Gott oder bei irgendwelchen gottgleichen Wesenheiten, die den Zensor und das Erdduplikat erschaffen hatten. Ebenso wenig war den Dingen, die sie bei sich trug, der Übertritt verweigert worden. Ihre Kleidung und die Waffe waren immer noch bei ihr, als sie die Portalkammer betrat. Die unbestechliche Logik des Zensors hatte beschlossen, diese einfachen Gegenstände hindurchzulassen. Oder vielleicht kümmerte er sich einfach nicht so genau um die Artefakte, die E2 verließen, als um solche, die dorthin gebracht wurden.

»Niemand ist hier durchgekommen«, erklärte Skellsgard. Sie stützte sich auf eine Konsole. Ihr Gesicht war bleich und starr vor Erschöpfung und Schock.

»Keine Anzeichen irgendwelcher Kinder?«

»Ich glaube, sie sind nicht bis hierher gelangt. Wir haben verdammt viel Glück, dass sie es nicht so weit geschafft haben. Sie hätten etwas Irreparables mit der Verbindung anstellen oder das andere Ende zeitweilig in ein weißes Loch verwandeln können. Dann hätten wir uns für immer von Phobos und allem, was sich in der Nachbarschaft befindet, verabschieden können.«

»Wir sollten uns Ihr Bein ansehen.«

»Ich habe die Aderpresse gelockert. Es wird noch eine Weile gehen.«

Auger nahm einen Erste-Hilfe-Kasten von der Wandhalterung, öffnete die Plastikverschlüsse und durchwühlte den Inhalt, bis sie eine Morphinampulle fand. »Können Sie das selber machen?«, fragte sie und reichte Skellsgard die Spritze. »Ich bin nicht besonders gut mit Nadeln.«

»Ich kriege es schon hin.« Skellsgard riss mit den Zähnen die keimfreie Verpackung auf und rammte sich die Nadel zwischen Wunde und Aderpresse in den Oberschenkel. »Ich weiß nicht, ob ich es richtig mache«, bemerkte sie. »Früher oder später werde ich es wohl herausfinden.«

»Wir müssen die Verbindung in Gang bringen«, sagte Auger. »Können wir das zusammen schaffen?«

»Geben Sie mir einen Augenblick.« Sie machte eine Kopfbewegung zu einem Schalttisch unten im Maschinenbereich. »Inzwischen können Sie schon mal runtergehen und alle Schalter in der obersten Leiste der Konsole da auf Rot stellen. Und dann schauen Sie, ob alle Anzeigen im grünen Bereich bleiben.«

»So einfach ist das?«

»Eins nach dem anderen, Schwester. Wir kochen hier nicht mit Gas. Es geht um maßgebliche Veränderungen der örtlichen Raumzeit-Metrik.«

»Mein Testament habe ich schon auf den neuesten Stand gebracht«, sagte Auger. Sie zog die Schuhe aus und eilte die spiralförmige Treppe hinunter. Sie war noch nie zuvor im Maschinenbereich gewesen, und die riesigen Vorrichtungen ragten einschüchternd über ihr auf. Glücklicherweise sah nichts beschädigt aus. Das Transitschiff hing über ihr im Griff einer schwarz-gelb gestreiften Halterung im Vakuum der Eintrittssphäre. Die stumpfe, mitgenommene Schnauze des Schiffes zeigte noch weg vom verspiegelten Zugangsschacht zum Portaltunnel.

Wenn sie das Schiff erst einmal umgedreht hatten, brauchten sie nicht mehr als einen kurzen Moment Verbindungsstabilität.

Auger begab sich zur Konsole, auf die Skellsgard gezeigt hatte und legte einen nach dem anderen die schweren Kippschalter um. Die Anzeigen zuckten, aber obwohl eine der beiden Nadeln für ein paar Sekunden im roten Bereich zitterte, sanken schließlich beide auf Grün zurück.

»Sieht gut aus«, rief Auger.

Skellsgard hatte sich zum Geländer des Stegs geschleppt und blickte zu Auger herunter. »In Ordnung. Besser, als ich erwartet hatte. Sehen Sie die zweite Schalterreihe, unter der Plastikabdeckung mit dem Scharnier?«

»Hab sie.«

»Öffnen Sie die Abdeckung und legen Sie auch diese Schalter um. Und behalten Sie die Anzeigen im Auge. Wenn sich mehr als zwei in den roten Bereich bewegen und dort bleiben, hören Sie auf.«

»Warum habe ich das Gefühl, dass das der komplizierte Teil ist?«

»Es ist alles kompliziert«, antwortete Skellsgard.

Auger legte die zweite Schalterreihe um. Diesmal ging sie langsamer vor und ließ die Anzeige über jedem Schalter zur Ruhe kommen, bevor sie mit dem nächsten weitermachte. Um sie herum wurde das Summen der Maschinen mit jedem betätigten Schalter lauter. Rote und grüne Statuslampen leuchteten an Vorrichtungen auf, die sich fast am anderen Ende des Raums und sogar in der Eintrittssphäre selbst befanden.

»Ich bin zur Hälfte durch«, sagte Auger. »Bisher sieht alles gut aus. Fliegt das Schiff von selbst?«

»Eins nach dem anderen. Wir machen das Schiff fertig, sobald wir die richtige Mündungskrümmung erzielt haben. Kriegen Sie schon eine Gänsehaut?«

»Noch nicht.«

»Sollten Sie aber.«

Auger legte einen weiteren Schalter um. »Holla, Moment mal!«, rief sie. »Der fünfte Zeiger bleibt im roten Bereich stehen.«

»Das habe ich befürchtet. Na schön. Stellen Sie den letzten Schalter, den Sie umgelegt haben, zurück. Mal sehen, ob das hilft.«

Auger tat wie geheißen. »Wieder im grünen Bereich«, verkündete sie nach ein paar Sekunden.

»Versuchen Sie es jetzt noch mal.«

»Immer noch rot. Ich schalte noch einmal zurück.« Mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen wartete Auger ab. »Tut mir Leid. Keine guten Nachrichten. Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass wir ein Problem haben. Also gut. Lassen Sie das Ding in Ruhe und gehen Sie zur zweiten Konsole. Die mit dem Werkzeugkasten daneben.«

»Bin da.«

»Legen Sie den roten Schalter rechts neben dem Monitor um, und nennen Sie mir die Zahlen, die in der dritten Spalte der Textausgabe erscheinen.«

Auger wischte den Staub vom Glas. »Fünfzehn Komma eins sieben drei, dreizehn Komma null vier …«

»Runden Sie, Auger. Die Stellen hinterm Komma brauche ich nicht.«

»Alle Zahlen liegen zwischen zehn und zwanzig.«

»Mist! Das ist nicht gut. Die Stabilität ist noch immer beeinträchtigt.«

»Können wir nach Hause?«

»Nicht ohne Schwierigkeiten.«

Auger wandte sich von der Konsole ab und blickte zu Skellsgard hoch. »Und wenn wir warten? Wird es irgendwann besser?«

»Vielleicht. Aber vielleicht wird es auch schlimmer. Und es lässt sich unmöglich sagen, wie lange diese Instabilität anhält. Es könnten Stunden sein, aber auch Tage.«

»So lange können wir nicht warten. Nicht, wenn jeden Moment mehr von diesen Kindern auftauchen können. Wenn Sie ›nicht ohne Schwierigkeiten‹ sagen, was genau meinen Sie damit? Dass es doch eine Möglichkeit gibt?«

»Es gibt eine Möglichkeit«, antwortete Skellsgard. »Für eine von uns.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Wir müssen die Mündungsgeometrie an diesem Ende stabilisieren, und das kostet uns mehr Energie, als wir auf lange Sicht zur Verfügung haben.«

Auger zuckte die Achseln. »Kein Problem. Mir ist es egal, ob die Verbindung zusammenbricht, sobald wir hier raus sind.«

Skellsgard schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so einfach. Hören Sie, ich will Ihnen keinen Vortrag über Hypervakuum-Theorie halten …«

»Das ist gut.«

Skellsgard lächelte. »Worauf es ankommt, ist, dass die hiesige Mündung offen bleiben muss, bis wir am anderen Ende ankommen. Wenn sie sich schließt, wird es ungemütlich, und wirklich ungemütlich wird es, wenn sie zu plötzlich kollabiert. Zunächst einmal besteht die Gefahr, dass wir die Verbindung verlieren. Und während der Verschluss auf der Pariser Seite vielleicht nur ein relativ niedrigenergetisches Ereignis wäre, würde all die durch den Tunnelkollaps freigesetzte Energie am Phobos-Ende herauskommen. Es ist, als würde man ein riesiges Gummiband auseinander ziehen und dann ein Ende loslassen. Haben Sie jetzt eine ungefähre Vorstellung? Und selbst wenn der Kollaps nicht so stark ist, dass die Verbindung zusammenbricht, würden wir beim Transport immer noch auf einer verdammt großen Belastungswelle reiten. Wir hätten den ganzen Heimweg lang einen Soliton auf den Fersen.«

»Was ist ein Soliton?«

»So etwas wie eine Teppichwelle, aber eine, die ernsthaft sauer ist.«

»Mehr muss ich nicht wissen. Sagen Sie mir, was wir dagegen unternehmen können. Lässt sich die Mündung irgendwie davon abhalten, sich zu schließen?«

»Ja«, antwortete Skellsgard. »Sobald das Schiff durch die Mündung geflogen ist, kann man die Energie auf ein Maß herunterfahren, das der Generator aufrechterhalten kann, bis das Schiff zu Hause eintrifft.«

»Klingt in meinen Ohren nicht besonders kompliziert.«

»Ist es auch nicht. Das Problem ist, dass wir nie dazu gekommen sind, diesen Vorgang zu automatisieren. Wir sind immer davon ausgegangen, dass wir hier ein Team haben oder dass wir einfach endlos warten könnten, bis sich die Stabilitätslage wieder verbessert.«

»Ich verstehe«, sagte Auger leise. »Dann zeigen Sie mir lieber, was ich zu tun habe.«

»Auf gar keinen Fall«, widersprach Skellsgard. »Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Auger, aber das hier gehört nicht gerade zu den Dingen, die man Ihnen im Geschichtsstudium beigebracht hat. Sie gehen ins Schiff. Ich kümmere mich um die Mündung.«

»Was ist mit den Kindern?«

»Die sind hier vorher auch nicht reingekommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir hier nichts passiert, bis eine Rettungsmannschaft eintrifft.«

»Aber das wird Tage dauern«, sagte Auger.

»Etwa sechzig Stunden, wenn sie das Schiff sofort zurückschicken können und die Stabilitätsbedingungen optimal sind. Länger, wenn das nicht der Fall ist.«

»Ich lasse Sie hier nicht zurück.«

»Ich halte schon durch«, sagte Skellsgard. »Sie sind diejenige mit den entscheidenden Informationen, nicht ich.«

»Ich habe fast die gesamten Informationen im Tunnel verloren.«

»Aber Sie haben sie gesehen. Das muss doch etwas wert sein.«

Auger löste sich von der Konsole und stieg die Treppe zu Skellsgard hinauf. »Was genau muss man tun, um die Mündung zu steuern?«

»Es ist ein sehr schwieriger technischer Vorgang.«

»Es kann nicht so schwer sein, sonst hätten sie ihn längst automatisiert. Erklären Sie es mir, Skellsgard.«

Sie blinzelte. »Man muss nach dem Abflug etwa dreißig bis vierzig Sekunden warten und dann die Energiezufuhr auf etwa zehn Prozent reduzieren.«

»Mit Hilfe der Schalter, die Sie mir schon gezeigt haben?«

»Im Großen und Ganzen ja.«

»Ich glaube, das dürfte sogar eine bescheidene Historikeridiotin hinkriegen. Also gut, bereiten wir das Schiff vor. Sie können mir den Rest erzählen, während wir bei der Arbeit sind.«

»So wird die Sache nicht laufen«, erwiderte Skellsgard.

»Jetzt hören Sie mal zu: Wenn sich nicht bald jemand um Ihr Bein kümmert, werden Sie es verlieren.«

»Dann wird man mir ein neues wachsen lassen. Ich wollte schon immer mal in eines dieser Kommunitäten-Krankenhäuser.«

»Wollen Sie dieses Risiko eingehen? Ich würde es nicht tun, besonders jetzt, wo zu Hause die Hölle losbricht.«

»Ich kann nicht zulassen, dass Sie das tun«, beharrte Skellsgard.

Auger zog die Waffe des Kriegsbabys und präsentierte sie Skellsgard. »Möchten Sie, dass ich dieses Ding hier auf Sie richte? Das werde ich nämlich tun, wenn es nicht anders geht. Und jetzt machen wir das Schiff startklar, Schwester.«