Zweiundzwanzig
Auger wusste, dass sie den richtigen Mann erwischt hatte, als er sich am Telefon meldete. Sein respekteinflößender, leicht schulmeisterlicher Tonfall bestätigte ihren Verdacht.
»Altfeld.«
»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Altfeld, und entschuldigen Sie bitte auch mein schlechtes Deutsch, aber ich bin auf der Suche nach dem Herrn Altfeld, der ein Angestellter von Kaspar Metall …«
Die Verbindung wurde unterbrochen, bevor Auger ein weiteres Wort sagen konnte.
»Was ist passiert?«, fragte Floyd.
»Ich glaube, das war ein Volltreffer. Er hat ungewöhnlich schnell wieder aufgelegt.«
»Versuchen Sie es noch einmal. Nach meiner Erfahrung gehen die Leute früher oder später doch ans Telefon.«
Sie wählte sich erneut zur Vermittlung des Hotels durch und wartete, bis die Verbindung hergestellt wurde. »Herr Altfeld, ich möchte noch einmal …«
Wieder knackte es in der Leitung. Auger versuchte es ein weiteres Mal, doch nun klingelte das Telefon eine ganze Weile, ohne dass jemand ranging. Auger stellte sich vor, wie das Klingeln durch einen gut ausgestatteten Flur hallte, in dem das Telefon auf einem Tischchen unter dem Druck eines berühmten Gemäldes hing – vielleicht eines Pissaro oder Manet. Sie gab nicht auf und ließ das Telefon weiterklingeln. Schließlich wurde ihre Geduld belohnt, als der Hörer abgenommen wurde.
»Herr Altfeld? Bitte lassen Sie mich aussprechen.«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Ich weiß, dass Sie mit Susan White gesprochen haben. Mein Name ist Auger … Verity Auger. Ich bin Susans Schwester.«
Es folgte eine Pause, in der eine recht hohe Wahrscheinlichkeit bestand, dass der Mann wieder auflegen würde. »Fräulein White hatte nicht den Anstand, ihre Verabredung einzuhalten«, erwiderte Altfeld schließlich.
»Das liegt daran, dass sie ermordet wurde.«
»Ermordet?«, wiederholte er ungläubig.
»Deshalb konnte sie die Verabredung mit Ihnen nicht einhalten. Ich bin hier in Berlin, zusammen mit einem Privatdetektiv.« Das entsprach Floyds Ratschlag: Sag nach Möglichkeit immer die Wahrheit. Damit lassen sich erstaunlich viele Türen öffnen. »Wir glauben, dass Susan aus einem bestimmten Grund ermordet wurde und dass dieser Grund etwas mit dem Auftrag zu tun hat, den Kaspar Metall übernommen hat.«
»Ich kann mich nur wiederholen: Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Sie waren immerhin bereit, mit meiner Schwester zu sprechen. Würden Sie uns wenigstens den gleichen Gefallen erweisen? Wir würden nicht viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, und ich verspreche Ihnen, dass Sie anschließend nie mehr von uns hören.«
»Die Voraussetzungen haben sich geändert. Es war ein Fehler, mit Fräulein White zu sprechen, und es wäre ein noch viel größerer Fehler, mit Ihnen zu sprechen.«
»Warum? Werden Sie von jemandem unter Druck gesetzt?«
»Druck?«, sagte der Mann und lachte tonlos. »Nein, ich stehe nicht im Geringsten unter Druck. Das habe ich meiner sehr großzügigen Pensionszahlung zu verdanken.«
»Also arbeiten Sie gar nicht mehr für Kaspar Metall?«
»Niemand arbeitet mehr für diese Firma. Die Fabrik ist abgebrannt.«
»Ich denke, es wäre wirklich sehr hilfreich, wenn wir miteinander sprechen könnten. Die Wahl des Treffpunkts überlasse ich Ihnen. Selbst wenn Sie nur fünf Minuten erübrigen könnten…«
»Es tut mir Leid«, sagte Altfeld und legte erneut auf.
»Schade.« Auger rieb sich die Stirn. »Ich dachte, diesmal würde ich etwas erreichen. Aber er will partout nicht mit uns reden.«
»So leicht geben wir nicht auf«, sagte Floyd.
»Soll ich noch einmal versuchen, bei ihm anzurufen?«
»Er würde wahrscheinlich nicht rangehen. Aber das spielt keine Rolle. Schließlich wissen wir jetzt, wo er wohnt.«
Das schwarze Duesenberg-Taxi hielt am Ende einer begrünten Straße im Wedding an, etwa fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. In den einfachen und preiswerten Reihenhäusern wohnten die vielen Arbeiter und Bürokraten, die in den nahe gelegenen Fabriken schufteten. Die Borsig-Lokomotivenwerke waren der größte Arbeitgeber in der Gegend, aber auch die Siemens-Werke waren nicht weit entfernt, und es gab noch mehrere weitere Fabriken in der Nähe, darunter vermutlich auch Kaspar Metall.
»Das ist das Haus«, sagte Auger. »Das an der Ecke. Was soll ich dem Fahrer sagen?«
»Er soll ein paar Häuser weiter halten.«
Sie sagte etwas auf Deutsch. Das Taxi rollte schnurrend weiter, dann fuhr es an den Straßenrand und hielt zwischen zwei geparkten Autos.
»Und was jetzt?«, fragte Auger.
»Sagen Sie ihm, dass er das Taxameter laufen lassen soll, während wir uns das Haus ansehen.«
Auger unterhielt sich wieder mit dem Taxifahrer. »Er sagt, wenn wir jetzt bezahlen, ist er bereit, zehn Minuten zu warten.«
»Dann bezahlen Sie.«
Auger hatte bereits einen Teil ihrer Barschaft in Reichsmark umgetauscht. Sie gab dem Fahrer ein paar Scheine und wiederholte ihre Bitte, dass er auf sie warten sollte. Er stellte den Motor ab, und sie stiegen aus.
»Ich bin von Ihren Deutschkenntnissen beeindruckt«, stellte Floyd fest, als sie das Gartentor öffneten und über den mit Steinplatten ausgelegten Weg zur Haustür gingen. »Lernt man so etwas automatisch als nette junge Spionin?«
»Man dachte, es könnte sich als praktisch erweisen«, sagte Auger.
Floyd drückte auf die Klingel. Wenig später wurde eine Gestalt hinter der Milchglasscheibe sichtbar, und die Tür öffnete sich knarrend. Der Mann, der im Flur stand, war um die sechzig, trug ein Hemd und Hosenträger, eine kleine Brille mit Drahtgestell und einen ordentlich gestutzten Schnurrbart. Er war kleiner und magerer als Floyd. Seine Gesichtszüge waren fein geschnitten, und in seinen sehr gepflegten Händen hielt er ein Staubtuch und ein Stück Keramik.
»Herr Altfeld?« Dann sagte Auger etwas auf Deutsch, in dem das Wort »Telefon« vorkam. Viel mehr konnte sie nicht sagen, weil der Mann ihr im nächsten Moment die Tür vor der Nase zuschlug.
»Soll ich es noch einmal versuchen?«
»Er wird nicht aufmachen. Es war ziemlich deutlich, dass er nicht mit uns sprechen möchte.«
Diesmal drückte Auger auf den Klingelknopf, doch der Mann kehrte nicht zurück. »Das war er, oder was meinen Sie?«
»Ich vermute es. Dies ist die Adresse, die im Telefonbuch angegeben ist.«
»Ich frage mich, warum er so große Angst hat.«
»Ich kann mir ein bis zwei Gründe vorstellen«, sagte Floyd.
Sie gingen durch den Garten zurück und schlossen das Tor hinter sich.
»Abgesehen von der Möglichkeit, ins Haus einzubrechen und ihn an einen Stuhl zu fesseln – was schlagen Sie vor, wie wir jetzt vorgehen sollten?«
»Wir warten im Taxi. Wenn Sie den Fahrer bei Laune halten können, werden wir uns einfach so lange nicht von der Stelle rühren, bis Altfeld etwas unternimmt.«
»Glauben Sie, dass er es tun wird?«
»Nachdem er davon überzeugt ist, dass wir verschwunden sind, wird er das Haus verlassen, damit wir ihn nicht mehr telefonisch oder an der Haustür belästigen können.«
»Ich vermute, dass Sie sich jetzt auf vertrautem Terrain bewegen, Wendell.«
»Richtig«, sagte er. »Aber normalerweise ist der schlimmste Fall, den ich in einer solchen Situation befürchten muss, ein Kinnhaken.«
»Und diesmal?«
»Diesmal kann ich mich glücklich schätzen, wenn ich mit einem Kinnhaken davonkomme.«
Auger überredete den Taxifahrer, einmal um den Block zu fahren, damit es aussah, als hätten sie den Schauplatz verlassen, falls Altfeld sie durch die Gardinen beobachtete. Nachdem sie wieder auf der Straße waren, parkte das Taxi ein Stück weiter an einer anderen Stelle, aber immer noch in Sichtweite des Hauses an der Ecke.
»Erklären Sie dem Fahrer, dass er sich auf eine längere Wartezeit einstellen soll«, sagte Floyd, »aber dass wir ihm mehr bezahlen werden, als er mit anderen Fahrten verdienen würde.«
»Es gefällt ihm nicht so recht«, sagte Auger, nachdem sie Floyds Anweisungen weitergegeben hatte. »Er meint, es sei sein Job, Fahrgäste zu transportieren, und nicht, Privatdetektiv zu spielen.«
»Geben Sie ihm noch einen Schein.«
Auger öffnete wieder ihre Geldbörse und sprach mit dem Mann, der das angebotene Geld mit einem Achselzucken annahm.
»Was sagte er jetzt?«, fragte Floyd.
»Dass er sich allmählich an seinen neuen Beruf gewöhnt.«
Sie warteten und warteten. Der Fahrer blätterte die Berliner Morgenpost von der ersten bis zur letzten Seite durch. In dem Moment, als Floyd ernste Zweifel an seinem Plan bekam, öffnete sich die Tür von Altfelds Haus, und ein Mann im Regenmantel und mit einer kleinen Tüte aus Wachspapier trat nach draußen. Altfeld schloss das Gartentor hinter sich und ging ein Stück die Straße entlang, bis er neben einem geparkten Auto anhielt und einstieg. Das Fahrzeug – ein schwarzer Bugatti aus den Fünfzigern mit Weißwandreifen – setzte sich ruckelnd in Bewegung.
»Der Fahrer soll diesem Wagen folgen«, sagte Floyd, »aber erinnern Sie ihn daran, ausreichend Abstand zu halten.«
Entgegen Floyds Erwartungen erwies sich der Taxifahrer bei der Verfolgung als äußerst geschickt. Floyd musste ihn nur ein- oder zweimal drängen, sich etwas zurückzuhalten. Zwei- oder dreimal bog er zuversichtlich in eine Nebenstraße ab und kam nach einigen Biegungen nur wenige Wagenlängen hinter dem anderen Fahrzeug wieder heraus.
Sie kehrten ins Stadtzentrum zurück, ungefähr auf der gleichen Strecke, die sie gekommen waren. Bald hatten sie die Spree überquert und fuhren am Rand des Tiergartens entlang, der großen grünen Lunge von Berlin. Am westlichen Ende, nicht weit vom Hotel am Zoo entfernt, wurde der Bugatti langsamer und setzte schließlich in eine Parklücke. Das Taxi fuhr vorbei und hielt erst an, als sie hinter der nächsten Ecke verschwunden waren. Auger bezahlte den Fahrer, während Floyd zur Ecke zurücklief, um Altfelds Wagen im Auge zu behalten. Er sah gerade noch rechtzeitig, wie der Mann aus dem Bugatti stieg, wieder mit der Papiertüte in der Hand. Sie folgten ihm bis zum Elefantentor des Zoologischen Gartens, wo sie aus der Ferne beobachteten, wie er den Eintritt entrichtete und hineinschlenderte. Floyd kannte den Zoo recht gut. Greta und er waren bei fast jedem Besuch in Berlin hier gewesen, um an sorgenfreien Nachmittagen herumzuspazieren, bis der Himmel dunkel wurde und die schimmernden Neonlichter der Stadt lockten.
Heute versprach der Himmel Regen, ohne dass er seine Drohung wahrmachte, wie ein kläffender Hund, der nicht biss. Am frühen Sonntagnachmittag füllte sich der Zoo allmählich mit Familien, die von schlecht gelaunten Kindern begleitet wurden, die dazu neigten, bei der leisesten Provokation in Tränen auszubrechen. Floyd und Auger kauften sich Eintrittskarten und hielten einen dezenten Abstand zu Altfeld. Die Besuchermenge war gerade dicht genug, um ihnen Deckung zu bieten und gleichzeitig gelegentliche Blicke zum Mann im Regenmantel hinüberwerfen zu können.
Sie folgten Altfeld zum Pinguingehege, das von einem Eisenzaun umgeben war. Es war eine versenkte Betonlandschaft aus künstlichen Felsen und Hängen, die um einen seichten, verschmutzt aussehenden See angeordnet waren. In diesem Moment begann die Fütterungszeit. Ein junger Mann in kurzen Hosen warf der aufgeregten Schar sich drängelnder Pinguine Fische zu. Altfeld stand vor einer kleinen Zuschauergruppe am Geländer. Er ließ sich nicht anmerken, ob er sich bewusst war, dass er verfolgt wurde. Bald nahm der Zoomitarbeiter seinen leeren Eimer und entfernte sich. Das schien für Altfeld das Stichwort zu sein, in seiner Papiertüte zu kramen und den Vögeln silbrig glänzende Leckerbissen zuzuwerfen.
Auf der anderen Seite des Geheges stand jemand, der Floyds Aufmerksamkeit erregte. Es war Auger. Sie war herumgegangen und hatte es irgendwie geschafft, sich in die erste Reihe der Zuschauer zu drängen, und nun wurde sie gegen das Geländer gedrückt. Sie achtete gar nicht mehr auf Altfeld, sondern starrte in offensichtlicher Faszination auf die wimmelnde Versammlung der Pinguine mit ihren adretten schwarzen Fräcken, den albernen kleinen Flossen und dem Ausdruck äußerster Würde, selbst wenn sie auf dem Bauch ins Wasser rutschten oder rückwärts hineinplatschten. Es war, als hätte sie noch nie in ihrem Leben Pinguine gesehen.
Floyd vermutete, dass es nicht viele Zoos in Dakota gab.
Die Zuschauer zerstreuten sich, und nur wenige blieben zurück, unter ihnen auch Altfeld. Als er die Vögel mit den letzten Bissen aus seiner Tüte gefüttert hatte, beobachtete er sie mit der schicksalsergebenen Distanziertheit eines Generals, dessen Truppen eine peinliche Niederlage erlebten.
Floyd und Auger näherten sich dem alten Mann.
»Herr Altfeld?«, sagte Auger.
Er wandte ihnen ruckartig den Kopf zu, ließ die Papiertüte fallen und antwortete auf Englisch: »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie hätten mir niemals folgen dürfen.«
»Wir möchten nur, dass Sie uns ein paar Fragen beantworten«, sagte Floyd.
»Wenn ich Ihnen etwas zu sagen hätte, hätte ich es bereits gesagt.«
Auger trat einen Schritt näher an ihn heran. »Ich bin Verity«, sagte sie. »Susan war meine Schwester. Sie wurde vor drei Wochen ermordet. Ich weiß, dass Sie wegen des Kaspar-Vertrags mit ihr in Verbindung standen. Ich glaube, dass der Mord irgendetwas mit diesem Auftrag zu tun hat.«
»Es gibt nichts, was ich Ihnen über den Auftrag sagen könnte.«
»Aber Sie wissen von diesem Vertrag«, sagte Floyd. »Und Sie wissen, dass es kein gewöhnlicher Auftrag war.«
»Es war eine künstlerische Arbeit«, sagte er mit leiser Stimme. »Daran war nichts Außergewöhnliches.«
»Das glauben Sie doch selber nicht, auch wenn es im ersten Augenblick tröstlich klingen mag«, sagte Auger.
»Wir wollen nur wissen«, sagte Floyd, »wohin diese Objekte geschickt wurden. Wir sind schon mit einer einzigen Adresse zufrieden.«
»Selbst wenn ich bereit wäre, es Ihnen zu sagen – was ich nicht bin – existiert diese Information nicht mehr.«
»Gab es in Ihrer Firma keine Aktenablage, um später in wichtigen Dokumenten nachsehen zu können?«, fragte Auger und hob überrascht eine Augenbraue.
»Diese Akten wurden … beseitigt.«
Floyd versperrte Altfeld den Blick auf die Vögel. »Aber Sie müssen sich doch an bestimmte Einzelheiten erinnern.«
»Ich habe mir keine dieser Einzelheiten eingeprägt.«
»Weil jemand Ihnen gesagt hat, dass Sie es nicht tun sollen?«, fragte Auger. »Ist das der Hintergrund, Mr. Altfeld? Hat jemand Sie unter Druck gesetzt und Ihnen befohlen, sich nicht zu aufmerksam damit zu beschäftigen?«
»Es war ein komplizierter Vertrag. Natürlich habe ich ihm meine ganze Aufmerksamkeit gewidmet.«
»Geben Sie uns etwas«, sagte Floyd. »Irgendetwas. Nur den ungefähren Stadtteil in Paris, in den eine der Kugeln geliefert wurde. Das wäre immerhin schon besser als gar nichts.«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Wurde jemals über den Zweck dieser Kugeln gesprochen?«, bohrte Floyd weiter.
»Wie ich bereits sagte, es war ein künstlerischer Auftrag.« Altfelds Stimme klang immer angespannter, und es schien, als könnte er jeden Augenblick die Beherrschung verlieren. »Kaspar Metall hat in diesem Zeitraum viele andere metallurgische Aufträge abgearbeitet. Wenn die Anforderungen erfüllt waren, bestand für uns kein Grund, die spätere Nutzung der Werkstücke zu hinterfragen.«
»Aber Sie müssen doch neugierig gewesen sein«, sagte Floyd.
»Nein. Ich war nicht neugierig.«
»Wir glauben, dass diese Kugeln Teil einer Waffe sein könnten«, sagte Auger. »Zumindest die Komponenten von etwas, das militärischen Zwecken dienen soll. Sie müssen auf dieselbe Idee gekommen sein. Haben Sie keinen Augenblick lang weiter darüber nachgedacht?«
»Der Zweck der Kugeln war Sache der Exportbehörde, nicht meine.«
»Ein gutes Argument, um sich aus der Affäre zu ziehen«, sagte Floyd.
Altfeld blickte zu ihm auf. »Wenn die Angelegenheit fragwürdig gewesen wäre, hätte man den Export der Objekte unterbunden. Aber sie wurden ausgeliefert, also ist der Auftrag erledigt.«
»Und damit sind Sie selbst aus dem Schneider, wie?«, fragte Floyd.
»Ich habe ein reines Gewissen. Wenn Sie damit Probleme haben, tut es mir Leid. Vielleicht gestatten Sie mir nun, in Ruhe die Pinguine zu betrachten.«
»Dieser Auftrag hat mit einer schlimmen Sache zu tun«, sagte Auger. »Sie können Ihre Hände nicht so einfach in Unschuld waschen.«
»Was ich mit meinen Händen mache«, sagte Altfeld, »ist einzig und allein meine Angelegenheit.«
»Sagen Sie uns, was Sie wissen«, forderte Floyd ihn auf.
»Ich weiß nur, dass Sie aufhören sollten, Fragen zu stellen. Verlassen Sie Berlin und kehren Sie dorthin zurück, woher Sie gekommen sind.« Er sah Auger an. »Ihren Akzent kann ich nicht einordnen. Normalerweise bin ich ziemlich gut in so etwas, selbst bei Menschen, die Englisch sprechen.«
»Sie stammt aus Dakota«, sagte Floyd. »Aber darüber müssen Sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Sie sollten sich nur ernsthaft überlegen, mir zu sagen, wer Ihnen eine solche Höllenangst eingejagt hat.«
»Werden Sie nicht albern.«
Inzwischen waren sie die einzigen Leute, die sich am Pinguingehege aufhielten. Floyd beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, obwohl er wusste, dass er es vermutlich sehr schnell bereuen würde. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er keine andere Möglichkeit sah, etwas Sinnvolles aus Altfeld herauszubekommen. Er sprang vor, packte ihn am Kragen seines Regenmantels und drückte ihn grob gegen den Eisenzaun, dass der Mann nach Luft schnappen musste.
»Jetzt hören Sie mir sehr gut zu«, sagte Floyd. »Ich bin kein ungeduldiger Mensch. Normalerweise ist dies nicht meine Art. Ich bin sogar meistens jemand, mit dem man ziemlich gut zurechtkommt.« Altfeld wand sich und versuchte erfolglos, sich Floyds Griff zu entziehen. »Aber ich habe das Problem, dass ein guter Freund von mir in großen Schwierigkeiten steckt.«
»Ihre Freunde gehen mich nichts an«, keuchte Altfeld.
»Das habe ich auch nicht behauptet. Aber dieser kleine Auftrag – der, über den Sie nicht sprechen wollen – hat mit den Schwierigkeiten zu tun, in denen mein Freund steckt. Er hat auch mit dem Mord an Miss Augers Schwester zu tun. Damit sind wir schon zwei, die sehr daran interessiert sind, der Wahrheit näher zu kommen, und Sie sind jemand, der uns dabei im Wege steht.«
»Lassen Sie mich los«, keuchte Altfeld. »Vielleicht können wir uns dann auf einer vernünftigen Basis unterhalten.«
»Tun Sie ihm nicht weh, Wendell«, sagte Auger.
Floyd blickte sich um. Noch war niemand auf die Szene aufmerksam geworden. Er ließ den Mann nicht los. »Diese Basis ist vernünftig genug. Erzählen Sie mir doch einfach etwas über die Leute, die diese Kugeln in Auftrag gegeben haben.«
»Ich werde Ihnen gar nichts sagen. Ich kann Ihnen nur raten, dass Sie besser daran tun, wenn sie so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben.«
»Aha«, sagte Floyd. »Wir kommen weiter – jedenfalls ein kleines Stück.« Er belohnte Altfeld, indem er ein wenig locker ließ, sodass der Mann wieder auf eigenen Beinen stehen konnte. »Die Frage ist nur – wenn sie so schlimm sind, warum haben Sie sich dann überhaupt auf sie eingelassen? Oder war die Lage für Kaspar Metall so verzweifelt, dass die Firma jeden Auftrag annehmen musste?«
Altfeld blickte sich um und schien darauf zu hoffen, dass jemand vorbeikäme, der ihm helfen konnte. »Arbeit war immer willkommen. Wir konnten es uns jedenfalls nicht leisten, einen guten Auftrag abzulehnen.«
»Nicht einmal Aufträge, die sehr hohe technische Ansprüche stellen?«, fragte Auger.
Er sah sie wütend an, als sollte sie sich schämen, dass sie eine Meinung zu diesem Thema hatte. »Anfangs war nichts Ungewöhnliches daran. Die Anforderungen schienen sogar recht einfach zu sein. Wir waren froh, die Arbeit übernehmen zu können. Doch im Laufe der Zeit wurden die Ansprüche an die Qualität des fertigen Produkts immer höher. Die Spezifikationen wurden immer diffiziler, die Toleranzen geringer. Es war nicht einfach, die Kupfer-Aluminium-Legierung zu gießen und weiterzuverarbeiten. Zu Beginn hatten wir nicht einmal die Messinstrumente, um die Form des Objekts mit der nötigen Genauigkeit zu kalibrieren. Und dann war da noch das Problem der kryogenen Suspension …«
»Kryogene was?«, warf Auger ein, in deren Kopf die Alarmsirenen losschrillten.
»Ich habe schon zu viel gesagt.«
Floyd packte Altfelds Regenmantel wieder fester und hob ihn höher empor, bis sein Kragen von den scharfen Spitzen des Zauns aufgespießt wurde. Dort ließ Floyd ihn hängen. »Sie haben mir nur einen kleinen Vorgeschmack gegeben.«
Altfeld schnappte keuchend nach Luft. »Zu einem späteren Zeitpunkt bestand der Kunde darauf, dass die Kugeln einem Bad in flüssigem Helium standhalten müssten, bei einer Temperatur, die nur einen Hauch über dem absoluten Nullpunkt liegt. Dadurch ergaben sich für uns zahlreiche Schwierigkeiten. Jetzt lassen Sie mich endlich in Ruhe!«
»Es klingt, als hätte man von Ihnen erwartet, Unmögliches zu leisten«, sagte Floyd. »Warum haben Sie den Vertrag nicht einfach gekündigt, nachdem die Anforderungen ständig verändert wurden?«
»Wir haben es versucht«, sagte Altfeld. »Doch dann bekam ich die Neigung unseres Kunden zu rücksichtslosen Maßnahmen zu spüren. Man machte uns klar, dass es für uns jetzt kein Zurück mehr gäbe.«
»Und Sie haben diesen Bluff offenbar geschluckt.«
»Ja. Dann wurde einer unserer Geschäftsführer – der die letzte Runde der Verhandlungen mit dem Kunden geführt hatte – tot in seinem Haus aufgefunden.«
»Ermordet?«, fragte Floyd.
»Man hatte ihn in seinem Wintergarten zu Tode geprügelt. Es geschah an einem sonnigen Nachmittag, als sein Haus von vielen Zeugen beobachtet werden konnte. Doch niemand wurde am Tatort gesehen. Zumindest niemand, der das Verbrechen begangen haben könnte.«
»Niemand außer vielleicht einem Kind«, sagte Floyd.
Altfeld nickte ernst, und plötzlich erlahmte seine Gegenwehr, als hätte er soeben etwas gehört, von dem er sich verzweifelt gewünscht hatte, dass es nicht wahr wäre. Floyd spürte die Änderung seiner Stimmung, als wäre Altfeld froh, dass er endlich mit jemandem darüber sprechen konnte, ganz gleich, wie furchterregend die Konsequenzen sein mochten.
»In der letzten Produktionsphase, als die Kugeln evaluiert und verschifft wurden, sah ich überall Kinder. Sie folgten mir auf Schritt und Tritt. Sie waren ständig anwesend, aber sie schienen nur aus dem Augenwinkel wahrnehmbar zu sein. Seit die Fabrik abgebrannt ist, habe ich keine mehr gesehen. Ich hoffe, wenn ich ins Grab gehe, werde ich das immer noch behaupten können.«
»Sie haben Ihnen Angst eingejagt?«, fragte Auger.
»Einmal war ich einem dieser Kinder nahe genug, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Es war eine Erfahrung, die ich nie wieder machen möchte.«
Auger näherte sich ihm. »Ich verstehe sehr gut, dass Sie große Angst vor diesen Kindern hatten, Mr. Altfeld. Ihre Angst war begründet. Sie sind sehr gefährlich, und sie sind zum Töten bereit, um ihre Interessen durchzusetzen. Aber wir arbeiten nicht mit ihnen zusammen. Im Gegenteil, wir tun alles, was in unserer Macht steht, um sie aufzuhalten.«
»Dann sind Sie noch dümmer, als ich erwartet hatte. Wenn Sie noch einen Funken Verstand hätten, würden Sie diese Angelegenheit ruhen lassen.«
»Wir brauchen nur eine Adresse«, sagte Floyd. »Eine Spur. Mehr verlangen wir nicht von Ihnen. Dann werden Sie nie wieder von uns hören.«
»Aber ich werde von ihnen hören.«
»Wenn Sie uns helfen, können wir sie vielleicht aufhalten, bevor sie Ihnen etwas antun können«, sagte Auger.
Altfeld stieß einen leises Lachen aus, das wie das Gackern eines Huhns klang, als hätte er nie eine weniger überzeugende Beteuerung gehört.
»Sie könnten uns wenigstens sagen, wo die Produktion stattgefunden hat«, schlug Floyd vor.
»Ich werde Ihnen gar nichts sagen. Wenn es Ihnen gelungen ist, mich ausfindig zu machen, werden Sie es zweifellos schaffen, Ihre Ermittlungen auch ohne meine Unterstützung fortzusetzen.«
Floyd stellte fest, dass er mehr Kraft besaß, als er für möglich gehalten hätte, und drückte Altfeld noch höher empor. Er hob seinen Kragen von der Eisenspitze des Zauns und arbeitete sich an den Knöpfen des Regenmantels hinunter, bis er den Mann um die Taille fassen konnte. Dann stemmte er ihn so weit hinauf, dass sein Kopf und Oberkörper über den Zaun hingen, von wo es ziemlich tief zum Gehege hinunterging.
Altfeld stieß ein angsterfülltes Keuchen aus, als sich sein Schwerpunkt nach hinten verlagerte.
»Sagen Sie es mir«, zischte Floyd. »Sonst stoße ich Sie hinüber.«
Auger versuchte Floyd daran zu hindern, Altfeld etwas anzutun, aber der Detektiv hatte genug von seinen Lügen und Ausflüchten. Es war ihm gleichgültig, wie viel Angst er diesem Mann einjagte, wie unschuldig die Rolle war, die er im Rahmen der viel größeren Verschwörung gespielt hatte. Er dachte nur noch an Custine und das, was Auger schreiend aus dem Alptraum hatte erwachen lassen.
»Geben Sie mir eine Adresse, Sie Drecksack! Geben Sie mir eine Adresse, oder ich verfüttere Sie an die Vögel!«
Altfeld keuchte, als hätte er einen Herzanfall erlitten. Zwischen den Atemzügen stieß er hervor: »Fünfzehn … Gebäude fünfzehn.«
Floyd ließ ihn am Zaun heruntergleiten, bis er zusammengesackt auf dem Boden stand.
»Das war ein guter Anfang.«
Als sie zum Hotel zurückkehrten, war es bereits zu spät, um noch ins Industriegebiet hinauszufahren, wo sich das Werk von Kaspar Metall befunden hatte. »Gleich morgen Früh werden wir als Erstes mit einem Taxi hinausfahren«, sagte Floyd. »Selbst wenn wir dort niemanden finden, mit dem wir reden können, ist nach dem Brand vielleicht etwas zurückgeblieben, das uns weiterhilft.«
»Altfeld hat uns etwas vorenthalten«, sagte Auger. »Ich weiß nicht, was es war, aber er hat uns nicht die ganze Geschichte erzählt.«
»Glauben Sie, dass er etwas über Silberregen weiß?«
»Nein. Dessen bin ich mir ziemlich sicher. Wie ich bereits sagte, sind die Herstellungsbedingungen hier einfach nicht gegeben. Die Metallkugeln müssen zu etwas anderem gehören.«
»Aber möglicherweise besteht ein Zusammenhang«, sagte Floyd. »Vielleicht sollten wir Altfeld einen weiteren Besuch abstatten, um zu sehen, ob wir noch etwas mehr aus ihm herausquetschen können.«
»Wir sollten ihn in Ruhe lassen«, sagte Auger. »Er scheint nur ein verängstigter alter Mann zu sein.«
»Diesen Eindruck machen sie alle.«
»Vielleicht hätte er uns gar nichts Nützliches mehr erzählen können«, sagte sie in der Hoffnung, Floyd von der Idee abzubringen, Altfeld weiter zu foltern.
»Vielleicht, aber irgendjemand muss mehr darüber wissen. Altfeld mag sich nur um die Verträge gekümmert haben, aber die Leute, die die Produktion überwacht haben, müssen eine bessere Vorstellung haben, welchem Zweck diese Kugeln dienten, wenn sie sie angemessen kalibrieren sollten.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Wir werden uns morgen das Fabrikgelände ansehen. Wenn sich daraus neue Spuren ergeben, werden wir sie weiterverfolgen. Sie haben gesagt, es wäre genug Geld da, um noch etwas in diesem Hotel verweilen zu können?«
»Ja«, sagte sie. »Aber wir können hier nicht ewig bleiben. Zumindest ich kann es nicht. Ich muss am Donnerstag wieder in Paris sein. Das bedeutet, dass ich den Nachtzug erwischen muss, der morgen Abend fährt.«
»Wozu die Eile? Wir sind doch erst heute Früh hier angekommen?«
»Ich muss einfach nach Paris zurück. Können wir es dabei belassen?«
Sie gingen um sieben Uhr aus, fuhren mit der S-Bahn zur Friedrichstraße und liefen dann am Spreeufer zurück, bis sie eine Ansammlung von Restaurants in der Nähe des renovierten Reichstags fanden. Sie aßen eine gute Currywurst, gefolgt von einem Schokoladenkuchen, und hörten einem alten Pärchen aus Bayern zu, das sich an die Namen ihrer neunzehn Urenkel zu erinnern versuchte.
Anschließend bummelten Floyd und Auger über die Straßen, bis Floyd Livemusik aus dem Fenster einer Kellerbar dringen hörte. Es war Zigeunerjazz, wie er ihn in den letzten Jahren in Paris viel zu selten gehört hatte. Er schlug Auger vor, dass sie für eine halbe Stunde in die Bar gingen, bevor sie zum Hotel zurückkehrten. Also stiegen sie hinunter in den Rauch und das Licht des Konzertraums, wo es plötzlich viel lauter war, als es auf der Straße den Anschein gehabt hatte. Floyd gab Auger ein Glas Weißwein aus und holte einen Brandy für sich selbst. Er nahm einen Schluck und versuchte die Band einzuschätzen, so gut es ihm möglich war. Es war ein Quintett aus Tenorsaxophon, Klavier, Kontrabass, Schlagzeug und Gitarre. Es spielte »A Night in Tunisia«. Der Gitarrist war gut – ein ernsthafter junger Mann mit dicker Brille und den Händen eines Chirurgen –, aber die anderen hätten noch einige Stunden üben müssen. Wenigstens hatten sie eine Band, dachte Floyd melancholisch.
»Ist das Ihre Musik?«, fragte er Auger.
»Nicht unbedingt«, sagte sie mit verlegenem Gesichtsausdruck.
»Die Jungs sind ganz passabel. Der Gitarrist ist richtig gut, aber er sollte sich nicht mit diesen Typen abgeben. So wird das nichts.«
»Ich muss mich auf Ihr Urteil verlassen.«
»Also mögen Sie keinen Jazz oder zumindest nicht diese Art von Jazz. Kein Problem. Erst die Vielfalt macht die Welt interessant.«
»Ja«, sagte Auger und nickte, als hätte er etwas äußerst Tiefgründiges gesagt. »So ist es wohl.«
»Und was mögen Sie so?«
»Ich habe Schwierigkeiten mit Musik«, gestand sie.
»Mit jeder Art von Musik?«
»Mit jeder«, bestätigte sie. »Auf diesem Ohr bin ich taub. Musik gibt mir einfach nichts.«
Floyd trank seinen Brandy aus und bestellte sich einen neuen. Die Band verhunzte nun »Someone to Watch Over Me«. Zigarettenrauch hing in erstarrten Schwaden in der Luft, wie ein verrückter wolkiger Sonnenaufgang. »Susan White war genauso«, sagte er.
»Wie genauso?«
»Blanchard sagte, er hätte nie erlebt, dass sie Musik gehört hat.«
»Das ist kein Verbrechen«, entgegnete Auger. »Und woher wusste er, was sie in ihrer Freizeit getan hat? Er kann ihr nicht überallhin gefolgt sein.«
»Sie hatte ein Radio und ein Grammophon in ihrem Zimmer«, sagte Floyd. »Aber niemand hat gehört, dass sie je mit diesen Geräten Musik gespielt hat.«
»Deuten Sie nicht zu viel hinein«, sagte Auger. »Ich habe nur gesagt, dass ich für Musik taub bin. Ich weiß nicht alles über Susan White.«
»Lassen Sie uns von hier verschwinden«, sagte Floyd und stellte sein leeres Glas ab. »Mir tränen die Augen von dem Rauch, und ich möchte nicht, dass irgendjemand glaubt, es könnte an der Musik oder meiner Begleitung liegen.«
Sie fuhren mit der S-Bahn zum Hotel zurück und wünschten sich artig eine gute Nacht. Floyd legte sich in Hemd und Hosen auf die Couch und wärmte sich mit einer Decke. Aber er konnte nicht schlafen. Die Rohre der sanitären Anlagen spielten bis um drei Uhr morgens eine metallische Sinfonie. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen beobachtete er, wie am Fuß der Everest-Statue Neonziffern an- und ausgingen. Er dachte daran, wie Auger schlief und wie wenig er über sie wusste – und wie viel er noch über sie wissen wollte.