Sechsunddreißig

 

 

»Ich gestehe, dass die Bedingungen besser sein könnten«, sagte der Mann in der weißen Kapitänsuniform, auf der Schulterstücke und Tressen glänzten, »aber ich möchte trotzdem, dass Sie sich in diesem Schiff wohl fühlen.«

Tunguska bot Floyd eine Zigarre aus einem kleinen hölzernen Humidor an. Floyd lehnte sie ab, doch zu einem Schluck Whisky ließ er sich überreden. Sie saßen in Polstersesseln im luxuriös ausgestatteten Salon, der sich an Bord eines Ozeandampfers, eines Luftschiffes oder eines transatlantischen Flugbootes befinden mochte. Durch die quadratischen Fenster war nur verregnete Nacht zu sehen, und das ferne Dröhnen der Maschinen war so unbestimmbar, dass jede der Möglichkeiten zutreffen konnte. Deckenventilatoren rührten mit langsamen Rotationen die Luft um.

Floyd trank seinen Whisky zur Hälfte aus. Es war nicht der beste, den er jemals gekostet hatte, aber er war dennoch genau das Richtige nach so einem Tag. »Wie geht es Auger?«, fragte er.

»Ihr Zustand ist stabil«, sagte Tunguska. »Die physische Verletzung durch die versagende Waffe ließ sich ohne Probleme beheben, und normalerweise wäre es nicht zu weiteren Schwierigkeiten gekommen.«

»Und in diesem Fall?«

»Sie hat einen Schock erlitten. Es besteht die Möglichkeit, dass sie gestorben wäre, wenn Cassies Maschinen nicht eingegriffen hätten. Jedenfalls haben die Maschinen sie stabilisiert. Sie befindet sich in einer Art Koma.«

»Wie lange wird sie in diesem Zustand bleiben?«

»Ich fürchte, das lässt sich nicht abschätzen. Selbst wenn jemand von uns freiwillig akzeptiert, zum Wirt für die Maschinen einer anderen Person zu werden, ist es ein Prozess, der mit zahlreichen Tücken verbunden sein kann. Diese Art von spontanem Transfer, den Cassandra in Paris bewerkstelligt hat …« Der Kapitän neigte die Zigarre zur Seite, um seine Worte zu illustrieren. »Es wäre selbst dann schwierig gewesen, wenn Auger ein Slasher gewesen wäre, mit jahrelanger Vorbereitung und bereits vorhandenen Strukturen im Kopf, die sich auf die neuen Muster hätten einstellen können. Aber Auger ist nur ein normaler Mensch. Und zu allem Überfluss wurde sie kurz nach der Übernahme schwer verletzt.«

»Wenn Cassandra sie nicht übernommen hätte, wären wir beide da unten gestorben, nicht wahr?«

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit.« Tunguska nahm sich eine weitere Zigarre und kniff das Ende mit einer raffinierten kleinen Guillotine ab. Er hatte die erste gar nicht geraucht oder auch nur den Anschein erweckt, dass er ihre Grundfunktion verstanden hatte, abgesehen von ihrer Eigenschaft als soziales Accessoire. »Genauso wäre Cassandra gestorben, wenn sie Auger nicht als Wirt übernommen hätte.«

»Mir scheint, dass sie sich nicht unbedingt freiwillig für diese Aufgabe zur Verfügung gestellt hat.«

»Glauben Sie mir«, sagte Tunguska, »es muss zumindest einen Moment der Verhandlung gegeben haben, mag er auch noch so kurz gewesen sein. Es gehört sich einfach nicht, in den Kopf einer anderen Person zu stürmen, ganz gleich, wie dringend die Notlage ist.«

»Wie steht es um Cassandras Chancen?«

»Besser als ohne Wirt. Ihre Maschinen hätten überlebt, aber ohne die Verankerung eines physischen Geistes hätte sich ihre Persönlichkeit aufgelöst.«

»Und jetzt?«

»Hat sie zumindest eine Chance.« Zur Unterstreichung stieß er wieder mit der Zigarre in die Luft. »Dank Auger.«

»Ich glaube, Auger hat Sie falsch beurteilt«, sagte Floyd.

»Sie hat einige von uns falsch beurteilt. Doch was die anderen betrifft, muss ich zu meinem Bedauern gestehen, dass sie absolut richtig gelegen hat.«

Floyd hatte Tunguska bereits alles über die Slasher-Verschwörung erzählt, was er wusste. Zweifellos hatte er einige Einzelheiten nicht richtig verstanden und konnte nur vage Angaben über manche Dinge machen, die Auger viel besser hätte erklären können. Aber Tunguska hatte immer wieder genickt und ihn zum Weiterreden aufgefordert, und er schien die richtigen Fragen mehr oder weniger in der richtigen Reihenfolge gestellt zu haben.

»Was wird jetzt geschehen?«, fragte Floyd.

»Mit Auger? Wir halten sie unter Beobachtung, bis wir einen geeigneten neuen Wirt für Cassandras Maschinen ausfindig gemacht haben. Es ist nicht ganz klar, was sie mit Auger machen, aber ich glaube, wir sollten sie vorläufig sich selbst überlassen.«

»Aber wird mit ihr anschließend wieder alles in Ordnung sein?«

»Ja. Ob sie jedoch in jeder Hinsicht wie früher sein wird – das ist eine andere Frage.«

Floyd legte beide Hände um das Whiskyglas und nickte. Es brachte nichts, den Überbringer der Botschaft zu erschießen, da Tunguska alles tat, was in seiner Macht stand. »Bevor wir Paris verlassen haben«, sagte er, »erwähnte Cassandra, sie hätte den Befehl gegeben, das Rettungsfahrzeug abzufangen.«

»Wir haben ihn empfangen«, sagte Tunguska.

»Ich habe mich nur gefragt, wie diese Geschichte ausgegangen ist. Haben Sie die Beute zur Strecke gebracht?«

Tunguska warf einen Blick zur Seite, als wollte er sich vergewissern, dass niemand in Hörweite war. »Nicht ganz. Wie es scheint, wurde eins unserer Schiffe behindert. Das Schiff, das die besten Chancen hatte, die Rettungseinheit zu erwischen, hat es einfach … durch die Maschen des Netzes schlüpfen lassen.« Er spreizte die Finger einer Hand. »Bedauerlicherweise.«

»Sie durften nicht zulassen, dass dieses Schiff entkommt.«

»Wir haben getan, was wir konnten, aber im translunaren Raum wartete ein anderes, viel schnelleres Schiff, genau im toten Winkel unserer Sensoren. Sehr clever!«

»Und dieses schnellere Schiff – wie groß war es?«

»Groß genug, um das Antimaterie-Triebwerk der Twentieth Century Limited an Bord haben zu können, falls das der Hintergrund Ihrer Frage ist. Wir sind uns nicht sicher, ob es das gleiche Schiff ist, das am Überfall auf das Linienschiff beteiligt war, aber in Anbetracht aller anderen Faktoren … ist es wohl sehr wahrscheinlich. Übrigens konnten wir das Schiff mit Niagara in Verbindung bringen.«

»Sie müssen ihn aufhalten.«

»Das ist leider nicht so einfach. Sein Schiff ist bereits mit hoher Beschleunigung zum Sedna-Portal unterwegs.«

»Dann müssen Sie es schließen.«

»Das haben wir bereits versucht. Wie es scheint, haben Niagaras Verbündete das Portal in ihre Gewalt gebracht. In Kürze wird dort eine militärische Einheit von uns eintreffen – die groß genug ist, um den Aggressoren Paroli zu bieten –, aber leider erst, nachdem dieses Schiff ins Hypernetz entkommen ist.«

»Dann haben wir es verloren«, sagte Floyd schwer seufzend.

Tunguska rückte sich in seinem Sessel zurecht, was das Leder mit einem Ächzen quittierte. »Nicht zwangsläufig. Zumindest wissen wir, dass das Schiff zum Sedna-Portal unterwegs ist, und wir wissen, wohin dieses Portal führt. Am Ende befinden sich drei Ausgänge, und Niagara wird einen von ihnen nehmen müssen. Wenn wir ihm dicht genug auf den Fersen bleiben, können wir vielleicht die Signaturen der Aktivierung des Portals entziffern und bestimmen, in welches Kaninchenloch er geflohen ist. Dann werden wir den Vorstoß in die Hypernetzverbindung riskieren, während darin noch ein anderes Schiff unterwegs ist. Das ist selbst für Kommunitäten-Schiffe eine unübliche Vorgehensweise, und damit es überhaupt gelingen kann, werden wir die Sicherheitsvorkehrungen der Portale umgehen müssen. Aber zumindest können wir Niagara dann ein Stück weit folgen.«

»Falls Ihnen das etwas nützt.«

»Es ist immer noch besser, als gar nichts zu tun. Niagaras Schiff ist sehr groß und auf langen Strecken sehr schnell, aber es wird den Transit von Portal zu Portal nicht so schnell wie wir vollziehen können. Das ist so ziemlich unser einziger Vorteil.«

»Und Sie haben immer noch keine Ahnung, in welchem Winkel des Universums Niagaras Ziel liegt?«

»Nicht die geringste«, sagte Tunguska. »Das ist bedauerlicherweise ein wichtiger Punkt, über den wir bislang noch nichts in Erfahrung bringen konnten. Sie haben nicht zufällig einen genialen Einfall?«

»Wenn Sie geniale Einfälle brauchen«, sagte Floyd, »sind sie bei mir definitiv an der falschen Adresse.«

Als sie ausgetrunken hatten, führte Tunguska Floyd durch ein Labyrinth aus getäfelten Gängen zu seinem Quartier. »Es ist nichts Besonderes«, sagte der Slasher, als er die Tür zu einem Schlafzimmer öffnete, in dem Howard Hughes Flugübungen hätte machen können.

»Ich habe keine großen Ansprüche«, sagte Floyd und betastete die Teakholz-Intarsien in der Tür. »Ist das alles echt?«

»Vollkommen«, sagte Tunguska. »Dies ist ein großes Schiff, und wir können es uns leisten, Ihnen einige Ressourcen zuzuteilen, damit Sie sich wohl fühlen. Wenn wir diese Ressourcen anderweitig benötigen, werde ich versuchen, Sie früh genug vorzuwarnen.«

»Danke …«, sagte Floyd. »Und wegen Auger?«

»Man wird Sie benachrichtigen, sobald es irgendetwas Neues gibt.«

»Ich würde sie gern besuchen.«

»Jetzt?«

»Vielleicht in nächster Zeit.«

»Aber Sie werden sich nicht mit ihr unterhalten können«, warf Tunguska ein.

»Ich weiß«, sagte Floyd. »Ich möchte nur, dass sie spürt, dass jemand um ihr Wohlergehen besorgt ist.«

»Ich verstehe«, sagte Tunguska, als er ihn in den Raum führte. »Es war ein ziemlich großes Opfer von Ihnen, hierher zu kommen, Mister Floyd.«

»Ich habe schon Schlimmeres auf mich genommen.«

»Aber Ihnen muss bewusst sein, dass es für Sie keine Garantie gibt, jemals wieder nach Hause zurückzukehren.«

»Das wusste ich nicht, als ich Auger half, sich in Sicherheit zu bringen.«

»Das mag sein. Aber hätte dieses Wissen etwas an Ihren Entscheidungen geändert?«

Floyd dachte einen Moment lang darüber nach, weil er eine ehrliche Antwort geben wollte. »Wahrscheinlich nicht.«

»Davon bin ich ebenfalls überzeugt. Ich bin vielleicht nicht der beste Menschenkenner, aber ich vermute, dass Sie genau dieselben Entscheidungen getroffen hätten, wenn Ihnen die Konsequenzen in vollem Umfang bekannt gewesen wären.« Tunguska klopfte ihm behutsam auf den Rücken. »Und das finde ich bewundernswert. Sie hätten auf alles verzichtet – eine ganze Welt und alle Menschen, die Ihnen etwas bedeuten –, um ein anderes Menschenleben zu retten.«

»Warten Sie noch etwas, bis Sie mich heilig sprechen«, sagte Floyd. »Ich hatte mir gedacht, dass es eine gute Idee wäre, Auger zu helfen, nach Hause zurückzukehren. Das hatte durchaus etwas Egoistisches. Und schließlich besteht immer noch eine gewisse Chance, dass ich zurückkehren kann.«

Tunguska musterte ihn eine Weile sehr aufmerksam, während er sich mit einem Finger am Kinn entlangstrich.

»Falls wir die Position der AGS ausfindig machen können, meinen Sie?«

»Ja.«

»Dann wäre es durchaus eine Möglichkeit. Allerdings müssten wir zuvor noch das kleine Problem lösen, durch die Hülle zu gelangen. Die Aggressoren werden versuchen, Antimaterie einzusetzen, womit sich die AGS möglicherweise knacken lässt – vielleicht aber auch nicht. Andererseits werden wir alles tun, was wir können, um sie daran zu hindern. Wenn wir die Antimaterie vorzeitig zur Detonation bringen können, werden wir keinen Augenblick zögern, es zu tun.«

Floyd hatte die Sache noch gar nicht so detailliert durchdacht. Tunguska musste ihm gar nicht deutlicher erklären, dass die Sache möglicherweise auf ein Selbstmordkommando hinauslief, falls sich nicht auf andere Weise verhindern ließ, dass der Silberregen nach E2 gelangte.

»Es tut mir Leid«, fügte Tunguska hinzu, als er Floyds Reaktion bemerkte.

»Und es gibt keinen anderen Weg, wie ich hineinkommen könnte?«

»Zumindest ist uns keiner bekannt. Wenn wir die AGS irgendwann erreicht haben, hätten wir natürlich alle Zeit der Welt, nach einem Zugang zu suchen … aber das ist das Einzige, was Sie nicht haben.«

»Sie müssen zuerst alles tun, um den Einsatz von Silberregen zu verhindern«, sagte Floyd. »Dafür haben Auger und ich unseren Hals riskiert. Dafür sind Susan White, Blanchard und Cassandra gestorben – und all die anderen Unschuldigen, die in diese Sache hineingezogen wurden.«

»Wir können immer noch darauf hoffen, dass die Sache gut ausgeht«, sagte Tunguska und zwang sich zu einem optimistischen Tonfall. »Ich möchte nur klarstellen, dass wir auf das Schlimmste vorbereitet sein sollten.«

 

Tunguska ließ Floyd allein in seinem Quartier zurück, während das Schiff durch das Sonnensystem auf das Sedna-Portal zuraste. Floyd durchstreifte das riesige Zimmer und erkundete die Grenzen wie ein Hamster im Labor. Es war sehr komfortabel eingerichtet, und überall zeigte sich, dass seine Gastgeber sich viel Mühe gegeben hatten, ihm das Gefühl zu geben, zu Hause zu sein. Doch er hatte den bohrenden Verdacht, dass er mit der nackten Realität des Schiffes, wie es sich den üblichen Insassen präsentierte, viel glücklicher gewesen wäre. Aus der Nähe betrachtet machte das Dekor und das Mobiliar den gleichen skizzenhaften Eindruck wie im Salon. Es war, als würde man durch den vagen Tagtraum einer anderen Person spazieren. Es entspannte ihn nicht, sondern machte ihn noch nervöser.

Neben dem Schreibtisch stand ein großer alter Radioschrank. In das Holz um die Lautsprecherabdeckung war das Motiv eines Sonnenaufgangs eingeritzt. Er schaltete den Apparat ein und drehte am Abstimmknopf. Auf der gesamten Bandbreite gab es nur einen einzigen Sender. Auf diesem Kanal verkündete ein Mann die Neuigkeiten aus dem Sonnensystem, insbesondere die Ereignisse im und um das Portal, zu dem sie unterwegs waren. Der Ansager sprach im Tempo eines Sportreporters und unterstrich seinen Monolog mit kurzem Glockengeläut, Pfiffen und Xylophonmelodien. Es war keine echte Nachrichtensendung – das war Floyd schon nach sehr kurzer Zeit klar. Der Stil hätte schon 1939 veraltet und falsch geklungen. Es war eine Zusammenfassung der realen Situation, auf eine Weise verpackt, die ihn trösten und beruhigen sollte.

Er hörte noch etwa eine Stunde lang Radio, bis er es nicht mehr ertrug. Niagaras Schiff hatte das Portal erreicht und die Penetration erfolgreich hinter sich gebracht. Befürchtungen, die Aggressoren könnten versuchen, das Portal anschließend zum Kollaps zu bringen, erwiesen sich als unbegründet – zumindest vorläufig. Eine Theorie ging davon aus, dass sich das zurückgebliebene technische Personal geweigert hatte, den Befehl zur Schließung der Mündung auszuführen. Nach einer anderen sollte der Kollaps so lange hinausgezögert werden, bis die Moderaten kurz davor standen, das Portal wieder in ihre Gewalt zu bringen, damit die Kollapswelle es nicht mehr schaffte, Niagaras Schiff einzuholen und zu beschädigen. Eine dritte Möglichkeit war, dass die Aggressoren entschieden hatten, das Portal trotz der Gefahr einer Verfolgung offen zu lassen. Wenn sie es geschlossen hätten, wäre ihnen in Zukunft der Zugang zur AGS verwehrt, was ihren gesamten Plan sinnlos gemacht hätte. Sie wollten E2 sterilisieren und dann jeden davon überzeugen, dass dieses Vorgehen absolut richtig gewesen war. Und dann würden sie vermutlich über Grundstückspreise reden.

Floyd schaltete das Radio aus und dachte wieder über Auger nach. Es war erst eine knappe Woche her, seit sie ihm über den Weg gelaufen war. Trotzdem konnte er sich nicht mehr vorstellen, auch nur einen Augenblick seines künftigen Lebens ohne sie zu verbringen. Jede andere Sorge erschien ihm blass und banal, wenn er sie neben die Notwendigkeit hielt, dass sie überleben musste.

Schließlich stattete Tunguska ihm einen weiteren Besuch ab. »Es gibt gute Neuigkeiten, Floyd – Auger macht Fortschritte.«

»Haben Sie einen neuen Wirt gefunden?«

»Nein, noch nicht. Cassandras Maschinen scheinen es darauf abgesehen zu haben, sich zu verschanzen, zumindest vorläufig. Es könnte sein, dass sie beschlossen haben, in Auger zu bleiben, bis die Krise vorbei ist.«

Floyd stand auf. »Kann ich sie sehen?«

»Ich sagte, sie macht Fortschritte.« Tunguska sah ihn mit einem mitfühlenden Lächeln an. »Ich habe nicht gesagt, dass sie wieder ansprechbar ist.«

»Wie lange dauert es noch, bis sie wieder richtig bei Bewusstsein ist?«, fragte er, während er sich aufs Bett zurückfallen ließ.

»Wir werden bereits innerhalb des Portals sein, wenn sie wieder Besucher empfangen kann.« Tunguska hielt eine Kiste in der Hand, die mit etwas voll gepackt war, das Floyd auf den ersten Blick für Papiere hielt. »Bis dahin muss ich Sie bitten, sich zu gedulden.«

Floyd nahm diese Information so würdevoll wie möglich entgegen. »Also gut. Ich schätze, es hat ohnehin keinen Sinn, sich mit Ihnen streiten zu wollen.«

»Ich fürchte, Sie haben Recht. Natürlich liegt uns nur Augers Wohlergehen am Herzen, aber genauso sorgen wir uns um Cassandra.« Er trat ans Bett, auf dem Floyd saß, und stellte die Kiste vor ihm auf den Boden. »Ich dachte mir, dass ich Ihnen das hier vorbeibringe, damit die Wartezeit für Sie etwas erträglicher wird.«

Floyd blickte auf die Kiste. Sie war voller Schallplatten -Hüllen und Labels, die ihm vage bekannt vorkamen. »Woher haben Sie die?«, fragte er ungläubig.

»Aus der Fracht, die Sie von E2 mitgebracht haben«, sagte Tunguska mit selbstzufriedener Miene.

»Ich dachte, wir hätten sie verloren.«

»Stimmt. Das hier sind Kopien, die nach Scans der originalen Fracht rekonstruiert wurden. Für diese Voraussicht können Sie sich bei Cassandra bedanken.«

Floyd zog eine Schallplatte heraus. 78 Umdrehungen pro Minute, Louis Armstrong mit King Oliver’s Creole Jazz Band, der Titel »Chimes Blues«. Das Original war auf dem Label Gennett veröffentlicht worden und in tadellosem Zustand ein Vermögen wert. Floyd besaß ein zerkratztes Exemplar, das etwas weniger wert war. Trotzdem hatte er die Aufnahme tausendmal abgespielt, um zu begreifen, was Bill Johnson mit seinem Bass anstellte.

Diese Schallplatte war eine neuere Kopie von einem Label für Wiederveröffentlichungen, aber Floyd hatte sie trotzdem noch nie gesehen. Die Hülle bestand aus einem seltsamen, glatten Material, das sich wie nasses Glas anfühlte. »Das haben Sie hergestellt?«, fragte er, während er mit den Fingern über das eigenartige Papier strich.

»Es war recht einfach, nachdem die Informationen verfügbar waren.«

Floyd neigte die Hülle und ließ die Schallplatte herausgleiten. Als er sie in der Hand hielt, fühlte sie sich sehr leicht an, als wäre sie aus Tintenfischknochen gepresst worden, als würde sie bei der leichtesten Berührung in tausend Splitter zerbrechen.

»Ich war mir nicht einmal sicher, ob Sie hier überhaupt noch Musik hören. Auger schien nicht viel damit anfangen zu können. Genauso wie Susan White.«

»Hat Auger mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Ich wollte sie immer wieder danach fragen, aber dann kamen uns die Ereignisse dazwischen. Was ist los, Tunguska? Wird Musik hier als primitive Kunstform betrachtet, ähnlich wie Höhlenmalerei oder Knochenschnitzerei?«

»Nicht ganz«, sagte Tunguska. »In den Kommunitäten hören wir immer noch Musik, auch wenn sie sich sehr von dem unterscheidet, was Sie kennen dürften. Doch Auger und ihre Kollegen sind einfach nicht mehr in der Lage, Musik zu hören. Es war unsere Schuld, müssen Sie wissen. Wir haben ihnen die Musik gestohlen.«

»Wie kann man Musik stehlen, Tunguska?«

»Indem man eine Viruswaffe entwirft. Ihnen dürfte nicht entgangen sein, welche entscheidende Rolle die Musik spielt, wenn es darum geht, während eines Krieges die Moral der Nation aufrechtzuerhalten. Jetzt stellen Sie sich vor, was passiert, wenn man den Menschen mit einem Schlag diese Möglichkeit nimmt. Wir hatten bereits ein Virus konstruiert, der sie alle getötet hätte, wenn eine gewisse Anzahl von Wirten infiziert worden wäre. Aber wir wollten sie nicht töten, wir wollten sie von unserer Ideologie überzeugen, damit sie unsere Gemeinschaften verstärkten. Außerdem lässt sich ein tödliches Virus nur mit großen Schwierigkeiten in einem großen Kampfgebiet freisetzen. Sobald die ersten Menschen sterben, werden Quarantänemaßnahmen eingeleitet. Man tut alles, um eine weitere Ausbreitung zu unterbinden. Also dachten unsere Konstrukteure noch einmal nach und bauten die Waffe so um, dass sie den Teil des Gehirns angreift, der mit der Sprache assoziiert ist. Sie gingen davon aus, dass sich ein solches Virus viel weiter ausbreiten kann, bevor man seine Wirkungen bemerkt.«

»Ganz schön hinterlistig«, sagte Floyd.

»Aber immer noch nicht optimal«, fuhr Tunguska fort. Sein Tonfall war genauso gemessen und entspannt wie immer. »Unsere Vorhersagen zeigten, dass es am Ende immer noch mehrere Millionen Tote geben würde, wenn die Gesellschaft in den Habitaten durch die Kommunikationsprobleme zwischen Arbeitern an Schlüsselpositionen zusammenbricht. Also bauten unsere Konstrukteure die Waffe erneut um. Schließlich hatten sie das Amusia-Virus entwickelt, das an bestimmte Areale der rechten Gehirnhälfte andockt, die denen in der linken Hälfte entsprechen, die mit der Wahrnehmung und Erzeugung von Sprache assoziiert sind. Und es hat wunderbar funktioniert. Die Opfer von Amusia haben jeglichen Sinn für Musik verloren. Sie können nicht musizieren, sie können nicht singen, sie können nicht pfeifen, sie kommen mit keinem Instrument zurecht. Sie können nicht einmal Musik hören. Sie hat für sie jede Bedeutung verloren; es ist nur noch eine sinnlose Abfolge von Geräuschen. Manchen bereitet Musik sogar Unbehagen.«

»Dann ist Auger also … und auch Susan White?«

»Amusia hat sich sehr schnell durch die ganze Stoker-Gesellschaft ausgebreitet. Als man endlich merkte, was geschah, war es schon viel zu spät, um noch etwas dagegen zu tun. Bis heute zirkulieren mutierte Stämme des Virus. Und es wurde so konstruiert, dass man es, wenn man sich einmal damit infiziert hat, an seine Kinder weitergibt … und an deren Kinder. Das ist die Zukunft, Floyd: eine Welt ohne Musik – zumindest für die meisten.«

»Die meisten?«

»Die Waffe hat nicht bei allen funktioniert. Einer von tausend war nicht von den Folgen betroffen, obwohl wir immer noch nicht wissen, warum das so ist. Diese Menschen betrachten sich als Glückskinder. Sie werden gleichermaßen beneidet und gehasst.«

»Aber wenn man Musik stehlen kann … müsste man sie doch auch wieder zurückbringen können, oder?«

Tunguska lächelte nachsichtig. »Wir haben es versucht, um Brücken zu reparieren. Aber es gibt nur wenige Freiwillige, weil die Stoker naturgemäß große Bedenken haben, sich einem weiteren neuralen Eingriff auszusetzen. Die meisten von ihnen würden sich nicht einmal wegen eines gebrochenen Beins von uns behandeln lassen, ganz zu schweigen von einer mentalen Veränderung. Und die wenigen, die sich freiwillig gemeldet haben … nun, die Resultate waren nicht gerade sehr erfolgreich. Wenn sie sich erinnern, wie Musik früher für sie gewesen ist, beklagen sie sich, dass sie nun blass und gefühllos klingt. Vielleicht haben sie sogar Recht.«

»Oder es geht ihnen nur genauso wie uns allen«, sagte Floyd. »Niemand hat mir den Sinn für Musik gestohlen, aber ich schwöre, dass sie nie mehr so gut geklungen hat wie mit zwanzig.«

»Ich gestehe, dass auch ich diesen Verdacht gehegt habe. Aber in Anbetracht des Schadens, den wir diesen Menschen zugefügt haben, müssen wir die Angelegenheit im Zweifel zu ihren Gunsten betrachten. Vielleicht fehlt ihnen doch etwas.«

»Wie steht es mit Ihren Leuten? Wenn dieses Virus überall ist, müssten Sie sich inzwischen nicht auch damit angesteckt haben?«

»Sie vergessen die Maschinen in unseren Körpern, die das Virus in Schach halten.« Tunguska zögerte. »Nachdem wir dieses Thema angeschnitten haben, Floyd, sollte ich Sie warnen, da Sie nicht über solche Maschinen verfügen …«

»Dass das Virus mich jederzeit befallen könnte?«

»Im Moment droht Ihnen vermutlich keine Gefahr«, sagte Tunguska. »Sie müssten Kontakt mit mehr als nur einem Träger haben, bevor das Virus die Gelegenheit erhält, wirksam zu werden. Aber wenn Sie im Sonnensystem bleiben – wenn Sie sich frei in der Stoker-Gesellschaft bewegen –, würde das Virus Sie irgendwann erwischen.«

Floyd betrachtete die Schallplatte, auf der sich sein Gesicht spiegelte. »Dann würde ich die Musik verlieren, genauso wie es mit Auger geschehen ist?«

»Es sei denn, Sie hätten das Glück, einer von tausend zu sein, der gegen das Virus immun ist … aber realistisch betrachtet würde es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit passieren.«

»Danke«, sagte Floyd. »Ich bin froh, dass Sie es mir gesagt haben.«

Tunguska wirkte leicht verblüfft. »Dank war nicht unbedingt die Reaktion, die ich von Ihnen erwartet hatte. Hass und Verdammung vielleicht, aber nicht Dankbarkeit.«

»Ich würde sagen, dass es für eine Verdammung etwas zu spät ist. Was geschehen ist, ist geschehen. Und ich habe den Eindruck, dass Sie nicht unbedingt stolz auf Ihre Tat sind.«

»Nein.« Tunguska klang ehrlich erleichtert. »Wir sind auf keinen Fall stolz darauf. Und wenn wir die Sache auf irgendeine Weise wieder gutmachen könnten …«

»Vielleicht, nachdem Sie dieses kleine Kriegsproblem aus der Welt geschafft haben«, schlug Floyd vor. »Dann können Sie daran denken, ein paar von diesen Brücken wiederaufzubauen. Aber zuerst müssen wir Niagara aufhalten.«

»In der Fracht war etwas, das er brauchte«, sagte Tunguska. »Er wusste genau, wonach er suchte. Wir nicht. Es wäre schon schwierig genug, es zu finden, wenn wir die Sachen noch hätten – oder wenn Cassandra genug Zeit gehabt hätte, den Inhalt mit höherer Auflösung zu scannen.«

»Moment«, sagte Floyd und drehte die Schallplatte in den Händen. »Wenn sie nicht genug Zeit hatte, die Fracht in allen Einzelheiten zu untersuchen, woher kommt dann diese Kopie?«

»Cassandra hat sich nach Kräften bemüht, was bedeutet, dass die Bücher und Zeitschriften nicht so gründlich gescannt werden konnten, wie es wünschenswert gewesen wäre. Aber die Tonaufnahmen? Es war im Grunde eine recht einfache Angelegenheit, die Rillen holografisch zu speichern. Viel einfacher, als ein Papierdokument mit mikroskopischer Genauigkeit zu scannen, um darin nach versteckten Botschaften suchen zu können.«

Floyd sah sich die Plattenhülle von allen Seiten an. »Aber wenn sich hier eine Botschaft verstecken würde, wäre sie Ihnen doch auch entgangen.«

»Eine versteckte Botschaft wie die Koordinaten der AGS? Ja. Aber Sie wissen ja bereits, dass nur ein winziger Datensatz nötig wäre, um die Position eindeutig anzugeben. Ein paar Ziffern … die sich mühelos sonstwo verbergen lassen.«

»Dann ist es völlig aussichtslos.«

»Ich habe mir nur gedacht, dass die Schallplatten Ihnen helfen könnten, die Zeit totzuschlagen. Wenn ich bedenke, wie viel Ihnen Musik bedeutet …«

»Ja«, sagte Floyd. »Sehr viel. Und ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Geste. Aber ohne etwas, worauf sich diese Platten abspielen lassen …«

»Ich bitte Sie!«, sagte Tunguska mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen. »Sie glauben doch nicht, dass ich das vergessen hätte, oder?«

Er blickte auf etwas, das sich hinter Floyd befand, auf dem Nachttisch neben dem Radio. Floyd drehte sich um. Nun stand dort ein komplettes Grammophon, ein gutes Gerät, wo noch vor einer Minute nichts gestanden hatte.

»Das ist ein verdammt guter Trick, Tunguska«, sagte er lächelnd.

»Genießen Sie die Musik, Floyd. Ich werde wiederkommen, wenn ich Neuigkeiten für Sie habe.«

Nachdem er gegangen war, legte Floyd die Schallplatte auf den Teller des Grammophons und setzte die Diamantnadel in die Rille. Zunächst knisterte es, danach wurde es stiller, bis auf ein gelegentliches statisches Knacken. Dann begann die Musik. Armstrongs Trompete füllte mühelos den Raum aus, Lil Hardins Piano klang klar und kühl wie Regen an einem heißen Tag. Floyd lächelte – es war immer gut, Satchmo zu hören, ganz gleich, wo oder wann. Aber trotzdem ließ ihn die Musik keine Ruhe finden. Vielleicht machte er sich zu viele Sorgen um Auger und alles andere, um die Musik auf sich wirken lassen zu können. Aber selbst seine zerkratzte alte Gennett-Pressung hatte eine Lebendigkeit, die dieser Version fehlte. Irgendwo zwischen Paris und Cassandras Raumschiff hatte die Musik etwas Essenzielles verloren. Floyd nahm die Platte vom Teller und schob sie zurück in die Hülle. Er blätterte die Sammlung in der Kiste durch, suchte ein paar andere Jazzaufnahmen heraus und probierte es damit, bevor er es schließlich aufgab. Vielleicht lag es gar nicht an den Aufnahmen, sondern am Plattenspieler oder an der Akustik des Raumes. Auf jeden Fall stimmte etwas nicht. Es war, als würde man jemanden hören, der fast so etwas wie eine Melodie pfiff.

Netter Versuch, Tunguska, dachte er.

Floyd streckte sich wieder auf dem Bett aus, die Hände im Nacken verschränkt. Er schaltete noch einmal das Radio ein, aber die Nachrichten waren immer noch genauso fad wie zuvor.

 

»Sie können jetzt mit ihr sprechen«, sagte Tunguska. »Aber seien Sie bitte vorsichtig. Sie hat in den letzten Tagen eine Menge durchgemacht.«

»Ich werde sie mit Samthandschuhen anfassen.«

»Natürlich. Übrigens – wie gefallen Ihnen die Schallplatten?«

»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich so viel Mühe mit mir machen.«

»Wie in ›Mühe allein genügt nicht‹?«

»Es tut mir Leid, Tunguska, aber irgendetwas stimmt damit nicht. Vielleicht braucht der Plattenspieler eine neue Nadel. Oder es liegt irgendwie an mir.«

»Ich wollte nur, dass Sie sich ein wenig wie zu Hause fühlen.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen. Aber machen Sie sich keine Sorgen um mich, okay? Ich komme schon klar.«

»Sie sehen den Dingen tapfer ins Auge, Floyd. Das bewundere ich an Ihnen.«

Tunguska führte ihn in den strahlend weißen Erholungsraum.

»Ich werde Sie mit ihr allein lassen. Die Maschinen werden es mir mitteilen, falls sie Schwierigkeiten bekommt.«

Er trat durch die weiße Wand nach draußen, die sich wie Pudding nahtlos hinter ihm verschloss.

Auger schien halbwegs bei Bewusstsein zu sein. Sie saß im Bett, und ein Nebel aus silbernen Maschinen umschwirrte glitzernd ihren Kopf und Oberkörper. Sie sah, wie er auf sie zukam und brachte trotz ihrer offenkundigen Erschöpfung ein Lächeln zustande.

»Floyd! Ich dachte schon, man würde dir nie erlauben, mich wiederzusehen. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ob mit dir wirklich alles in Ordnung ist.«

»Mir geht es gut«, sagte er und setzte sich auf einen pilzförmigen Sockel neben dem Bett. Er nahm ihre Hand und strich über die Finger. Er rechnete damit, dass sie sie zurückzog, aber stattdessen erwiderte sie den Griff, als würde sie diesen menschlichen Kontakt dringend brauchen. »Tunguska wollte, das du deinen Kopf in Ruhe und Frieden wieder zusammensortieren kannst.«

»Es kommt mir vor, als wäre ich schon hundert Jahre hier, während in meinem Kopf das Chaos tobte.«

»Ist es jetzt besser geworden?«

»Ein bisschen. Aber es fühlt sich immer noch so an, als würde ein Debattierclub seine Jahresversammlung in meinem Schädel abhalten.«

»Das dürften Cassandras Maschinen sein. Du erinnerst dich, was geschehen ist?«

»Nicht an alles.« Sie schob sich eine schweißfeuchte Haarsträhne aus den Augen. »Ich weiß noch, wie Cassandra starb … aber danach ist fast nichts mehr hängen geblieben.«

»Erinnerst du dich, dass ihre Maschinen dich um Erlaubnis gefragt haben, in deinem Kopf Zuflucht zu suchen?«

»Ich weiß nur, dass ich vor etwas große Angst hatte, aber dass ich nur mit ›Ja‹ antworten konnte, weil nicht genug Zeit war, sich die Sache gründlich zu überlegen.«

»Du hast sehr tapfer gehandelt«, sagte Floyd. »Ich bin stolz auf dich.«

»Ich hoffe, es hat sich gelohnt.«

»Es hat. Zumindest vorläufig. Weißt du, wo du bist?«

»Ja«, sagte sie. »Wenn ich merke, dass ich etwas nicht weiß, habe ich im nächsten Moment die Information im Kopf. Wenigstens etwas. Wir sind wieder in Cassandras Schiff, nur dass Tunguska jetzt den Laden am Laufen hält.«

»Können wir ihm vertrauen?«

»Absolut«, sagte sie entschieden, als wäre es völlig offensichtlich. Doch dann runzelte sie die Stirn und war sich plötzlich unsicher. »Nein. Warte. So gut kann ich ihn doch gar nicht kennen! Das muss eine von Cassandras Erinnerungen sein …« Auger schüttelte sich, als hätte sie soeben in eine Zitrone gebissen. »Das ist merkwürdig. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.«

»Tunguska sagte, dass Cassandras Maschinen offenbar sehr von dir angetan sind.«

»Erzähl mir nicht, dass ich jetzt für immer damit leben muss.« Sie sagte es in beiläufigem Tonfall, aber trotzdem klang sie nicht sehr überzeugend.

»Wahrscheinlich nur so lange, bis die Krise vorbei ist.« Floyd gab sich alle Mühe, zuversichtlich zu klingen. »Erinnerst du dich an das Rettungsschiff, von dem Cassandra überzeugt war, dass man es abschießen würde?«

»Ja«, sagte Auger nach einer Weile.

»Es ist entkommen. Dann wurde es von einem größeren, schnelleren Schiff eingeschleust. Laut Tunguska deuten die Indizien darauf hin, dass es Niagara war.«

Das schien Auger vollends wach zu machen. Sie setzte sich kerzengerade im Bett auf und strich sich das Haar zurück. »Wir müssen dieses Schiff aufhalten, bevor es das Portal erreichen kann. Alles andere ist unwichtig.«

»Wir haben es versucht«, sagte Floyd.

»Und?«

»Niemand konnte Niagara einholen. Und er hatte das Portal bereits unter seine Kontrolle gebracht.«

»Ich dachte, du hättest gesagt, wir würden ihn noch verfolgen.«

»Das tun wir auch. Tunguska hat Hilfe geschickt, um das Portal zurückzuerobern. Seine Jungs haben es für uns offen gehalten. In diesem Moment befinden wir uns im Hypernetz.«

Sie blickte sich um und schien an Floyds Worten zu zweifeln. Auch für Floyd war es nur schwer zu glauben gewesen, dass ein Portaltransit so reibungslos, so unspektakulär verlaufen konnte. Es war wie eine Fahrt auf einem frisch geölten Leichenwagen.

»Und wo ist Niagara jetzt?«, fragte sie.

»Irgendwo vor uns in der Röhre.«

»Ich glaube nicht, dann man schon einmal gleichzeitig zwei Schiffe hineingeschossen hat«, sagte Auger stirnrunzelnd.

»Ich glaube auch nicht, dass es die übliche Routine ist.«

»Denkt Tunguska, dass wir Niagaras Schiff einholen werden – oder ihm nahe genug kommen, um es abschießen zu können?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, er macht sich mehr Sorgen um das, was geschieht, wenn Niagara am anderen Ende herauskommt. Es besteht die Gefahr, dass wir seine Spur verlieren.«

»Das darf nicht geschehen. Wenn wir seine Spur verlieren, haben wir alles verloren. Deine ganze Welt, Floyd – jeden, den du kennst, jeden, den du jemals geliebt hast. Alle werden innerhalb eines einzigen Augenblicks sterben.«

»Ich werde Tunguska sagen, dass er noch ein paar Briketts in den Ofen schmeißen soll.«

»Es tut mir Leid«, sagte sie und ließ sich ins Kissen zurücksinken, als wäre ihre Energie nun restlos aufgebraucht. »Ich weiß nicht, warum ich es für dich noch schwieriger mache, als es ohnehin schon ist. Tunguska tut zweifellos alles, was er kann.« Dann sah sie Floyd ernst an, als irgendeine zufällig ausgelöste Erinnerung an die Oberfläche kam. »Die Koordinaten der AGS«, sagte sie. »Habt ihr sie gefunden?«

»Nein. Daran beißt sich Tunguska immer noch die Zähne aus. Er sagt, dass wir sie vielleicht nie finden.«

»Wir müssen irgendetwas übersehen haben, Floyd. Etwas, das so verdammt offensichtlich ist, dass es sich direkt vor unserer Nasenspitze befindet.«

 

Tunguska besuchte sie etwas später. Er war sehr groß gewachsen, und seine Bewegungen und seine Sprache waren so gelassen und ruhig, dass sich Auger in seiner Gegenwart unwillkürlich entspannte. Seine bloße Existenz schien ihr zu sagen, dass nichts Schlimmes geschehen konnte.

»Sind Sie gekommen, um mich aus dem Bett zu entlassen?«, fragte sie. »Ich habe das Gefühl, dass ich hier all die aufregenden Dinge verpasse.«

»Nach meiner Erfahrung«, sagte Tunguska, während er sich eine Sitzgelegenheit schuf, »ist Aufregung viel besser, wenn andere Leute sie haben. Aber deshalb bin ich nicht gekommen. Ich habe eine Botschaft für Sie. Wir haben sie kurz vor dem Einflug ins Portal aufgefangen.«

»Was ist das für eine Botschaft?«

»Sie stammt von Peter Auger. Möchten Sie sie sehen?«

»Das hätten Sie mir wirklich früher sagen müssen.«

»Peter hat ausdrücklich darum gebeten, dass wir Sie erst damit behelligen sollen, wenn es Ihnen wieder besser geht. Eine Möglichkeit zu antworten gibt es sowieso nicht. Wir haben Peter gesagt, dass Sie noch bewusstlos sein werden, wenn wir ins Hypernetz gehen.«

»Also weiß er, dass ich in Sicherheit bin?«

»Jetzt ja. Aber lassen Sie mich doch einfach die Botschaft abspielen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, hob Tunguska die Hand und ließ in der Wand einen Bildschirm entstehen. Er wurde von einem flachen, verrauschten Bild von Peter ausgefüllt, der noch verhärmter und verstörter aussah als gewöhnlich.

»Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich die Botschaft ungestört ansehen können.« Tunguska stand auf und ließ den Sitz mit einer Geste im Boden verschwinden.

Das Bild erwachte zum Leben, als Tunguska den Raum verlassen hatte.

»Hallo, Verity«, sagte Peter. »Ich hoffe, du bist gesund und wohlauf, wenn diese Nachricht dich erreicht. Bevor du dir Sorgen machst, möchte ich dir versichern, dass es den Kindern gut geht. Wir befinden uns in der Obhut von Moderaten aus den Kommunitäten – Freunden von Cassandra –, die sich sehr gut um uns kümmern. Tunguska wird dafür sorgen, dass wir wieder zusammenkommen, wenn all dieser Wahnsinn vorbei ist.«

»Gut«, sagte Auger lautlos.

»Jetzt zu dir«, fuhr Peter fort. »Mir sind nicht alle Fakten bekannt – und ich erwarte auch nicht, sie zu erhalten, bevor wir uns von Angesicht zu Angesicht wiedersehen –, aber ich habe genug gehört, um zu wissen, dass du im Wesentlichen unversehrt bist und ausgezeichnet betreust wirst. Es tut mir Leid, was mit Caliskan und Cassandra geschehen ist. Ich weiß, dass du seit der Rückkehr von E2 Schweres durchgemacht hast, ganz zu schweigen von dem, was dir tatsächlich auf der anderen Seite der Verbindung zugestoßen ist. Ich kann nur sagen – und ich weiß, dass es seltsam klingt, wenn ausgerechnet ich es sage –, dass ich stolz auf dich bin. Wir wären völlig zufrieden gewesen, wenn du nur das getan hättest, was man dir aufgetragen hat. Aber du hast sehr viel mehr geleistet. Du hast Susan White alle Ehre gemacht. Du hast dafür gesorgt, dass sie nicht umsonst gestorben ist.« Dann hielt Peter einen Flachbildschirm hoch, auf dem ein komplexes dreidimensionales Muster zu sehen war, das an eine metallische Schneeflocke oder einen Seestern erinnerte und sich ständig verformte und drehte. »Das hier wirst du vermutlich nicht erkennen. Es ist ein einzelnes Replikationselement des Silberregens – der gleiche Stamm, den, wie Cassandras Leute glauben, Niagara in seinen Besitz gebracht hat.«

Er hatte Recht, sie hätte es eigentlich nicht erkennen dürfen. Aber es war ihr vage vertraut vorgekommen, als sie das rotierende Gebilde gesehen hatte. Zumindest Cassandras Maschinen hatten es sofort identifiziert.

»Offiziell hätte so etwas gar nicht möglich sein dürfen«, fuhr Peter fort. »Angeblich wurden alle Vorräte vor zwanzig Jahren vollständig vernichtet. Bedauerlicherweise war es nicht so. In eklatanter Verletzung des Waffenstillstandsabkommens haben die Kommunitäten eine strategische Reserve zurückbehalten. Sie haben sogar ein kleines Team zusammengestellt, das die Waffe weiterentwickeln sollte.«

»Mistkerle«, sagte Auger.

»Aber geh nicht zu hart mit ihnen ins Gericht«, sagte Peter mit einem Glitzern in den Augen, als wüsste er genau, wie sie darauf reagieren würde. »Wir selbst waren nicht besser. Der einzige Unterschied ist, dass unsere Forschungsteams nicht ganz so erfinderisch waren. Oder nicht so raffiniert.« Er drehte den kleinen Bildschirm, sodass er ihn nun selbst betrachten konnte. »Was die Wissenschaftler der Kommunitäten gemacht haben, war im Grunde ganz einfach. Der originale Silberregen war ein antibiologischer Breitspektrum-Wirkstoff. Er konnte nicht zwischen Pflanzen und Menschen oder irgendwelchen Mikroorganismen unterscheiden. Er ist in jedes Lebewesen eingedrungen und hat alle zum gleichen vorprogrammierten Zeitpunkt getötet. Deshalb gibt es immer noch die Verödete Zone auf dem Mars. Er ist sehr gut geeignet, um eine komplette Ökologie auszuradieren – aber er ist nicht geeignet, um nur ein Element mit chirurgischer Präzision zu entfernen. Doch der neue Stamm ist genau dazu in der Lage – er betrifft ausschließlich Menschen. Wenn er zum Einsatz kommt, wird auf E2 kein Mensch mehr am Leben sein. Nach ein paar Wochen werden selbst die Leichen verschwunden sein. Jeder andere Aspekt der Ökosphäre wird völlig unbeeinträchtigt bleiben. Für die übrige Natur wird es sein, als hätte soeben eine kurze, aber heftige Fieberperiode aufgehört. Ein Jahrmillionen wütendes Fieber namens Homo sapiens. Die Städte werden zerfallen. Die Dämme werden Risse bekommen und einstürzen. Die Wildnis wird zurückerobern, was ihr rechtmäßiger Besitz ist. Die Tiere werden den Unterschied wahrscheinlich gar nicht bemerken, nur dass den Vögeln die Luft etwas sauberer und den Walen die Meere etwas leiser vorkommen werden. Selbst Kernkraftwerke oder Schiffe, die außer Kontrolle geraten können, werden verschwunden sein und nicht mehr die Welt verpesten, wenn ihre Erbauer nicht mehr existieren.«

Peter ließ die Bildschirmdarstellung mit einer Handbewegung verschwinden und legte das Gerät weg. »Warum erzähle ich dir das alles, wo Niagara längst im Besitz dieser Waffe ist? Nur deshalb, weil du unsere einzige Hoffnung bist, dieses Szenario zu verhindern. Wenn diese Waffe in der Atmosphäre von E2 freigesetzt wird, muss dir klar sein, dass sie funktionieren wird. Es besteht keine realistische Wahrscheinlichkeit, dass sie versagt. Es gibt kein Gegenmittel, das wir später einsetzen könnten, in der Hoffnung, dass es die Replikatoren auslöscht, bevor sie zünden. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, besteht darin, Niagara einzuholen, bevor er E2 erreichen kann. Wenn er nicht abgefangen werden kann, wird der Mord an drei Milliarden Menschen auf E2 schlimm genug sein. Aber das ist noch nicht das Ende. Wenn die Aggressoren unschädlich gemacht werden können, gibt es für uns eine Chance, diesen wahnsinnigen Krieg zu beenden, bevor er weiter eskalieren kann. Die Erde haben wir schon verloren, aber wir müssen nicht das gesamte System verlieren. Doch wenn E2 vom Silberregen heimgesucht wird, geben sich die Hardliner auf unserer Seite niemals mit einem Waffenstillstand zufrieden, nicht einmal in Verhandlungen mit den Moderaten. Es wird immer weitergehen. Es wird das Ende von allem sein.« Er zuckte die Achseln. »Natürlich nur, wenn wir verlieren. Ich finde, dass dir das klar sein sollte, damit du weißt, was auf dem Spiel steht.«

»Ich weiß«, sagte Auger. »Du brauchst mir nicht …«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Peter und nickte. »Nach allem, was du durchgemacht hast, was du für uns getan hast, ist es weder fair noch vernünftig, erheblich mehr von dir zu verlangen. Aber wir haben einfach keine Alternative. Ich weiß, dass du die Kraft dazu hast, Verity. Vor allem weiß ich, dass du den nötigen Mut hast. Tu einfach, was in deiner Macht steht. Und dann komm zu uns zurück. Du hast mehr Freunde, als du ahnst, und wir alle warten auf dich.«

 

Später kam ein weiterer Besucher zu ihr. Das dunkelhaarige Mädchen trat in den Raum, ohne auf eine Aufforderung zu warten. Dann stand es in demütiger Haltung am Fußende ihres Bettes, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als würde es auf einen Tadel warten, weil es seine Hausaufgaben zu spät abgegeben hatte.

»Ich könnte mich transparent machen, wenn du meinst, dass es dir helfen würde«, sagte Cassandra.

»Erspar dir die Mühe. Ich weiß, dass du nicht real bist.«

»Ich hielt es für das Beste, persönlich zu erscheinen. Es stört dich doch nicht, oder? Im Vergleich zu dem, was ich dir bereits angetan habe, wäre eine Änderung deiner Wahrnehmung noch harmlos.«

»Was soll dieser Auftritt, Cassandra?«

»Es geht um dich und mich. Um das, was mit uns geschehen ist und was wir daraus machen.«

»Ich gebe mich keinen Illusionen hin«, sagte Auger. »In Paris hast du meinen Körper gekapert, um uns beide zu retten.«

»Dabei habe ich auch mich gerettet. Ich kann nicht abstreiten, dass es zu einem erheblichen Teil aus Eigennutz geschah.«

»Warum? Deine Maschinen hätten sich doch sicherlich verstecken können, bis die Gefahr vorbei gewesen wäre.«

»Das hätten sie, aber ohne einen Wirtsgeist hätte ich nicht lange überlebt. Eine Persönlichkeit ist eine ziemlich fragile Angelegenheit.«

Auger bekam eine leichte Gänsehaut, als sie sich vorstellte, was Cassandra erlitten hatte. »Wie viel von dir …« Aber sie brachte es nicht übers Herz, die Frage zu vervollständigen.

»Wie viel von mir überlebt hat? Mehr, als ich zu hoffen gewagt habe. Deutlich weniger, als ich es mir gewünscht hätte. Mir blieb sozusagen nur die Zeit, eine mentale Flaschenpost auf den Weg zu bringen. Jetzt sprichst du mit dieser Flaschenpost.«

»Und deine Erinnerungen?«

»Prinzipiell wären die Maschinen nur in der Lage gewesen, einen winzigen Teil zu codieren und zu transferieren. Mein Gedächtnis fühlt sich vollständig an – aber irgendwie dünn, wie eine flüchtige Skizze des Originals. Sie haben keine Textur, es fehlt das Gefühl, dass ich diese Ereignisse tatsächlich selbst erlebt habe. Es kommt mir vor, als hätte jemand anderes mein Leben gelebt, jemand, den ich nicht persönlich kenne.« Sie riss sich zusammen und blickte auf ihre Schuhe. »Aber vielleicht hat sich das Leben schon immer so angefühlt. Das Problem ist nur, dass ich mich nicht erinnere, ob es einen Unterschied zu der Zeit vor meinem Tod gibt.«

»Das tut mir Leid, Cassandra.«

»Oh, versteh mich nicht falsch – es ist viel besser, als tot zu sein. Aber wenn wir diese Sache hinter uns haben, besteht immer noch die Chance, dass ich gespeicherte Erinnerungen aus den mnemonischen Archiven der Kommunitäten reintegrieren kann. Falls sie überleben.«

»Das hoffe ich für dich.«

»Wir werden sehen. Die Hauptsache ist, dass ich es bis hierher geschafft habe. Dafür muss ich dir danken, Auger. Du hättest mich abweisen können.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass wir eine Diskussion geführt haben.«

Cassandra lächelte matt. »Nun, ich gebe zu, dass sie nicht sehr lange gedauert hat. Und als ich dein Gehirn gestürmt habe, hast du dadurch möglicherweise die letzten paar Sekunden deines Kurzzeitgedächtnisses verloren. Aber ich versichere dir, dass ich die Erlaubnis hatte, das zu tun, was getan werden musste.«

»Du hast uns gerettet«, sagte Auger. »Und als ich verletzt war, als Floyd zurückkam, um mich zu retten, bist du bei mir geblieben.«

»Was hätte ich sonst tun sollen?«

»Du hättest meinen Körper verlassen können … mich in Paris zurücklassen können. Ich bin mir sicher, deine Maschinen hätten es geschafft, einen anderen Wirt zu finden. Du hättest dich mit Floyd begnügen können.«

»Du machst dir ein falsches Bild von uns«, sagte Cassandra. »Ich hätte dich niemals im Stich gelassen. Ich wäre eher gestorben, als damit leben zu müssen.«

»Dann bin ich dir sehr dankbar.«

»Du hast auch mich gerettet. Nach allem, was zwischen uns geschehen ist, hätte ich mich nicht mehr darauf verlassen wollen. Ich möchte auch dir meinen Dank aussprechen, Auger. Ich hoffe nur, dass wir beide etwas aus dieser Erfahrung gelernt haben.«

»Ich war es, die eine Lektion nötig hatte«, sagte Auger. »Ich habe dich gehasst, weil du die Wahrheit über mich gesagt hast.«

»Dann muss ich ein kleines Geständnis ablegen. Während ich mich darauf vorbereitete, gegen dich auszusagen, habe ich gleichzeitig deine Entschlossenheit bewundert. Du hattest das Feuer in dir.«

»Es hätte mich beinahe verbrannt.«

»Aber es war dir wenigstens nicht gleichgültig. Zumindest warst du bereit, etwas zu tun.«

»Diese ganzen Unannehmlichkeiten haben wir nur Leuten zu verdanken, die bereit waren, etwas zu tun. Menschen wie ich, die immer wissen, wenn sie Recht haben und sich alle anderen im Irrtum befinden. Vielleicht brauchen wir dringend mehr Menschen, die so sind.«

»Oder nur solche vom richtigen Schlag«, sagte Cassandra mit einem Achselzucken. Sie scharrte unbehaglich mit den Füßen. »Ich werde jetzt mal langsam auf den Punkt kommen. Alles, was ich dir gerade gesagt habe, meine ich wirklich so, aber der eigentliche Grund, warum ich mit dir reden wollte, ist ein ganz einfacher: Du hast jetzt die Wahl.«

»Welche Wahl?«

»Was aus mir werden soll. Du bist wieder gesund. Du brauchst mich nicht mehr in deinem Kopf, um dich am Leben zu erhalten.«

»Also hast du einen neuen Wirt ausfindig gemacht?«

»Nicht ganz. Tunguska würde mich übernehmen, wenn er noch Kapazitäten frei hätte … die er aber nicht hat, weil er all die taktischen Kalkulationen anstellen muss. Dasselbe gilt für den Rest der Besatzung. Aber es gibt noch technische Möglichkeiten. Man kann meine Maschinen in Stasis versetzen, bis wir in die Kommunitäten zurückkehren und einen Wirt gefunden haben.«

»Gib mir eine ehrliche Antwort: Wie stabil wäre diese Stasis, verglichen mit der Möglichkeit, dass du dort bleibst, wo du bist?«

»Die Stasis-Prozedur ist durchaus in der Lage …«

»Eine ehrliche Antwort«, sagte Auger.

»Es gäbe weitere geringfügige Verluste. Sie lassen sich nicht genau beziffern, aber sie sind praktisch unvermeidlich.«

»Dann bleibst du, wo du bist. Ohne Wenn und Aber.«

Cassandra strich eine Haarlocke zurück. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Mit so viel Güte hätte ich nie gerechnet.«

»Von mir?«

»Von irgendeinem Stoker.«

»Dann scheinen wir alle uns ein falsches Bild gemacht zu haben. Wollen wir hoffen, dass wir nicht die Einzigen sind, die einen gemeinsamen Nenner finden.«

»Es wird auch anderen gelingen«, sagte Cassandra. »Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht unsere Rolle spielen können. Wenn wir mit Niagara fertig sind, wenn wir nach Sedna zurückgekehrt sind, wird es viele schmerzhafte Wunden geben, die verheilen müssen.«

»Falls jemand am Leben bleibt.«

»Wir können nur hoffen, dass es nicht so weit kommt. Wenn es nicht geschieht… wenn die progressiven Stoker und die moderaten Slasher ihre Differenzen beilegen können … dann gibt es vielleicht Hoffnung für uns alle. Wie immer es ausgeht, ein Beispiel der Kooperation könnte das Zünglein an der Waage spielen.«

»Ein Beispiel wie wir, meinst du?«

Das kleine Mädchen mit dem dunklen Haar nickte. »Ich sage ja nicht, dass ich auf ewig in deinem Kopf bleiben sollte. Aber wenn es zu Friedensverhandlungen kommt, könnte jemand, der das Vertrauen beider Seiten genießt, zu einem sehr wichtigen Faktor werden.«

»Oder es kommt dazu, dass uns niemand mehr vertraut.«

»Das Risiko besteht«, räumte Cassandra ein. »Aber ich bin bereit, es einzugehen.« Dann schien sie an etwas zu denken, das sie amüsierte. »Und schließlich weiß man nie, Auger.«

»Was weiß man nie?«

»Dies könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein.«

 

Nachdem sie ihn lange bearbeitet hatte, kapitulierte Tunguska schließlich und gestattete Auger, sich frei im Schiff zu bewegen. Sie war gesund und hellwach, und die Stimmen in ihrem Kopf drängten sich nicht mehr so sehr in den Vordergrund. Ein intelligentes Bettlaken umhüllte ihren Körper, wahrte ihr Schamgefühl und – wie sie jedes Mal feststellte, wenn sie sich in einer polierten Fläche oder einem tatsächlichen Spiegel sah – schmeichelte sogar ihrer Figur. Noch vor kurzer Zeit hätte sie mit Entrüstung auf die Vorstellung reagiert, sich auf so intime Weise von Slasher-Technik berühren zu lassen. Doch wenn sie nun versuchte, den angemessenen Reflex der Abscheu aufzurufen, bemerkte sie, dass er nicht mehr da war. Trotz ihres kleinen Tête-à-tête mit Cassandra fragte sie sich, ob es daran lag, dass die Maschinen heimlich ihre Gedanken beeinflussten oder ob die Ereignisse der letzten Tage sie schließlich zur Erkenntnis gedrängt hatten, das nicht automatisch alles an den Slashern verabscheuungswürdig war. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie wirklich eine Antwort auf diese Frage haben musste. Die einfache Tatsache lautete, dass sie sie nicht mehr aus Prinzip hasste. Daraus erwuchs wiederum das beschämte Erstaunen, dass sie jemals so viel Energie auf unbegründete Vorurteile verschwendet hatte, während Akzeptanz und Toleranz nicht nur der einfachere, sondern sogar der bequemere Weg gewesen wären.

Tunguska und Floyd saßen an einem Ende eines gewachsenen Tisches und beobachteten Muster, die über die Wand auf der anderen Seite des Raums spielten. Als Auger sich dem Tisch näherte, wölbte sich erwartungsvoll ein Stuhl aus dem Boden.

»Sind Sie sich ganz sicher, dass es Ihnen für das hier schon gut genug geht?«, fragte Tunguska.

»Es geht mir gut. Cassandra und ich sind zu einer … Übereinkunft gelangt.«

Tunguska bot ihr den neuen Stuhl an. Sie nahm zwischen den beiden Männern Platz. Tunguska trug ein schlichtes zweiteiliges Gewand aus weißem Flanell, das er sich tief über die breite, haarlose Brust geschlungen hatte, und Floyd ein sauberes weißes Hemd und schwarze Hosen, die von elastischen gestreiften Trägern gehalten wurden. Das war definitiv nicht die Art von Kleidung, die Floyd getragen hatte, als sie von Paris aufgebrochen waren, also musste Tunguska sie für ihn herbeigezaubert haben. Auger fragte sich, ob er sie aus einer obskuren Erinnerung ausgegraben oder Floyds Wünschen entsprochen hatte.

»Wir haben ein Echo von Niagaras Schiff«, sagte Tunguska und deutete auf die Bildflächen in der Wand. Linien aus Goldfäden bildeten eine fließende Konturendarstellung, die an die Navigationsanzeige im Transporter erinnerte, aber wesentlich detaillierter war. Kryptische Symbole schwebten in Kästchen an den Rändern des Diagramms und waren durch dünne Linien mit den knotigen Stellen in den Konturen verbunden. Während sich die Darstellung verschob und verschmolz, wechselten die Symbole von einer rätselhaften Konfiguration zur nächsten.

»Wir schicken akustische Signale die Röhre hinauf«, fuhr Tunguska fort, »indem wir die gleiche sich mit hoher Geschwindigkeit ausbreitende Schicht benutzen, die Sie zur Navigation und Kommunikation verwenden.«

»Ich hätte gedacht, dass Ihnen inzwischen etwas Genialeres eingefallen wäre«, sagte Auger.

»Wir haben verschiedene Dinge ausprobiert, aber die akustische Methode ist immer noch die einzig zuverlässige, die uns zur Verfügung steht. Wie Sie vermutlich wissen, ist es schwierig, ein Signal durchzukriegen, wenn sich ein Schiff im Transit befindet. Das Schiff wirkt wie ein Spiegel und wirft das Signal mit hoher Reflexionseffizienz zu uns zurück.«

»Und auf diese Weise haben Sie ein Signal von Niagara bekommen.«

»Ein schwaches«, sagte Tunguska, »aber es ist eindeutig. Mit einem kleineren Schiff hätte man verschiedene Möglichkeiten, die Reflexion zu dämpfen. Aber er hat ein dickes, fettes Schiff, sodass er nicht viel Spielraum hat, um seine Anwesenheit zu verschleiern.«

»Gut«, sagte Auger. »Wenn Sie ein Echo von ihm empfangen, können Sie dann auch sagen, wie weit er von uns entfernt ist?«

»Ja. Natürlich ist die räumliche Distanz ein nicht allzu brauchbarer Begriff, wenn es um den Hypernetztransit …«

»Geben Sie mir einfach eine ungefähre Schätzung.«

»Sein Schiff dürfte sich etwa zweihundert Kilometer vor uns befinden. In Anbetracht der üblichen Ausbreitungsgeschwindigkeit wird er etwa eine halbe Stunde vor uns herauskommen.«

»Zweihundert Kilometer«, sagte Auger. »Das klingt gar nicht so weit entfernt.«

»Ist es auch nicht«, stimmte Tunguska ihr zu.

»Haben Sie nicht irgendetwas, das Sie auf ihn feuern können, etwas, das die Entfernung zurücklegt, bevor das Schiff den Tunnel verlässt?«

»Ja«, sagte Tunguska, »aber das wollte ich mit Ihnen besprechen, bevor ich etwas unternehme.«

»Wenn Sie etwas haben, dann benutzen Sie es einfach, verdammt!«

»Ich habe Strahlenwaffen«, sagte Tunguska. »Aber sie funktionieren nicht besonders gut im Hypernetz, aus dem gleichen Grund, warum ein EM-Puls ineffektiv ist – wegen der Streuung an der Tunnelwand. Damit bleiben nur noch Raketen übrig. Wir haben sechs Stück, die mit Sprengköpfen ausgestattet sind und mit Sog-Antrieb fliegen.«

»Dann setzen Sie sie ein.«

»So einfach ist das nicht. Objekte, die angetrieben werden, verhalten sich im Hyperweb auf unvorhersehbare Weise. Deshalb surfen wir auf der Mündungswelle, statt uns mit eigener Kraft fortzubewegen.«

»Trotzdem wäre es einen Versuch wert.«

Tunguskas Stimme blieb ruhig, aber in seinem Gesicht zeigte sich nun Besorgnis. »Machen Sie sich bitte die Risiken klar. Mit einer Strahlenwaffe ließe sich die Wirkung in einem gewissen Ausmaß kontrollieren, falls wir nahe genug herankommen, um den Streueffekt ausschalten zu können. Vielleicht gelingt es uns, sein Schiff so weit manövrierunfähig zu schießen, dass er es nicht mehr bis zum nächsten Portal schafft.«

»Ich bin nicht daran interessiert, dass er manövrierunfähig wird. Ich bin auch nicht daran interessiert, ihn zu verhören oder was auch immer Sie mit Niagara vorhaben, wenn er Ihnen in die Hände fällt. Ich will ihn einfach nur vernichten.«

»Unterschätzen Sie nicht den Wert eines Verhörs«, sagte Tunguska mit dem tadelnden Unterton eines freundlichen Schulmeisters. »Diese Verschwörung hat mit Sicherheit viel weitere Kreise gezogen. Wenn wir Niagara verlieren, können wir nicht mehr darauf hoffen, seine Verbündeten zu fassen. Und wenn sie es einmal versucht haben, könnten sie es erneut versuchen.«

»Aber Sie haben doch gerade gesagt, dass Sie ihn nicht manövrierunfähig schießen können.«

»Nicht im Hypernetz«, sagte er und hob einen Finger. »Aber wenn wir sein Schiff im freien Weltraum stellen, zwischen den Portalen … dann hätten wir vielleicht eine Chance.«

Auger schüttelte den Kopf. »Die Gefahr ist zu groß, dass er uns entkommt.«

»Für diesen Fall haben wir immer noch die Raketen«, sagte Tunguska. »Aber sie arbeiten definitiv nicht mit chirurgischer Präzision.«

Sie stellte sich eine Schule schneller, delfinähnlicher Raketen vor, die in Niagaras Schiff rasten und es in einer lautlosen Lichtorgie zerrissen. »Wenn das geschieht, werde ich keine Tränen vergießen.«

»Auch nicht über Ihren Tod, der zweifellos die Folge wäre? Es wäre ein Selbstmordkommando, Auger. Der Molotow-Apparat befindet sich an Bord seines Schiffes. Die Antimaterie reicht aus, um einen Mond zu sprengen, und die Explosion würde in nur zweihundert Kilometern Entfernung stattfinden.«

Tunguska hatte Recht. Sie wäre früher oder später von selbst darauf gekommen, aber sie war so sehr darauf fixiert, Niagara zu töten, dass sie nicht genauer über die Konsequenzen seiner Exekution nachgedacht hatte.

»Trotzdem«, sagte sie und musste sich zwingen, das Wort auszusprechen. »Wir müssen es in jedem Fall tun.«

Tunguskas Miene war ernst, zeigte aber keine Missbilligung. »Ich hatte mir gedacht, dass Sie das sagen würden. Ich wollte nur sichergehen.«

»Was ist mit Floyd?«, fragte sie mit zitternder Stimme, während ihr langsam bewusst wurde, was sie gerade gesagt hatte.

»Floyd und ich haben bereits über das Thema gesprochen«, sagte Tunguska. »Wir sind mehr oder weniger zur selben Schlussfolgerung gelangt.«

Sie wandte sich an Floyd. »Stimmt das?«

Der hob die Schultern. »Wenn es nicht anders geht.«

Sie schaute fest in Floyds Augen, als sie sagte: »Dann starten Sie die Raketen, Tunguska. Und zwar schnell, bevor jemand von uns es sich anders überlegen kann.«

Ein kaum merkliches Zittern durchlief den Boden.

»Schon geschehen«, sagte Tunguska. »Sie sind gestartet und zu ihrem Ziel unterwegs.«