KAPITEL 22
Es war zur Mittagszeit, als sich der airlechas, der Große Rat, zusammenfand. Die Adligen versammelten sich im Königssitz, der östlich der Residenz des Hochkönigs lag, und nicht wie sonst in der Banketthalle im nördlichen Burggelände. Der Große Rat setzte sich aus drei Gruppen zusammen: Den Adligen, die die fünf Königreiche vertraten – wenn die Könige nicht selbst teilnehmen konnten, erschienen ihre rechtmäßigen Nachfolger. So war Fidelma zum Beispiel nicht die Ankunft ihres Vetters Finguine mac Cathail entgangen, Nachfolger auf dem Thron ihres Bruders. Die führenden Brehons oder Richter der fünf Königreiche stellten die zweite Gruppe dar, und schließlich waren da noch die wichtigsten Kirchenmänner, die die dritte Gruppe ausmachten. Unter ihnen war Fidelma bereits Abt Ségdae von Imleach, der einflussreiche Kirchenmann der südlichen Königreiche, aufgefallen sowie sein Rivale Ségéne, der Abt und Bischof von Ard Macha, der für sich die Vorherrschaft über die Königreiche des Nordens in Anspruch nahm.
Es wimmelte von bedeutenden Persönlichkeiten, von allen |372|Bänken in der großen, aus Balken gezimmerten Halle klang Stimmengewirr.
Fidelma und Eadulf hatten auf dem den Anwälten vorbehaltenen Podest in der Halle Platz genommen. Man hatte zwei Stühle eigens für sie hingestellt, und hinter ihnen standen Caol und Gormán. Als Fidelma erschien, um mit Eadulf zum Königssitz zu gehen, hatte er sich an dem Wandel ihrer Erscheinung nicht satt sehen können. Sie hatte ihr schlichtes und praktisches Gewand, das sie sonst immer als Angehörige der frommen Schwesternschaft trug, abgelegt und sich gekleidet, wie es ihr als Tochter und Schwester des Königs von Muman zukam. Eadulf hatte sie nur selten derart geschmückt gesehen.
Sie hatte sich für ein Kleid aus tiefblauem Satin entschieden. Der Stoff war mit Goldfäden durchwirkt, die ein kompliziertes Muster ergaben. Bis zur Taille lag das Gewand eng an; der weitschwingende Rock reichte bis an die Knöchel. Die Ärmel waren im Stil des so genannten lam-fhoss, am Oberarm eng anliegend, unterhalb des Ellbogens üppig weit bis zu den Handgelenken, dem Schnitt des Rockes angeglichen. Darüber trug sie ein enges, ärmelloses Oberteil, das in Taillenhöhe abschloss. Um die Schultern hatte sie einen kurzen Umhang geworfen, der als Kontrast zu dem Kleid aus rotem Satin und mit Dachsfell abgesetzt war. Der Umhang wurde an der linken Schulter von einer Brosche aus Silber und Halbedelsteinen zusammengehalten. Ihre Sandalen waren mit bunten Glasperlen verziert.
Passend zu den Sandalen tauchten die gleichen Schmuckelemente wieder an den Armbändern auf, während ihren Hals ein einfacher Goldreif zierte, der nicht nur ihre Zugehörigkeit zum Könighaus verriet, sondern sie auch als Mitglied der Leibgarde Nasc Niadh von Muman auswies. Auf dem fuchsroten |373|Haar saß ein Silberkranz, in den über der Stirn drei Halbedelsteine eingelegt waren, zwei Smaragde aus dem Land der Corco Duibhne und ein feuerroter Stein, dessen Herkunft Eadulf nicht kannte. Es waren die gleichen Steine wie auf der Brosche an ihrem Umhang. Der Kopfschmuck diente dazu, ein seidenes Tuch festzuhalten, das das Haar bedeckte, das Gesicht aber frei ließ. Eine solche Kopfbedeckung nannte man conniul, und sie gab Auskunft über den Familienstand. Es war Vorschrift, dass Frauen, die verheiratet waren, auch Nonnen, eine Kopfbedeckung trugen. Hatte nicht Paulus den Korinthern gepredigt, dass man einer Frau, die beim Gebet nicht das Haar bedeckt hatte, es genausogut abschneiden könnte?
Seit ihrem Hochzeitstag hatte Eadulf seine Frau nie wieder in so festlicher Aufmachung gesehen, und so machte er aus seiner Verwunderung keinen Hehl.
»Ich hätte mir besser von Gormán den Rock des Kriegers ausborgen sollen«, begrüßte er sie mit trockenem Humor.
»Sei nicht albern«, schalt sie ihn verärgert. »Wir haben einen Auftritt im Großen Rat, das heißt vor dem zukünftigen Hochkönig der fünf Königreiche und den Königen und Edelleuten der jeweiligen Königreiche. Für solcher Art Zusammenkünfte gibt es eine vom Gesetz vorgeschriebene Kleiderordnung.«
»Man hätte mir sagen müssen, dass zum Gesetzeswerk der Brehons auch eine Kleiderordnung gehört. In Anbetracht dessen gebe ich einen armseligen Bauern ab«, stellte er fest und schaute an sich herunter. Zwar hatte er seine besten Sachen angezogen, doch waren die aus grobem, handgewebtem Tuch.
»Denk einfach daran, dass du Eadulf von Seaxmund’s Ham bist«, munterte ihn Fidelma auf. »Und mein Mann.«
|374|Es fiel ihm schwer, das im Kopf zu behalten, als sie den Saal der Ratsversammlung betraten. Wenn es etwas gab, das er über den Adel und die wohlhabenden Schichten des Volkes von Éireann gelernt hatte, dann war es, dass sie es liebten, sich in auffallenden Farben und mit Schmuck herauszuputzen. Männer und Frauen gleichermaßen bedienten sich dabei besonderer Hilfsmittel – Beerensaft, um die Lippen zu färben, die Augenbrauen dunkler erscheinen zu lassen oder bei der Wangenröte nachzuhelfen. Er mochte das nicht und war froh, dass Fidelma nur sparsam roten Beerensaft auf die Lippen aufgetragen und nur ganz leicht die Augenbrauen nachgezogen hatte. Er schaute sich im Saal um und stellte fest, dass er mit seinen Befürchtungen recht gehabt hatte. Nicht Fidelma fiel mit ihrer Kleiderwahl aus dem Rahmen, sondern er in seinem eher bescheidenen Anzug.
Über den Saal verteilt standen Mitglieder der Fianna Wache, und Irél höchst persönlich kommandierte eine Abordnung von Kriegern, die an einer Seite des Raumes hinter einer Reihe leerer Bänke Aufstellung bezogen. Die waren für die Zeugen freigehalten, denen Fidelma über Brehon Barrán hatte mitteilen lassen, dass sie der Anhörung würden beiwohnen müssen. Sie warteten jetzt draußen, dass man sie aufrief.
Normalerweise gehörten bei einer Versammlung des Großen Rates die Ehrenplätze dem Hochkönig und seinem Obersten Richter. Als Cenn Faelad und Brehon Barrán die Halle betraten und auf diese Plätze zusteuerten, sprang Congal Cendfota von den Dál Fiatach von Ulaidh mit wütendem Gesicht auf und legte laut Widerspruch ein. Er brüllte geradezu, um gegen das Stimmengewirr anzukommen. Dadurch wurde der Lärm nur noch größer. Schließlich verschaffte sich Cenn Faelad Gehör.
»Ich bitte um Ruhe, andernfalls kommen wir hier nicht weiter«, rief er.
|375|Der Lärm legte sich; es blieb bei allgemeinem Gemurmel und Füßescharren.
»Und jetzt zu dir, Congal Cendfota. Was hast du dagegen, dass Brehon Barrán und ich unsere Plätze einnehmen und die Ratsversammlung leiten?«, fragte Cenn Faelad für alle vernehmlich.
Der stämmige Adlige aus dem Norden stand immer noch. »Auf seiner letzten Versammlung hat der Große Rat einen Beschluss gefasst. Wir wollten einem Streit zwischen den Uí Néill vorbeugen, der hätte möglicherweise bei der Untersuchung des Mordes an Sechnussach entstehen können. Denn er war ein Uí Néill, und sein Mörder war ein Uí Néill. Und die Person, die aus der Ermordung Nutzen zieht, ist auch ein Uí Néill. Der Oberste Richter, der für eine solche Untersuchung verantwortlich ist, ist ebenfalls ein Uí Néill. Also wurde beschlossen, dass die Untersuchung nicht in den Händen des Obersten Richters liegen sollte. Es wurde weiterhin beschlossen, dass du, Cenn Faelad, als tánaiste deines Bruders Sechnussach erst ins Amt eingeführt werden sollst, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist.«
Cenn Faelad verlor die Geduld. »Und das ist genau, weshalb wir jetzt zusammenkommen, Congal Cendfota. So, wie es der Große Rat festgelegt hat, wurde Fidelma von Cashel, eine Eóghanacht, hergebeten, um die Nachforschungen anzustellen, und sie wird uns jetzt ihren Bericht vorlegen. Worin besteht nun dein Einwand?«
Congal Cendfota wartete, bis das Gemurmel wieder abgeebbt war. Dann wies er auf die Plätze für den Vorsitz, die Cenn Faelad und Brehon Barrán hatten einnehmen wollen.
»Solange nicht der Bericht und seine Schlussfolgerungen von diesem Rat bestätigt sind, bin ich der Auffassung, dürfen weder du noch Brehon Barrán den Vorsitz in dieser Versammlung |376|führen. Es wäre nicht rechtmäßig und würde den Eindruck erwecken, der Beschluss sei eine vorher abgemachte Sache.«
Viele im Saal brachten ihre Zustimmung zum Ausdruck, und auch Fidelma nickte Eadulf bestätigend zu.
»Es ist eine Verfahrensfrage und logische Überlegung, wenn auch etwas pedantisch«, flüsterte sie.
Cenn Faelad verständigte sich leise mit Barrán.
»Also gut«, sagte der dann. »Wir werden an der Ratsversammlung als Beobachter teilnehmen. Bleibt zu klären, wer sie leitet.«
»Fianamail aus Laigan«, schlug ein Kirchenmann aus Laigin vor.
Sofort gab es Protest von den Adligen aus Ulaidh.
»Wenn Fianamail aus Laigan im Namen des Hochkönigs den Vorsitz der Ratsversammlung übernimmt, läuft das darauf hinaus, dass man sich mit Laigin als nächstem Anwärter auf die Thronfolge einverstanden erklärt.«
»Dann schlage ich Diarmait, den Stammesfürsten aus Uisnech vor«, tönte es aus einer anderen Ecke.
»Der ist auch wieder ein Uí Néill«, rief jemand aus Connacht.
Erneut brach Tumult aus.
Schließlich stand Ségéne aus Ard Macha auf und schritt quer durch den Saal zu Ségdae aus Imleach. Der erhob sich, um ihn zu begrüßen, und beide berieten sich kurz. Dann drehten sie sich zu den Versammelten um.
»Mein Bruder in Christo und ich haben einen Vorschlag », hub Abt Ségéne an und schaffte damit Ruhe. »Vortrag und Anhörung des Berichtes dürften eine verhältnismäßig einfache Sache sein. Wir sind der Ansicht, dass der Verwalter und geistliche Ratgeber des Großen Rates, Abt Colmán, die Versammlung |377|leiten sollte, wobei ihm Sedna, Stellvertreter des Obersten Richters, zur Seite stehen könnte. Keiner von beiden ist ein Uí Néill und beide haben Amtsgewalt. Wer gegen diesen Vorschlag ist, möge es sagen.«
Eine Weile herrschte Schweigen, dann griff allgemeines Zustimmungsgemurmel um sich.
Mit sichtlicher Erleichterung stellte Cenn Faelad fest: »Demnach haben wir Übereinstimmung erzielt. Wir sind auf dieser Versammlung Beobachter. Colmán und Sedna, übernehmt den Vorsitz. Wir möchten beginnen.«
Die so Aufgeforderten standen auf und gingen gemessenen Schrittes zu den erhöhten Plätzen. Im Raum herrschte gespannte Erwartung.
Abt Colmán vergewisserte sich mit einem Blick bei seinem Partner und nahm dann das Wort. »Einer langen Einleitung zum Sinn und Zweck unserer heutigen Zusammenkunft bedarf es nicht. Aus uns allen bekannten Gründen hatte der Große Rat beschlossen, dass die Untersuchungen zum Mord an unserem Hochkönig Sechnussach, begangen von Dubh Duin, Stammesfürst der Cinél Cairpre, durch eine unvoreingenommene dálaigh, Fidelma der Eóghanacht, Fidelma von Cashel, erfolgen sollte. Sie wurde beauftragt, dem Tatmotiv nachzugehen und festzustellen, ob es bei dem Mord Mittäter gegeben hat.« Er machte eine kurze Pause und schaute zu Fidelma hinüber. »Fidelma von Cashel, bist du bereit, die Ergebnisse besagter Untersuchung vorzutragen?«
Fidelma erhob sich und hüstelte leicht, ehe sie sprach.
»Ja. Um meine Darlegungen zu untermauern oder ihnen gegebenenfalls zu widersprechen, habe ich eine Reihe von Zeugen hergebeten. Ich möchte den Großen Rat bitten, Nachsicht walten zu lassen und zu gestatten, dass sie in unserer Mitte Platz nehmen dürfen, auf dass sie meiner Beweisführung, |378|die ich vorzutragen gedenke, zustimmen beziehungsweise sie zurückweisen können.«
Abt Colmán neigte sich zu Brehon Sedna, und beide tuschelten miteinander. Diesmal war es Brehon Sedna, der das Wort ergriff. »Rechtliche Gründe verbieten, deiner Bitte nachzukommen, Fidelma von Cashel. Sein Ton war scharf und unmissverständlich. »Wir sind hier nicht vor Gericht, wo der Angeklagte belangt werden kann. Wenn sich herausstellt, dass es bei diesem Mord Mittäter gab, obliegt es nicht dem Großen Rat, ein Urteil zu fällen. Für uns gilt das Regelwerk, wie im Cóic Conara Fugill, den fünf Grundgedanken der Rechtsprechung, festgelegt. Heute handelt es sich nur um die Anhörung deines Berichts …«
Höflich neigte sie den Kopf in seine Richtung. »Ich hätte gern einen Präzedenzfall angeführt, um die Zeugen hier zulassen zu dürfen …«
»Einen Präzedenzfall? Die Ermordung des Hochkönigs ist ja wohl ohne Beispiel!«, entgegnete er ungehalten.
Fidelma blieb freundlich. »Mit aller ihm gebührenden Hochachtung möchte ich den weisen Brehon auf das Werk der Chronisten verweisen, die zu berichten wissen, dass der Hochkönig Muirchertach, Sohn des Erc, in einem Fass voller Wein ertank, so geschehen in seinem Haus in Cleiteach am Ucht Cleitig an den Ufern des Bóinn. Zugegeben, es ist viele Generationen her, dass sich das zutrug, nämlich – so lesen wir – genau in dem Jahr, in dem der heilige Ailbe von Imleach starb, der die christliche Lehre in unser armes Königreich von Muman brachte.«
Brehon Sedna errötete und wandte sich an einen der Schreiber, die anwesend waren, um die Beschlüsse des Großen Rates festzuhalten, und der in Schriftzeugnissen und in Geschichte als bewandert galt. Er winkte den Mann zu sich heran, und man |379|verständigte sich. Im Ergebnis schaute Brehon Sedna überrascht auf.
»Ich muss dein Wissen loben, Fidelma«, sagte er. »Ich wurde soeben daran erinnert, dass eine Frau namens Sín am Tod des Hochkönigs Muirchertach für schuldig befunden wurde; der König starb, wie von dir dargestellt.«
Fidelma nahm das Lob in gebotener Bescheidenheit hin. »Den Berichten zufolge war es ein merkwürdiger Tod. Sein Haus geriet in Brand, und der Hochkönig versuchte, den Flammen zu entkommen, indem er in ein Fass Wein kletterte. Der Firstbalken des brennenden Dachstuhls fiel dem König auf den Kopf und schlug ihn bewusstlos, sodass er in dem Fass zurücksank und ertrank. Der Große Rat berief eine Anhörung ein, und man ließ Zeugen daran teilhaben, um die Darlegungen des mit der Untersuchung betrauten Brehons zu verfolgen. Das ist der Präzedenzfall, auf den ich mich beziehe.«
Brehon Sedna wandte sich erneut dem Schreiber zu, der mit raschem Kopfnicken ihre Zusammenfassung der Geschichte bestätigte.
»Der von dir vorgetragene Präzedenzfall leuchtet ein. Wir gestatten deinen Zeugen, an der Ratsversammlung teilzunehmen, auf dass sie deinen Bericht mit anhören.«
Schweigend beobachtete man, wie Irél Gormflaith und ihre Tochter hereinführte, wenngleich sich darob auf allen Gesichtern Erstaunen abmalte. Sie wurden zu den von Mitgliedern der Fianna bewachten leeren Bänken geleitet. Den beiden Frauen folgten die Krieger Lugna, Erc und Cuan, der Letztgenannte streng bewacht. Danach kam die gesamte Dienerschaft des königlichen Haushalts, Bruder Rogallach, Torpach, Brónach, Báine, Cnucha, Maoláin und Duirnín. Der immer noch humpelnde Bischof Luachan erschien mit seinem Verwalter Bruder Céin, und als Letzter betrat Iceadh, der Apotheker, |380|den Versammlungsraum und setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz. Brehon Sedna wartete, bis alle auf den Bänken saßen, und äußerte dann gegenüber Fidelma neuerliches Bedenken.
»Ich muss auf einen weiteren Punkt verweisen, den uns das Gesetz vorschreibt. Abt Colmán gehört doch gewiss auf die Zeugenbank und muss diesen Platz hier verlassen.«
Überrascht sah der Betroffene ob dieses Ansinnens auf, auch kam es wieder zu lautem Gemurmel unter den Anwesenden, aber Fidelma hob die Hände, um der Verwirrung ein Ende zu bereiten.
»Mitnichten, Brehon Sedna. Für meine Darstellung der Ereignisse entfällt der Abt als Zeuge. Er übte lediglich bis zur Rückkehr von Cenn Faelad und Brehon Barrán die Regentschaft über die Königsburg aus. Es besteht kein Grund, ihm die Leitung der Ratsversammlung zu entziehen.«
Sowohl Brehon Sedna als auch der Abt gaben sich erleichtert.
»Dürfen wir dann also verfahren wie vorgeschlagen? Ich bitte den Großen Rat um seine Zustimmung.«
Alle taten ihr Einverständnis kund. Man wurde schon langsam ungeduldig, und manche äußerten sich auch laut, man möge nun endlich anfangen.
»Nachdem unser Vorgehen als solches geklärt ist, bitte ich um deinen Bericht«, erteilte Brehon Sedna Fidelma das Wort.
Sie brauchte einen Moment zur inneren Sammlung.
»Ein jeder Mord ist verabscheuungswürdig, die Ermordung eines Hochkönigs aber umso mehr. Eine Tatsache stand von Anbeginn fest. Dubh Duin, Stammesfürst der Cinél Cairpre, betrat das Schlafgemach des Hochkönigs, durchschnitt ihm die Kehle und beging mit seinem Dolch Selbstmord, als ihm klar war, dass er einer Gefangennahme nicht entrinnen konnte. Soweit der eindeutige Tatbestand.«
|381|Fidelma legte eine Pause ein und fuhr dann fort.
»Zunächst stellten wir uns zwei Fragen: Handelte Dubh Duin allein? Was war sein Tatmotiv?«
Sie ließ ihren Blick über die Versammelten schweifen, als erwartete sie von ihnen eine Antwort. Es gehörte zu dem Schauspiel, wie es Eadulf schon oft erlebt hatte, wenn Fidelma vor Gericht auftrat.
»Ich kann euch versichern, dass Dubh Duin nicht allein handelte«, fuhr sie selbstbewusst fort. »Der Mord geschah nicht unüberlegt und auch nicht aus einem persönlichen Hassgefühl heraus. Eine ganze Verschwörung stand dahinter.«
Eine Welle der Empörung ging durch den Saal. Sie ließ es geschehen, und erst als es wieder langsam ruhig wurde, sprach sie weiter.
»Was das Tatmotiv angeht, will ich mich zunächst auf das von Dubh Duin beschränken. Ich fürchte, er handelte nicht aus dem gleichen Beweggrund wie alle anderen in der Verschwörung. Dubh Duin wollte die Rückkehr aller Stämme zur Lebensweise der Vorväter erzwingen. Er glaubte an die alten Auffassungen und Sitten. Vor allen Dingen war er ein Anhänger des Alten Glaubens. Den Mitgliedern des Großen Rates hier ist bekannt, wie er sich vor ihnen für die Anerkennung der Rechte derer einsetzte, die die alten Götter und Göttinnen verehren. Manch einer von euch dürfte sich auch an den Streit erinnern, den er deswegen mit Sechnussach hatte.«
Viele, die den Streit noch lebhaft vor Augen hatten, nickten. Nur Gormflaith auf der Zeugenbank schüttelte ungläubig den Kopf.
»Dubh Duin hatte sich voll und ganz dem Alten Glauben verschrieben, wie wir uns zu dem Neuen Glauben bekennen«, fuhr Fidelma fort. »Ardgal, das derzeitige Oberhaupt der |382|Cinél Cairpre, kann das bezeugen. Ich muss euch nicht erinnern, dass es kaum zwei Jahrhunderte her ist, seit Patrick, Ailbe, Brigit, Brendan, Ciaran und andere das Wort Christi in unser Land brachten. Es gibt immer noch Gebiete, wo es nicht angekommen ist beziehungsweise nicht angenommen wird. Keinen Tagesritt von Tara entfernt treffen sich immer noch viele in Uisnech, das unsere Altvorderen als den Nabel der Welt betrachteten, als das Zentrum der fünf Königreiche, und gehen dort den alten Sitten und Bräuchen nach. Auch muss ich euch nicht schildern, dass eine Bewegung im Gange ist, die den neuen Lehren den Kampf angesagt hat und das Land zur Umkehr zum Alten Glauben zwingen möchte.«
Rasch beugte sich Abt Colmán vor und stellte eine Zwischenfrage: »Willst du damit sagen, Dubh Duin gehörte dazu?«
»Ja.«
»Das kann nicht wahr sein!«, rief Gormflaith und schreckte mit ihrem schrillen Ton alle auf.
Fidelma sah sie traurig an. »Ich fürchte, es ist wahr«, sagte sie, an sie gerichtet, und wandte sich dann wieder der Versammlung zu. »Wir wissen, dass heidnische Banden, die dibergach, Abteien und Kirchen verwüstet haben. Sie sind über kleine, abseits liegende Kirchen und Gemeinden hergefallen, und die Übergriffe haben zugenommen. Viele Mitglieder der frommen Bruderschaften wurden umgebracht.«
Ein Mitglied des Großen Rates stand auf und meldete sich zu Wort. »Ich habe mich dem Neuen Glauben verschrieben und bin kein Befürworter des Alten Glaubens. Dennoch muss ich darauf hinweisen, dass der Glaube unserer Ahnen nicht Gewalt und Tod als Lebensweise gutgeheißen hat. Unsere Vorfahren glaubten an Frieden und Eintracht in der Welt. So lehrten es die Druiden. Warum sollten Menschen heute im |383|Namen der alten Götter und Göttinnen rauben und morden? Das ist doch sinnlos.«
Fidelma nahm die Erklärung des Mannes hin, denn eine Frage war es eher nicht.
»Unter unseren Vorvätern hat es eine Kultgemeinschaft gegeben, die Menschenopfer befürwortete«, erklärte sie. »Es war ein Irrglauben, mit dem die Druiden rasch Schluss machten. Es heißt, dass Tigernmas, der sechsundzwanzigste Hochkönig, unter einer Geistesverwirrung litt. Er ließ auf der Magh Slecht, der Ebene des Gemetzels, ein riesiges Götzenbild errichten und verlangte von allen, ihm zu opfern. Grässliches Blutvergießen war die Folge, so dass sich schließlich die Druiden dagegen erhoben und sowohl das Idol als auch Tigernmas zu Fall brachten. Das Idol führte den Namen Crom Cróich.«
»Worauf willst du hinaus? Willst du behaupten, dass diese Götzenverehrung eine Wiederbelebung erfahren hat?«, fragte Brehon Sedna.
»Die Sekte, die als verschworene Gemeinschaft versucht, den Neuen Glauben auszurotten, hat sich der Verehrung des Crom Cróich verschrieben«, bestätigte sie ihm.
»Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung?«
»Wir haben Zeugen dafür. Irél und Ardgal haben ihre Mannen bei der Überwältigung dieser Fanatiker angeführt. Sie hatten ihr Lager auf dem sogenannten Hexenberg, keinen Tagesritt von hier entfernt. Ihr braucht sie nicht länger zu fürchten. Was aber hat das alles mit der Ermordung des Hochkönigs zu tun? Ich will es euch sagen. Auf unserem Weg nach Tara überquerten wir die Ebene von Nuada und stießen auf eine zerstörte Kirche, deren Mönche man brutal niedergestochen hatte. Einer lebte noch, und Bruder Eadulf, der sich zu ihm gebeugt hatte, hörte ihn ein letztes Wort hauchen, das so etwas wie ›Schuld‹ zu bedeuten schien.
|384|Als Dubh Duin seinerseits an der Schlafstatt des Hochkönigs im Sterben lag, flüsterte auch er etwas. Lugna, der seine letzten Worte wahrnahm, deutete sie ebenfalls als so etwas wie ›Schuld‹.«
»Und was ist daran ungewöhnlich?«, fragte Abt Colmán.
»Eadulf und auch Lugna haben das entscheidende Wort missverstanden. Es war nicht ›cron‹, Schuld, sondern ›Crom‹, Crom Cróich. Der sterbende Mönch wusste, wer die Mordgesellen waren, und Dubh Duin hatte als Letztes den Namen seines Götzen, den er für einen Gott hielt, auf den Lippen. Heute sind wir in der Lage, das zu beweisen. Es hätte uns früher auffallen müssen.«
»So weit gehen wir mit dir mit. Nun behauptest du aber, Dubh Duin glaubte, Sechnussachs Tod würde ihm in seinem Bestreben, den alten Irrglauben wiederzubeleben, dienlich sein. Wie das?«, wollte Brehon Sedna wissen. »Ich sehe da keinen Zusammenhang.«
»Weil man ihm eingeredet hatte, der Nachfolger würde die fünf Königreiche zu dieser Art Götzenverehrung zurückführen«, erwiderte Fidelma ohne Umschweife.
Wütend sprang Cenn Faelad auf. »Das ist eine Lüge! Beim Heiligen Kreuz, nie und nimmer würde ich so etwas tun!«, schrie er erbost.
Fidelma hob die Hand, um dem lärmenden Durcheinander, das ausgebrochen war, Einhalt zu gebieten.
»Ich habe nicht gesagt, dass es um dich ging, Cenn Faelad«, mahnte sie ihn.
So leicht ließ er sich nicht beschwichtigen. »Du hast von Sechnussachs Nachfolger gesprochen. Der tánaiste, der Nachfolger auf dem Königsthron, bin ich. Wen sonst, wenn nicht mich, willst du gemeint haben?«
»Deine Thronnachfolge sollte nicht lange währen«, erwiderte |385|sie gelassen. »Der verbrecherische Plan als solcher war einfach, sein Mechanismus hingegen kompliziert. Ich habe viele Fälle aufzuklären gehabt, muss aber gestehen, dieser hier hat mich von dem Ausmaß des Intrigenspiels und der Art und Weise, wie die Handlungsabläufe miteinander verschlungen waren, entsetzt.«
Cenn Faelad war einigermaßen fassungslos und setzte sich wieder.
»Die ganze Schuldlast kann ich euch nur Schicht für Schicht aufdecken. Ich muss den Großen Rat von vornherein um Verständnis bitten, wenn ich ihn auf eine lange Reise durch ein Flechtwerk von Intrigen mitnehme. Die einfachste Sache war noch Dubh Duin, der zu der Sekte gehörte, die mit aller Macht der Verehrung ihres Gottes Crom zum Durchbruch verhelfen wollte. Dubh Duin hatte versucht, den Großen Rat für die Duldung des Alten Glaubens zu gewinnen. Er hat auch die Banden unterstützt, die über christliche Gemeinden hergefallen sind. Das waren Fanatiker, und doch waren ihre Schandtaten vergleichsweise nur Nadelstiche, die nicht genug schmerzten. Man musste auf andere Dinge sinnen.
Nicht Dubh Dubin hat die Verschwörung ausgeheckt. Wer steckte dahinter, hat ihm eingeredet, dass der Weg zum Ziel die Ermordung Sechnussachs sei? Jemand aus dem königlichen Haushalt? Einen Fanatiker gab es, der auf dem königlichen Burggelände arbeitete …«
»Cuan!«, wurde sie unterbrochen. Der Ausruf kam von Lugna. »Er hat den Lockvogel gespielt und mich in jener Nacht von meinem Posten an der Tür des Königshauses fortgelockt.«
Fidelma schüttelte den Kopf. »Nicht Cuan. Der war nicht klug genug, um sich eine dermaßen komplizierte Verschwörung auszudenken. Der wurde erst später missbraucht und |386|hatte ohnehin eine zwiespältige Haltung zu religiösen Fragen.«
»Missbraucht? In welcher Hinsicht? Auf welche Weise?«, drängte Brehon Sedna.
»Es ging um Liebesdienste«, erklärte Fidelma. »Er wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt in das Ganze mit einbezogen, als das Komplott als solches schon ausgearbeitet war.«
Für alle unerwartet stand Gormflaith plötzlich auf.
»Ich möchte dem Großen Rat eine Erklärung abgeben.«
Überraschte Gesichter sahen sie neugierig an. Brehon Sedna vergewisserte sich mit einem Blick bei Fidelma, und die meinte nur achselzuckend: »Von mir aus, bitte.«
»Ihr werdet zweifelsohne von Fidelma zu hören bekommen, dass Dubh Duin mein Liebhaber war«, tat Gormflaith kund. »Das will ich nicht leugnen …«
Erneut musste man warten, bis das Stimmengewirr abebbte.
»Aber jede Teilhabe an dieser sogenannten Verschwörung weise ich von mir. Ich bin Christin. Dubh Duin hat sich mir gegenüber nie über seinen Glauben oder Nichtglauben geäußert. Wir haben nie über Religion gesprochen. Auch hat er nicht meinen Mann umgebracht, weil er meine Gunst erwerben wollte. Ich kann den Beweis erbringen, dass sich Sechnussach und ich seit drei Jahren entfremdet hatten, und kann weiterhin mit einem Zeugen aufwarten, dass Sechnussach und ich uns auf eine Scheidung geeinigt hatten, die am Tage nach meiner Rückkehr von Cluain Ioraird besiegelt werden sollte, nur war zu dem Zeitpunkt …«, sie führte den Satz nicht zu Ende. »Mein Zeuge ist Brehon Barrán.«
Fidelma schaute zu Brehon Barrán hinüber, der den Kopf schüttelte, und wandte sich mit einem traurigen Lächeln Gormflaith zu.
»Ich fürchte, der Oberste Richter wird in Bezug auf die geplante |387|Scheidung nicht als dein Zeuge auftreten«, sagte sie vorsichtig.
»Dubh Duin hatte keinen Grund, Sechnussach meinetwegen zu töten«, wiederholte sie hartnäckig. »Wir hatten die Absicht, zu heiraten und Tara zu verlassen.« Sie setzte sich.
In dem erschrockenen Schweigen, das folgte, war Fidelmas Stimme besonders deutlich zu vernehmen.
»Es tut mir leid, feststellen zu müssen, Lady, dass Dubh Duin nicht die Absicht hatte, dich zu heiraten. Er benutzte dich lediglich als Mittel zum Zweck, über dich konnte er zu Sechnussach vordringen. Als dein Liebhaber erlangte er Zutritt zur inneren Burg, wann immer es ihm beliebte, wie der Krieger Erc bestätigen wird. Die ganze Zeit hatte Dubh Duin nichts anderes im Sinn, als Sechnussach zu ermorden. Man hat dich irregeführt, Lady, du bist ein unschuldiges Opfer der Verschwörung.«
Abt Colmán hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen, und brachte dann Folgendes vor: »Es ist bereits gesagt worden, dass mit Sechnussachs Tod Cenn Faelad der Nachfolger sein würde. Cenn Faelad ist bekannt für seine christliche Haltung und seine Freigebigkeit gegenüber der Kirche. Wie er hier selbst vor dem Großen Rat ausgeführt hat, würde er nie eine Rückkehr zur Götzenverehrung dulden.«
»Und wie ich bereits ausgeführt habe, wäre er nicht lange im Amt gewesen, selbst wenn es dazu gekommen wäre, dass man ihn in selbiges eingeführt hätte«, entgegnete Fidelma. »Nicht Cenn Faelad hat gemeinsames Spiel mit Dubh Duin getrieben. Der Hauptverschwörer war es, der Dubh Duin zu der Missetat verleitet hat. Nach Sechnussach wäre Cenn Faelad das nächste Opfer gewesen. Dann wäre der Weg für den Hauptverschwörer frei gewesen, die Macht zu übernehmen und das Land zum Alten Glauben zurückzuführen.«
|388|»Dubh Duin wurde von jemand anderem zu dem Mord verführt?«, fragte Brehon Sedna mit sorgenvoller Stirn.
»Richtig. Es gibt eine Person, die um die seelische Verfassung von Gormflaith wusste und sie mit Dubh Duin bekannt gemacht hat. Sechnussach und sie hatten sich bereits getrennt. Die Gründe spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle, sind mir aber bekannt. Gormflaith war allein, unglücklich und verletzlich. Gegen Ende ihrer Schwangerschaft mit ihrem dritten Kind hatte sich Sechnussach eine Geliebte genommen. Dubh Duin war ein gut aussehender Mann und hatte eine gewinnende Art. Man redete ihm ein, er könnte sich mit Leichtigkeit bei Gormflaith einschmeicheln, was ihm ja dann auch überzeugend gelang.
Nur ging es dem, der die Fäden in der Hand hielt, am wenigsten um Gormflaiths seelisches Befinden. Dubh Duin hatte er davon überzeugt, dass eine Beziehung zu ihr ihm den Weg zu Sechnussach ebnen würde, während er selbst ganz andere Ziele verfolgte. Es ging ihm darum, jeglichen Verdacht von sich und einem weiteren Verschwörer abzulenken, sodass man ihnen nichts würde nachweisen können …«
»Ein weiterer Verschwörer?«, fragte Brehon Sedna halb verzweifelt. »Wie viele waren denn an der Verschwörung beteiligt?«
»Das Ausmaß der Verschwörung ist ungeheuerlich«, gab Fidelma zu. »Ich muss den Großen Rat um Entschuldigung und Verständnis bitten. Es ist wie das Häuten einer Zwiebel. Die Person, die Dubh Duin verleitet hat, hatte einen eigenen Beweggrund, und der war Machtgier. Das Bestreben dieses Mannes war es, Hochkönig zu werden. Nur wurde er wiederum von einer Frau dazu getrieben, der es auch um Macht ging. Sollte er es schaffen, würde sie die Macht mit ihm teilen. Gemeinsam bearbeiteten sie Dubh Duin, dessen fanatisches |389|Festhalten am Alten Glauben ihnen bekannt war. Er würde derjenige sein, der ihnen den Weg zur Macht ebnete.
Dubh Duin wusste, dass es in Tara Leute gab, die ihm helfen würden. Es wohnten auch hier Menschen, die immer noch den alten Göttern und Göttinnen huldigten. Menschen in Positionen, die es ihnen ermöglichten, den Schlüssel zu den Gemächern des Hochkönigs zu stehlen und einen Zweitschlüssel anfertigen zu lassen, der für die entscheidende Tat gebraucht wurde.«
Abt Colmán hatte den Durchblick verloren.
»Du hast uns mit Behauptungen zugeschüttet, Fidelma. Es ist an der Zeit, Tatsachen und die Namen der Verschwörer zu nennen.«
Ärgerlich verzog sie den Mund. »Was du als Behauptungen bezeichnest, Abt Colmán, sind Tatsachen. Die Schwierigkeit besteht darin, wie ich wiederholt gesagt habe, dass diese Verschwörung äußerst vielschichtig ist. Ich werde mich bemühen, es einfach zu machen.
Der Hauptverschwörer und seine Geliebte wussten um Dubh Duins fanatische Grundhaltung. Es fiel ihnen nicht schwer, ihn in ein Komplott einzubeziehen, in dem ihm der Part des Mörders von Sechnussach zugedacht wurde. Sie fädelten es so ein, dass notfalls jeder Verdacht nur auf ihn und seine Geliebte Gormflaith fallen würde. Was sie nicht bedacht hatten, war, dass Dubh Duin in Tara eigene Mitverschworene hatte. Zu seinem Pech hatte er sich für die Mordtat einen falschen Moment ausgesucht und brachte damit einen Stein ins Rollen, oder anders gesagt, das sorgsam geknüpfte Flechtwerk bekam ein Loch, und lose gewordene Fäden machten sich selbständig. Ich werde jetzt die Fäden im Einzelnen an ihren Ursprung zurückverfolgen.
|390|Weshalb beging Dubh Duin die Schreckenstat just in besagter Nacht? Die Anhänger des Alten Glaubens berufen sich auf eine uralte Legende, die da besagt, wenn der Tag kommt, an dem das ›Schicksalsrad‹, das der Sonnengott unserer Vorväter erschaffen hat, gefunden wird, würde man mit seiner Hilfe den Neuen Glauben vernichten können. Es würde den Weg zu dem Ort weisen, wo der große Kessel von Murias, der ›Kessel der Fülle‹, verborgen ist, und würde man erst einmal diesen heiligen Gegenstand in Händen halten, würden die Verehrer des Alten Glaubens triumphieren und das Christentum ausrotten.
In Tara gab es eine alte, geistesgestörte Frau, die unter dem Namen Mer bekannt war. Die meisten von euch haben sie nicht ernst genommen. Dabei war sie es, die schon lange, bevor ich hierherkam, mit dem Auffinden des Schicksalsrades laut herumprahlte.
Dann erfuhr ich von dem Besuch des Bischof Luachan bei Sechnussach in der Nacht vor dessen Ermordung. Bischof Luachan sitzt hier unter uns. Er kann euch berichten, dass er und Bruder Diomasach in einer von Menschenhand geschaffenen Höhle, die dem Alten Glauben gewidmet war, eine runde Scheibe fand. Bischof Luachan ist ein belesener Mann und hielt den Gegenstand, den er entdeckt hatte, für ein wesentliches Stück, das mit dem Schicksalsrad zu tun hatte. Auch war er mit der Legende vertraut und schickte Bruder Diomasach nach Tara, um Sechnussach von dem Fund zu berichten. Daraufhin beauftragte man Irél, Bischof Luachan mitsamt dem geheimnisvollen Gegenstand sicher hierherzugeleiten. In der Nacht vor seinem Tod wurde der Gegenstand dem Hochkönig übergeben, und Bischof Luachan kehrte nach Delbna Mór zurück.«
Sie machte eine Pause, und Abt Colmán, der vorgebeugt |391|angespannt ihren Ausführungen folgte, stellte nach kurzem Räuspern die Frage: »Wo ist diese Scheibe geblieben?«
Fidelma reagierte mit einem flüchtigen Lächeln.
»Nachdem Bischof Luachan ihn verlassen hatte, wurde Sechnussach sich der Verantwortung bewusst, die auf ihm lastete, und kam zu dem Schluss, dass er das sagenumwobene Stück besser nicht in seinen Gemächern behielte. In den frühen Morgenstunden ging er hinunter in die Küche der königlichen Residenz und versteckte die Scheibe im uaimh, im unteren Gang der Vorratskammer für Lebensmittel. Bruder Rogallach hatte gesehen, dass er sein Schlafgemach verlassen und etwas bei sich gehabt hatte, dem aber keine weitere Bedeutung beigemessen. Und als Sechnussach frühmorgens in der Küche unerwartet auf Torpach, den Koch, stieß, erklärte er, er hätte keinen Schlaf finden können und sei hinuntergekommen, um sich etwas zu essen zu machen. Das war eine Lüge. In Wirklichkeit, wie ich schon sagte, hatte er sich in der Vorratskammer zu schaffen gemacht.
Ich könnte mir vorstellen, dass Mer mitbekommen hatte, was vor sich gegangen war, und sich zur Vorratskammer aufmachte, um der Sache auf den Grund zu gehen. Cuan folgte ihr, tötete sie – warum, sei jetzt dahingestellt – und nahm die kostbare Scheibe an sich. Ehe er damit entschwinden konnte, tauchte Bruder Rogallach auf, und Cuan schlug ihn hinterrücks bewusstlos, ohne von Bruder Rogallach erkannt worden zu sein. Cuan ergriff die Flucht und gesellte sich zu der Bande auf dem Hexenberg. Als ihm klar wurde, dass es um das Überleben der dort oben Versammelten schlecht stand, wartete er den Ausgang unseres Angriffs gar nicht erst ab, sondern machte er sich aus dem Staub und nahm das begehrte Objekt mit. Zu guter Letzt haben wir ihn dann doch noch greifen können.«
|392|»Das Rad aber ist verborgen geblieben?«, fragte Brehon Sedna.
»Nein«, erwiderte sie und gab Eadulf fast unmerklich ein Zeichen. Der zerrte unter seinen Beinen etwas Schweres, in Sacktuch Verpacktes hervor und befreite es von seiner Umhüllung. Allen stockte der Atem, als er die silberne Scheibe hochhielt, die im Glanz der Lichter der großen Halle funkelte. In ihrer Mitte erstrahlte ein Sonnenmotiv, und den Rand schmückte ein Kranz von eingravierten Köpfen. Eadulf legte das prachtvolle Stück vor Abt Colmán auf die Erde, während Fidelma aufmerksam die Gesichter der Zeugen beobachtete.
»Bischof Luachan, würdest du bitte gegenüber den Mitgliedern der Ratsversammlung bestätigen, dass es sich bei diesem Stück um den Gegenstand handelt, den du Sechnussach überreicht hast?«
Der alte Bischof tat es nachdrücklich.
»Einem von Dubh Duins fanatischen Mitverschwörern war der mitternächtliche Besuch von Bischof Luachan beim Hochkönig nicht entgangen. Man beschloss, bereits in der darauffolgenden Nacht Sechnussach zu ermorden. Und von da an lief nichts mehr wie ursprünglich vorgesehen, weil es kein Zusammenspiel mehr mit der Person gab, die das Drama inszeniert hatte. Ich meine, mit dem Hauptverschwörer. Nach dessen Plan hätte Gormflaith in Tara sein sollen, seine Geliebte, die seine Mitverschwörerin war, hingegen nicht. Nur scherten sich Dubh Duin und seine auf ihren Kult eingeschworene Gefolgschaft wenig um die Pläne der Vorgenannten. Dubh Duin und seine Mittäter waren Besessene auf ihre Art.
Der Plan ging, wie ich sagte, nicht auf, weil Sechnussach nicht allein war, als Dubh Duin das Schlafgemach betrat. Jemand war bei ihm und schrie aufgeschreckt los. Das war der von Zeugen wiederholt genannte Schrei, der Dienerschaft und |393|Wachleute herbeirief und Dubh Duin Selbstmord begehen ließ.«
»Eine interessante Geschichte«, bemerkte Brehon Sedna bissig. »Aber Namen wären uns lieber.«
»Die Namen sollt ihr haben.« Fidelma schaute zu den Zeugen. »Dubh Duin war der Mörder, wie ihr wisst. Mer spielte insofern eine Rolle, als man vermutlich durch sie erfuhr, um welchen Gegenstand es sich handelte, den Sechnussach versteckte, nämlich um die sagenumwobene Scheibe, die in den Augen der Anhänger des Alten Glaubens zum heiligen Rad führen sollte. Cuan hatte die Aufgabe, einen Schlüssel zum Gemach des Hochkönigs zu entwenden und einen Schmied für die Anfertigung eines Nachschlüssels zu finden. Er sollte weiterhin in der besagten Nacht Lugna, mit dem er zusammen Wache hatte, von seinem Posten an der Tür zum königlichen Haus unter einem Vorwand fortlocken. Bleibt noch ein Verschwörer übrig, der im königlichen Haus arbeitete und dem Mörder den Schlüssel zum Gemach des Hochkönigs zusteckte. Das war eine Frau, die – wie ebenfalls schon erwähnt – mithilfe ihrer Liebesdienste Cuans Rolle in der Verschwörung sichern half. Sie war eine der entscheidenden Figuren in diesem verbrecherischen Unterfangen.«
»Wer ist das?«, wollte Brehon Sedna wissen.
»Ohne dass sie es wollte, verriet mir die alte Mer den Namen, und zwar schon ehe wir Tara erreichten. Sie benannte ›die Weiße‹ als Verkünderin der Weissagung, die sie uns entgegenschleuderte. Unter der Dienerschar gibt es nur eine, die so heißt: Báine. Ihr Name bedeutet nichts anderes als ›die Weiße‹.«
Mit spöttischem Gesicht saß Báine unter den Zeugen. Alles Hübsche war aus ihrem Antlitz gewichen, als sie laut höhnte: »Klug gefolgert, das muss man sagen. Aber deine |394|Klugheit wird dich und deinesgleichen nicht retten, wenn das heilige Rad uns den Weg zum Großen Kessel von Murias weist, den Dagda mit eigenen Händen berührt hat. Zittern wirst du, wenn wir dich Crom zum Opfer darbieten!«
Der Lärm, der daraufhin in der großen Versammlungshalle losbrach, hielt etliche Minuten an. Abt Colmán und Brehon Sedna hatten erhebliche Mühe, wieder Ruhe herzustellen.
»Es war also Báine, die den Schlüssel entwendet und ihn Cuan gegeben hat, um einen zweiten anfertigen zu lassen?«, fragte Abt Colmán. »Sie war es, die Cuan verführt hat, seinen Kriegereid zu brechen?«
»Nicht nur das, sie ist zudem die Tochter der Priesterin des Crom, deren Leichnam in einem Grab auf dem Hexenberg liegt«, eröffnete Fidelma. »Eadulf, Irél und ich brauchten eine ganze Weile, ehe uns aufging, wo wir die Gesichtszüge der Frau, die nur die ceannard hieß, schon mal gesehen hatten. Da gibt es nichts dran zu rütteln, Báine ist ihre Tochter.«
Trotzig saß Báine mit verschränkten Armen da, hatte herausfordernd das Kinn vorgestreckt und tat, als ob alles um sie herum sie nichts anginge.
Jetzt stand Cuan auf und fragte beklommen: »Ich bin bereit, alles zuzugeben. Kann ich dann mit mildernden Umständen rechnen? Sie hat mich behext. Ich schwöre es.«
»Es ist hier weder der Ort noch die Zeit, Gesuche dieser Art anzuhören », wies ihn Brehon Sedna empört zurück, um sich danach wieder Fidelma zuzuwenden. »Neben den Schuldigen Dubh Duin, Báine, Cuan und Mer gibt es, wie du behauptest, einen Hauptverschwörer, einen, den angeblich Machtgier trieb und nicht religiöser Fanatismus.«
»Ja. Es geht um eine Person, die glaubte, die Thronherrschaft übernehmen zu können – und ich meinte damit nicht Cenn Faelad.«
|395|»Würdest du bitte seinen Namen nennen?«
»Er hat sich selbst zu erkennen gegeben. Es ist der Mann, der Dubh Duin mit Gormflaith bekannt gemacht hat, der keine Mühe gescheut hat, ihre Beziehung zu ihm zu fördern, der es verstand, Cenn Faelad für den Gedanken zu gewinnen, ihn als tánaiste einzusetzen, und Dubh Duin versprach, dass er, wenn er erst einmal Hochkönig sei, nachdem er Cenn Faelad in nicht allzu ferner Zukunft beseitigt hätte, dafür sorgen würde, dass der Alte Glaube wieder zu seinem Recht käme. Ob er das wirklich getan hätte, wenn er die Macht in den Händen gehabt hätte, vermag ich nicht zu sagen. Ich habe da meine Zweifel. Versprechungen kosten nichts. Er nutzte den Alten Glauben auf dem erhofften Weg zum Thron.«
Alle Augen waren zu Brehon Barrán gewandert, der gemächlich und ohne Anzeichen von Erregung Fidelmas Ausführungen gefolgt war.
Brehon Sedna machte einen eher betretenen Eindruck.
»Du verwahrst dich gewiss gegen diese Anschuldigung, Brehon Barrán?«, fragte er, wenngleich sein Ton wenig überzeugt klang.
Brehon Barrán sah hinüber zu Fidelma, lächelte verbindlich und zuckte mit den Schultern.
»Ich habe schon mehrmals miterlebt, wie diese dálaigh ihre Fälle vorgetragen hat. Ich hege keinen Zweifel, dass sie für ihre Anschuldigungen Beweismaterial beibringen kann.«
»Ich wäre die Letzte, die dich daran erinnert, Barrán, dass in der Gesetzgebung festgeschrieben ist, in welcher Form Schuldzuweisungen auch ohne unmittelbar vorliegende Beweise verhandelt werden können. Das Gesetz lässt ausdrücklich zu, dass mittelbare oder Indizienbeweise als Grundlage herangezogen werden können, vorausgesetzt, sie sind glaubwürdig. Ich bin sicher, Báine und Cuan sind bereit, gegen dich auszusagen.«
|396|»Um ihre eigene Haut zu retten«, spottete er. »Du glaubst tatsächlich, stichhaltiges Belastungsmaterial zu haben?«
»O ja, Barrán, davon bin ich überzeugt.« Ihr suchender Blick ging zu Báine. »Ganz gewiss wird Báine einiges vorzubringen haben als Zeugin der Verschwörung, umso mehr, wenn ihr aufgeht, dass du keineswegs die Absicht hattest, dein Versprechen Dubh Duin gegenüber einzulösen, dem Alten Glauben wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Du hättest ihn schlichtweg im Stich gelassen.«
»Wenn du das so sagst, heißt das noch lange nicht, dass es auch so ist.«
»Dann sage ich es, und ich weiß, dass es so ist!«, rief Báine aufgebracht dazwischen. »Ich weiß, welche Versprechungen du uns gemacht hast. Ich war dabei, als du Dubh Duin alles Mögliche versprochen hast. Aber augenscheinlich war alles nur ein abgekartetes Spiel, um dir den Weg zur Macht zu ebnen. Du wirst der Erste sein, der Croms Zorn zu spüren bekommt, wenn wir uns erheben … Die Krieger meiner Mutter ziehen bereits durch das Land, überfallen und zerstören deine Kirchen und werden über kurz oder lang Tara erstürmen und dem Erdboden gleichmachen … Die Gefolgschaft meiner Mutter …«
Sie sank zurück und brach in Tränen aus. Was immer sie noch hatte sagen wollen, wurde im aufbrechenden Kummer um das Geschehen auf dem Hexenberg und den Tod ihrer Mutter erstickt.
Im Saal herrschte lärmendes Durcheinander. In weiser Voraussicht hatte Fidelma Irél Anweisung erteilt, seine Krieger im entscheidenden Moment in der Nähe der Verschwörer Aufstellung nehmen zu lassen. Als Ruhe und Ordnung wiederhergestellt waren, schaute sie erneut zu Brehon Barrán, der deutlich an Selbstsicherheit verloren hatte.
|397|»Das Verbrechen ist so ungeheuerlich, dass es vor Gericht gehört. Ich gehe davon aus, dass der Große Rat dem zustimmen wird«, sagte sie.
»Das lässt sich sofort klären«, erwiderte Cenn Faelad. »Wünscht die Ratsversammlung, dass Barrán und Báine sobald als möglich vor Gericht gestellt werden? Und dass zur selben Zeit auch der nicht ganz so schwere Fall von Cuan zur Verhandlung kommt?«
Es gab eine klare und deutliche Zustimmung.
Unerwartet stand Gormflaith auf und bat, noch einmal das Wort nehmen zu dürfen.
»Ihr vergesst alle eines …«
Brehon Sedna zeigte sich nicht sehr erfreut und fragte kühl: »Was, glaubst du, vergessen wir, Lady?«
»Mag sein, man hat leichtes Spiel mit mir gehabt; ich war eine Närrin, Brehon Barrán hat mich mit Dubh Duin zusammengebracht, und der hat mich umgarnt. Einsame Frauen fallen leicht auf freundliche und zärtliche Worte von Verehrern, die schöntun, herein. Es ist richtig, dass ich Barrán die ganze Zeit vertraut habe; er hatte versprochen, ein Dokument für meine Scheidung von Sechnussach aufzusetzen, und leugnet es nun. Ich begreife jetzt, dass er versucht hat, die Schuldlast auf mich zu lenken. Doch bei dem, was Lady Fidelma gesagt hat, gibt es etwas, das wir alle übersehen haben.«
Sie schaute zu Fidelma hinüber, doch die lächelte ihr ermutigend zu und bedeutete ihr mit einer Geste, fortzufahren.
»Fidelma hat gesagt, Brehon Barrán hätte mit jemandem zusammengearbeitet, seiner Geliebten, mit einer Person, die an seiner Macht teilhaben wollte und ebenso versessen darauf war wie er. Báine hat hier Barrán beschuldigt, wir sollten aber auch den vollen Umfang ihrer Schuld sehen. Ganz offensichtlich hat sie Barrán angetrieben. Sie war seine Geliebte.«
|398|Betrübt schüttelte Fidelma den Kopf.
»Lady Gormflaith, ich hätte es dir allzu gern erspart. Trotzdem, du hast recht, wenn du den Großen Rat daran erinnerst, dass es jemanden gab, der mit dem Obersten Richter gemeinsame Sache machte. Es war aber nicht Báine, eine einfache Magd im königlichen Haushalt, die Barráns Geliebte und Mitspielerin war, die die Macht als Hochkönig mit ihm teilen wollte.«
»Den Namen der Frau, wenn du ihn weißt«, befahl Brehon Sedna.
»Ich fürchte, es gab noch eine andere Person, die dafür gesorgt hat, dass Dubh Duin sich dir nähern konnte, Gormflaith. Eine Person, die ihre Machtbefugnis nutzte, die Wachtposten anzuweisen, Dubh Duin nachts ungehindert auf das Burggelände zu lassen, die letzten Endes den Wachmann Erc anwies, ihm zur festgesetzten Stunde freien Zugang zu gewähren, als nämlich die Zeit für den Mord gekommen war …«
Mit einem Aufschrei war Muirgel aufgesprungen und schien die Flucht ergreifen zu wollen, doch Irél hielt sie fest.
Kreidebleich war Gormflaith auf ihren Platz gesunken und blickte auf ihre älteste Tochter.
»Das ist nicht wahr!«, tobte Brehon Barrán los und sprang ebenfalls auf. Im gleichen Moment spürte er die Hand eines Kriegers der Fianna auf der Schulter, die ihn niederdrückte.
»Und wie das wahr ist!«, zeterte Báine los. »Muirgel war von Anfang an mit dabei. Auch dafür bin ich zur Zeugenaussage bereit.«
»Teilhabe an einer Verschwörung, den … den eigenen Vater zu ermorden?« Brehon Sedna war erschüttert.
»Wer vom Ehrgeiz besessen ist, geht über Leichen«, murmelte Abt Colmán eine alte Spruchweisheit.
Irél hielt immer noch Muirgel fest, und die stand mit blitzenden Augen da, als wollte sie alle zum Teufel jagen.
|399|»Sie glaubte, sie hätte uns alle in der Hand«, holte Báine aus und sah dabei Muirgel finster an. »Wir waren eine Verschwörergemeinschaft, jeder hatte sein eigenes Ziel. Sie war so eingebildet, dass sie gar nicht mitbekam, dass wir sie und ihren albernen Liebhaber Barrán für unsere Zwecke nutzten. Albern, ja, denn wie konnte ein junges Mädchen wie Muirgel so einen wie ihn lieben, alt und abgewirtschaftet, wie der ist? Sie benutzte ihn genauso, wie sie jeden anderen benutzte. Sie war versessen auf Macht. Macht ist ihr Gott.«
Fidelma ließ ihren Blick von der sich ereifernden jungen Frau zu dem in sich zusammengesunkenen alten Mann schweifen, Barrán, bislang Oberster Richter der fünf Königreiche, im ganzen Land bekannt. Wie er da hockte, gab er das Bild eines schwachen, jämmerlichen Wracks ab. Er saß nach vorn gebeugt, den Kopf in die Hände gestützt, fassungslos, dass auch er als Werkzeug missbraucht worden war.
Vorsichtig ergriff Fidelma das Wort. »Ehrgeiz ist wie ein immer mächtiger werdender Dämon; er verdirbt Herz und Verstand und lässt beides verkümmern.« Lauter und vernehmlich für alle im Saal fuhr sie fort: »Den kläglichen Rest dessen, was vom Menschen geblieben ist, fordert er zum Tanz auf, und erweist sich der Tanz als gelungen, gibt es eine Belohnung: kurzlebige Macht und flüchtigen Ruhm, um dann endgültig in die Vergessenheit des Grabes zu sinken.«
Eadulf sah sie überrascht an, und schmunzelnd klärte sie ihn auf: »Es sind Zeilen von einem heidnischen Dichter.«
Abt Colmán und Brehon Sedna mahnten zur Ruhe, denn alles raunte und tuschelte.
»Der Oberste Richter Barrán ist selbstverständlich seines Amtes enthoben, und seine Ernennung zum tánaiste des Hochkönigs wird zurückgenommen. Man wird ihn zusammen mit Muirgel, Tochter des Sechnussach, und Báine und |400|Cuan wegen Verschwörung zum Mord an Sechnussach vor Gericht stellen«, verkündete Brehon Sedna ernst.
Abt Colmán bekräftigte sein Einverständnis durch Kopfnicken und fügte hinzu: »Gut, dass wir die Sache endlich zum Abschluss bringen können. Ich bedauere nur, dass Dubh Duin selbst Hand an sich gelegt hat und wir ihn nicht wegen Ermordung des Hochkönigs vor Gericht bringen können.«
»Dubh Duin war es nicht, der den Hochkönig ermordet hat.«
Der von Fidelma klar ausgesprochene Satz stand im Raum und bewirkte eine Totenstille. Man mochte meinen, alle hätten den Atem angehalten.
Ungläubig starrte Brehon Sedna sie an. »Jetzt mit uns scherzen zu wollen, ist weiß Gott der falsche Moment, Fidelma.«
»Ich scherze nicht.«
»Aber die Zeugen, die Tatsache, dass wir ihn auf frischer Tat ertappt haben, dass Dubh Duin Selbstmord beging! Nimm doch Vernunft an.«
»Es bleibt eine Tatsache, Dubh Duin hat Sechnussach nicht ermordet, wiederholte sie entschieden.«
»Das wirst du uns erklären müssen.«
»Nichts einfacher als das. Als Dubh Duin zum Jagddolch griff und Sechnussach die Kehle durchschnitt, war der Hochkönig bereits tot.«