KAPITEL 15

Zum überwiegenden Teil erstreckte sich das Gebiet von Delbna Mór entlang des Ostufers des Flusses Daoil, dessen dunkle Wasser durch einen winzigen See flossen, den Loch Diseart. Man hatte ihn nach der Einsiedelei benannt, die dort am Wald lag. Abgesehen von der Holzkirche inmitten einer Häusergruppe in ähnlichem Baustil unterschied sich der Ort kaum von den anderen Ansiedlungen, die über die Berglandschaft verstreut waren.

Fidelma und Eadulf, gefolgt von Caol und Gormán, ritten direkten Weges auf das Hauptgebäude neben der Holzkirche zu. Beim Näherkommen bemerkten sie, dass aus den verschiedenen Häusern Mönche in Gruppen zu zweit und zu dritt traten.

Mit einem nervösen Hüsteln versuchte Caol, Fidelma auf das Geschehen aufmerksam zu machen.

»Keine Sorge«, rief sie ihm leise zu. »Ich habe es gesehen.«

Eadulf reagierte zunächst verwundert, erkannte dann aber, |254|dass alle, wenn auch in unterschiedlicher Form, bewaffnet waren. Unruhig abwartend hielten sie die Waffen in den Händen – auf einen freundlichen Empfang deutete das nicht hin.

»Auf Besuch scheinen die sich nicht gerade zu freuen«, murmelte er.

»Vielleicht haben sie nur Angst«, meinte Fidelma.

Am Hauptgebäude angelangt, blieben sie stehen. Ein kleiner stämmiger Mann kam auf sie zu und blickte sie feindselig an. Er war mittleren Alters und unbewaffnet, doch ehe sie sich versahen, stand ein junger Mann neben ihm und fingerte nervös an seinem Schwert.

»Was führt euch her?«, fragte der untersetzte Mönch schroff. Auf eine an sich übliche Begrüßung verzichtete er, auch forderte er sie nicht auf abzusitzen.

Schweigend betrachtete ihn Fidelma vom Rücken des Pferdes herab, ließ dann den Blick zu seinem Gefährten gleiten und wieder zurück zu ihm.

»Salve«, begrüßte sie ihn auf römische Art. Den neu eingeführten christlichen Gruß auf Latein zu überbringen, gab ihm einen nahezu ironischen Anstrich. »Friede sei mit dir, Bruder, und mit deiner Gemeinde.«

Verunsichert zog der Mann die Stirn in Falten. »Und auch mit dir – Friede«, erwiderte er mürrisch. Es war ihm sichtlich unangenehm, von ihr an sein ungebührliches Verhalten Gästen gegenüber erinnert zu werden. »Was wollt ihr hier?«

Fidelma holte tief Atem, bevor sie ihm antwortete. »Ich bin davon ausgegangen, dass wir hier einer christlichen Gemeinde begegnen. Was sonst könnte uns herführen, als der Wunsch nach allerseits geübter Gastfreundschaft?«

»Schwer zu glauben«, hielt der andere dagegen. »Zwei von euch sind zwar in frommem Gewand, die beiden anderen aber sind Krieger. Da hege ich meine Zweifel, dass ihr nur Wanderer |255|seid, die den Glauben predigen und allein christliche Gastlichkeit und Almosen im Sinn haben.«

Der Mann legte eine deutliche Feindseligkeit an den Tag, und die anderen Brüder blickten nicht minder missmutig und wachsam drein. Der junge Mönch neben dem Wortführer hielt sein Schwert halb gezückt, als warte er darauf, sich auf die Fremden zu stürzen. Langsam bildeten die Männer, die Knüppel oder andere Wurfgeschosse und Schlagstöcke in den Händen hatten, einen Halbkreis um sie herum, und Eadulf konnte nur hoffen, dass Fidelma nichts Überstürztes tat.

»Deine Beobachtungsgabe ist bemerkenswert«, stellte Fidelma fest und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wir kommen aus Tara und möchten zu Bischof Luachan.«

»Luachan ist nicht hier«, bekam sie zu hören.

»Dann sag uns, wo wir ihn finden, und wir fallen dir nicht weiter zur Last.«

»Ich kann nicht mehr und nicht weniger sagen, als dass er nicht hier ist«, erwiderte der andere stur.

»Sehr hilfreich ist die Aussage nicht.« Fidelma blieb gelassen.

»Ich kann nichts dafür, wenn das, was ich sage, so auf dich wirkt. Mehr als Auskunft geben kann ich nicht«, erwiderte der Mann in rauem Ton.

Caol konnte nicht länger an sich halten. »Weißt du, mit wem du es zu tun hast?«, herrschte er ihn an. »Es ist Fidelma von Cashel, die vor dir steht, die dálaigh, die vom Großen Rat der fünf Königreiche beauftragt ist, den Mord an Sechnussach zu untersuchen. Du solltest dich schämen ob deines Verhaltens.«

Der rundliche Mönch kniff die Augen zusammen. Caols Worte verunsicherten ihn. »Von Cashel? Bist du die Schwester von König Colgú? Fidelma, die dálaigh

|256|»Sie ist es in Person«, erwiderte Caol verärgert, noch ehe Fidelma zu Worte kam. »Und deshalb tätest du gut daran, …«

Fidelma hob die Hand, um seinem Ausbruch Einhalt zu gebieten, griff in ihre Satteltasche und zog den Amtsstab hervor, den Cenn Faelad ihr gegeben hatte.

»Kennst du das hier?«

Der Mann sah hin und kniff die Augen schon weniger zusammen. »Ja.«

»Dann wirst du es als Zeichen meiner Vollmacht hinnehmen müssen. Wir sind nicht in der Absicht hier, euch irgendwelchen Schaden zuzufügen. Deine Männer brauchen nicht so unruhig ihre Waffen zu schwingen. Wir wollen mit Bischof Luachan sprechen, das ist alles.«

Eine Weile ließ er kein Auge von ihr, blickte dann zu Eadulf und weiter zu Caol und Gormán. Schließlich wandte er sich dem jungen Mönch neben ihm zu und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, dass kein Grund zur Besorgnis bestände. Nur zögernd senkte der sein Schwert und gab den anderen zu verstehen, sich zurückzuziehen.

»Verzeiht diesen ungebührlichen Empfang«, lenkte der stämmige Mönch ein und forderte sie auf, abzusitzen, »aber wir leben in unruhigen Zeiten. Schlimmer noch, wir fürchten um unser Leben. Lasst mich euch willkommen heißen, wie es euch gebührt. Ich bin Bruder Céin und der Verwalter von Bischof Luachan und trage in seiner Abwesenheit die Verantwortung für unsere kleine Gemeinde.«

Sie saßen ab, und Fidelma stellte ihre Gefährten vor.

Bruder Céin begrüßte einen nach dem anderen und fuhr dann fort: »Ihr kommt direkt aus Tara? Dann lasst mich euch ins Gästehaus geleiten und euch eine Erfrischung anbieten.«

Fidelma stimmte seinem Vorschlag zu. Sie blieb neben ihm, während die anderen folgten. Der junge Mönch mit dem |257|Schwert hatte zuvor versichert, er würde sich um die Pferde kümmern, sie abreiben, tränken und mit Futter versorgen.

»Luachan ist also tatsächlich nicht hier?«, fragte Fidelma. »Und wieso fürchtet ihr um euer Leben?«

Bruder Céin zuckte mit den Schultern.

»Dass der Bischof nicht hier ist, stimmt«, bestätigte er. »Und das Warum und Weswegen bedarf längerer Erklärung. Kommt erst einmal herein und erfrischt euch.«

Man hieß die Reisenden sich setzen, bewirtete sie mit Getränken und sparte auch nicht an Speisen, denn es war schon Nachmittag. Erst nach dem Essen kam Fidelma wieder auf das Thema zurück.

»Erzähl, Bruder Céin, was ist vorgefallen, das euch so in Furcht und Schrecken versetzt hat?«

»Vor drei Tagen wurde Bischof Luachan zu einem Bauern gerufen, dessen Frau angeblich im Sterben lag«, begann der Mönch mit bekümmerter Miene. »Der Bischof kannte das Paar seit langem. Ihr Hof liegt nicht weit von hier, und so unternahm er den Gang der Barmherzigkeit. Der Mann, der mit dem Anliegen des Bauern vorstellig geworden war, hatte sich als Reisender ausgegeben. Die Nacht brach herein, und Bischof Luachan war noch nicht zurück. Am nächsten Morgen schickten wir einen unserer Brüder los, er sollte erkunden, wo der Bischof geblieben war. Du kannst dir sein Erstaunen vorstellen, als er die Frau des Bauern bei bester Gesundheit antraf und sie darüberhinaus beteuerte, niemanden mit einer derartigen Botschaft losgeschickt zu haben. Man hat alles abgesucht, aber der Bischof blieb verschwunden.«

»Ein Missverständnis ist ausgeschlossen? Könnte jemand anders den Bischof gerufen haben?«

»Nein. Seit der Ermordung unseres jungen Bruders Diomasach vergangene Woche ist Bischof Luachan auf der Hut gewesen. |258|Er selbst hat uns nahegelegt, jedem Fremden, besonders Kriegern, mit Argwohn zu begegnen. Auf seinen Rat hin haben wir uns mit Waffen versorgt und sie seither stets zur Hand.«

»Wer war Bruder Diomasach?«

»Der Schreiber des Bischofs, er hatte eine wunderschöne Handschrift und sprach mehrere Sprachen.«

»Wie kam er um?«

»Er war eines Tages ganz plötzlich auf den Feldern hier verschwunden, und man fand ihn dann im Daoil, im Fluss da hinten. Er sah aus, als hätte man ihn zusammengeschlagen, wenn nicht sogar gefoltert. Gott gebe ihm Frieden.«

»Hegte Bischof Luachan einen Verdacht, warum man Bruder Diomasach umgebracht hat? Vor wem hatte er Angst, dass er euch ausdrücklich anhielt, wachsam zu sein?«

»Es hat etliche Überfälle auf Mitglieder der Bruderschaft gegeben.«

»Dibergach, fragte Eadulf und benutzte das Wort, das er neu gelernt hatte.

»Räuberbanden? Vielleicht. Aber man spricht davon, dass im Westen eine mächtige Bewegung im Gange ist, die darauf aus ist, den Alten Glauben wiederzubeleben. Auch ist durchgesickert, dass diese dibergach sich ein Vergnügen daraus machen, über christliche Kirchen und Gemeinden herzufallen.«

»Du würdest also meinen, Bruder Diomasach wurde überfallen, nur weil er Anhänger des Neuen Glaubens war und man ihn allein auf dem Acker antraf?«, fragte Fidelma nach kurzem Überlegen.

Bruder Céin beschäftigte noch etwas anderes, es war ihm anzusehen.

»Da gibt es noch etwas?«, drängte ihn Fidelma.

Statt einer Antwort kam eine Gegenfrage. »Weshalb willst du den Bischof sehen?«

|259|»Daraus brauche ich kein Geheimnis zu machen. Bischof Luachan besuchte den Hochkönig und brachte ihm ein Geschenk mit. Er tat das eine Nacht, bevor der Hochkönig ermordet wurde. Von dem Geschenk fehlt jede Spur, auch will es niemand gesehen haben. Das machte mich neugierig. Worum mochte es sich bei der Gabe gehandelt haben? War sie von Belang im Zusammenhang mit dem Mord am Hochkönig? Das Ziel unserer Reise hier ist das Land der Cinél Cairpre, deren ehemaliger Stammesfürst den Mord begangen haben soll. Und da Delbna Mór auf dem Weg dahin liegt, dachte ich, die Gelegenheit zu nutzen und mit Bischof Luachan über das geheimnisvolle Geschenk zu sprechen.«

Bruder Céin machte ein noch bedenklicheres Gesicht und gab einen Stoßseufzer von sich.

»Ich nehme nicht in Anspruch, auf alles eine Antwort zu wissen, Lady. Doch habe ich Kenntnis von Dingen, die hilfreich sein könnte.« Er schaute durchs Fenster zum Himmel. »Noch haben wir etwas Tageslicht. Wenn du dich ausreichend erfrischt fühlst, würde ich dir etwas zeigen wollen, aber wir müssten ein Stückchen laufen.«

Sie zauderte kurz und blickte zu Eadulf.

»Kommt«, wurden sie von Bruder Céin gedrängt. »Ich führ euch dorthin. Eure Krieger können uns begleiten, die Waffen nehmen sie besser mit.« Er stand auf und langte nach der Öllampe auf dem Tisch. Eadulf und Fidelma sahen sich verwundert an, denn es war ja noch hell draußen. Gemeinsam verließen sie das Refektorium, gingen durch das Gelände, vorbei an den Holzgebäuden, und folgten dann etwa eine viertel Meile einem Weg durch dichten Wald in südöstlicher Richtung.

»Haltet hier Wacht«, wies Céin die beiden Krieger an und ließ den Blick prüfend über das Unterholz gleiten. Auf einem |260|schmalen Pfad, der durch das Dickicht führte, ging er voran und blieb an einer kleinen Lichtung stehen. Dort schob er zu ihrer Überraschung ein paar lose Zweige zur Seite und legte so eine dunkle Öffnung frei. Fidelma und Eadulf sahen sofort, dass es sich um eine künstlich angelegte und nicht um eine natürliche Höhle handelte.

Bruder Céin beleuchtete den Einstieg zu ihren Füßen mit der Öllampe. »Vor ein paar Wochen fand der Bischof das hier rein zufällig«, erklärte er mit einem Anflug von Lächeln. »Zusammen mit Bruder Diomasach hatte er dort drüben einen eigenartigen Steinhügel entdeckt.« Er wies auf eine Erhebung hinter ihnen. »Er war überwachsen und fiel dadurch nicht weiter auf. Als sie ihn näher in Augenschein nahmen, wäre Luachan fast in das Loch gestürzt. Sie hatten den Hügel nur bemerkt, weil ein Hirsch offensichtlich sein Geweih daran gerieben und dabei den Bewuchs drum herum aufgerissen hatte. So erzählte es mir jedenfalls Bischof Luachan später. Er und Bruder Diomasach waren ursprünglich die Einzigen, die von der Entdeckung wussten.«

»Was ist das, ein uaimh?«, fragte Eadulf und starrte in die Öffnung.

»Man könnte es dafür halten, Bruder Eadulf«, erwiderte Céin. »Das hier führt in einen Stollen, der sich über zwei Ebenen erstreckt und in eine bienenstockähnliche Kammer mündet. Man bewegt sich von hier aus nordwärts und muss vorsichtig sein, denn der Boden senkt sich zur unteren Ebene hin.«

»Stammt der Gang aus alten Zeiten?«, wollte Fidelma wissen.

»Sein richtiges Alter zu bestimmen ist schwierig. Nach Aussage des Bischofs war auch der Gang völlig zugewachsen. Die Decke der ersten Ebene besteht aus großen, flachen Steinplatten. |261|Ähnliche große Platten befinden sich auf der zweiten Ebene. Der Fußboden ist aus Lehm, der über die Jahrhunderte hart geworden ist. Die Kammer am Ende des Gangs hat Bruchsteinmauern und ein Kragsteindach mit zwei flachen Stoßeinfassungen. Der Raum hat einen Durchmesser von zehn Fuß. Bemerkenswert daran ist, dass die Kammer keinerlei Luftschächte aufweist, die ja nötig wären, wollte man sie für Lebensmittelvorräte nutzen – als uaimh, wie du vermutetest – oder auch als Zufluchtsort in Notsituationen.«

»Du hast alles so genau beschrieben, dass man es sich gut vorstellen kann«, meinte Fidelma. »Aber was hat es zu bedeuten? Hast du auch dafür eine Erklärung?«

»Ich kann das alles nur deshalb so gut beschreiben, weil Bischof Luachan von der alten Anlage und ihrer Bauweise ungeheuer beeindruckt war. Besonders die Kammer hatte es ihm angetan, denn man wusste bisher nichts von einer Besiedlung aus Zeiten, ehe wir uns hier niederließen. Gerade wegen der unberührten Natur entschieden wir uns, auf diesem Fleck unsere Einsiedelei zu erbauen. Nach der Meinung von Bischof Luachan musste die Anlage aus uralten Zeiten stammen.«

»Zu welchem Zeitpunkt hat dich Bischof Luachan ins Vertrauen gezogen?«

»Erst nachdem wir den Leichnam von Bruder Diomasach gefunden hatten.«

Fidelma dämmerte es, weshalb der behäbige Verwalter ihnen das Relikt aus alten Zeiten zeigte.

»Du bist der Auffassung, Bischof Luachan sah einen Zusammenhang zwischen der Entdeckung hier und Bruder Diomasachs Tod?«

»Ja. In der Kammer dort unten machten er und Bruder Diomasach nämlich noch eine andere Entdeckung. Habt ihr schon mal was von dem Roth Fáil gehört?«

|262|Fidelma horchte auf, hatte sich aber sogleich unter Kontrolle. Nur Eadulf bemerkte ihr kurzes Zusammenzucken.

»Eine Menge Legenden ranken sich darum herum«, erwiderte sie. »Wieso fragst du?«

In Gedanken war sie längst bei dem beschriebenen eingehüllten runden Gegenstand, den Bischof Luachan angeblich bei sich geführt hatte, um ihn Sechnussach zu übergeben. Sie versuchte, ihre Fantasie im Zaum zu halten und sich nicht schon vorher etwas vorzustellen, was der Mann noch nicht erzählt hatte.

Bruder Céin schien mit ihrer Reaktion zufrieden.

»Bischof Luachan fand in der Kammer einen runden Gegenstand. Heimlich brachte er ihn in unsere kleine Abtei, nahm ihn in Augenschein und schickte am darauffolgenden Morgen Bruder Diomasach mit einer Botschaft zum Hochkönig Sechnussach nach Tara. Bruder Diomasach kehrte zurück, verbrachte etliche Zeit bei Bischof Luachan, verweigerte aber gegenüber den anderen Brüdern jedwede Auskunft, weshalb man ihn nach Tara geschickt beziehungsweise was sich dort zugetragen hatte. Kurz nach seiner Rückkehr, vielleicht einen Tag später, tauchte ein Krieger aus Tara hier auf. Bischof Luachan ließ uns wissen, dass er für einige Tage fort müsste und ritt mit ihm davon. In seiner Satteltasche hatte er, sorgfältig in ein Tuch gehüllt, einen runden Gegenstand, den niemand weiter sehen durfte. Soviel hatten wir mitbekommen. Als er zurückkehrte, führte er den Gegenstand nicht mehr bei sich.«

»Demnach war der Fund sein Geschenk, das er dem Hochkönig überreichte«, schlussfolgerte Eadulf.

»Hat er euch nicht erklärt, was genau er entdeckt hatte und weshalb er dem Hochkönig eine entsprechende Botschaft übermittelte?«, fragte Fidelma.

Bruder Céin schüttelte den Kopf.

|263|»Nicht zu dem Zeitpunkt. Erst später, als unser armer Bruder Diomasach tot war, zog er mich ins Vertrauen und erzählte mir, er hätte in der Kammer eine kreisrunde, kunstvoll gewirkte Scheibe aus Silber gefunden. In der Mitte hätte sie das uralte Sonnensymbol gezeigt, umringt von zwanzig Köpfen.«

Nicht ohne Zynismus schürzte Fidelma die Lippen.

»Allen Berichten zufolge handelte es sich um eine relativ kleine Scheibe, und jetzt sagst du, sie wäre aus Silber gewesen? Die Geschichten über das ›Schicksalsrad‹ – das Roth Fáil – falls es denn ein solches gibt – beschreiben es nicht als klein, sondern eher als ein großes Rad und aus Gold. Wird es nicht auch als das ›große Himmelsrad‹, das Roth Gréine, bezeichnet? Willst du mir weismachen, dass Bischof Luachan den kleinen Gegenstand für das Roth Fáil hielt?«

Bruder Céin schüttelte entschieden den Kopf. »Du bist auf der falschen Fährte, Schwester Fidelma. Bischof Luachan hielt die gefundene Scheibe für den Schlüssel zum Roth Fáil, und ohne diesen Schlüssel würde niemand das Roth Fáil entziffern können. Deshalb fühlte er sich gemüßigt, die kleine Scheibe dem Hochkönig zukommen zu lassen.«

»Wenn es der Schlüssel ist, wo befindet sich dann aber der Gegenstand, den es zu öffnen gilt?«, rätselte Eadulf.

»Genau das ist das Geheimnis«, meinte Bruder Céin achselzuckend. »Und es wird ein Geheimnis bleiben, denn kein Christ ist darauf aus, es zu enträtseln, hat man uns doch gelehrt, dass das Roth Fáil über zerstörende Kraft verfügt und die christliche Welt vernichten wird.« Er machte eine Pause. »Zumindest glaubt man das«, fügte er hinzu und schien selbst verwundert, einen solchen Gedanken zu äußern.

»Lassen wir das mit den Legenden und wenden uns lieber den Tatsachen zu.« Eadulf bewies wie immer seinen praktischen |264|Sinn. »Bischof Luachan mutmaßte, der Tod von Bruder Diomasach hätte etwas mit dem Fund zu tun. Der war doch aber inzwischen schon dem Hochkönig übergeben worden …«

»Und selbigen hat man auch umgebracht«, betonte Bruder Céin. »Hast du nicht gesagt, die Scheibe sei nicht auffindbar?«

»Wie Bischof Luachan auch«, kombinierte Fidelma nachdenklich. »Hat er dir sonst noch etwas über die Sache erzählt? Er muss doch einen Grund gehabt haben, dass er die Scheibe mit der Legende in Verbindung gebracht hat.«

»Er hat nur davon gesprochen, dass etwas Böses umgeht und dass die Scheibe der Schlüssel wäre. Sie hat Tod nach sich gezogen. Er hatte gehofft, Sechnussach würde sie einschmelzen lassen, denn nur er hätte die Befugnis gehabt, das zu tun. Als uns dann die Kunde von Sechnussachs Tod erreichte, sagte Luachan, wir müssten auf der Hut sein. Nicht lange, und wir fanden Bruder Diosmasachs Leiche, und da meinte er, unsere Feinde seien nicht mehr weit, und erzählte mir die ganze Geschichte.«

»Hat er gesagt, wer die Feinde wären?«

»Er hat nur von Feinden gesprochen, die den Glauben an Christus in diesem Land vernichten wollten.«

»Namen hat er nie genannt? Kein Wort, an wen er gedacht hat, wenn er von Feinden sprach?«

»Nichts in dieser Richtung. Er hatte nur das Gefühl, sie wären ganz nahe. Überfälle auf abgelegene Gemeinden häufen sich, wie wir in letzter Zeit erfahren mussten. Er glaubte, die Übeltäter hätten Zulauf und erhielten sogar Unterstützung von einigen Stammesfürsten.«

»Von solchen wie Dubh Duin von den Cinél Cairpre?«

»Auch der wurde genannt. Dubh Duin erweckte den Anschein, Anhänger des Alten Glaubens zu sein, Bischof Luachan |265|meinte jedoch, innerhalb seines Clans müsste er sich zurückhalten.«

Eadulf hatte seine Bedenken. »Wie kann das möglich sein?«

»Du weißt doch, wie das bei uns ist, Bruder Eadulf. Der Rat der Großfamilie, der derbhfine, wählt einen Stammesfürsten, dessen Ahnenreihe bis in die Vorzeit reicht; er muss sich als würdig erwiesen haben, muss für das Wohlergehen seines Volkes wirken. Er ist dem Gesetz verpflichtet, und sollte er nicht den Wünschen und Vorstellungen seines Stammes entsprechen, sich fahrlässig oder despotisch verhalten, kann er ohne Weiteres abgesetzt werden. Nur der Würdigste und allseits Geachtete wird erfolgreich sein und sich als Stammesfürst behaupten.«

Eadulf war die Verfahrensweise bekannt, aber es war nicht das, was er meinte.

»Mir geht es um das, was du zuvor sagtest. Hatte Dubh Duin andere religiöse Auffassungen als sein Clan? Soviel ich weiß, hält der gesamte Stamm der Cinél Cairpre an den alten Traditionen fest.«

Bruder Céin zögerte mit seiner Antwort, erklärte dann aber: »In den letzten Jahren bin ich nicht mehr im Gebiet der Cinél Cairpre gewesen, doch bei meinem letzten Besuch dort waren die meisten, denen ich begegnete, Christen, und nur einige ältere Leute hielten es mit den Göttern von Danú.«

»Das heißt mit dem Alten Glauben?«, vergewisserte sich Eadulf.

»Mit dem Alten Glauben«, bestätigte der Verwalter. »Manchen Menschen fällt es schwer, sich von alten Wegen zu trennen und einen neuen zu beschreiten.«

Fidelma schwieg. Wenn Stammesfürsten wie Dubh Duin oder sein Nachfolger Ardgal tatsächlich aufständische Banden unterstützten und möglicherweise bei der Ermordung von |266|Sechnussach die Hand mit im Spiele hatten, dann hatte sie es mit einer Bewegung zu tun, die bereits einer Rebellion gegen den Hochkönig gleichkam und in einen Bürgerkrieg ausarten konnte. Das aber drohte ein Bürgerkrieg zu werden, wie man ihn bisher nicht kannte, denn die Fronten würden sich danach richten, für welche Religion die Menschen standen. Die Vorstellung war erschreckend.

»Und trotz seiner Befürchtungen machte sich Bischof Luachan allein auf den Weg, um dem Hilferuf der kranken Bauersfrau zu folgen«, grübelte Eadulf laut.

»Bischof Luachan war ein gütiger und großherziger Mensch, ein Mann, der seine Berufung zum Priester und Heiler gleichermaßen ernst nahm«, fühlte sich Bruder Céin gemüßigt zu erklären.

Völlig unerwartet für die anderen griff Fidelma nach der Öllampe.

»Du hast uns hierhergeführt, um uns die Erdhöhle zu zeigen. Da ich nun einmal hier bin, möchte ich sie mir auch ansehen.«

Energisch schüttelte Bruder Eadulf den Kopf.

»Wenn jemand hineingeht, bin ich es. Wer weiß, ob nicht wilde Tiere den Zugang entdeckt und dort unten ein warmes Nest für sich gefunden haben? Wölfe, vielleicht sogar Bären. Es ist genau die Zeit, da Bären Winterschlaf halten.«

»Braunbären kommen hier kaum noch vor. Wölfe schon eher, aber sie meiden menschliche Ansiedlungen, selbst wenn dort niemand mehr wohnt.«

»Ich gehe trotzdem zuerst«, beharrte Eadulf.

Es hatte keinen Sinn, sich zu streiten. »Gut, geh du vor, ich folge dir«, gab Fidelma nach.

Eadulf kletterte in den niedrigen Stollen und musste sich kriechend fortbewegen. Mit der einen Hand hielt er die flackernde |267|Öllampe. Der Lehmboden war trocken und hart. Die Decke hing niedrig über ihm, und er streifte fast die Wände; für jemanden, der unter Platzangst litt, war der Ausflug nichts. Er dachte daran, dass Bruder Céin gesagt hatte, der Gang würde auf eine tiefere Ebene abfallen. Der Gedanke kam ihm im richtigen Moment, denn er hatte sich so auf die sich tiefer herabsenkende Decke konzentriert, dass er die Stufe fast nicht bemerkt hätte. Er hörte Fidelma hinter sich und rief ihr eine Warnung zu.

Als er vorsichtig die steile Stufe hinabzusteigen suchte, bemerkte er auf einem Stein daneben einen Kerzenstummel. Den musste Bischof Luachan wohl auf seinem Erkundungsgang zurückgelassen haben. Mit Hilfe der Öllampe zündete er die Kerze an, damit auch Fidelma leichter ins Dunkle unten spähen konnte. Dann kletterte er in den unteren Gang, was besser ging, als er dachte, wenngleich es dort ziemlich eng war. Der Tunnel, in dem er sich jetzt bewegte, hatte eine leichte Neigung nach oben und öffnete sich in eine merkwürdige Kammer mit Wänden aus Stein. Wie Bruder Céin beschrieben hatte, hatte sie die Form eines Bienenstocks, lief konisch zu, und er konnte mühelos darin stehen. Kurz darauf tauchte auch Fidelma auf.

Sie schauten sich um. Das flackernde Licht der Öllampe ließ die Schatten auf den Wänden tanzen. In die Wände waren seltsame Zeichen geritzt, spiralförmige Linien und nicht zu identifizierende Symbole.

»Das ist ein Ort aus Vorzeiten«, flüsterte Fidelma.

»Wozu mag er gedient haben, wenn es nicht eine Vorratskammer für eine nahe gelegene Siedlung war?«, überlegte Eadulf laut und sah sich staunend um.

Fidelma war zu einem Fleck gegangen, wo Steine so geschichtet waren, dass sie ein kastenförmiges Behältnis bildeten. |268|Daneben lag ein großer flacher Stein, und sie erkannte, dass er gut als Abdeckung hätte benutzt werden können. Sie hatte alte Gräber in ähnlicher Form gesehen, aber das hier war für menschliche Überreste entschieden zu klein.

»Wahrscheinlich hat Bischof Luachan hier drin die Silberscheibe gefunden«, sagte sie.

Eadulf hielt die Lampe hoch und beäugte das steinerne Behältnis genauer.

»Glaubst du, wir sind hier in einem alten Heidentempel?«, fragte er voller Unbehagen. Als junger Mann war er zum Neuen Glauben übergetreten, aber im Innersten seiner Seele spürte er immer noch die Macht der alten Götter und Göttinnen seines Volks.

»Sicher war es eine heilige Stätte. Sie muss nicht unbedingt Menschen zur Andacht gedient haben. Sind dir die Reliefs in den Steinen aufgefallen?«

Natürlich waren auch ihm die merkwürdigen Bildnisse an den Wänden ringsherum nicht entgangen. Das waren keine Schatten, sondern tiefe Einritzungen in den Fels, merkwürdige Gesichter und Symbole.

»Haben die was zu bedeuten?«, fragte er mit leichtem Schaudern.

»Jemandem, der die Zeichen der alten Religion versteht, sagen sie bestimmt etwas.« Sie wies auf den flachen Stein, der ursprünglich auf dem Steinkasten gelegen haben musste und den sie als Schrein für die runde Scheibe deutete. »Siehst du die Eingravierung auf dem Schrein hier? Was das darstellen soll, weiß ich – es ist das Zeichen des alten Sonnengottes, das Symbol für Wissen und Weisheit.«

Eadulf sah genauer hin. Vom Mittelpunkt gingen drei Arme oder Beine aus, die jeweils in einem kleinen Schwanz endeten, was dem ganzen Gebilde einen gewissen Schwung verlieh.

|269|»Glaubst du, dass Bischof Luachan deshalb dachte, er hätte das alte Schicksalsrad gefunden, von dem Bruder Céin sprach?«

»Jedenfalls wäre es eine logische Schlussfolgerung«, meinte sie. »Ich habe dieses Motiv viele Male auf alten Münzen gesehen und auch auf einer der alten Kronen von Hochkönigen.«

Von Weitem vernahmen sie Bruder Céins Stimme wie ein schwaches Echo. Vermutlich wurde er unruhig, weil sie so lange hier unten verweilten.

Fidelma blickte sich ein letztes Mal um. »Mehr können wir aus alledem hier nicht lernen«, stellte sie fest.

»Haben wir denn überhaupt etwas lernen können?«

Er erntete einen tadelnden Blick. »Zu lernen gibt es immer etwas, denn alles im Leben ist miteinander verbunden. Das weißt du genauso gut wie ich. Eine Untersuchung ist wie ein Bildteppich, ein Faden hier, ein Faden dort, so manches Mal laufen die Fäden nicht zusammen, und man muss an den Ausgangspunkt zurück, manchmal laufen sie zusammen, und du kannst weitermachen.«

»Glaubst du tatsächlich, dass hier das Motiv für den Mord an Sechnussach zu suchen ist?« Eadulf hatte seine Zweifel.

»Noch ist es zu früh, das zu sagen. Wir wissen bisher nur, dass Bischof Luachan hier einen Fund machte. Den trug er zu Sechnussach. Sechnussach wurde ermordet, und was immer ihm Luachan überreichte, ist verschwunden. Als Nächsten brachte man Bruder Diomasach um, der den Fund mitentdeckt hatte. Und nun ist auch Bischof Luachan spurlos verschwunden.«

»Und was ergibt sich daraus?«

»Ehe wir irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen, brauchen wir weitere Erkenntnisse.«

»Nur ohne Bischof Luachan gewinnen wir sie nicht.«

Bruder Céin rief erneut nach ihnen.

|270|»Wir können nur hoffen, dass er noch lebt und wir ihn finden.« Fidelma drehte sich um und kroch in den Stollen zurück.

Eadulf stand noch einen Moment da, und als er sich ein letztes Mal umsah, blieb sein Blick an den grotesken, aus dem Stein gemeißelten Bildern haften. Lauter verzerrte Fratzen starrten ihn vorwurfsvoll an und erinnerten ihn an die Zeit, da er noch nicht zum christlichen Glauben übergetreten war.

Ihn fröstelte, und rasch kroch er Fidelma hinterher.

Es war eine Wohltat, wieder im Tageslicht zu stehen, wo sie Bruder Céin unruhig erwartete.

»Nun? Sagt euch der Ort etwas? Hat euch das, was ihr dort unten gesehen habt, einen Schritt weitergebracht?«

»Es untermauert die Geschichte, die du uns über Bischof Luachan und seine Entdeckung erzählt hast, viel mehr hat sich nicht ergeben.«

»Ich hatte gehofft, ihr würdet noch andere Rückschlüsse ziehen können«, sagte er enttäuscht.

»Wo liegt dieser Bauernhof, zu dem der Bischof angeblich gerufen worden war?«

»Ein Stückchen weiter nördlich. Man nennt ihn ›Die Wiesen von Nionn‹, Cluain Nionn. Ihr kommt daran vorbei, falls ihr euren Ritt nach Norden fortzusetzen gedenkt.«

»Weshalb sollten wir das nicht tun? Natürlich reiten wir weiter.«

Bruder Céin schaute zum Himmel und auf die länger werdenden Schatten.

»Heute Abend jedenfalls nicht mehr. Erfreut euch unserer Gastfreundschaft und reitet erst morgen früh weiter.«

»Angenommen, und mit Freuden«, erwiderte Fidelma.

Bruder Céin übernahm die Führung, und zusammen machten sie sich auf den Rückweg zu der Ansiedlung der Mönche.

|271|Vor dem Abendessen, dem prainn, das die Hauptmahlzeit darstellte, ließ sich Fidelma von dem Verwalter die Bibliothek der Gemeinde, die tech screpta, zeigen. Sie bestand aus etwa vierzig Bänden, die reihenweise säuberlich in eigens für Bücher vorgesehenen Ledertaschen hingen. Die Bibliothek war Bruder Céins ganzer Stolz.

»Bischof Luachan wollte unsere Gemeinde zu einem Hort des Wissens machen«, teilte er bekümmert mit. »Leider wird man die Bücher als Erstes vernichten, wenn die dibergach über uns herfallen und wir sie nicht abwehren können. Wir besitzen eine Sammlung von Handschriften, die sich mit den Bibliotheken in den fünf Königreichen durchaus messen kann.«

Fidelma, die auf ihren Reisen viele weitaus größere Bibliotheken gesehen hatte, widersprach ihm nicht. In ihren Augen verdiente jeder Ort, an dem Bücher gesammelt wurden, Achtung und Anerkennung.

»Dieser Schatz ist fürwahr der Rettung wert, Bruder Céin«, versicherte sie. Unvermutet kam ihr eine Erinnerung in den Sinn. »Man hat mir erzählt, dass es mit diesem Ort im Zusammenhang mit meinem Königreich eine besondere Bewandtnis hat. Weißt du davon?«

Er nickte. »Aber das war in alten Zeiten. Es ist eine der mündlich überlieferten Legenden.«

»Erzähl.«

»Vor langer, langer Zeit, man kann sich gar nicht mehr an das tatsächliche Geschehen erinnern, soll es in deines Bruders Königreich Muman im Norden einen Stammesfürsten namens Lugaid mac Táil gegeben haben. Der hatte fünf Söhne und eine Tochter. Die Tochter heiratete einen ehrgeizigen Krieger, Trad mac Tassaig. Die Tochter war nicht minder ehrgeizig und außerdem eine große Druidin, die sich in der Zauberkunst auskannte.

|272|Eines Tages behauptete sie, sie hätte eine Erscheinung gehabt und die hätte verkündet, wenn ihr Vater Lugaid sein Amt des Stammesfürsten und das ganze Land nicht ihrem Mann überantworte, würde eine Schar von Dämonen das Reich und die gesamte Familie vernichten. Aus Angst tat Lugaid wie geheißen und floh mit seinen fünf Söhnen Richtung Norden.

Sie kamen an den See Lugborta, wo Lugaid ein Zauberfeuer entfachte, das ihm den weiteren Weg weisen sollte. Das Feuer verbreitete sich in fünf Richtungen, und die fünf Söhne zogen in die gewiesenen Richtungen und ließen sich dort nieder. Der Vater aber blieb an dem Ort, wo er das Feuer entfacht hatte, und so nannte man den See fortan nach ihm – See Lugborta. Er selbst aber entschied, für seine Person den Namen Delbaeth anzunehmen, das kommt von dem alten dolb-aed, Zauberfeuer. Viele Jahrhunderte sind seitdem vergangen, und der Name hat Verstümmelungen erfahren, geblieben ist die Bezeichnung Delbna Mór für den Ort.«

»Die Geschichte höre ich zum ersten Mal.«

»Warum solltest du sie auch schon vorher gehört haben? Es ist einfach eine Geschichte aus der Gegend hier, die erklärt, woher der Name für die Region kommt.«

Sie betrachtete noch ein Weilchen die Bücher, machte lobende Äußerungen, und dann rief die Glocke zum Abendessen. Auf ihrem Weg zum Speisesaal fragte Bruder Céin besorgt: »Willst du morgen wirklich nach Nordwesten reiten?«

»Ja.«

»Ins Land der Cinél Cairpre?«

»Genau dorthin.«

»Genau dort könnten aber unsere Feinde sein«, meinte er.

»Irél ist mit seiner Garde bereits dort gewesen. Er hat mit Ardgal, dem neuen Fürsten, gesprochen und Geiseln genommen, die nach Sechnussachs Tod für die Bündnistreue des |273|Stammes stehen sollen. Wenn man Böses gewollt hätte, wäre man Irél anders begegnet und hätte seine Autorität nicht anerkannt.«

»Trotzdem könnte ich es mir nicht verzeihen, wenn ich dir nicht von dieser Reise abraten würde. Wäre Bischof Luachan hier, er würde dich vor den Gefahren warnen, die dort lauern.«

»Ich denke, du hast die Gefahren klar genug beschrieben«, entgegnete sie freundlich.

»Solltest du nach Tara zurückkehren … wenn du nach Tara zurückkehrst«, verbesserte er sich rasch, »und mit dem Hochkönig sprichst, berichte ihm von unserer Situation hier und warne ihn vor der wachsenden Macht der dibergach. Zwischen uns und dem Land der Cinél Cairpre gibt es nur noch eine Gemeinde, und das ist die Abtei Baile Fobhair. Du kommst auf eurer Reise unweigerlich daran vorbei. Sie und wir sind die einzigen Klöster in der Gegend hier, die bislang von Überfällen verschont geblieben sind, Gott sei Dank. Aber wir rechnen täglich damit.«

»Warum habt ihr euch nicht an die Fianna in Tara gewandt und Krieger zu eurem Schutz angefordert?«

»Den Ernst der Lage haben wir erst begriffen, als sie uns Bischof Luachan nahmen. Wenn sie so weit gehen und das tun, wird sie nichts davon abhalten, noch größere Verbrechen zu verüben.«

»Wo liegt die Abtei, die du nanntest?«

»Baile Fobhair?«

Sie nickte.

»Ihr kommt an einen großen See, den Loch Léibhinn, und reitet an dessen Nordseite entlang. Da liegt dann auch die Abtei. Aber wie gesagt, ich kann dich nur eindringlich warnen …«

|274|Sie ließ ihn nicht zu Ende reden. »Mach dir keine Sorgen, Bruder Céin. Es ist mein fester Wille, heil nach Tara zurückzukehren, und was die mysteriösen Vorgänge angeht, die werde ich klären. Versprochen.«