Als Broterwerb hatte Ferloga sein Leben lang ein Gasthaus betrieben, und er brüstete sich damit, Gäste jeglicher Art empfangen zu haben – reiche und arme, hochmütige und bescheidene. Könige und Stammesfürsten hatten bei ihm genächtigt, Mönche und Geistliche aller Couleur, wohlhabende Kaufleute, umherziehende Schauspieler, Bauern auf dem Weg zum Markt und selbst Bettler, die verzweifelt um Unterschlupf gebeten hatten. Er bildete sich etwas darauf ein, dass nie ein Gast versucht hatte, ihn zu prellen, denn angeblich konnte er bei fast allen auf den ersten Blick sagen, welches Gewerbe sie betrieben und ob sie vertrauenswürdig waren oder nicht. Jetzt aber saß der alte Gastwirt da und unterhielt sich mit seiner Frau, die den Frühstückstisch abräumte, und gestand freimütig, nicht zu wissen, woran er war. Der letzte Gast, der zu nächtlicher Stunde angeklopft hatte, war ihm ein Rätsel.
Bei dem Fremden, der Herberge begehrte, handelte es sich um einen großen, hageren Mann, dünn wie ein Skelett, mit pergamentähnlicher Haut, die straff die Knochen umspannte. Alt war er auf alle Fälle, aber ob sechzig oder achtzig, ließ sich schwer ausmachen. Er hatte einen merkwürdigen Blick, denn den linken Augapfel verschleierte ein trüber Film, offensichtlich Folge des grauen Stars. Das dichte, weiße Haar stand nach allen Seiten ungebändigt ab, die krausen Locken reichten bis |24|zu den Schultern. Der Hals mit dem auffallend hervorstehenden Adamsapfel erinnerte den Betrachter an die faltige Haut eines gerupften Huhns. Bekleidet war er mit einem Wollumhang, dessen dunkles Grau vermutlich ehemals weiß gewesen war und der bis zu den Knöcheln reichte. In den langen Stab aus Holz, den er bei sich trug, waren seltsame Muster geschnitzt, und um die Schulter hatte er eine Ledertasche gehängt.
Zunächst hatte Ferloga gedacht, er wäre ein wandernder frommer Bruder, sah er doch aus wie einer der umherziehenden Eremiten, denen man ab und an begegnete, auch war er eindeutig zu Fuß gekommen. Bald aber hatte er den Gedanken verworfen, denn als der Mann seinen Umhang löste, kam darunter keins der üblichen Symbole des Neuen Glaubens zum Vorschein, sondern eine fremdartige Kette aus Gold und Halbedelsteinen, wie sie kein frommer Mann trug.
Die Unterhaltung war auf das Wesentliche beschränkt geblieben. Ferloga war von seinen Gästen gesprächsfreudige Geselligkeit gewöhnt, dieser Reisende aber hatte nur kurz und knapp ein Bett verlangt. Selbst den traditionellen Becher corma, der einen vor nächtlichem Frösteln bewahrte, hatte er abgelehnt. Und als Ferloga ihn gefragt hatte, woher er käme, hatte er nur geantwortet: »Von weither aus dem Norden.« Aus all dem hatte Ferloga die Schlussfolgerung gezogen, dass der Mann von dem langen Fußmarsch erschöpft war; es fiel tatsächlich auf, dass er etwas schwankte und die dunklen Tränensäcke leicht geschwollen waren. Also war der Gastwirt nicht länger auf ihn eingedrungen, hatte dem Spätankömmling über der Treppe ein kleines Zimmer zugewiesen und sich zurückgezogen.
Jetzt aber in der Morgendämmerung machte er sich von Neuem Gedanken über den geheimnisvollen Gast.
|25|Seine rundliche Frau murrte verärgert und rührte den Haferbrei um, den sie im Kessel über dem Feuer immer noch warm hielt, damit er nicht ansetzte.
»Hier zu sitzen und herumzurätseln führt zu nichts. Geh lieber hoch und weck den Mann. Die Sonne ist längst aufgegangen. Keiner der anderen Gäste liegt noch im Bett. Alle haben gefrühstückt und sich auf den Weg gemacht. Ich bin nicht gewillt, hier den ganzen Tag zu stehen und mich darum zu kümmern, dass der Brei nicht anbrennt. Muss schließlich noch Beeren pflücken.«
Mit einem Seufzer trennte sich Ferloga von seinem gemütlichen Platz am Feuer. Seine Frau Lassar hatte natürlich recht. Die anderen Aufgaben konnten nicht ewig warten, und dass Gäste sich morgens beim Aufstehen so viel Zeit ließen, war fürwahr ungewöhnlich.
Auf einer Anhöhe der Straße, die von Cluain Meala, dem Honigfeld, fortführte, brachte Fidelma von Cashel ihr Pferd zum Stehen. In der Ansiedlung am Ufer des breiten Flusses Siúr, nördlich von der Burg ihres Bruders gelegen, hatte sie übernachtet. Eine ganze Woche lang war sie von Cashel fort gewesen und hatte die Zeit in der großen Abtei Lios Mhór weiter südlich jenseits des Gebirgszuges Mhaoldomhnaigh zugebracht. Die nächtliche Ruhepause hatte ihr gut getan, doch trotzdem fühlte sie sich nach der Woche anstrengender Arbeit erschöpft. Sie war Rechtsanwältin, eine dálaigh bei den Gerichtshöfen der fünf Königreiche von Éireann, und das im Range einer anruth, dem zweithöchsten Amtstitel im Rechtswesen des Landes. Ihr Rang gestattete ihr, nicht nur jemanden vor den Richtern zu vertreten, sondern, wenn ausdrücklich gewünscht, Fälle in einem eigenständigen Verfahren anzuhören und abzuurteilen, sofern die Anwesenheit eines ranghöheren |26|Richters nicht geboten war. Brehon Baithen, der Oberste Richter des Königreiches Muman, bat sie recht häufig, eine solche Rolle zu übernehmen. Aufgaben dieser Art mochte sie am wenigsten.
In einem stickigen Gerichtssaal zu sitzen und sich die Beschwerden und Argumente derjenigen, die vor ihr erschienen waren, anzuhören, fand sie reichlich ermüdend. Oft war es die reinste Zeitverschwendung, weil den Klägern nicht von vornherein klargemacht worden war, dass ihre Forderungen jeder Rechtsgrundlage entbehrten und nur auf Kleinlichkeit oder Böswilligkeit zurückzuführen waren. Dennoch war sie verpflichtet, geduldig zuzuhören und zu entscheiden, ob ein ordentliches Gerichtsverfahren nötig wurde oder der Fall sogar vor einen höheren Richter gehörte. So nahm es nicht wunder, dass sie nach einer Woche in den Gerichtssälen von Lios Mhór müde und auch verärgert war. Mit Freuden hatte sie sich auf ihr Pferd geschwungen und über die Berge auf den Heimweg zu ihres Bruders königlicher Festung in Cashel gemacht.
Jetzt stand sie auf der Anhöhe und drehte sich im Sattel um, wollte sehen, ob ihr Begleiter hinter ihr war. Der junge Krieger, der hinter ihr ritt, war Caol, Befehlshaber der Leibgarde ihres Bruders. Man hatte ihn auserkoren, ihr auf der Reise Schutz zu gewähren. Als er sein Pferd neben ihr anhielt, wies sie lächelnd mit ausgestrecktem Arm nach vorn.
»Das dort ist Ráth na Drínne. Ich könnte gut und gern eine Erfrischung in Ferlogas Wirtshaus vertragen, ehe wir unseren Weg nach Cashel fortsetzen.«
Caol neigte kurz den Kopf, verriet jedoch keinerlei Regung.
»Ganz nach deinem Belieben, Lady.« Jedermann, der Fidelma als Schwester von Colgú, König von Muman, kannte, benutzte die höfliche Form der Anrede und nicht die für sie ebenfalls |27|gültige geistliche. »Wir sind ohne zu frühstücken von Cluain Meala aufgebrochen«, fügte er hinzu, »und auch ich hätte nichts dagegen, etwas in den Magen zu bekommen.«
Fast klang es ein wenig vorwurfsvoll, denn er spielte auf Fidelmas Hast an, noch vor Tagesanbruch loszureiten. Wiederum wusste er nur allzu gut, warum es Fidelma so eilig hatte, nach Cashel zurückzukehren. Eine Woche lang war sie von ihrem kleinen Sohn Alchú getrennt gewesen, und für ihre Besorgnis als Mutter hatte Coal volles Verständnis. Dass sie dieses Mal zusätzlich besorgt war, hatte seinen guten Grund: Ihr Mann Eadulf, der Angelsachse, hatte Cashel schon eine Woche zuvor verlassen und war im Auftrag von Ségdae, dem Abt von Imleach und Hauptbischof von Muman, zur Abtei Ros Ailithir geritten. Wie lange er für seine Mission brauchen würde, in der es um wichtige geistliche Fragen ging, stand in den Sternen. Es konnte Wochen dauern. Angesichts dieser Umstände hatte Caol über Fidelmas auffallende Ungeduld und ihren raschen Stimmungswechsel in den letzten Tagen hinweggesehen.
Ihr Mienenspiel verriet, dass sie seine Gedanken las. »Ich weiß, ich weiß. Hätte es mich heute früh nicht so zum Aufbruch getrieben, hätten wir frühstücken und etwas Warmes zu uns nehmen können und wären besser gegen die Kälte unterwegs gewappnet gewesen«, gestand sie ein. »Aber in Ferlogas Gasthaus dort unten können wir das Versäumte nachholen.«
Sie spornte ihr Pferd an und strebte der Erhebung von Ráth na Drinne entgegen. Wenig später ritten sie auf den Hof vor der Wirtschaft und lösten unter den Hühnern und Gänsen ein heftiges Gegacker und Geschnatter aus. Sie waren noch nicht abgesessen, als die Tür zum Gasthaus aufgerissen wurde und Ferloga herausgestürzt kam. Fidelma fiel sofort auf, wie blass und aufgeregt er war.
»Was ist los mit dir?«, begrüßte sie ihn mitfühlend.
|28|Sein Gesicht hellte sich auf, als er sie erkannte. »Lady, Gott sei gedankt, dass er dich geschickt hat.«
Fragend zog sie eine Augenbraue hoch, stieg ab und stand dem alten Wirt gegenüber.
»Du bist völlig außer dir, Ferloga. Was ist geschehen?«
»Einer meiner Gäste, Lady. Es war schon spät, und er war noch nicht aufgestanden. Da bin ich hinaufgegangen und wollte ihn wecken. Ich habe ihn gerade gefunden … im Bett … tot.«
Inzwischen war auch Caol abgestiegen und nahm Fidelma die Zügel ab. »Tot?« Sein Interesse war geweckt. »Ermordet?«
Ferlogas Augen weiteten sich vor Schreck. »Ermordet? An so was hätte ich nie gedacht.«
»Bring die Pferde in den Stall, Caol«, wies ihn Fidelma an und wandte sich dem verwirrten Gastwirt zu. »Komm, wir schauen uns mal die Leiche an. Wer ist überhaupt dieser Gast?«
Er ging vor ihr her und zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung, Lady. Er ist erst spät in der Nacht angekommen und hat nichts von sich erzählt. Ein älterer Mann, mehr kann ich nicht sagen.«
Gemeinsam betraten sie das Gasthaus. Ferlogas Frau Lassar ließ sich verängstigt blicken.
»Gut, dass du hier bist, Lady. Wenn die Verwandtschaft von dem Mann hier auftaucht und behauptet, wir seien mit schuld an seinem Tod, weil wir unsere Pflichten dem Gast gegenüber vernachlässigt hätten, das könnte für uns schlecht ausgehen.«
Fidelma war sich wohl bewusst, weshalb die beiden Alten sich so erregten. Die Gesetzgebung für Gastwirte, wie sie im Bretha Nemed Toisech niedergeschrieben war, legte die Verantwortlichkeiten präzise fest. Einem jeden Gast gebührte Rechtsschutz; wurde er während seines Aufenthaltes verletzt oder getötet, war er ein Opfer des als diguin bezeichneten |29|Vergehens geworden, der Verletzung eben dieses Rechtsschutzes. Verantwortlich für die Gewährleistung des Schutzes war der Gastwirt, ganz gleich, ob es sich um eine öffentliche Herberge oder um ein privates Gasthaus handelte. Wenn er also wegen Mordes zur Rechenschaft gezogen wurde, konnte Ferloga sein Gasthaus verlieren und mit einer schweren Geldstrafe bedacht werden.
Fidelma lächelte der alten Frau aufmunternd zu. »Wo ist die
Leiche?«, fragte sie Ferloga.
Er drehte sich zu den Stufen um, die ins obere Stockwerk führten. »Hier lang«, sagte er.
Der Leichnam lag rücklings auf dem Bett. Ferloga hatte bereits die Fensterläden geöffnet, um Licht hineinzulassen. Fidelma wünschte, Eadulf wäre bei ihr; seine medizinischen Kenntnisse wären jetzt hilfreich gewesen. Sie beugte sich über den Toten und betrachtete den leblosen Körper etwas eingehender. Zwei Dinge fielen ihr sofort auf. Die Gesichtsmuskeln waren zu einer Grimasse verkrampft, als wären sie mitten in einer Schmerzempfindung erstarrt. Wirklich kalt war das Fleisch noch nicht, also konnte der Tod erst kurz vor der Morgendämmerung eingetreten sein. Zum zweiten zeigten die Lippen eine bläuliche Färbung, und zwar sehr auffällig. Sie überwand sich, schlug die Bettdecke zurück und vergewisserte sich, dass der Körper keine Spuren von physischer Gewalteinwirkung zeigte. Dann bedeckte sie den Leichnam wieder, stand auf und wollte sich dem verängstigten Ferloga zuwenden, als Caol die Treppe heraufgestürzt kam und einen ersten Blick auf den Toten warf.
»Kann ich behilflich sein, Lady?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Schau ihn dir genauer an; ich möchte wissen, ob du der gleichen Meinung bist wie ich. Nach meinem Dafürhalten ist er einem Krampfanfall erlegen.«
|30|Sie benutzte das Wort taem, um deutlich zu machen, was sie meinte.
Caol sah hin und nickte. »Blaue und verzerrte Lippen und Muskelverkrampfung. So was hab’ ich schon früher gesehen, Lady, auf dem Schlachtfeld. Zweimal ist mir das vorgekommen: Männer haben sich in eine maßlose Kampfeswut gesteigert, sich plötzlich an die Brust gegriffen, die Gesichtszüge verzerrten sich, und dann hatten sie einen Herzanfall. Viele starben daran.«
»Dagegen scheint niemand gefeit zu sein, ob alt oder jung«, pflichtete ihm Fidelma bei. »Ich habe auch gehört, dass manche den Anfall überleben, und die haben es als einen fürchterlichen und lähmenden Schmerz in der Brust beschrieben. Nein, sei unbesorgt, Ferloga, dich kann man nicht für seinen Tod verantwortlich machen.«
Von der Tür kam ein Seufzer der Erleichterung. Lassar, Ferlogas Frau, war Caol nach oben gefolgt. Bei Fidelmas Worten war ihr ein Stein vom Herzen gefallen.
»Ich gehe runter und sorge für eine kleine Erfrischung, Lady«, meinte sie nun.
»Vielleicht hast du auch frisches Brot und Honig, das würde mich vollends beglücken«, rief ihr Caol nach.
Fidelma warf einen erneuten Blick auf den Leichnam. »Wer war er?«
»Ich hatte kaum Gelegenheit, das herauszufinden«, erwiderte Ferloga achselzuckend. »Er erreichte den Gasthof nach Einbruch der Dunkelheit, sagte bloß, er käme aus dem Norden, was mich nicht weiter überraschte, denn sein Tonfall verriet, dass er im Nordland aufgewachsen war. Auf Fragen antwortete er nicht, stellte selbst nur eine Frage, aß nichts, trank nichts und wollte nur die Bettstatt gezeigt haben.«
|31|Aufhorchend sah Fidelma den Gastwirt an. »Stellte selbst nur eine Frage? Nämlich welche?«
»Er erkundigte sich, welchen Weg er heute früh nehmen müsste, um nach Cnánmchailli zu kommen.«
Gedankenvoll wiegte Fidelma den Kopf. »Der Platz an der Ara-Quelle? Da gibt es doch aber nichts weiter, nur eine alte Steinsäule.«
»Das hab’ ich ihm auch gesagt. Er wollte trotzdem den Weg wissen, und ich hab ihm den beschrieben.«
»Hast du dir irgendeine Meinung über den Mann bilden können? Du bist dafür bekannt, nach kürzester Zeit über deine Gäste Bescheid zu wissen.«
Er grinste ironisch. »Erst heute früh hab ich zu Lassar gesagt, dass ich am Ende meiner Weisheit bin. Zuerst dachte ich ja, er wäre irgendein frommer Bruder, bis ich dann seine Kleidung und seinen Schmuck etwas näher in Augenschein genommen hatte. Trotzdem, er bleibt mir ein Rätsel.«
»Und er ist zu Fuß hierher gekommen?«, fragte Caol. Überrascht sah Fidelma zu ihm hinüber. Wie konnte er das wissen? Erklärend fügte er hinzu: »Als ich vorhin unsere Pferde in den Stall brachte, habe ich kein anderes Pferd gesehen, das einem Gast hätte gehören können.«
Ferloga nickte bestätigend. »Er kam zu Fuß hier an; er hat sich unterwegs nur auf seinen merkwürdigen Stab stützen können.«
Fidelma ging zu dem kunstvoll geschnitzten Stab, der in einer Ecke des Raumes lehnte. Sie nahm ihn zur Hand und drehte und wendete den Stab aus dunkler Eiche, dessen Knauf mit Bronze beschlagen war. Das Metall überzog die mit winzigen Buckeln versehene Stockzwinge und auch den kunstvoll gearbeiteten Griff. Das oberste Ende war ganz aus Bronze gestaltet und hatte die Form eines Kopfes. Dargestellt war ein Mann |32|mit Halsreif, langem Wallebart und Augen aus rot glitzernden Halbedelsteinen. Ein halbmondförmiger Kopfschmuck, der mit kleinen im Dreifußstil angeordneten Sonnensymbolen besetzt war, reichte von einem Ohr zum anderen.
»Eine wunderschöne Arbeit«, murmelte Caol, der ihr über die Schulter blickte.
»Stammt aus alten Zeiten«, ergänzte Ferloga.
»Aus sehr alten Zeiten«, bestätigte Fidelma. »Irgendwo habe ich solche Symbole schon mal gesehen, ich kann mich nur nicht erinnern, wo …«
»Der ganz Stab ist ein einziges Schnitzwerk, von oben bis unten voller geheimnisvoller Symbole und Tiere. Er muss ungemein wertvoll sein«, sagte Caol sinnend.
»Hatte er sonst noch etwas bei sich, was Rückschlüsse auf seine Person zuließe?«, fragte Fidelma an Ferloga gewandt.
Der Gasthausbesitzer wies auf einen Lederranzen, den der Mann bei seiner Ankunft über der Schulter gehabt hatte. Auf dem Tischchen neben dem Bett lag auch der mit vielen Gravuren versehene Halsschmuck, den er am Abend zuvor getragen hatte. Offensichtlich hatte der Gast ihn abgelegt, bevor er sich zur Ruhe begab.
»Außer seinem Überwurf und der sonstigen Kleidung hatte er nur den Ranzen und das Schmuckstück da.«
In dem Ranzen fanden sich nur einmal Wäsche zum Wechseln, ein zusätzliches Paar Sandalen, ein Messer und die üblichen Dinge, die ein Mann zur Körperpflege auf Reisen bei sich führt. Sonst nichts. Wenn schon der Stab ein Kunstwerk besonderer Art war, dann galt das für den Halsschmuck um so mehr. Der sichelförmige Reif war aus Gold und filigran gehämmert, alle möglichen Symbole aus alten Zeiten reihten sich aneinander; auch sie kamen Fidelma von irgendwoher bekannt vor, aber wirklich einordnen konnte sie sie nicht. Sie |33|wollte sich gerade dazu äußern, als Caol einen Ausruf der Überraschung von sich gab.
Sie drehte sich zu ihm um und sah, wie er unter dem Kissen, auf dem der Kopf des alten Mannes ruhte, einen kleinen Lederbeutel hervorzog. Als er ihn hochhielt, vernahmen sie ein metallenes Geräusch. Er reichte das Säckchen Fidelma.
»Es sieht so aus, als ob der fremde Alte reich war.«
Fidelma löste das Band, dass den Beutel zusammenhielt, und tatsächlich war er voller Münzen, überwiegend Gold und Silber, manche auch Bronze. Sie betrachtete einige eingehender.
»Es sind im wesentlichen Münzen aus Gallien und Britannien, Münzen von der Sorte, wie sie die Britannier prägten, ehe die Römer kamen. Merkwürdig. Nicht eine römische Münze dazwischen, und dabei sind das die, die heutzutage am meisten von Hand zu Hand gehen.«
»Das heißt, der Alte wollte auch Gallien oder Britannien durchwandern«, schlussfolgerte Caol.
Fidelma schüttelte den Kopf. »Das heißt lediglich, dass er im Besitz von Münzen aus besagten Ländern war, aber sie sind Jahrhunderte alt. Mehr lässt sich im Moment nicht dazu sagen, wir haben keine weiteren Anhaltspunkte. Wenn sich jemand auf Reisen begibt und dafür Geld braucht, warum dann nicht Münzen, mit denen man hier und heute zahlt?«
»Da hast du recht«, gab Caol kleinlaut zu. »Aber soviel kann man doch sagen, dass er wahrscheinlich so etwas wie ein Kaufmann war, sonst hätte er wohl kaum fremdländische Münzen besessen, noch dazu so viele davon. So reich sind nur Kaufleute.«
»Ich glaube nicht, dass er Kaufmann war.«Die Bemerkung kam von Ferloga, und Fidelma blickte ihn fragend an.
»Nicht alle haben sich zum Neuen Glauben bekannt, Lady«, |34|gab er zu bedenken. »Du hast es selbst erfahren. Einige halten an den alten Vorstellungen fest.«
Sie begriff, was der Wirt mit seinen Worten andeuten wollte. Noch einmal nahm sie den Halsschmuck des Toten in Augenschein und prüfte ihn sorgsam. Dann atmete sie tief durch; was Ferloga insgeheim befürchtete, stimmte.
»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, sagte Caol stirnrunzelnd.
»Ferloga meint, der Tote könnte ein Druidenpriester gewesen sein.«
»Die alten Religionen sind doch aber ausgestorben. Die Druiden gibt es gar nicht mehr.«
»Ich habe mehr als einmal mit Menschen zu tun gehabt, die sich von dem Alten Glauben nicht trennen wollen«, erklärte sie bitter. »Es ist noch gar nicht so lange her, dass man Eadulf und mich ins Tal von Gleann Geis schickte, als Leisre beschloss, dass seine Leute von den alten Auffassungen lassen und sich zum Neuen Glauben bekennen sollten.«
»Glenn Geis liegt weit weg im Westen«, spöttelte Caol abfällig. »Die hinken immer hinterher.«
Fidelma musste über die Anmaßung des jungen Kriegers lächeln. »Oder aber sie schlagen eine gänzlich andere Richtung ein«, bemerkte sie ruhig. »Du schätzt die Lage falsch ein, Caol. Es gibt mehr als genug, die auf alten Pfaden wandeln und den alten Göttern und Göttinnen dieses Landes huldigen. Viele, selbst solche, die sich zum Neuen Glauben bekannt haben, verehren und schätzen die Druiden und sehen sie heute wie damals als zu bewundernde Lehrer. Hat nicht sogar Colmcille, die Taube der Kirche, in einem seiner Gedichte geschrieben, dass Christus, Sohn des Einen Gottes, sein Druide war?«
Caol zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Du willst also sagen, der Tote da war ein Druide?«
|35|»Es würde zumindest in die Richtung passen, dass ich ihn anfangs für einen frommen Bruder hielt«, warf Ferloga ein, »auch wenn er gewiss nicht zum christlichen Glauben gehört. Die Symbole an seinen Sachen sprechen für sich. Das sind genau die Symbole, die auf den alten Steinen eingemeißelt sind, bei denen früher die Leute zur Götterverehrung zusammengeströmt sind. Und schließlich hat er auch nach dem Weg nach Cnánmhchailli gefragt, dem Ort, wo die alte Steinsäule steht.«
Gedankenverloren nickte Fidelma. »Du magst durchaus recht haben, Ferloga. Nur können wir jetzt kaum etwas tun, das uns weiterhilft beim Herausfinden, wer er ist. Wir müssen warten, bis man ihn vermisst und jemand kommt und ihn sucht.«
»Wenn ich nur wüsste, was ich machen soll, Lady«, jammerte der Wirt. »In meinem Gasthaus ist noch nie einer gestorben.«
Fidelma überlegte kurz.
»Wir nehmen seine Habseligkeiten mit nach Cashel. Bruder Conchobhar kennt sich in den alten Gebräuchen und Symbolen aus. Vielleicht kann er uns mehr über ihre Bedeutung erzählen, und wir können dann leichter zurückverfolgen, woher der Mann kam.«
»Und die Leiche? Was wird mit der?«, fragte er unglücklich.
»Jenseits des Hügels gibt es eine kleine Kapelle«, beruhigte ihn Caol. »Zwei fromme Brüder tun dort ihre Dienste, und ganz in der Nähe ist auch ein Gottesacker. Schick jemand dorthin, sie sollen kommen, den Toten holen und ihn ordentlich bestatten. Egal, welchen Glaubens er war, man muss ihn unter die Erde bringen, wie es sich gehört.«
Ferlogas Gesicht wurde immer länger. Fidelma erkannte die Sachlage, langte nach ihrem Geldbeutel und drückte dem Alten ein paar Münzen in die Hand.
|36|»Sag ihnen, es sei mein ausdrücklicher Wunsch, dass der Tote eine angemessene Bestattung erfährt. Mach dir keine Sorgen, das hier reicht allemal, um ihn zur letzten Ruhe zu betten.«
»Das kann ich doch nicht annehmen …«, wehrte Ferloga wenig glaubhaft ab.
»Ich nehme die Börse des Toten an mich«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich hoffe, dass wir mit Hilfe der Münzen mehr über ihn erfahren. Und du sollst deshalb keine Einbuße erleiden. Wenn jemand hier auftaucht und nach ihm fragt, schick ihn zu uns nach Cashel.«
Er sah immer noch bedrückt aus. »Gott segne dich, Lady.« Und nach kurzem Zögern fragte er besorgt: »Glaubst du, jemand könnte kommen und nach ihm fragen?«
»Was beunruhigt dich an dem Gedanken?«
Er nagte nervös an der Unterlippe, ehe er mit der Sprache herausrückte. »Wenn er der alten Religion anhing, können die, die da vielleicht kommen, auch von der Sorte sein. Wir hier sind gute Christen. Mein Großvater wurde im Siúr getauft, der heilige Ailbe höchst persönlich hat das besorgt.«
»Du machst dir unnötig Gedanken«, beschwichtigte sie ihn.
»Wenn aber der Mann ein Heide war und sich in den Künsten von damals, den Beschwörungen und Verwünschungen auskannte …«
»Wir haben kein Recht so zu tun, als ob wir das Gute für uns gepachtet hätten, Ferloga«, mahnte sie. »Der Neue Glaube verlangt von uns, allen Menschen mit Nachsicht und Freundlichkeit zu begegnen und keine Vorbehalte gegenüber denen zu haben, die andere Wege beschreiten.«
Sie warf Caol einen Blick zu. Der verstand sie auch ohne Worte, ergriff Halsreif, Stab, Ranzen und den Beutel mit den Münzen und folgte ihr nach unten, wo Ferlogas Frau Lassar |37|bereits einen Imbiss vorbereitet hatte und sie ein gedeckter Tisch erwartete.
Ferloga ging nach draußen, um den Burschen, der ihm für gewöhnlich im Stall und bei der Arbeit im Freien zur Hand ging, zur Kapelle zu schicken und die Hilfe der frommen Brüder zu erbitten, wie ihm Fidelma geraten hatte. Fidelma und Caol hingegen gönnten sich eine erste Morgenmahlzeit und sprachen dem frisch gebackenen Brot mit Honig und dem süßen Met herzhaft zu. Fidelma vergaß nicht, auch Lassar zu beruhigen und ihr zu erklären, wie die Dinge standen. Als Ferloga wieder den Raum betrat, fragte sie ihn, ob er Neues aus Cashel gehört hätte. In Gasthäusern sprachen sich Neuigkeiten und Gerüchte immer rasch herum.
Aufsehenerregendes hatte er nicht zu berichten. »In den letzten Tagen hat sich nichts ereignet, worüber es zu reden lohnte, Lady. Eher könnte ich fragen, ob es aus Lios Mhór etwas Interessantes gibt. Ist dir dort das eine oder andere zu Ohren gekommen?«
Sie schüttelte den Kopf. Es war eine langweilige Woche gewesen, lauter harmlose Strafsachen: Ein Mann, der seiner Frau den Unterhalt versagte, oder ein anderer Fall von einer Frau, die behauptete, vergewaltigt worden zu sein, doch konnte dem beschuldigten Mann nichts diesbezügliches nachgewiesen werden. Fidelmas Nachforschungen hatten ergeben, dass die Klage ein kleiner Racheakt seitens der Frau gewesen war, weil der Mann sie nicht gewollt hatte. »Nein, nur Banalitäten. Sind gar keine Reisenden bei euch eingekehrt, die etwas zu erzählen wussten?«
»Nur ein paar fromme Männer neulich, die vor kurzem aus dem Königreich Dál jenseits des Meeres gekommen waren.«
Fidelma horchte auf, denn auch sie war einst durch Dál Riada gereist und hatte sich auf der winzigen Insel Í, bekannt |38|unter Iona, aufgehalten, wo Colmcille eine Abtei gebaut hatte. Fast fünf Jahre lag das zurück, dass sie dort gewesen war auf dem Weg zur Synode von Whitby, wo es um die große Debatte zwischen den irischen Geistlichen und denen ging, die die römische Vorherrschaft unterstützten.
»Und was haben sie gesagt? Schickt Iona immer noch Missionare in die angelsächsischen Königreiche?«
»Davon haben sie nichts erwähnt. Sie erzählten von Kämpfen zwischen den Clans der Cruithin und auch zwischen den Angelsachsen untereinander. In Dál Riada aber sei es friedlich. Dem König – sie sprachen von einem Domangart, Sohn des Diomhnall Brecc – sei es gelungen, Eintracht und Frieden im Land herzustellen. Sie behaupteten, jeder wüsste nur Gutes über den König zu sagen.«
»Es gibt also eine gedeihliche Entwicklung dort?«
»Ja, aber auch Besorgnis und Unruhe wegen eines angelsächsischen Königs namens Wulfhere, der über das Königreich Mercia herrscht. Wenn ich richtig verstanden habe, liegt das südlich von Dál Riada. Die Reisenden sagten, er wolle seine Landesgrenzen ausdehnen, nicht nur innerhalb der angelsächsischen Königreiche, sondern auch über sie hinaus. Bei einem Einfall in Gwynedd hätte man die große Abtei der Britannier niedergebrannt, berichteten sie. Viele Mönche sollen umgekommen sein.«
Was sie zu hören bekam, stimmte Fidelma traurig. »Anscheinend müssen die Angelsachsen sich immer bekriegen; wenn sie sich nicht mit den Nachbarn streiten, dann eben untereinander.« Den Satz aussprechen und an Eadulf denken war eins; schuldbewusst errötete sie. Und doch hatte sie recht, fand sie.
»Ach ja, dann haben sie noch gesagt, der Abt von Iona wäre gestorben.«
|39|»Cumméne der Gerechte?«, fragte sie erschrocken.
»Eben den Namen nannten sie, Lady. Du weißt aber auch alles«, fügte er bewundernd hinzu.
Sie tat die Bemerkung mit einem Achselzucken ab.
»Ich bin dem alten Abt begegnet, als ich damals durch das Land reiste.« Cumméne war ein anerkannter Gelehrter, der siebente Abt seit der Gründung des Klosters durch Colmcille, der eine Schrift über das Leben und Wirken des heiligen Gründers geschrieben hatte. »Ist er eines natürlichen Todes gestorben?«
»So sagten sie jedenfalls. Er soll hochbetagt und nicht bei bester Gesundheit gewesen sein.«
»Haben sie ein Wort darüber fallen lassen, wer sein Nachfolger ist?«
»Failbe von den Cenél Conaill.«
Offensichtlich folgte Iona den Gepflogenheiten vieler irischer Klöster, wonach die Leitung der Abtei innerhalb der Familie weitergegeben wurde und die Wahl durch die derbfine erfolgte, einen Rat aus Vertretern dreier Generationen der Familie des ersten Abts. Failbe, den sie damals auch getroffen hatte, war ein Neffe eines anderen ehemaligen Abts, Ségene, und der war ein Vetter von Colmcille, dem Begründer der Abtei.
»Failbe wird mit vielem zu ringen haben«, dachte sie laut. »Cumméne zu ersetzen wird schwer, er war ein großer Denker und weiser Gelehrter.«
Sie plauderten noch eine Weile, dann stand Fidelma auf und erklärte, man müsse nun weiter nach Cashel.
Caol ging und holte die Pferde aus dem Stall, während Fidelma den beiden Wirtsleuten noch einmal versicherte, dass es keinen Grund gäbe, sich für den Tod des Fremden in ihrem Haus verantwortlich zu fühlen. Bald darauf waren sie auf der |40|Straße, die aus Ráth na Drinne hinausführte und strebten dann weiter auf einem Weg, der sich durch den Wald schlängelte, der Felsenburg ihres Bruders entgegen.