KAPITEL 5

Wer Cenn Faelad sah, wusste sofort, dass er den Bruder von Sechnussach, dem verstorbenen Hochkönig, vor sich hatte. Er war ein, zwei Jahre jünger, aber man hätte sie für Zwillinge halten können. Er war von der gleichen Statur, über sechs Fuß groß, mit rabenschwarzem Haar und Augen, grau wie ruhelose Winterwasser. Ein gut aussehender Mann; jedem Mädchen, dem er ein Lächeln schenkte, würde er den Kopf verdrehen. Abgesehen von dem gefälligen Äußeren verfügte er über einen scharfen Verstand, wie Fidelma gehört hatte, sprach mehrere Sprachen, war in den Künsten bewandert und kannte sich im Rechtswesen aus.

|88|Als Abt Colmán später am Abend Fidelma und Eadulf zum künftigen Hochkönig geleitete, erhob der sich und kam ihnen ein paar Schritte entgegen, um sie mit ausgestreckten Händen zu begrüßen. Seine Gesichtszüge waren beherrscht, doch schien die Stirn gramzerfurcht. Außer ihm befand sich im Raum noch eine weitere Person, und das war der Oberste Richter der fünf Königreiche, Brehon Barrán. Fidelma und Eadulf kannten ihn seit Jahren. Auch er begrüßte sie ohne jedes Zeremoniell. Trotz seines Alters und ergrauten Haares war er immer noch eine stattliche Erscheinung und strahlte eine ruhige Würde aus. Von der Dienerschaft war keiner mehr im Haus, man hatte sie für den Abend aller Pflichten entbunden. Cenn Faelad bat die Gäste, Platz zu nehmen, und schenkte die Getränke mit eigener Hand ein.

»Ich hielt es für angebracht, dass wir uns zunächst unter uns verständigen«, erklärte der junge Thronanwärter. »Im Raum nebenan hat Abt Colmán ein Mahl anrichten lassen, doch sollten wir zunächst ein paar Worte über den Anlass, der euch hergeführt hat, verlieren. Wir sollten das ganz zwanglos und ohne standesgemäße Rücksichtnahmen tun.«

Fidelma neigte den Kopf und bekundete so ihr Einverständnis, während sich Eadulf mit ernstem Gesicht jeder Meinungsäußerung enthielt.

Cenn Faelad setzte sich, und als alle einen ersten Schluck genommen hatten, wandte er sich seinem Obersten Richter zu.

»Ich würde dich bitten, die Situation darzulegen, Barrán.«

Der alte Mann räusperte sich, ehe er nüchtern darlegte: »Die Sachlage ist eindeutig und, wie ich vermute, von dem Boten, den wir nach Cashel gesandt haben, übermittelt worden. Der Hochkönig Sechnussach war allein in seinem Gemach und wurde, in seinem Bett liegend, ermordet. Die Tat wurde begangen |89|von dem Stammesfürsten der Cinél Cairpre, einem entfernten Verwandten und Abkömmling des Niall von den Neun Geiseln, das heißt einem Mitglied der Uí Néill, Sechnussachs eigener Familie. Kannst du mir folgen?«

Die Frage war mehr an Eadulf als an Fidelma gerichtet.

Er bestätigte mit einem Kopfnicken.

»Ich gehöre gleichfalls ebender Sippe an«, erläuterte Barrán. »Daraus erklärt sich, und um mögliche Komplikationen zu vermeiden, dass der Große Rat zu der Auffassung gelangt ist, dass es unangebracht wäre, wenn ich die Untersuchung in die Hand nähme, und das gilt für jeden anderen Uí Néill. Gerechtigkeit muss nicht nur geübt werden, man muss auch nachvollziehen können, dass es an dem ist …«

»Fiat justitia, ruat caelum«, murmelte Eadulf. »Gerechtigkeit muss sein und sollte der Himmel darüber einstürzen«.

Cenn Faelad lächelte zustimmend. »Abt Colmán brachte Fidelma ins Gespräch und erinnerte den Großen Rat an die Verdienste, die sie sich in der Vergangenheit um Tara erworben hatte«, nahm er das Wort. »Er schlug vor, man solle sie, eine Eóghanacht, herbitten als eine Person, die nichts mit möglichen strittigen Fragen der Uí Néill zu tun hat. Und damit liegt es bei dir, Fidelma von Cashel, der Frage nachzugehen, weshalb Dubh Duin meinen Bruder getötet hat und ob es noch andere an dem Mord Beteiligte gibt. Erst wenn die Schreckenstat vollends aufgeklärt ist, können wir seinen Tod betrauern und uns der Vorbereitung meiner Thronfolge zuwenden.«

Nachdenklich sah Fidelma ihn an. »Gewährt man mir freie Hand?«

»Selbstverständlich.«

»Gibt es keinerlei Einschränkung in Bezug auf Eadulfs Mitwirken?«

|90|»Wir betrachten Eadulf als einen der Unseren«, versicherte Brehon Barrán. »Euer beider Namen sind untrennbar miteinander verbunden. Cenn Faelad und ich werden uns aus dem Fall völlig heraushalten, lediglich als Zeugen auftreten. In allen Fragen, die mit Tara zu tun haben, wird euch Abt Colmán mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

»Sehr gut«, meinte Fidelma. »Alle, die als Zeugen in Frage kommen, hat man doch wohl in Tara festgehalten?« Und als Brehon Barrán nickte, fügte sie hinzu: »Wir möchten dann auch das Gemach sehen, in dem der Mord geschah.«

»Wann immer ihr es wünscht.« Es war das erste Mal während ihrer Zusammenkunft mit Cenn Faelad, dass Abt Colmán etwas sagte.

»Zuvor möchte ich aber euch allen ein paar Fragen stellen.«

»Fragen? Jetzt schon?«, wehrte sich der Oberste Richter stirnrunzelnd. »Ich dachte, wir hatten uns auf eine rein persönliche Unterhaltung hier verständigt?«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, sagte Cenn Faelad ohne zu zögern. »Je schneller wir mit der Sache anfangen, desto schneller ist sie erledigt. Um welche Fragen geht es, Fidelma?«

»Wo war ein jeder von euch in der Nacht, in der Sechnussach zu Tode kam?«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

Cenn Faelad antwortete als Erster. »Ich war nicht in Tara, sondern hielt mich am Berg Uisnech auf.«

Die Auskunft ließ Eadulf aufhorchen – schon wieder Uisnech, der heilige Berg.

Unter den gegenwärtigen Wetterbedingungen würde man von Tara bis dahin bei gemächlichem Ritt zwei Tage brauchen, sagte sich Fidelma, ein guter Reiter wie Cenn Faelad allerdings würde die Strecke mit einem schnellen Pferd in einem Tag bewältigen. |91|Fast schämte sie sich, dass ihr ohne die geringste Handhabe Verdachtsmomente durch den Kopf gingen.

»Wann hast du zum ersten Mal vom Tod deines Bruders erfahren?«

»Als ein Bote von Abt Colmán mit der Nachricht in Uisnech eintraf.«

Sie wandte sich an den Abt.

»Das heißt, du warst in jener Nacht in Tara?«

Der Abt bejahte mit einer Geste ihre Frage und führte dann weiter aus: »Ich war hier in meinen Räumlichkeiten. Ein Diener weckte mich mit der Mitteilung, etwas Schlimmes sei geschehen.«

»Um welche Zeit war das?«

»Noch vor Tagesanbruch. Bis ich mich angekleidet hatte, war es bereits hell. Ich eilte hinüber zu den königlichen Gemächern und betrat das Schlafgemach des Hochkönigs. Irél, der Befehlshaber der Garde, kam bereits seinen Pflichten nach. Er war es auch, der nach mir in meiner Eigenschaft als Verwalter geschickt hatte.«

Fidelma blickte zum Obersten Richter.

»Ich entnehme daraus, dass du nicht in Tara warst, Barrán? Andernfalls hätte man dich zuerst geholt.«

Er lächelte schwach. »Du gehst in deiner Annahme richtig. Ich war unterwegs nach Emain Macha.«

»Darf ich erfahren, was dich in die Hauptstadt des Königs von Ulaidh führte?«

»Es hat nichts mit der Sache zu tun, die uns hier beschäftigt, ist aber auch kein Geheimnis. Im Zusammenhang mit einem Gebietsstreit zwischen den Dál Riada und Emain Macha hatte man mich um meinen Rat gebeten. Bis Emain Macha bin ich aber gar nicht gekommen, denn schon zuvor holte mich ein Bote ein und forderte mich auf, sofort nach Tara zurückzukehren. |92|Da erfuhr ich dann, dass Sechnussach ermordet worden war.«

Ihre nächste Frage galt erneut Abt Colmán.

»In Abwesenheit des gesetzlichen Erben und des Obersten Richters lag die Verantwortung für Tara also in deiner Hand, Abt Colmán?«

»Ja. Dir ist ja bekannt, dass ich nicht nur der geistliche Berater für den Großen Rat bin, sondern auch das Amt des Verwalters, des rechtaire für den Hochkönig, bekleide.«

»Und wie im Einzelnen bist du in Wahrnehmung deiner Verantwortung vorgegangen?«

»Wir haben den Leibarzt des Hochkönigs kommen lassen, aber das war mehr eine Formsache, jedermann sah, dass Sechnussach tot war. Man hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt, das Blut muss wie eine Fontäne herausgespritzt sein. Dann habe ich, glaube ich, eine Durchsuchung der anliegenden Räume veranlasst, um sicherzugehen, dass der Mörder im Alleingang gehandelt hat. Schließlich habe ich die Identität des Täters festgestellt, der unmittelbar nach seiner schändlichen Tat Selbstmord begangen hatte.«

»Du hast seine Identität feststellen können? Du kanntest ihn?«

»Irél hatte mir gesagt, um wen es sich handelte. Er hatte ihn erkannt. Dubh Duin war Mitglied des Großen Rates und in Tara bekannt. Auch ich hatte ihn mehrfach im Rat gesehen.«

»Und dann?«

»Ich befahl Irél, Boten zu entsenden, um Cenn Faelad und Brehon Barrán zu benachrichtigen.«

»Niemand hat bisher die Frau des Hochkönigs und seine Töchter erwähnt«, warf Eadulf unerwartet ein. »Waren sie nicht hier?«

»Sie waren nicht zugegen, und ich hielt es für wichtiger, zunächst |93|den Thronerben und den Obersten Richter ins Bild zu setzen«, verteidigte sich der Abt.

»Gut. Was geschah weiter?«

»Ich habe dann einen Schreiber rufen lassen, um eine Erklärung zu notieren, die, wie ich fand, in der Bibliothek zur Einsicht ausgelegt werden sollte. Ich verlangte Aussagen von den Wächtern …«

»Richtig. Über die Wächter würde ich gern Näheres wissen. Waren die Gemächer des Hochkönigs in jener Nacht nicht bewacht?«, fragte Fidelma.

»Der Täter hat die beiden Wächter umgangen. Lugna und Cuan. Sie waren zu dem Zeitpunkt in der Küche, wo sie ein verdächtiges Geräusch vernommen hatten. Schreie aus des Königs Zimmer schreckten sie auf. Sie rannten die Treppe hinauf und kamen gerade dazu, als der Mörder sich den Dolch in den eigenen Leib rammte.«

»Aufgeschreckt von Schreien? Von Schreien des Hochkönigs?«, fragte Fidelma.

Abt Colmán verstand ihre Zweifel nicht. »Wer sonst hätte unter den Umständen schreien sollen?«

»Konnten die Wachtposten erklären, wie der Mörder es geschafft hat, in den inneren Burghof einzudringen, darüber hinaus ins Haus des Hochkönigs und in der Dunkelheit bis in sein Schlafgemach zu gelangen? War das Gebäude von innen nicht abgeschlossen?«

Abt Colmán fühlte sich unbehaglich. »Mitten in Tara, im innersten Palastbereich, hat man es nie für nötig gehalten, die Türen zu verriegeln, weil stets zwei Wachtposten davorstehen.«

»Und die Tür zu des Hochkönigs Schlafgemach, war die nicht wenigstens verschlossen?«

Abt Colmán langte in seinen Lederbeutel, beförderte einen |94|bronzenen Schlüssel zutage und hielt ihn ihr hin. »Wir fürchten, der Mörder hatte einen Schlüssel zur Tür.«

Sie nahm ihn und hielt ihn hoch. Es war ein sauber gefertigter Schlüssel mit einem Muster.

»Wo hat man ihn gefunden?«

»Im Lederbeutel des Täters.«

Cenn Faelad wirkte peinlich berührt. »Bevor du weitere Fragen stellst, Fidelma«, sagte er leise, »der Schlüssel gehört wahrscheinlich mir. Ich erkenne ihn an den Markierungen.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Du hast einen Schlüssel zum Schlafgemach des Hochkönigs? Wann hast du gemerkt, dass er dir fehlt?«

»Als Thronfolger habe ich zu allen königlichen Räumlichkeiten einen zweiten Schlüssel. Was aber deine zweite Frage angeht – überhaupt nicht, will sagen, er fehlt nicht«, erklärte er mit hilfloser Handbewegung.

»Das verstehe ich nicht.«

Cenn Faelad holte einen anderen Schlüssel hervor und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn und betrachtete ihn eingehend. Dann hielt sie beide Schlüssel dicht aneinander, verglich sie sorgfältig, und ein Licht ging ihr auf.

»Sie sind in der gleichen Form gegossen und beim Abfeilen mit den gleichen Markierungen versehen worden. Das ist ungewöhnlich, aber einfach zu erklären. Jemand muss den Schlüssel des Eindringlings von deinem kopiert haben.«

Cenn Faelad nickte zustimmend. »Anders kann es nicht sein. Ein Schmied hat dafür Sorge getragen, dass beide Schlüssel die gleichen Markierungen aufweisen. Im Allgemeinen werden die Schlüssel zu wichtigen Gebäuden mit unterschiedlichen Markierungen versehen, sodass immer sofort zu erkennen ist, wem sie gehören. In diesem Fall aber hat der Schmied sie so gemacht, dass beide Schlüssel wie meiner aussehen.«

|95|»Wie lange hast du deinen Schlüssel schon, Cenn Faelad?«

»Seit meiner Wahl zum tánaiste – seit fünf Jahren also, niemand anders hat ihn seitdem gehabt. Aber schau mal hier, der Kratzer da …«

»Du meinst die Kerbe im Material?«

»Zu der ist es erst vor drei Wochen gekommen. Und trotzdem ist sie auch an dem anderen Schlüssel.«

Fidelma presste die Lippen zusammen. »Worauf ist die Kerbe zurückzuführen?«

»Ich hatte mit dem Kammerherrn eine Inspektion aller Schlösser vorgenommen, weil er gemeint hatte, man müsste einige austauschen. Dabei mussten wir die Schlüssel des Königshauses überprüfen. Am Ende der Durchsicht war ich spät dran für eine Schwertübung mit Irél, dem Befehlshaber der Schutzgarde, und so nahm ich die Schlüssel mit. Zusammen mit meinem Gürtel und Geldbeutel legte ich sie ab. Ich hatte ein neues Schwert und war mir seiner Schwungkraft nicht sicher. Ich holte also zu einem Probehieb aus und landete auf dem Schlüssel, die Klinge beschädigte die Bronze, verursachte die Kerbe, und der Aufprall hinterließ in der Klinge eine Delle.«

»Und das war erst vor drei Wochen? Hast du inzwischen den Schlüssel irgendjemand anderem gegeben? Hast du ihn irgendwann vermisst?«

Der junge Thronanwärter schüttelte den Kopf.

»Das ist ja eben das Rätselhafte an der Sache. Ich habe ihn zu keiner Zeit vermisst. Um ehrlich zu sein, wenn es keinen besondern Grund gibt, komme ich gar nicht auf die Idee, die Schlüssel im Einzelnen zu überprüfen. Sie liegen immer in einer Schatulle in meinem Zimmer im Haupthaus, und wenn ich es verlasse, wird es stets verschlossen.«

»Die Schatulle, ist die auch verschlossen?«

|96|»Das habe ich nie für nötig gehalten.«

»Hatten andere Personen Zugang zu deinem Zimmer?«

»Der Kammerherr, Bruder Rogallach; er ist derjenige, der den einzigen Zweitschlüssel hat.«

»Du hältst dich aber selbst die meiste Zeit dort auf?«

»Ich habe meine eigene Residenz außerhalb von Tara und bin überwiegend dort.«

Fidelma seufzte leise. »Wir werden später darauf zurückkommen müssen. Doch soviel ergibt sich schon jetzt: Unser Täter war augenscheinlich in der Lage, sich Zugang zum Schlafgemach des Hochkönigs zu verschaffen, weil er einen passenden Schlüssel hatte, einen Schlüssel, der erst in den letzten Wochen deinem nachgebildet wurde. Weiterhin konnte er ungehindert das Haupttor passieren, woraufhin er durch das wohl bestbefestigte Burggelände von ganz Éireann gehen und zielgerichtet zum Haus des Hochkönigs gelangen konnte, ohne gesehen zu werden.«

Sie traf die Feststellung nicht ohne Sarkasmus, und Brehon Barrán erklärte beschämt: »Offensichtlich hat ihn ein Wächter am Haupttor eingelassen, ohne ihn ordentlich nach seinem Woher und Wohin zu fragen. Wir haben dafür Sorge getragen, dass der Mann bis zu deiner Befragung seiner Person nicht das Gelände verlässt. Möglicherweise hat er in geheimer Absprache mit dem Mörder gehandelt.«

»Wie ist sein Name?« Die Frage kam von Eadulf.

»Erc der Sommersprossige.«

»Du hast gesagt, der Hochkönig war allein in seinem Schlafzimmer, als er ermordet wurde. Ist das eine gesicherte Aussage?«, wollte Eadulf weiterhin wissen.

»Selbstverständlich«, erwiderte Brehon Barrán und legte die Stirn in Falten. »Du willst doch nicht unterstellen, dass …«

»Was Eadulf meinte, ist, dass wir noch nicht ein Wort darüber |97|gehört haben, wo Sechnussachs Frau, Lady Gormflaith, in jener Nacht war«, mischte sich Fidelma rasch ein. »Ich hatte den Eindruck, dass Abt Colmán durchblicken ließ, dass sie sich nicht in der königlichen Residenz aufhielt.«

»Lady Gormflaith war mit ihren Töchtern nach Cluain Ioraird gegangen, um die Nacht für die Seele ihrer Mutter betend zu verbringen«, erläuterte Cenn Faelad.

»Die Abtei von Cluain Ioraird liegt auf dem Wege nach Uisnech …«, begann Brehon Barrán, und der junge Mann fiel rasch ein: »Ich habe Gormflaith bis zur Abtei begleitet und bin weiter nach Uisnech geritten.«

»Und als du dann von Sechnussachs Tod hörtest, bist du vermutlich gleich zur Abtei zurückgekehrt, da sie ja auf deinem Weg hierher lag.«

»Ja, das war doch selbstverständlich. Es war meine Pflicht, Lady Gormflaith vom Tod ihres Mannes zu informieren. Wir hielten es dann für das Beste, dass sie dort bliebe, bis man mehr über den Mörder und dessen Beweggründe wüsste. Als sich aber herausstellte, dass für sie und ihre Töchter keine unmittelbare Gefahr bestand, kamen sie wieder hierher.«

»Wenn ich noch einmal zusammenfassen darf, so war keine weitere Person in Sechnussachs Schlafgemach, woraus sich ergibt, dass es sein Todesschrei war, der die anderen aufschreckte«, brachte Fidelma die bislang gemachten Erklärungen auf den Punkt. »Nur ist das ziemlich unwahrscheinlich. Wenn jemandem die Kehle aufgeschlitzt wird, bleibt ihm kaum die Möglichkeit, noch einen Laut von sich zu geben, geschweige denn zu schreien.«

»Willst du damit sagen, es muss jemand anders gewesen sein, der geschrien hat?«, fragte Abt Colmán verwirrt.

Fidelma beachtete seine Frage nicht. »Was weiß man über Dubh Duin? Über ihn als Person, über seine Familie? Er war |98|der Stammesfürst der Cinél Cairpre, soviel ist mir bekannt, aber was ist sonst noch über ihn zu sagen?«

»Wenig mehr, außer dass er Mitglied des Großen Rates war.«

»Darauf hatte er ein Recht als Stammesfürst der Cinél Cairpre«, kommentierte Brehon Barrán.

»Ist das der Stamm, der in der Ebene von Nuada angesiedelt ist?«, erkundigte sich Eadulf.

Milde lächelnd schüttelte Cenn Faelad den Kopf. »Nein, dort sind die Cairpre von Magh Nuada angesiedelt. Die Cinél Cairpre Gabra haben sich an den Ufern des Loch Gomhna, am See des Kalbes, niedergelassen. Das ist ein anderer Clan. Die Cinél Cairpre Gabra sind vorwiegend Jäger und Bauern, wenngleich Dubh Duin ein direkter Nachkomme meines Vorfahren Niall von den neun Geiseln ist. Er legte großen Wert auf seine Abstammung und brüstete sich damit, Ansprüche auf das Königstum eines Hochkönigs zu haben. Von seinen Vorvätern war Tuathal Maelgarb der letzte, der mit Erfolg Anspruch auf den Thron von Tara erhob, aber das ist auch schon vier oder fünf Generationen her. Dubh Duin war nicht verheiratet.«

»Wer ist jetzt an seiner statt der Anführer der Cinél Ciarpre Gabra?« wollte Fidelma wissen. »Wie ist dessen Name?«

»Ardgal«, erwiderte Brehon Barrán. »Ein Vetter von Dubh Duin.«

»Hat man sich mit Ardgal und den Cinél Cairpre in Verbindung gesetzt?«

»Die Umstände erforderten das«, entgegnete Cenn Faelad und legte im Einzelnen dar: »Die Ermordung eines Hochkönigs durch die Hand eines Stammesfürsten ist keine Kleinigkeit. Darüber kann man nicht einfach hinweggehen. Als Aonghus, der Träger des Schreckensspeers, den Hochkönig |99|Cormac mac Art blendete, wurden er und sein ganzer Stamm, die Déisi, ins Exil verbannt. Die Hälfte fand bei euch in Muman Asyl, und die anderen flohen über das Meer nach Britannien und ließen sich im Königreich Dyfed nieder.«

Fidelma war mit der Geschichte vertraut und wurde ungeduldig. »Ich deute deine Erläuterungen als Bestätigung, dass Ardgal unterrichtet wurde. Richtig?«

»Selbstverständlich. Wir haben Irél in Begleitung von Kriegern der Leibgarde des Hochkönigs zusammen mit Brehon Sedna zu den Cinél Cairpre gesandt. Ardgal, der tánaiste, wurde aufgefordert, acht führende Männer des Stammes, vor allen Dingen Mitglieder aus dem unmittelbaren Familienkreis Dubh Duins, auszuwählen und sie nach Tara zu entsenden, um als Geiseln für das ehrbare Verhalten des Stammes zu bürgen, solange die Untersuchung des Verbrechen ihres Stammesfürsten andauert.«

»Und ist das geschehen?«, fragte Eadulf skeptisch. In vielerlei Hinsicht war er als Angelsache immer noch nicht vertraut mit den für ihn befremdlichen Regeln der Gesetzgebung der Éireannach.

»Natürlich. Ardgal hat acht führende Männer seines Stammes als Geiseln geschickt. Sie sind bereits etliche Tage hier und sind am Geiselwall untergebracht.«

»Das genügt mir für heute. Morgen werde ich mit der Zeugenbefragung beginnen, soweit es Zeugen gibt«, verkündete Fidelma ungezwungen. »Und natürlich werde ich mir auch den Ort des Geschehens ansehen.«

»Abt Colmán wird dir in allen Fragen zur Seite stehen«, versicherte Cenn Faelad. »Er hat volle Handlungsfreiheit, wird dich überall, so wie du es wünschst, hingeleiten und wird auch dafür Sorge tragen, dass dir jeder Rede und Antwort steht.«

|100|»Wenn die Befragten erfahren, dass ich eine dálaigh im Range einer anruth bin, dürfte sich Letzteres erübrigen«, erwiderte sie spöttisch.

»Stimmt schon. Aber wir haben keine normalen Zeiten. Es herrscht viel Argwohn hier, besonders gegenüber Fremden.«

Nur kurz zögerte sie und erklärte dann: »Wir werden unser Bestes tun, die Vorgänge zu klären, auf dass wir so bald wie möglich zu normalen Zeiten zurückkehren.«

Cenn Faelad erhob sich, und alle anderen taten es ihm gleich.

»Unserem Geist haben wir genügend Nahrung gegeben, nun ist es an der Zeit, fürs leibliche Wohl zu sorgen.«

Abt Colmán öffnete eine Seitentür und betrat einen kleinen Raum, in dem ein gedeckter Tisch auf sie wartete.

»Meine Dienerschaft hat ein kaltes Mahl bereitet. Ich wusste nicht recht, wann wir so weit sein würden, und hielt es auch für besser, keinen der Bediensteten hierzubehalten; so konnte niemand mithören, worüber wir sprachen.«

Eadulf betrachtete den Tisch mit Wohlgefallen. Da lockten Platten mit kaltem Wildbret, andere mit aufgeschnittenem Rinderbraten. Er entdeckte eine Schüssel mit hart gekochten Gänseeiern und eine andere mit Weißkäse. Auch Hartkäse, der sogenannte tanag, stand auf dem Tisch und verschiedene Brotsorten. Es gab Salate aus Knoblauch, Kresse und Waldsauerklee, gemischt mit Schlehen als Würze, aber auch Obstsalat aus Haselnüssen, Äpfeln, Blaubeeren und Honig. Krüge mit Apfelwein, Holunder- und Apfelsaft, ja, sogar Rotwein von jenseits der See luden zum Trunk. Wahrlich, ein köstliches Mahl.

Während des Essens wurde der Anlass ihres Hierseins gemieden; in den Gesprächen ging es mehr um allgemeine Belange in den Königreichen, um die Ernte, um einen möglichen |101|neuerlichen Ausbruch der Gelben Pest, die mit verheerenden Folgen über das Land gegangen war.

Dann wurde es Zeit, dass sich Fidelma und Eadulf ins Gästehaus begaben. Cenn Faelad reichte ihnen zum Abschied die Hand.

»Möge Gott deine Arbeit begleiten, Fidelma. Wir erhoffen uns eine rasche Klärung der Dinge. Es ist nicht gut, wenn die fünf Königreiche ohne einen nach alter Tradition bestätigten Hochkönig sind. Bevor wir die Unterkönige zu meiner Amtseinführung einladen, gibt es noch eine Menge zu tun. Wir werden auch die Brehons von überall her zusammenrufen müssen, um einen neuen Obersten Richter ernennen zu lassen.«

Sein letzter Satz überraschte Fidelma, und sie sah ihn erstaunt an. Er erriet ihre stumme Frage.

»Barrán ist mein Vetter, wie wir vorhin gesagt haben, und ich habe ihn überzeugen können, fortan als mein tánaiste zu wirken. Auf einen wie ihn kann ich mich beim Regieren stützen. Wir brauchen also einen neuen Obersten Richter, der an seine Stelle tritt. Das erklärt die Dringlichkeit, mit den Dingen voranzukommen.«

»An mir soll es nicht liegen; ich werde tun, was in meinen Kräften steht«, erwiderte sie ernst. »Sowie es hell wird, also schon früh am Morgen, werden wir beginnen. Als Erstes werde ich einen Blick in Sechnussachs Gemächer werfen.«

»Viel wirst du da nicht sehen. Der Mord geschah vor zwei Wochen, und das meiste ist bereits aus den Räumen geschafft.«

»Trotzdem, ich will sehen, wo der Mord geschah, man kann sich die Vorgänge dann besser vorstellen.«

»Ich komme morgen nach eurem Frühstück ins Gästehaus und begleite dich dann dorthin«, versprach Abt Colmán. »Wie |102|Cenn Faelad schon betont hat, äußere deine Wünsche, und ich stehe dir zu Diensten.«

»Gut, bis nach dem Frühstück also«, sagte Fidelma abschließend.