KAPITEL 6

Noch vor der Morgendämmerung wachte Eadulf auf. Er hörte Fidelmas regelmäßiges Atmen, und das sagte ihm, dass sie fest schlief. Warum er aufgewacht war, konnte er sich zunächst nicht erklären. Dann aber hörte er aus der Küche Geräusche. Er blickte aus dem Fenster. Der Himmel verriet, dass es bald hell werden würde. Am liebsten hätte er sich noch einmal umgedreht und wäre gern in die Behaglichkeit seines Traumes zurückgekehrt, aber selbst wenn ihm das gelingen würde, schon wenige Minuten später würde man ihn unsanft aus dem Schlummer reißen. Seufzend entschied er sich, das Beste aus der Situation zu machen, und stand auf.

Wenn ohnehin schon jemand in der Küche war, konnte er sich auch waschen, ehe Fidelma und die anderen aufstanden. Er schlich sich zur Tür, öffnete sie leise, um Fidelma nicht zu stören, und trat hinaus in den Gang.

Draußen vernahm er verhaltenes Flüstern. Wer mochte da wie er bereits auf sein? Nach ein paar weiteren Schritten blieb er peinlich berührt stehen, denn er erkannte eine Frauenstimme. Wo hatte er sie schon mal gehört? Ach ja, das war das Mädchen mit dem merkwürdigen Namen gewesen – wie war der doch gleich? Cnucha?

Nicht die Stimme an sich, sondern die Worte, die fielen, ließen ihn die Küche nicht betreten.

»Sie ist eine …«. Das entscheidende Wort verstand er nicht, hatte aber das Gefühl, dass es nichts Schmeichelhaftes war. |103|»Ich sehe nicht ein, wieso ich ihre Arbeit machen soll.« Es klang halb vergrätzt, halb bockig.

»Weil im Moment kein anderer da ist, der sie machen kann, deshalb.«

Der gebieterische Ton, mit dem eine Frau antwortete, war ihm fremd.

»Sie drückt sich ständig um ihre Pflichten herum, die ganzen letzten Tage seit … seit … Na ja, du weißt schon.«

»Ich hab keine Zeit, mich mit dir zu streiten, Cnucha. Das Essen für die Gäste will bereitet werden, und das Wasser zum Waschen auch. Wenn Báine nicht hier ist, musst du eben ihre Aufgaben übernehmen.«

»Ich habe den Eindruck, Báine ist kaum noch hier, wenn man sie braucht. Wenn du mich fragst, ist sie fast ständig bei der Tochter des Hochkönigs.«

»Schließlich kann sie nichts dafür, dass Lady Muirgel einen Narren an ihr gefressen hat. Und du kümmere dich lieber um deinen eigenen Ärger mit Muirgel und Brehon Barrán, anstatt dich über andere zu beschweren.«

Das Mädchen schniefte verächtlich. »Es war nicht meine Schuld.«

»Sie haben dich erwischt, wie du am Tag nach dem Mord die Zimmer des Hochkönigs durchsucht hast. Musstest du das auch tun!«

»Ich war mit vollem Recht dort. Zu meinen Aufgaben gehörte, mich um die Zimmer zu kümmern und sie sauber zu machen.«

»Lady Muirgel war anderer Auffassung.«

»Deshalb hatte sie noch lange keinen Grund, mich zu schlagen. Verlor einfach die Beherrschung und verpasste mir eine Ohrfeige. Dann kam Barrán dazu, ergriff ihre Partei und erklärte, ich hätte dort nichts zu suchen.«

|104|»Damit hatte er recht. Sechnussach wurde ermordet. Man hätte seine Gemächer abschließen sollen.«

»So was hat Brehon Barrán auch gesagt, aber …« Sie murmelte etwas Unverständliches. Eadulf hörte nur die andere ärgerlich stöhnen.

»Ich möchte wissen, welcher Teufel dich geritten hat. Was hat dich in des Hochkönigs Gemächer getrieben? Das Saubermachen doch bestimmt nicht.«

»Wenn du es unbedingt wissen willst«, erwiderte Cnucha zögernd, »ich hab etwas gesucht, das ist alles. Es war nichts weiter. Muss es auch woanders verloren haben. Es war … was Persönliches. Ein Armband.«

»Nun ja, Schmuck kann von emotionalem Wert sein, ich weiß, aber …«

»Es war auch sonst wertvoll«, begehrte das Mädchen auf. »Es war ein Armband mit Silbermünzen aus Gallien. Ich muss es beim Saubermachen verloren haben. Es verlieren – nein, nimmer.«

»Wenn es in den letzten zehn oder auch mehr Tagen nicht wieder aufgetaucht ist, wirst du dich wohl mit seinem Verlust abfinden müssen. Es muss dir ja wirklich eine Menge bedeutet haben. Weiß gar nicht, wie eine wie du zu so was Wertvollem kommt.« Fast klang es wie ein Schuldzuweis.

»Es war ein Geschenk von … von einem Freund«, bekannte sie trotzig.

»Freund hin, Freund her, wohlhabend oder nicht, von der Arbeit entbindet dich das noch lange nicht, Cnucha. Und da Báine nicht da ist, machst du dich lieber gleich ans Werk.«

»Weshalb geht Báine nicht zu Muirgel als deren Kammerfrau, dann könnten wir für unsere Arbeit hier jemand anderes einstellen.«

»Lass erst mal diese Untersuchung vorüber sein, dann wird |105|alles ganz anders. Wenn Cenn Faelad Hochkönig ist, sucht er sich sowieso seine Dienerschaft zusammen, wie es ihm passt.«

Wieder ein fragwürdiges Durch-die-Nase-Schniefen.

»Wirst du dann deinen Posten behalten, Brónach? Wirst du weiter die Oberaufsicht hier haben?«

»Die Oberaufsicht hat Bruder Rogallach. Ich bin nur für die weibliche Dienerschaft verantwortlich.«

»Dass Cenn Faelad darauf aus ist, Bruder Rogallach weiterhin als Kammerherrn zu halten, bezweifle ich. Cenn Faelad ist ein richtiger Mann und nicht so offenkundig fromm wie Sechnussach es war.«

»So über den verstorbenen Hochkönig zu reden, ist keine Art«, tadelte die andere Stimme.

»Was ist daran schlecht? Ich vergleiche doch nur Sechnussach mit Cenn Faelad. Sechnussach hat sich mit frommen Brüdern umgeben und war selbst nicht mehr als …«

»Gib Acht, was du über Sechnussach sagst, mein Mädchen«, ereiferte sich Brónach. »Zumal jetzt, wo wir eine dálaigh im Gästehaus wohnen haben, die den Mord an ihm untersucht.«

»Noch so eine fromme Schwester mit ihrem angelsächsischen Liebhaber!«

»Hüte deine Zunge! Sie sind verheiratet und genießen Anerkennung. Außerdem ist sie die Schwester des Königs von Muman. Lass deine Worte nicht unbedacht über die Lippen gehen. Und nun an die Arbeit. Wenn ich Báine sehe, spreche ich mit ihr. Falls man ihr was Schlechtes nachsagen kann, dann nur, dass sie vergisst uns Bescheid zu geben, wenn sie andere Verpflichtungen hat.«

Eadulf hörte, wie eine Tür zuging, und schloss daraus, dass Brónach die Küche durch einen Seiteneingang verlassen hatte. Einen Moment wartete er noch, verfolgte dann endlich sein eigentliches Anliegen, nach Waschwasser Ausschau zu halten. |106|Cnucha war allein in der Küche und mit der Zubereitung von Backwerk aus Hafermehl für das Frühstück beschäftigt. Überrascht schaute sie bei seinem Eintreten auf.

»Ich dachte nicht, dass du schon auf bist, Bruder.« Schuldbewusst errötete sie.

Er täuschte ein herzhaftes Gähnen vor. »Ich bin eben erst aufgestanden und wollte mich nach Waschwasser umsehen. Ist schon jemand anders hier gewesen? Mich dünkte, ich hätte eine Stimme gehört.«

»Ach, das war nur Brónach. Sie ist für uns und unsere Arbeit verantwortlich.«

»Ach ja? Mit ihr haben wir, glaube ich, noch nichts zu tun gehabt.«

Cnucha zuckte nur mit den Schultern und bearbeitete weiterhin ihren Teig. Sie wies mit dem Kopf zum Waschraum. »Das Wasser zum Waschen wird gerade warm gemacht.«

»Danke.«

Sie klang abweisend. Die Gelegenheit, eine Unterhaltung anzubahnen, war verpasst. Er trug es mit Fassung.

 

Wie versprochen holte sie Abt Colmán nach dem Frühstück ab, um sie zur Tech Cormaic, der königlichen Residenz, zu geleiten. Es war ein großes, rechteckiges Gebäude mit zwei Stockwerken. Mehrere Nebengelasse innerhalb des Schutzwalls gehörten dazu; sie lagen in gebührendem Abstand von der Verteidigungsanlage, die die Wohngebäude der Adligen umgab. Für das Haus des Hochkönigs hatte man beim Bau verschiedene Hölzer verwendet, hauptsächlich aber Eiche und Eibe. Jetzt in der Morgensonne leuchteten die slinntech darach, die einander überlappenden Bretter polierter Eiche, die das Dach bildeten. Der Abt führte sie zu den schweren Doppeltüren aus massiver Eiche. Ein Wachtposten mit gezogenem |107|Schwert, die Klinge lässig an die Schulter gelehnt, salutierte Abt Colmán und trat zur Seite.

»Man möchte meinen, der Täter ist in der Dunkelheit der Nacht auf diesem Wege in das Haus eingedrungen«, erklärte der Abt und öffnete die Tür.

»Und diese Türen sind nie verschlossen oder verriegelt?«, fragte Eadulf und wollte noch einmal bestätigt bekommen, was man ihnen schon am Abend zuvor erzählt hatte.

Der Abt wies auf den die Festung umgebenden Wall. »Um bis hier vorzudringen, muss man eine Reihe bewachter Tore und das Haupttor der Burg passieren, das stets verriegelt und im Inneren bewacht ist.«

»Trotzdem ist der Täter bis hier vorgedrungen«, stellte Eadulf fest.

Abt Colmán errötete, antwortete aber nicht.

Auch Fidelma unterließ jede Bemerkung. Gemeinsam betraten sie den spärlich beleuchteten Vorsaal. Es gab nur ein Fenster, das einen Lichteinfall gestattete, und das war über der Tür. Man nannte es forless. Das undurchsichtige dicke Glas ließ nur wenig Licht durch. Hauptlichtquelle waren Öllampen, die einen stechenden Geruch verbreiteten.

Wie so oft schürzte Eadulf nachdenklich die Lippen.

»Für den Mörder war es ein glücklicher Zufall, dass die Wächter wider Erwarten nicht auf ihrem Posten hier waren. Sie hatten ein verdächtiges Geräusch in der Küche vernommen und waren dem nachgegangen, war es nicht so?«

Der Abt nickte, und Eadulf zog leicht die Augenbrauen hoch.

»Könnte sein, der Mörder hatte nicht nur das Glück auf seiner Seite«, murmelte er.

»Wir werden die Wachtposten zu gegebener Zeit befragen«, lenkte Fidelma rasch ab, schmunzelte ihm aber vielsagend zu, |108|weil er mit seiner Bemerkung den wunden Punkt getroffen hatte. »In der Tat muss der Mann außergewöhnliches Glück gehabt haben. Gibt es von hier aus einen Zugang zum Küchenbereich?«

»Die Küche befindet sich hinten am Haus und ist ein separates Gebäude. Da hinten gibt es auch eine Tür, und die fertigen Gerichte werden von dort zum Hochkönig gebracht. Nachts ist sie im Allgemeinen verschlossen. Den Schlüssel hat der Befehlshaber der Leibgarde.« Abt Colmán zögerte, zeigte dann aber zur Treppe. »Der Mörder wird die Stufen hier hochgegangen sein.«

»Liegen alle Schlafzimmer oben?«, fragte Eadulf.

»Nicht alle, aber die Gemächer des Hochkönigs und auch die Zimmer für seine Familie und seine Leibdienerschaft. Hier unten hat der Befehlshaber der Fianna, der Leibgarde des Königs, sein Zimmer. Und für den Fall, dass sich Cenn Faelad im Königshaus aufhält, ist auch sein Gemach hier unten. Zu ebener Erde gibt es noch Kammern für einige Bedienstete. Außerdem befindet sich hier unten ein Privatgemach, das der Hochkönig für Zusammenkünfte mit seinen Ratgebern und auch als Bibliothek nutzt, sowie ein kleiner Raum zum Einnehmen von Mahlzeiten, sofern es sich nicht um Festgelage handelt. Sonst sind hier nur noch Vorratskammern und Schlafkammern für die Mägde.«

Aufmerksam hatte Fidelma die Zuordnung der Räumlichkeiten verfolgt, wie sie der Abt ihnen darlegte. »Gut. Dann wollen wir nachvollziehen, welchen Weg der Mörder genommen hat – durch den Haupteingang hier, weiter durch die Vorhalle, in der sich zu seinem Glück keine Wachtposten aufhielten, und die Treppe hinauf. Gehen wir.«

Der Abt stieg auf den bequemen Holzstufen voran und blieb auf dem Treppenabsatz stehen.

|109|»Links liegt das Gemach des Hochkönigs, hinter der Tür dort. Die nächste Tür führt in die Räumlichkeiten der Familienangehörigen, falls sie sich hier aufhalten. Dass sie gegenwärtig nicht hier, sondern woanders auf der Burg untergebracht sind, bedarf keiner besondern Erklärung.«

»Und was ist mit den anderen Türen dort?«, fragte Fidelma und zeigte in den Gang, der rechts vom Treppenabsatz abging.

»Die hintere Tür ist die Kammer von Bruder Rogallach, dem bollscari des Hochkönigs.«

»Bollscari? Worin genau besteht der Unterschied zwischen dem Kammerherrn und dir als Oberkämmerer?«

»Ich erledige die Verwaltungsangelegenheiten für den Hochkönig, während der Kammerherr die Verantwortung für die Dienerschaft im Hause trägt.«

»Und wer im Einzelnen gehört zur Dienerschaft?«

»Seine Leibdiener. Drei Frauen und drei Männer. Ich glaube, zwei der Mädchen seid ihr schon begegnet, denn sie tun zur Zeit Dienst im Gästehaus.«

»Worin bestehen normalerweise ihre Aufgaben?«

»Sie sind für das Saubermachen hier verantwortlich, einer ist der Koch, und so weiter.«

»Das heißt, nur die Dienerschaft und der Befehlshaber der Fianna waren in besagter Nacht hier?«

Der Abt zögerte mit der Antwort. »Hier im Hause … ja.«

»Dir liegt noch etwas anderes auf der Zunge?«

»Nichts von Bedeutung, aber vielleicht sollte ich es doch besser erläutern. Du weißt wahrscheinlich, dass Sechnussach und Gormflaith drei Töchter hatten. Die beiden jüngeren sind Mumain und Bé Bhail. Sie waren in jener Nacht zusammen mit ihrer Mutter in Cluain Ioraird. Dass die älteste Tochter Muirgel aber in Tara war, haben wir bisher nicht erwähnt.«

|110|»Wenn man von mir ein gerechtes Urteil erwartet, darf man mir keine Fakten vorenthalten«, sagte Fidelma in scharfem Ton. »Du bist dir also sicher, dass Muirgel in jener Nacht in Tara war?«

»Ich glaube, ja.«

»Was heißt hier, du glaubst?«

»Muirgel ist eine eigenwillige Frau. Sie wohnt nie im Tech Cormaic, aber man sagte mir morgens, eine der Dienerinnen wäre zu ihrem Haus gegangen, und sie wäre dort gewesen. Gormflaith und ihre Töchter haben eine separate Wohnung auf der anderen Seite der Königsburg.«

»Mit Muirgel sprechen wir später«, entschied Fidelma ungehalten. »Du sagst, dass sich Gormflaith und ihre Töchter im Moment nicht in der königlichen Residenz aufhalten, demnach sind ihre Zimmer gegenwärtig unbewohnt.«

»Genau so ist es.«

»Von Bruder Rogallach haben wir gesprochen. Kannst du die Namen der anderen Bediensteten nennen, die noch hier waren?«

»Selbstverständlich. Das wäre zunächst Torpach, der Leibkoch des Hochkönigs. Dann Maoláin, der ihm zur Hand geht, und Duirnín, die Hilfskraft in der Küche. Des Weiteren waren die drei weiblichen Bediensteten da, von denen Brónach die Oberaufsicht führt. Mit Báine habt ihr bereits zu tun gehabt, und Cnucha ist die Magd für alles. Wenn der Hochkönig private oder besondere Gäste hat, tun die drei auch im Gästehaus Dienst. Wir haben nur die Bediensteten hier behalten, die zum Zeitpunkt des Mordes anwesend waren, denn normalerweise ist viel mehr Dienerschaft auf dem Burggelände tätig. Natürlich sind alle durch die entstandene Unruhe in jener Nacht aufgeschreckt worden, aber niemand hat etwas gesehen, was uns weiterhelfen könnte.«

|111|Fidelma versuchte, sich die Namen einzuprägen. »Die Bediensteten, die du nanntest, wo genau liegen deren Zimmer?«

»Die der ranghöheren Angestellten hier auf dieser Ebene, auf dem Gang dort. Die Kammern der anderen befinden sich unten zu ebener Erde.«

»Gut. Dann wollen wir uns als Erstes die Räume des Hochkönigs näher ansehen.«

Der Abt bewegte sich auf die erste Tür links zu, auf die er bereits hingewiesen hatte.

»Wie schon ausführlicher besprochen, war diese Tür im Allgemeinen von innen verschlossen, wenn sich der Hochkönig zur Ruhe legte. Es gab dazu nur zwei Schlüssel – einen hatte der Hochkönig und den anderen Cenn Faelad.«

Er öffnete die Tür und ließ sie ein.

Wie man vom Gemach eines Hochkönigs erwarten mochte, handelte es sich um ein geräumiges Zimmer. Es hatte zwei ziemlich große seinester, Fenster aus undurchsichtigem Glas, von denen das eine sich unmittelbar hinter der breiten Liegestatt befand. Die Wände waren aus rotem Eibenholz. Ein großes prunkvolles Kreuz im keltischen Stil schmückte die dem Bett gegenüberliegende Wand. Aus welchem Holz es geschnitzt war, konnte Fidelma nicht mit Sicherheit sagen. Bis auf das Bett war das übrige Mobiliar verhältnismäßig einfach – eine Polsterbank an einer Wand, ein Tisch am Bett und ein paar Truhen unterschiedlicher Art. Die Liegestatt war ohne jedwedes Bettzeug.

Der Abt verfolgte Fidelmas prüfenden Blick und erklärte eilfertig: »Man hat den Überwurf und die Matratze abgenommen und fortgeschafft. Das gleiche gilt für das Kissen und die Decken. Im Grunde genommen haben wir alle persönlichen Dinge von Sechnussach wegräumen lassen.«

Fidelma erwiderte darauf nichts, sah nur aufmerksam von |112|der Tür zum Bett. Der Mörder hatte nach Betreten des Raumes nur einige wenige Schritte machen müssen. Jetzt galt ihre Aufmerksamkeit dem hinteren Ende des Zimmers. Dort an der Wand gab es zwei weitere Türen.

»Wohin führen die?«

»Die eine in die Kammer, die als fialtech, als Badestube und Umkleideraum benutzt wird, wo der Hochkönig gewöhnlich sein Bad nahm. Von da geht eine andere Tür nach draußen und zur Treppe. Wasser wird im Untergeschoss erhitzt und über die Stiege dort nach oben in den Badezuber gebracht. Die Tür war von innen verriegelt. In dem kleinen Raum daneben, dem erdam, hatte der Hochkönig seine Kleider und Waffen. Es gibt dort ein Fenster, aber keinen anderen Zugang als den von dem Gemach aus hier. Ins Schlafgemach gelangt man nur durch die Tür, die wir benutzt haben, oder durch die Tür von der Badestube aus. Irél hatte alle Zimmer und deren Verriegelungen überprüft. Falls der Mörder einen Mittäter hatte, hätte der durch die Außentür weder herein noch hinaus gekonnt. Die Verriegelungen waren unversehrt.«

»Ich möchte mir die Nebenkammern etwas näher ansehen«, erklärte Fidelma und strebte an der Bettstatt aus dunklem Holz vorbei zur ersten Tür. Der kleine Raum, der sich dahinter verbarg, erhielt sein Licht durch ein Fenster aus blickdichtem Glas. Sein unteres Ende war in Brusthöhe, und es konnte von innen geöffnet werden. Prüfend nahm sie den Rahmen in Augenschein, sodass Abt Colmán sich zu einer Erklärung bemüßigt fühlte.

»Es war zum Öffnen von innen gedacht, damit der Wasserdampf vom Bad leichter entweichen konnte, auch wollte man lüften können nach den unangenehmen Düften von …«

Peinlich berührt brachte er den Satz nicht zu Ende, sondern wies nur auf die abgedeckten Behälter in der Ecke.

|113|Fidelma unterzog die Verschlussmechanismen an der Tür einer eingehenden Prüfung. Es waren zwei stabile Riegel und ein Schloss.

»Du sagst, Irél, der Befehlshaber der Leibgarde, hatte sich davon überzeugt, dass die Riegel in der Mordnacht vorgeschoben waren?«

»Gleich nachdem der Mord entdeckt worden war, hatte Irél alles durchsucht und überprüft, um einem möglichen Mittäter auf die Spur zu kommen. Die Riegel waren unverrückt, auf diesem Wege hier hätte keiner entkommen oder sich sonst wo verstecken können.«

»Gleichermaßen war auch das Fenster sicher verschlossen?«

»Ja. Selbst wenn es offen gewesen wäre, hätte sich ein Mensch nur schwer hindurchzwängen können, abgesehen davon, dass der Sprung in die Tiefe beachtlich gewesen wäre.«

Sie nickte, ohne merklichen Anteil an dem Gesagten zu nehmen, ging ins Schlafgemach zurück und dann in den zweiten kleinen Raum. Die Nebenkammer hatte tatsächlich keine weitere Tür, die nach draußen hätte führen können, allerdings ebenfalls ein Fenster aus undurchsichtigem Glas, auch wieder in Brusthöhe, aber im Gegensatz zu dem anderen ließ es sich nicht öffnen. Wie im Schlafraum waren auch hier die Wände mit Panelen aus rotem Eibenholz verkleidet. An einer Wand war eine Doppelleiste mit Holzknäufen und Haken, an denen Sechnussach vermutlich seine Kleidungsstücke, Waffen oder auch Ranzen für Bücher aufgehängt hatte. Weitere Einrichtungsgegenstände gab es nicht.

Fidelma streifte alles mit einem aufmerksamen Blick.

»Es stimmt, Colmán, wenn die andere Tür und das Fenster in jener Nacht sorgfältig verschlossen waren, gab es nur die eine Möglichkeit, das Zimmer zu betreten oder zu verlassen. Der Täter hätte die Tür von der Badestube nicht wieder von |114|innen verriegeln können, wenn er durch sie entkommen wäre. Trotzdem, eine Sache lässt mir keine Ruhe …«

Abt Colmán zog die Stirn in Falten und erwartete Erhellung.

Sie wies auf das Schloss der Tür zum Schlafgemach.

»Warum hat Sechnussach nicht den Schlüssel im Schloss stecken lassen? Hätte der Schlüssel im Schloss gesteckt, hätte der Mörder seinen Schlüssel nicht ins Schlüsselloch bekommen. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, den steckenden Schlüssel herauszustoßen, hätte der beim Runterfallen genügend Lärm gemacht, um den Hochkönig aus dem Schlaf zu schrecken, ehe der Mörder zustach.«

»Eine solche Überlegung ist mir bislang …«, begann der Abt zu stammeln.

Eadulf fiel ihm ins Wort: »Wo hat man eigentlich den Schlüssel des Hochkönigs gefunden?«

»Auf dem Tisch neben dem Bett.«

»Vielleicht ist es müßig, weiter darüber zu rätseln«, meinte Eadulf. »Könnte ja sein, er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Tür abzuschließen und den Schlüssel neben sich abzulegen.«

Fidelma ließ noch einmal ihren Blick durch das Zimmer gleiten und kam zu dem Ergebnis: »Ich habe genug gesehen. Zumindest habe ich jetzt eine Vorstellung, wo und wie das Verbrechen begangen wurde. Ich denke, wir können mit der Vernehmung der Zeugen beginnen.«