KAPITEL 4

Abt Colmán, der geistliche Berater des airchelas, des Großen Rates des Hochkönigs, kam sie eigens willkommen heißen, nachdem man ihre Ankunft an den Toren der Königsfestung verkündet hatte. Er war ein untersetzter, rotwangiger Mann |74|Ende fünfzig. Fidelma saß ab, und er eilte ihr mit ausgestreckten Händen entgegen, als gelte es, eine gute alte Freundin zu begrüßen, wenngleich sich hinter dem freundlichen Gebaren auch Bekümmernis verbarg.

»Schwester Fidelma! Dich hier in Tara zu sehen tut immer gut. Leider führt dich diesmal ein trauriger Anlass her.«

Sein Händedruck war warmherzig, und sie erwiderte ihn nicht weniger herzlich. Ihre letzte Begegnung lag schon eine Weile zurück. Zweierlei war es damals, womit sie sich die Anerkennung des Abts erobert hatte: Zum einen hatte sie den rätselhaften Diebstahl des Amtsschwerts des Hochkönigs geklärt und zum anderen herausgefunden, was es mit einem umgeisterten Grab auf dem Friedhof der Hochkönige auf sich hatte.

»Gut siehst du aus, Colmán; kein bisschen älter geworden«, begrüßte sie ihn munter.

»Vanitas vanitatum, et omnia vanitas«, zitierte er mit ernstem Gesicht. »Schön wär’s, wenn dem so wäre, aber leider sagt mir mein Spiegelbild etwas anderes.« Dann galt seine Aufmerksamkeit Eadulf. »Auch dich heiße ich willkommen, Eadulf von Seaxmund’s Ham. Wir haben schon viel von dir gehört, Bruder Angelsachse. Geschichten über deine Taten mit unserer lieben Schwester Fidelma machen ihre Runde; Geschichtenerzähler versäumen nicht, sie gerade jetzt während der dunklen Wintermonate am Herdfeuer zu erzählen.« Und als Fidelma Caol und Gormán vorstellte, begrüßte er auch sie freundlich.

»Seid unserer Gastfreundschaft gewiss«, sagte er mit einer Geste, die sie alle einschloss, und fügte hinzu: »Gastfreundschaft, soweit sie uns in diesen schweren Tagen möglich ist.«

»Worauf müssen wir uns einstellen?«, fragte Fidelma, während Colmán den bereitstehenden Stallburschen, den gilla |75|scuir, bedeutete, sich um die Pferde zu kümmern und ihnen die Satteltaschen abzunehmen.

Seine Miene verdunkelte sich.

»Cenn Faelad erzählt es dir besser selbst. Er wünscht dich zu sehen. Aber zunächst sind die Gepflogenheiten der Gastfreundschaft zu bedenken. Im Gästehaus sind die Zimmer bereitet, und für ein warmes Bad ist auch alles gerichtet. Kommt, ich zeige euch, wo ihr euch frisch machen könnt.«

Sie folgten seiner Aufforderung, Fidelma an seiner Seite, Eadulf und die anderen dahinter. Caol und Gormán hatten sich noch rasch die Satteltaschen gegriffen.

»Wie viele, abgesehen vom Großen Rat, haben davon gewusst, dass ihr nach mir geschickt habt?«, fragte Fidelma.

Die Frage überraschte Abt Colmán.

»Es gab keine Veranlassung, das geheim zu halten. Alle Mitglieder des Rates, die nach dem Tod von Sechnussach zusammenkamen, um die Sachlage zu überdenken, wussten davon. Im Grunde genommen war es in aller Munde. Wieso fragst du?«

»Es kam mir nur so ein. Die Bestattungsfeierlichkeiten haben wohl schon stattgefunden, oder?«

»Sechnussach hat wie seine Vorgänger und Vorfahren auch seine letzte Ruhestätte in der Königsgruft gefunden«, erklärte der Abt etwas salbungsvoll. »Wir konnten nicht warten, bis alle cóicedach, alle Könige der fünf Königreiche mit ihren Adligen hier angereist waren, um den Zeremonien beizuwohnen. Cenn Faelad beabsichtigt jedoch, die Könige und Edelleute zu einer Gedenkfeier einzuladen, sowie die Untersuchung zum Tode seines Bruders ihren Abschluss gefunden hat.« Er setzte ein flüchtiges Lächeln auf und fügte betont hinzu, als ob es noch einer Erklärung bedurft hätte: »Deine Untersuchung, Fidelma, deine Urteilsfindung.«

|76|»Sechnussach war ein großer König und ein großherziger Mensch«, sagte Fidelma nachdenklich. »Ich kann nur hoffen, dass Cenn Faelad seinem Bruder in nichts nachsteht.«

»Eine weise Feststellung, der ich aus vollem Herzen zustimme, Fidelma«, pflichtete ihr der Abt bei. »Ich kenne ihn seit vielen Jahren und glaube, die fünf Königreiche werden kaum eine Veränderung bemerken, denn in den meisten Dingen waren er und sein Bruder der gleichen Auffassung.«

»Wann wird Cenn Faelads feierliche Krönung zum Hochkönig stattfinden? Ein solcher Anlass verlangt doch wohl die Anwesenheit der cóicedach.«

Das bekümmerte Antlitz des Abts wurde um eine Spur ernster. »Der Große Rat ist zu dem Schluss gekommen, dass noch einige Zeit vergehen muss, ehe Cenn Faelad das Schwert der Hochkönige ergreifen und den Fuß auf den Lia Fail setzen darf, um seine Thronbesteigung zu verkünden.«

»Den Lia Fail?«, wunderte sich Eadulf, der an die Worte der alten Frau am Fluss erinnert wurde.

»Das hat etwas mit unseren Zeremonien bei der Krönung zu tun, Bruder Angelsachse«, erklärte der Abt nachsichtig. »Du kennst sie wahrscheinlich nicht im Einzelnen. Aber derjenige, der zum König gekrönt werden soll, muss das aus alten Zeiten überlieferte Schwert der Hochkönige in die Hand nehmen und seinen Fuß auf einen alten Stein setzen, den wir den Schicksalsstein, eben Lia Fail, nennen. Aus heidnischen Zeiten stammt die Überlieferung, dass der heilige Stein, so er den Fuß eines gerechten Herrschers auf sich spürt, mit einem Freudenschrei reagieren würde. Du findest den Stein im Burghof hier, dort hinter den Gebäuden …« Er wies mit der Hand in die beschriebene Richtung, fühlte sich aber bemüßigt, eine weitere Erklärung abzugeben. »Du darfst nicht denken, es sei nur ein heidnischer Brauch. Unsere geistlichen Gelehrten haben |77|herausgefunden, dass der Stein Jakob als heiliges Kissen diente und dass ihn Goidel, Sohn von Scota, der Tochter des Pharaos Cingris, auf den wir Gälen unseren Namen zurückführen, aus dem alten Ägypten fortschaffte. Die Nachfahren von Goidel dann, die wackeren Söhne von Mile Easpain, brachten ihn schließlich in dieses Land, so dass unsere rechtmäßigen Herrscher ihren Fuß darauf setzen und den Segen des einen wahren Gottes erhalten dürfen.«

»Das ist eine alte Legende …«, meinte Fidelma unwillig, bemerkte jedoch sogleich, wie der Abt die Stirn runzelte, und verbesserte sich: »Eine alte Geschichte. Der Stein geht in der Tat auf uralte Zeiten zurück. Wir dürfen aber auch eine andere Geschichte um ihn nicht vergessen. Vor vier oder fünf Generationen wurde auf der anderen Seite des Meeres in Alba der Bruder des Hochkönigs Murtagh mac Erc König von Dál Riada. Fergus mac Erc schickte Boten zu seinem Bruder Murtagh mit dem Begehr, den Stein nach Alba befördern zu lassen, damit er auf ihm gekrönt werden könne. Murtagh entsprach der Bitte seines Bruders; nach der Krönungsfeier weigerte sich Fergus, den Stein zurückzugeben, und so befindet sich der wahre Lia Fail in Dál Riada.«

Ärgerlich schüttelte Abt Colmán den Kopf. »Die Geschichte kenne ich auch, Fidelma, nur hat in Wahrheit Murtagh mac Erc seinem Bruder Fergus einen anderen Stein geschickt. Der echte Lia Fail liegt hier in Tara, das ist so und wird auch so bleiben.« Er wandte sich Eadulf zu. »Woher rührt dein Interesse an dem Lia Fail, Bruder Eadulf?«

Der kam gar nicht erst dazu zu antworten, denn Fidelma war schneller. »Eadulf lässt keine Gelegenheit aus, Dinge über unser Land und seine Legenden zu erfahren. Du meinst also, Colmán, es wird noch einige Zeit verstreichen, ehe es zur feierlichen Amtseinführung des neuen Hochkönigs kommt?«

|78|Weshalb Fidelma ihre Begegnung mit dem alten Weib ganz offensichtlich nicht ins Gespräch bringen wollte, blieb Eadulf ein Rätsel, aber er fügte sich. Sie erreichten einen stattlichen Holzbau am hinteren Ende der Anlage. Abt Colmán blieb davor stehen und bedeutete ihnen, dass es das bruden, das Gästehaus für Besucher des Hochkönigs sei. Dann sagte er ihnen: »Erst muss der Mord am Hochkönig in allen Einzelheiten geklärt sein. Wir wissen zwar, wer die Tat begangen hat, aber deine Nachforschungen zu den Motiven, auch ob noch jemand anders die Hand mit im Spiel gehabt hat, halten wir für unabdingbar. Ehe du deine Untersuchungen nicht abgeschlossen hast, wird es keine Krönungsfeierlichkeiten geben. Wir warten ab, bis du uns Klarheit verschaffst.«

»Man verdächtigt doch hoffentlich nicht Cenn Faelad einer Mittäterschaft?«, fragte Eadulf. »Schließlich war er Sechnussachs Bruder.«

Abt Colmán schaute ihn an und zuckte mit den Achseln. »Familienfehden sind nichts Ungewöhnliches, Bruder Angelsachse. Der Mörder, Dubh Duin, gehörte zu den Uí Néill aus dem Süden. Sechnussach entstammte der gleichen Uí Néill-Sippe wie Dubh Duin. Das gilt auch für seinen Bruder Cenn Faelad. Es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn manch einer den Vorfall als internen Familienstreit deutet. Dass da jemand an die Macht wollte. Über jeden Verdacht erhaben ist niemand hier. Es hat schon seine Berechtigung, dass man zu dem Schluss kam, Cenn Faelad sollte erst zum Hochkönig gekrönt werden, wenn völlige Klarheit über den Mord herrscht.«

Fidelma hatte den springenden Punkt längst erfasst.

»Wo ist eigentlich Sechnussachs Schwester Ornait?«, fragte sie.

Als seinerzeit Sechnussach zum Hochkönig gekrönt werden sollte, war plötzlich das heilige Amtsschwert verschwunden, |79|das der Legende nach von Gobhain, dem Gott der Schmiede, eigens für die Vorfahren der Uí Néill gefertigt worden war. Wurde ein Hochkönig ohne das Schwert und ohne den Fuß auf den Lia Fail, den heiligen Schicksalsstein, gesetzt zu haben, gekrönt, konnte das in den fünf Königreichen leicht Unheil und Zwietracht bedeuten. Damals hatte Fidelma die Übeltäter des Diebstahls überführen können – es waren Ornait, Sechnussachs Schwester, und ihr Liebhaber Ailill Esa Flann gewesen, der tánaiste oder rechtmäßige Thronnachfolger.

In Abt Colmáns Augen funkelte es spitzbübisch. »Auf die Frage habe ich gewartet. Ich gebe zu, dass mir, als der Mord geschehen war, Ornaits Name auch kurz durch den Kopf ging. Aber du weißt ja, dass der Oberste Richter sie und ihren Liebhaber Ailill ins Exil verbannt hat. Sie sind daraufhin ins Königreich von Rheged auf die Insel Britannien gegangen. Soweit mir bekannt ist, sind sie bis heute dort.«

Eadulf begriff nichts von dem Gespräch der beiden, doch Fidelma versprach ihm, ihn später ins Bild zu setzen, ehe sie sich erneut dem Abt zuwendete: »Um von Rheged bis hierher zu gelangen, segelt man nicht länger als einen Tag. Ornait und Ailill hatten es schon vor fünf Jahren auf den Thron abgesehen. Wer sagt, dass sie heute nicht von dem gleichen Wahn besessen sind und vielleicht doch etwas mit der Mordtat zu tun haben? Sie wären nicht die Ersten, die man ins Exil getrieben hat und die dann zurückkehrten und unter Beifall zum König gekrönt wurden.«

Fidelma dachte dabei an ihren eigenen Vorfahren Conall Corc, der aus dem Exil nach Muman zurückkehrte und nicht nur König wurde, sondern auch Cashel zu einer beachtlichen Hauptstadt machte.

»Wenn Ornait tatsächlich hier angelandet ist, wäre längst etwas durchgesickert«, erwiderte Abt Colmán.

|80|»Es sind ja ohnehin nur Erwägungen«, lenkte Fidelma ein. »Später mit Cenn Faelad werden wir noch viel zu besprechen haben. Jetzt werden wir uns ein wenig frisch machen. Haben wir uns dann zusammengesetzt und erst mal alle Fakten beisammen, können wir über die Hintergründe debattieren.«

Der Abt bekundete sein Einverständnis, drehte sich zum Gästehaus um und klatschte in die Hände.

Im Nu wurde geöffnet, und ein großes, schlankes, dunkelhaariges Mädchen erschien und begrüßte sie. Die helle Haut und im Kontrast dazu die dunklen Augen gaben ihr etwas Engelhaftes, so dachte zumindest Eadulf. Sie war einfach hübsch, fand er, und ihre Bewegungen hatten etwas Graziöses. Ihr freundliches Lächeln galt ihnen allen.

»Das ist Báine«, stellte Abt Colmán sie vor. »Solange ihr hier weilt, wird sie sich um eure Belange kümmern. Wir haben keine weiteren Gäste, und ich könnte mir vorstellen, dass ihr eure Begleitmannschaft«, er nickte Caol und Gormán zu, »gern in eurer Nähe hättet. Das Gästehaus bietet Platz genug für alle.«

Mit einer ehrerbietigen Kopfbewegung, die Fidelma galt, erklärte das Mädchen: »Ich habe Wasser warm gemacht, Lady, und den dabach auch schon gefüllt.« Sie meinte damit den Holzbottich, in dem man badete.

»Das lasse ich mir nicht zweimal sagen«, erwiderte Fidelma freundlich. »Da werde ich sogleich ein Bad nehmen.«

»Wenn ihr euch erfrischt habt, komme ich wieder und bringe euch zu Cenn Faelad«, sagte Abt Colmán. »Er wohnt zur Zeit in meinem Haus am anderen Ende der Burg. Wir hielten es für besser, dass er vorläufig noch nicht die königliche Residenz bezieht. Die Dinge sollten erst geklärt sein. Er erwartet euch zu einem gemeinsamen Mahl, und dabei können wir uns in aller Ruhe über den eigentlichen Anlass eures Besuches |81|austauschen. Báine wird sich um das leibliche Wohl eurer Krieger kümmern.«

Mit freundlichem Winken verabschiedete er sich und entschwand zwischen den Hauptgebäuden auf dem Gelände.

Sie folgten dem Mädchen ins Gästehaus. Pflichtbewusst und umsichtig zeigte sie Fidelma und Eadulf ihr gemeinsames Zimmer und führte Caol und Gormán zu den ihnen zugedachten Räumen gleich nebenan. Wie die meisten Gebäude war auch das Gästehaus ein rechteckiger Holzbau, vorrangig Eichenstämme und Eibentäfelung, mit reetgedecktem Dach. Ohne Fenster war es in den Räumen reichlich düster, und obwohl es draußen noch hell war, brannten hier Talglichter und Öllampen und schwängerten mit ihren schweren Düften die Luft.

Fidelma und Eadulf blieb kaum Zeit, sich näher umzuschauen und ihre Satteltaschen auszupacken, denn schon war Báine wieder da, um Fidelma zum Baden zu holen.

»Ich habe alles zurechtgelegt, auch Badezusätze und einen Kamm, du brauchst also nichts mitzunehmen.«

»Das nenne ich Gastlichkeit«, meinte Fidelma schmunzelnd und verließ mit dem Mädchen den Raum.

Wenige Augenblicke später klopfte Báine sacht an die Tür. »Verzeihung, Bruder, ich wollte nur fragen, ob vielleicht ein Becher frisch gepresster Apfelsaft genehm wäre, bis dein Bad soweit ist.«

»O ja, den nehme ich gern«, erwiderte er amüsiert und folgte ihr in eine kleine Nebenkammer, wo sie das Getränk bereitete.

»Bedienst du schon lange die Gäste hier?«, fragte er.

Erschrocken sah sie ihn an. »Es fehlt doch hoffentlich an nichts, Bruder?«

»Nein, nein«, beruhigte er sie. »Alles ist in bester Ordnung. Du denkst wirklich an alles.«

|82|Sie war merklich erleichtert. »Es ist das erste Mal, dass ich hier im Gästehaus Dienst tue, und ihr seid meine ersten Gäste.«

»Das hätte ich nicht gedacht, ich hätte eher vermutet, du machst das schon lange.«

Lächelnd reichte sie ihm den gefüllten Becher. »Gelernt habe ich, wie man Herrschaften bedient, aber nicht im Gästehaus. Normalerweise arbeite ich im Haushalt des Hochkönigs.«

»Ach so.« Fast klang es wie eine Frage.

»Heute jedoch hat mich Bruder Rogallach hierhergeschickt mit dem ausdrücklichen Auftrag, mich um Lady Fidelma und um dich zu kümmern.«

»Bruder Rogallach?«

»Er hat alle Bediensteten im Hause des Hochkönigs unter sich. Er ist der Kammerherr des Hochkönigs.«

»Und du bist schon lange hier?«

»Seit meiner Volljährigkeit.«

Eadulf wusste, dass Mädchen mit dem fünfzehnten Lebensjahr das Alter der Wahl erreichten.

»Lange kann das noch nicht sein.«

»Fünf Jahre«, erwiderte sie ernst. Dass Eadulf ihr ein Kompliment hatte machen wollen, war ihr nicht aufgegangen.

»Geradezu eine Ewigkeit«, ging er gutmütig auf sie ein.

»So könnte man sagen … Vom heutigen Standpunkt gesehen«, erwiderte Báine nach einer seltsamen Pause.

»Warst du im Hause, als der Hochkönig getötet wurde?«

Sie zuckte zusammen und nickte.

»Das muss schrecklich für dich gewesen sein.«

Sie schluckte und nickte abermals. »Ja. Sechnussach war … war ein gütiger Mensch. Ich diente ihm gern. Zu allen, die mit ihm zu tun hatten, war er liebenswürdig und großherzig.«

|83|»Dann ist die Trauer um so größer. Und du warst selbst im Haus, als der Mörder dort eindrang?«

»Ich lag im Bett und schlief.«

»Der Mord soll kurz vor Tagesanbruch geschehen sein. Dann musst du ja von dem Lärm, der entstand, als die Schreckenstat entdeckt wurde, wach geworden sein.«

Zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. »Brónach hat mich aus dem Bett getrieben. Erst von ihr hab ich erfahren, was geschehen war. Ich muss den ganzen Lärm verschlafen haben.«

»Wer ist Brónach?«

»Von den Frauen in der Dienerschaft ist sie die Oberste. Wir sind nur drei, die im Haus des Königs ihren Dienst tun. Sie ist die älteste und für uns verantwortlich.«

Gern hätte Eadulf das Mädchen noch weiter befragt, aber Fidelma rief aus dem Baderaum nach ihr.

Báine murmelte eine Entschuldigung und folgte dem Ruf. Allein zurückgeblieben nippte Eadulf gedankenverloren an seinem Apfelsaft. Kurz darauf ging die Tür zum Gästehaus auf, und ein anderes Mädchen trat ein. Sie war von zierlicher Statur und einfach gekleidet, hatte braunes Haar und nichts besonders Auffälliges an sich. Sie wirkte jünger, als sie vermutlich war. Eadulf schätzte sie auf achtzehn. Sie machte einen verunsicherten Eindruck. Ein flüchtiger, ängstlicher Blick streifte Eadulf, dann schaute sie verlegen zum Boden.

»Ich bitte um Verzeihung«, kam es schüchtern.

»Absolvo te a peccatis tuis«, erwiderte Eadulf belustigt. »Alle Sünden sind dir vergeben.«

Verdutzt schaute sie ihn kurz an, senkte den Blick aber sofort wieder zur Erde.

»Beichten wollte ich nicht, Bruder. Ich suche Báine, soll fragen, ob sie Hilfe braucht.«

|84|»Sie hat gerade im Badehaus zu tun. Und wer bist du?«

»Ich bin Cnucha.«

»Heißt das nicht soviel wie ›kleiner Berg‹?« fragte er nach kurzem Überlegen. »Ich hab mal eine Legende gehört, in der es um den großen Krieger Cumal ging, den Vater von Fionn von den Fianna, und der fiel dann in der Schlacht bei Cnucha.«

Das Mädchen, das immer noch nicht aufsah, schüttelte den Kopf.

»So hieß aber auch die Frau von Geanann, einem der fünf Könige der Fir Bolg, die diese Insel in die fünf Königreiche aufteilten.«

Beschämt stellte Eadulf fest, dass er sich über den hörbaren Stolz in der Stimme der unscheinbaren Bediensteten amüsierte.

»Und wer waren diese … wie sagtest du … diese Fir Bolg? Welche Vorfahren waren das, die das Land in die fünf Königreiche unterteilten? Ich weiß nur, dass ihr von den Kindern des Milesius abstammt und euch Gälen nennt.«

Sie hob ein klein wenig das Kinn, und wieder schwang so etwas wie Stolz mit, als sie antwortete: »Die Kinder des Milesius sind die Letzten, die dieses Land betraten. Die Fir Bolg hatten schon vor Urzeiten die Insel hier zurückerobert, viele Generationen, bevor es überhaupt den Stamm der Gälen gab. Die fünf Könige kamen in Uisnach, dem heiligen Mittelpunkt des Landes, zusammen, und schon dort und damals unterteilten sie es, auf dass jeder von ihnen über ein Fünftel des Landes herrsche.«

Wieder dieses Uisnach. Fidelma hatte ihm dessen Bedeutung erklärt, nachdem die alte Frau an der Brücke davon gesprochen hatte. Selbst das Christentum hatte es nicht als eine große geheiligte Stätte in der Vorstellung der Menschen ersetzen können, |85|es galt als der Nabel der fünf Königreiche von Éireann, der Punkt, an dem die fünf Königreiche zusammenliefen. Es war die Stelle, wo die Göttin Éire, deren Namen das Land trug, in alten Zeiten verehrt wurde. Es war der Ort, an dem sich die Druiden des Alten Glaubens versammelten, um zum Fest des Beltane die rituellen Feuer zu entfachen, die Feuer des Bél, die ein Zeichen für das Ende der dunklen Jahreshälfte setzten.

»Du bist also stolz auf deinen Namen?«

Wieder sah sie für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm auf, und er glaubte einen Funken innerer Bewegung in ihren Augen zu erkennen. Doch sogleich senkte sie den Blick.

»Mein Name ist alles, was ich habe«, antwortete sie. »Ich bin nur eine Dienerin hier. Verzeiht, wenn ich jetzt zu Báine gehe, sie braucht vielleicht meine Hilfe.«

Caol und Gormán bemerkten gerade noch, wie sie davoneilte. Eadulf wies auf die Krüge mit den Getränken und forderte beide auf, sich zu bedienen. Caol ließ sich auf einen Stuhl fallen und betrachtete missmutig seinen Becher, während Gormán sich an die Wand lehnte und stehen blieb.

»Fröhlich seht ihr zwei nicht gerade aus«, stellte Eadulf fest.

»Dass ich fröhlichen Herzens hier bin, kann ich auch nicht behaupten«, entgegnete ihm Gormán.

»Ich fürchte, das mit der Alten an der Furt ist ihm in die Glieder gefahren«, vermutete Caol.

Gormán zuckte die Schultern. »Du musst doch zugeben, dass es eine merkwürdige Art von Begrüßung hier war. Man hat uns schon freundlicher willkommen geheißen. Ich bin mit den alten Legenden über die Göttin des Todes und der Schlachten aufgewachsen, die an einer Furt lauert und den Menschen ihren sicheren Tod verkündet.«

Eadulf lag nichts daran einzugestehen, dass auch ihn die Begegnung mit der alten Frau mit Sorge erfüllte, und er sagte |86|nur: »Unseren Tod hat sie uns ja nicht vorausgesagt. Sie hat uns lediglich geraten, nach Cashel zurückzukehren, und das werden wir auch so bald wie möglich tun. Lange wird uns die Geschichte hier nicht aufhalten. Sechnussach ist tot, wir wissen, wer ihn umgebracht hat, und dass der Täter Selbstmord begangen hat, wissen wir auch. Viel bleibt da nicht mehr zu untersuchen und aufzuklären.«

»Weswegen hat dann der Große Rat noch Lady Fidelma hier haben wollen?«, forschte Gormán.

»Nur damit jemand, der keinerlei Verbindung zu dem Personenkreis hat und als unbefangen gilt, die Erkenntnisse öffentlich darlegen kann », erwiderte Eadulf. »Ein solches Ansinnen erscheint mir logisch.«

Recht befriedigt schien Gormán von der Antwort nicht. »Über dem Ganzen hier hängt etwas Dunkles und Unheimliches.«

»Wie sollte es auch anders sein? Dass ein Hochkönig ermordet wird, passiert schließlich nicht alle Tage«, konterte Eadulf.

»Das stimmt schon. Aber dass fromme Brüder ohne ersichtlichen Grund überfallen und niedergemetzelt werden, passiert auch nicht alle Tage.«

»Du meinst die Toten in der Ebene von Nuada? Da hast du recht. Irgendwas is faul im Königreich Midhe.«

Caol leerte seinen Becher geräuschvoll und in einem Zug. »Räuber und Banditen gibt es in jedem Königreich. Auch in Muman. Immerhin ist es zimlich ruhig geworden, seit die Uí Fidgente sich entschlossen haben, Cashel anzuerkennen.« Und grinsend fügte er hinzu: »Ehrlich gesagt, mir fehlt der Streit.«

»Dir fehlt der Streit?« Vorwurfsvoll sah ihn Eadulf an. »Wie kann einem so was fehlen?«

|87|Rasch schnitt ihm Caol das Wort ab. »Ich sollte mich genauer ausdrücken: Mir fehlen die Spannung und Aufregung, die mit einem Streit einhergehen. Auf Tod und Schlachtengetümmel sollte man natürlich nicht setzen, das ist verwerflich. Wann werden Lady Fidelma und du sich der Sache hier annehmen?«

»Sicherlich nicht vor morgen. Ich gehe davon aus, dass wir hier nur ein paar Tage zubringen werden. Heute Abend sehen wir den Thronnachfolger Cenn Faelad. Danach wissen wir mehr.«

Báine trat ein und verkündete, dass das Badewasser für Eadulf warm gemacht sei. Mit einem innerlichen Stöhnen erhob er sich. Wenn es etwas gab, woran er sich bei den Leuten von Éireann nie hatte gewöhnen können, war es die Sitte, jeden Tag vor dem abendlichen Hauptmahl ein Bad zu nehmen. Dem Mädchen gegenüber aber ließ er sich nichts von seinem Widerwillen anmerken, im Gegenteil, er erklärte erfreut: »Weise mir den Weg.«