Elftes Kapitel


Völlig vertrackt das Ganze. Er schüttelte ratlos den Kopf. Peilstrahl wie ein zu grober Finger, von Abtasten keine Rede. Ein Hammer im Uhrwerk oder der Schlag des Boxers auf das Porzellankinn des Gegners hätten nicht gröber wirken können.

Das Ding versuchte Qualität durch Quantität aufzuwiegen. Wegen seiner zu hoch ausgelegten Peilstrahlung würde es weit über den kontrollierten Raum hinaus die gegnerische Luftabwehr warnen.

Es genügte, irgend etwas Flugzeugähnliches aufsteigen zu lassen, ein Ding mit Flügeln oder ein anderes Objekt, das Flügeln an einem Rumpf ähnlich sah. Selbst der Schattenriss eines Raubvogels, der den Fluchtinstinkt niederer Tiere am Boden auslöste, benötigte ein höheres Maß an Ähnlichkeit: ausgebreitete Schwingen, Greiffüße, den spitzen Schnabel.

Dieser Kasten da konnte weder ein ausgefahrenes Fahrgestell noch Düsentriebwerke oder auch nur die Fensteröffnungen eines Cockpits identifizieren.

Ungeduldig schob er den Klemmwinkel des Datenrechnerkabels beiseite und stieß dabei mit der blanken Metallspitze gegen die aufgeschraubte Abzweigung des anderen Kabelendes – ein blendend heller, weißblauer Funke von der Größe einer halben Faust zischte auf und setzte die Isolierung des Rechners in Brand ... er fuhr unwillkürlich zurück. Gleichzeitig verlöschte das Licht im Raum. Züngelnd fraßen sich die Flammen in das Kunststoffgehäuse.

Jeden Augenblick konnte die Hitze die Bildröhre implodieren lassen. Aus dem Rechner stieg beißender Qualm auf. Er blickte sich suchend um. Schließlich fand et in der Schublade einen Lappen und drückte damit das Feuer aus.

Das Notstromlicht über der Tür hatte kurz aufgeflackert und war dann wieder erloschen. Dem dumpfen Knall nach mußte er im ganzen Trakt einen Kurzschluss ausgelöst haben – aber wieso auch das Notstromaggregat? dachte er. Weil hier nichts funktionierte. Er horchte achselzuckend in die Dunkelheit.

Nach einigen Augenblicken erklangen Schritte im Gang. Jemand schlug gegen die Tür. «Robert …»

Er drückte von innen die Klinke.

Eathscott beugte sich vor und leuchtete ihm mit einer starken Handlampe ins Gesicht.

«Was ist passiert?»

«Nichts … nichts weiter.» Er kniff geblendet die Augen zusammen. «Nur ein Kurzschluss.»

«Ein Kurzschluss, aha. Aber wie konnte das passieren?»

Karga drückte Eathscotts Arm mit der Lampe beiseite, um in sein Gesicht sehen zu können.

«Entschuldigen Sie …» Er richtete den Strahl des Reflektors gegen die Wand.

«Der Rechner. Die Kabel müssen verwechselt worden sein, mit dem Starkstromkabel, nehme ich an.»

«Verwechselt, wieso?»

«Weil er auf einem getrennten Stromkreis arbeitet: mit Akkumulatoren, die sich je nach Bedarf am Stromnetz aufladen. Dadurch bleiben seine Datenspeicher auch bei abgeschaltetem Gerät oder Stromausfall erhalten.»

«Ach?» Eathscott räusperte sich vernehmlich. «Davon wusste ich nichts.»

«Ich hätte draufgehen können, ohne Frage. Sogar auf ziemlich unangenehme Weise. Das Ding braucht eine Menge Energie. Zum Glück hatte ich gerade keinen Finger am Draht.»

«Himmel, Robert … berufen Sie‘s nicht!» Er legte beschwichtigend die Hand auf seine Schulter. «Ich werde denen in London gehörig einheizen. Irgendein Esel in der Elektronikabteilung muss unglaublichen Pfusch fabriziert haben.»

«Lassen Sie nur … das kann jedem passieren.»

«Vielleicht finden wir sogar heraus, wer zuletzt daran gearbeitet hat?»

«Nein, ich möchte niemanden in Schwierigkeiten bringen.»

«Sehr honorig gedacht. Oder waren Sie am Ende selbst derjenige …?», fragte Eathscott und drohte mit dem Zeigefinger. «Kleiner Fehler bei den Anschlüssen?» Er winkte augenzwinkernd ab. «Aber Spaß beiseite, Robert. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten.»

Die Notbeleuchtung über der Tür flackerte zögernd auf und verbreitete spärliches Licht. Karga nahm einen Schraubenzieher aus der Werkzeuglade, er stieß damit das Kabel von der Abzweigklemme des Gehäuses weg. Sein Ende war durch den Kurzschluss verkohlt.

Erst jetzt bemerkte er, dass das Kabel viel dicker als üblich war, ein typisches Starkstromkabel für hohe Leistungen, wie sie der Peilstrahl benötigte. Merkwürdig, dass es ihm nicht schon früher aufgefallen war. Und das dünnere Kabel des Rechners war nicht an den Akku, sondern an die Starkstromabnahme angeschlossen.

«Jetzt verstehe ich auch, wieso der Rechner ausfallen konnte.»

«Der Rechner – ausgefallen, sagen Sie?»

«Wegen falscher Spannung.»

Eathscott richtete prüfend seine Handlampe in den Kasten. Ihr Lichtkegel spielte über das Gewirr von angeschmorten Drähten.

«Da hatten Sie wirklich Glück», nickte er und fuhr sich übers Kinn.

Es war, als schaudere es ihn noch im nachhinein bei dem Gedanken.

Karga bemerkte überrascht den fahlen Zug um Eathscotts Nase, seine

Zunge spielte nervös mit der Unterlippe.

Er hätte nicht behaupten wollen, in seiner Stimme schwinge ein Ton falscher Anteilnahme mit. Aber so viel hatte er inzwischen herausgefunden: Eathscott und die anderen würden beachtliche Schauspieler sein, wenn es nötig war – professionellere Verstellungskünstler als mancher auf den Brettern der Bühne. Ihre Taktik beim Verhör – ihre «Methode», wenn man so wollte – sprach eine deutliche Sprache.

Langsam, mit einem Anflug von Selbstvergessenheit, zog er den Drehstuhl heran und setzte sich, um nachzudenken.

«Was wollen Sie jetzt anfangen?», fragte Eathscott. «Ich meine – so wie das Ding zugerichtet ist.»

Er setzte sich ebenfalls, schlug die Pfeife an der Tischkante aus, drehte Mundstück und Kopf auseinander und begann beide Teile mit einem Pfeifenreiniger zu säubern, den er aus dem Tabaksbeutel genommen hatte.

«Es wieder in Ordnung bringen.»

«Gut. Gut, wie Sie wollen. Wenden Sie sich an Gatsby oben im Haus, wenn Sie Material brauchen. Über die Sprechanlage. Oder noch besser an Kendall, er kann‘s Ihnen heute Nachmittag im Dorf besorgen.»

Eathscott warf den Pfeifenreiniger in die Abfallkiste. Er steckte seine Pfeife ein und wandte sich zur Tür. «Ich werde für Licht sorgen.»

Als er gegangen war, machte Karga sich wieder an der Anlage zu schaffen. Obwohl er eher träge und missmutig an die Arbeit gegangen war, verspürte er jetzt keine Müdigkeit mehr. Eine unbestimmte Ahnung, von der er nicht zu sagen vermocht hätte, wodurch sie ausgelöst worden war, hielt ihn wach. Diesmal zog er den Stecker aus der Wanddose.

Gleich darauf ging auch die Deckenbeleuchtung an, und das Notlicht erlosch. Ohne recht zu wissen, wozu, sah er eine Zeit lang in das Innere des rechteckigen Kastens.

Zwischen den weißen und blauen Leitungen des Impulsgenerators war Blut.

Merkwürdig … er betrachtete seine Finger – sie waren unverletzt. Der Blutfleck unter den Kabelsträngen am Boden der Anlage sah aus, als sei er mehrere Tage alt.

Er nahm die Lupe, die er zum Lesen winziger Zahlenangaben auf den Konstruktionsblättern benutzte, und betrachtete damit den Verlauf der Kabel – sein Blick wanderte langsam über sie hinweg und hielt an der Kabelklemme des Rechners inne … Auch dort befand sich eine kaum sichtbare Blutspur.

Oder war es Farbe? Roter Lack, wie man ihn zum Versiegeln von Schrauben verwendete?

Da der Schraubenzieher nicht weit genug reichte, schnitt er mit der Schere einen langen Streifen vom dicken Pappdeckel des Kartons ab, in dem sich die Ersatzteile der Anlage befanden, und versuchte den tief unter den Kabeln liegenden Farbtropfen anzukratzen. Nein, es schien Blut zu sein ...

Einer der Techniker in London mußte sich beim Zusammenbau der Anlage verletzt haben, wahrscheinlich derselbe, der auch die Kabelanschlüsse verwechselt hatte. Karga warf das Pappstück in die Abfallkiste. Dabei fiel sein Blick auf Eathscotts Pfeifenstopfer.

Merkwürdig – er war voller Blut.

Aber Eathscott hatte doch nur seine Pfeife damit gereinigt ... Wie war das möglich?

Er blickte sich ratlos um, als wüssten die kahlen Betonwände darauf eine Antwort.

Schließlich hatte er den rettenden Einfall. Es gab eigentlich nur eine Erklärung dafür. Er wühlte so lange zwischen den Papier- und Kabelresten in der Abfallkiste, bis er Eathscotts anderen Pfeifenreiniger gefunden hatte. Dann hielt er beide Reiniger gegen das Licht und verglich sie.

Kein Zweifel, es war derselbe Typ: die gleiche faserige, hellgraue Baumwollhülle, um ein Stück Draht gewickelt.


«Sie machen einen geknickten Eindruck», stellte Holler fest. Er forschte in Kargas Zügen. «Irgendwelche Probleme?» Und mit Blick auf den vierten Mann in Sutters Ordinationszimmer, der wie über und über von Tätowierungslinien bedeckt im Lichtkreis des Projektors unter der Stativleinwand saß:

«Was glauben Sie, Eathscott, sollten wir unserem Freund Robert nicht einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft gönnen dürfen?»

«Von mir aus? Sicher, keine Einwände. Aber darüber müsste Sutter entscheiden.»

Sie schwiegen, Sutter in den Unterlagen blätternd, die vor ihm lagen. Eathscott mit seinem dunklen Anzug, auf dem sich noch immer die Formen aus der Randzone des Dias abzeichneten, halb im Schatten sitzend und die Arme übereinandergeschlagen: wie ein Besucher aus einer anderen Welt; oder als sei er gar nicht anwesend.

«Jetzt, wo seine Therapie so gut anschlägt», meinte Holler beharrlich und wippte auf der Vorderkante seines Stuhles.

Sutter blickte auf, er klappte die Mappe zu. «Nichts dagegen einzuwenden. Robert reagiert ganz ausgezeichnet. Wir sind in der Phase, wo wir ohne Medikamente arbeiten können, ohne Antidepressiva und euphorisch machende Mittel. Seine Konditionierung hat sich schön herausgebildet.»

«Seien Sie nur froh, dass der alte Quacksalber Sie nicht mit eingepflanzten Elektroden zu stimulieren versucht – Schädeldecke aufbohren und so weiter.»

«Sieht so aus, als spreche er zuverlässiger als meine früheren Patienten auf die Behandlung an», meinte Sutter, ohne Hollers Bemerkung eines Kommentars zu würdigen.

«Vielleicht sind Sie sogar ein medizinisches Unikum, Robert? Ein Prototyp, der Medizingeschichte machen wird, weil man an ihm neue Wirkungen studieren kann – wie unter dem Vergrößerungsglas?»

«Ja, betrachten Sie‘s als Erfolgsprämie», sagte Eathscott. «Kleiner Spaziergang an der Steilküste gefällig? Sie waren doch so versessen darauf, wieder das Tageslicht zu erblicken, Robert? Oder hat Ihnen unser kleiner Kurzschluss die Sprache verschlagen?» Er sah ihn aufmunternd an. «Ich werde Sie begleiten.»

Karga gab keine Antwort.

Dann zuckte er die Achseln und machte Anstalten, sich aus dem «Sitzbett» zu erheben. Sutter nahm es als Zeichen der Zustimmung, denn er schaltete den Projektor ab. Das Bild mit dem See verschwand nicht sofort, sondern verblasste langsam, weil die altmodische Projektionslampe nachglomm.

«Sie sollten sich das Verfahren patentieren lassen», schlug Holler vor, während sie hinausgingen. «Falls es so was in Ihrem Gewerbe überhaupt gibt.»

«Warum nicht? Ich könnte wenigstens meine wissenschaftlichen Ansprüche anmelden. So, wie Sie ein Anrecht darauf hätten, dass Ihr Name künftig in den Annalen der Militärgeschichte genannt wird – was denken Sie, Robert?»

«Ja, sicher.»

«Wir haben‘s beide mit der Wissenschaft, was? Fortschritt, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bietet.»

«Nur nicht stehen bleiben, ja.»

Sie betraten den Fahrstuhl, nachdem Sutter aufgeschlossen hatte; alle zugleich und in Eile ... wie ein Schwarm Vögel, der plötzlich durch irgendeine Gefahr aufgescheucht aus der dunklen Höhle ans Tageslicht drängte, dachte Karga. Eathscott schlug ihm erleichtert auf die Schulter. «Freut mich, dass Sie endlich Ihren wahren Wert erkannt haben.»

«Ich denke, ich sollte nicht zu bescheiden sein.»

«Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir Sie nicht wenigstens in irgendeinem waffentechnischen Journal unterbringen könnten … kleines Portrait, was halten Sie davon?»

Mit Bild? war er versucht zu fragen, unterdrückte aber die Ironie, als er Eathscotts neugierigen Blick bemerkte.

«Meine Eitelkeit hält sich in Grenzen. Aber wer weiß, wozu so ein Artikel noch einmal gut sein könnte, ich muss schließlich an meine Zukunft denken.» Er spürte, dass seine Stimme unglaubwürdig klang und leicht zitterte.

Selbst sein Schweigen hatte etwas Falsches. Ein Gefühl, als habe man den Telefonhörer verkehrt herum eingehängt. Niemand schien es zu bemerken.

Am allerwenigsten Eathscott. Karga hörte sich undeutlich hinzufügen:

«Nach Hannibal Island.»

«Ja, Sie könnten sich damit als Techniker einen Namen machen. Etwas bessere Sprachkenntnisse, und Sie hätten gute Chancen in den Staaten.

Freie Auswahl, sozusagen. Rüstungsindustrie, Unterhaltung, Forschung, was Sie wollen. Leute wie Sie werden immer gesucht. Und nun sagen Sie mir noch, wie Ihre Konfektionsgröße ist, Robert.» Holler nahm mit ausgestreckten Armen Maß. «Achtundvierzig – fünfzig? Ich werde Ihnen aus dem Depot einen warmen Mantel besorgen.»

Als er und Eathscott die Senke durchquerten, sah er zum ersten Mal das Bauernhaus von außen: mit seinem weißen Backsteinkamin stand es tief zwischen den Hängen graugrünen Mooses, und die ebenfalls bemoosten Hügel dahinter und zu seiner Rechten wären fast übergangslos mit dem grau verhangenen Himmel verschmolzen, hätte zwischen ihnen nicht ein schmaler, scharf abgegrenzter Streifen aufgerissenen Gewölks geschimmert, den von Osten, vom Meer her, die untergehende Sonne anstrahlte.

Er lag wie der vergrößerte Papierausschnitt einer von Kerzenlicht hinterstrahlten Martins-Lampe über dem Land.

Links davon, am Rand der löchrigen Asphaltstraße, parkte ein Citroën-Kastenwagen zwischen den Telegrafenmasten.

«Wer ist da oben am Fenster?» Karga blieb stehen, für Augenblicke hatte er einen Mann in dunkler Uniform gesehen. Sein Gesicht war auf diese Entfernung nicht zu erkennen gewesen.

«Kendall. Spielt hier in der Gegend den Polizisten. Hält ungebetene Besucher fern. Er wird gleich mit dem Citroen drüben die Gegend abfahren.»

Die Bereitwilligkeit, mit der er Karga kleine Geheimnisse verriet, machte ihm offenbar Spaß. Eathscott schien zu glauben, er beweise ihm damit sein Vertrauen, und womöglich lasse das auf eine bessere Zukunft hoffen. Eine, bei der sie ihre letzten Vorbehalte gegeneinander ablegen könnten wie alte Kleider.

«Gehen wir doch rüber zur Steilküste», schlug Karga vor und zeigte zum Trampelpfad, der sich den Hügel hinaufwand. «Ich würde gern einen Blick auf das Meer werfen.»

«Freut mich ... freut mich wirklich für Sie, Robert, dass Sie Ihr dummes kleines Problem endlich überwunden haben. Muss doch eine kolossale Erleichterung für Sie sein? – Was für ein Unterschied! Noch vor ein paar Wochen wäre Ihnen wahrscheinlich schon bei dem Gedanken daran das Blut in den Adern gefroren.»

«Ja, wahrscheinlich …»

«Kommen Sie – Vorsicht, Wassergraben … hier ist ein Steg!»

«Was war das da eben?», fragte Karga und blieb stehen. «Da auf dem Hang.»

«Ein Hase. Ein einsamer alter Hase. Ich glaube, es ist der einzige hier in der Gegend. Weiß der Himmel, was ihn dazu bewogen hat, sich ausgerechnet so ein feuchtes und zugiges Stück Land auszusuchen, vielleicht hat ihn die Gemeinschaft verstoßen.»

Eathscott und Karga waren jetzt dicht vor der Steilwand. Unter sich sahen sie den Strand liegen, eine endlos scheinende graugelbe Sandfläche, von einzelnen Felsen durchsetzt.

Sie hielten inne und blickten auf das Meer hinaus, über dem unbewegte, bizarre Wolkengebilde schwebten, die von der Sonne angeleuchtet wurden – so niedrig, dass man glauben konnte, sie würden gleich die vorgelagerten Riffe berühren, obwohl das eine Täuschung war.

«Was fühlen Sie, Robert?»

Er schwieg und starrte über die Wasserfläche mit ihren Schattierungen. Das Meer stand völlig still und hatte etwas Teigiges. «Nichts Besonderes», sagte er ausweichend. «Ich würde gern hinunter zum Strand gehen.»

«Dann müssten wir den Weg drüben über die Holztreppe nehmen. Sind Sie schwindelfrei? Der Pfad führt nahe an der Steilwand entlang.»

«Ich glaube schon.»

Eathscott ging voraus. Karga folgte ihm in einem halben Meter Entfernung, den linken Arm leicht angewinkelt und die Hand ausgestreckt, so dass seine Fingerspitzen beinahe Eathscotts Rücken berührten.

Eathscott hielt beide Hände in den Taschen seines gefütterten Gabardinemantels versenkt.

Aus der einen ragte die schwarze Stummelantenne des Sprechfunkgeräts. Glattes Geröll säumte den Weg und ließ sein dünnes Sandband manchmal zusammen mit dem Moos und feuchten gelben Gras unter sich verschwinden. Aber der andere schien sehr sicher zu sein. Geschmeidig wie eine Kletterziege, dachte Karga, er rückte noch etwas dichter auf. – Eathscott blieb abrupt stehen und wandte sich um, sie prallten aneinander. Einen Moment lang war es, als würden sie beide fallen

«Oh, verdammt … halten Sie mich, Robert.» Karga fing ihn am Arm auf.

«Entschuldigen Sie, ich hätte nicht stehen bleiben dürfen.»

«Und ich nicht so dicht aufrücken …»

«Weiter. Bloß nicht nach unten sehen. Von hier aus kann man schon die Treppe erkennen.»

Tatsächlich sahen sie die gelben Holzgeländer aus dem Fels ragen, wenn sie sich etwas über den Vorsprung beugten.

Der Strand lag etwa zwanzig Meter unter ihnen. Die Wellen hatten alle Spuren verwischt. Holzstücke, glattgewaschene Äste und anderes Treibholz säumten die Linie im Sand, bis zu der in der Nacht das Wasser vorgedrungen war. Eathscott ging jetzt einige Meter voraus.

Karga versuchte näher heranzukommen. Seine glatten Sohlen rutschten auf dem feuchten Geröll …

Er befürchtete, dass Eathscott sich wieder umdrehen und sein entschlossenes Gesicht bemerken könnte, ehe sie die Treppe erreichten; unsinnige Gedanken fuhren ihm durch den Kopf: dass er seine Atemzüge im Nacken spürte und seine ausgestreckte Hand ahnte. Oder wie die Kirlian-Korona wahrnahm

Als er dicht genug heran war, hatte er Mühe, seinen Schritten auszuweichen.

Jetzt?

Er sah die Steilwand hinunter, die kaum einen halben Meter entfernt war, und streckte wieder den Arm aus – diesmal den rechten –, bis seine Fingerspitzen die Schulterklappen von Eathscotts Trenchcoat berührten. Die Berührung ließ ihn wie bei einem starken elektrischen Schlag zurückzucken.

Er glaubte, dass der andere sein hastiges Atmen hören mußte und seinen unregelmäßigen Tritt.

Aber Eathscott ging unverwandt weiter, den Blick starr nach vorn auf die Steilwand gerichtet, wo jetzt eine gebogene, schon angerostete Eisenhalterung auftauchte, an der die Holztreppe im Fels verankert war.

Ich bring‘s nicht fertig, stellte Karga hilflos fest. Weiß Gott, nicht noch einmal …

Er dachte an Leutners entstelltes Gesicht. An die feinen Haarrisse auf seiner Stirn, die sich mit Blut gefüllt hatten. Und an die aufgeschlagenen Bücher auf Sutters Tisch. An die Fotos, die an den Wänden seines Bastelkellers hingen.

An den Blick durchs Gitter und in den ummauerten Hof mit den beiden Pfosten und der festgestampften Erde, wo während der britischen Kolonialzeit Erschießungen stattgefunden hatten.

Dann schoben sich unpassenderweise die Gesichter von radelnden Bauern dazwischen, er versuchte vergeblich, ihnen im Vorüberfahren zuzuwinken.

Nicht noch einmal …

Für einen Augenblick wurde seine Vorstellung so überdeutlich, dass er den anderen dort unten zwischen den glattgewaschenen Felsen liegen sah: in verkrümmter Haltung, das zersprungene Gehäuse des Sprechfunkgeräts außer Reichweite seiner Hand im Sand.

Sie erreichten die Treppe. Eathscott wandte sich um, ein offenes Lächeln auf dem Gesicht.

«Gehen Sie voraus, Robert. Wollen Sie? Es muss doch ein erhebendes Gefühl sein – so dicht das Meer vor sich und keine Probleme mehr damit, oder? Was fühlen Sie?»