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Sutter war der Psychologe, er hatte zu entscheiden. Allerdings nur, was seinen eigenen Bereich betraf. Welche Schlüsse er, Eathscott, daraus zog, mußte schon ihm selbst überlassen bleiben. Darin durfte er sich nicht beirren lassen.
Da Sutters Alter ungefähr dem Whylers entsprach, vermied Eathscott es sorgfältig, sich seit Whylers Rückbeorderung nach London von ihm zu einem Spaziergang an der Steilküste überreden zu lassen; ihrer täglichen Lagebesprechung, die sie immer mit der Erleichterung absolviert hatten, endlich für ein oder zwei Stunden dem unterirdischen Bunker mit all seiner Elektronik entkommen zu sein.
Statt dessen zog er es vor, von Zeit zu Zeit zum Luftschnappen vor die Tür zu treten und das tief in die moosbewachsene Senke geduckte Bauernhaus mit kritischen Blicken zu mustern – vor einigen Monaten noch war es nur als elektronischer Lauschposten zur See benutzt worden.
Er hätte das – zugegeben unbegründete, ja alberne – Gefühl gehabt, Sutter sei an Whylers Stelle getreten, habe seine Position eingenommen. Vielleicht, weil er ihm auch in Gestalt und Größe glich – allerdings weniger, was sein biederes Theologengesicht anging:
Sutters hageres, oft verschlossenes Gesicht trug eine natürliche Autorität zur Schau, die ihn verunsicherte. Obwohl Eathscott ihn als Menschen nicht sonderlich schätzte, respektierte er ihn doch als Fachmann. Er hatte die typischen Allüren des Akademikers: eine wohldosierte, beinahe unmerkliche Herablassung anderen gegenüber, von der er bei passender Gelegenheit Gebrauch machte. Gerade nur soviel, wie er jeweils benötigte, um seine Meinung durchzusetzen.
Sein letzter Bericht zum Beispiel: Wenn man das Bild einer Persönlichkeit zeichnete, genügte es für ihre Zwecke, nur die wirklich wichtigen Daten anzuführen: gewissenhaft bis pedantisch, impulsiv, mäßig ehrgeizig, ruhig, hohe Ideale, aber den Glauben verloren. Neigung zum Selbstmord denkbar. Wohl ein gewisser Hang zur Selbstzerstörung.
Das zeigten schon seine psychologischen Einstellungstests bei der VVG.
Statt dessen erging Sutter sich mit einer an Wollust grenzenden Ausführlichkeit in weit zurückliegenden Einzelheiten.
Er schloss die Tür zum Allerheiligsten auf – sein «Labor» neben dem noch unbenutzten Verhörraum – und zeigte ihm einen Haufen vergilbter Schwarzweißfotos, die Hollers Leute aus Kargas Wohnung entwendet hatten: ein Grab mit frischen Blumen, ein verwüstetes Wohnzimmer, in dem die Sessel umgestoßen und der Inhalt der Schrankschubladen über den Boden verstreut waren – Briefe, Scheren, Wollknäuel, Sockenhalter. Polizeiaufnahmen oder Fotos, die zur gleichen Zeit mit einer anderen Kamera aufgenommen worden waren.
Daneben die üblichen amateurhaften Posierbilder: Karga als Zweijähriger auf einem Schaukelpferd, Karga im Alter von drei Jahren unter dem übergroßen Hut seines Vaters versteckt.
Ein Mann von imposanter Statur, Oberbuchhalter der «Zebra Ofenwerke» in Berlin. Er pflegte auch im Hause Handschuhe zu tragen und seinen Hemdenausschnitt geschlossen zu halten. Nicht weil er dem Puritanismus seiner Jugendjahre nachtrauerte – allerdings hätte er den zweiteiligen Badeanzug abgelehnt –‚ sondern der Anlass für seine Schamhaftigkeit war ein seltener, körperlicher Defekt.
Man nahm das Wort nicht in den Mund, aber ausgezogen glich er einem Affen. Lange Zeiten hatten alle im Familienkreise, wenn auch grundlos, befürchtet, Robert könnte seine Hypertrichosis geerbt haben, den Hang zu überstarker Behaarung.
Dann das Bild seiner leiblichen Mutter: eine aristokratisch aussehende, fast weißhaarige Frau; sehr mager, sehr steif und beherrscht wirkend. Nach so vielen Jahren klebte noch immer ein Trauerflor über der linken oberen Bildecke.
Er hatte als kaum Dreijähriger zusehen müssen, wie man sie zurichtete, als sie zwei Einbrecher überraschte und zur Rede stellte. Sie hatten sie mitgenommen, und ihre Leiche war einen Tag später an jenem Uferstück unterhalb des Hauses im Wasser gefunden worden, wo sich der Fluss zu einem kleinen See aufstaute. Das erklärte seine Empfindlichkeit gegen Gewalt. Nach Sutters Meinung jedenfalls.
Diese Seelenheinis versuchten immer noch mit unerschütterlicher Überzeugung, alles und jedes auf traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit zurückzuführen ... verwässerte freudianische Lehre. Seine Abneigung gegen Gewalt auf die Ermordung seiner Mutter.
Seine Angst vor Wasser auf einen Unfall in der Schwimmstunde. Seine Furcht in der Schwimmstunde auf den Schock, als man seine Mutter aus dem Fluss geborgen hatte. Fast eine Rechenaufgabe. Alles zurückführbar, keine Rätsel. Hier die Ursache, da die Wirkung. Sie warfen der Aufmerksamkeit ein paar wiedergekäute Bissen vor, und schon fiel das ganze Rudel halbblinder Suchhunde darüber her, als sei es die einzige Nahrung:
«Wie erklären Sie sich sonst, dass er wegen einer lächerlichen Holzknüppelaktion aus der Kommunistischen Partei austrat – nach drei Wochen? Das spricht für traumatische Sensibilität.
Und achten Sie darauf, in welcher Weise sich bei ihm der Gedanke an Gott über die Hintertreppe wieder hereinschleicht. Wie Whyler ein Gottloser, aber immer mit Gott beschäftigt. Daraus lassen sich sein Verantwortungsgefühl und seine Schuldkomplexe ableiten – und sein Bedürfnis nach Bestrafung. Ein noch nicht abschätzbarer Hang zur Selbstzerstörung.»
Mit seiner Stiefmutter habe er sich nie sonderlich gut verstanden – das deute auf einen tief empfundenen Mangel hin und erkläre seine Suche nach festen Bindungen, die lange Verlobung, obwohl eine passionierte Seglerin ihm wohl kaum ein problemloses Familienleben garantieren würde. Sein Hang, sich außerhalb der Arbeitszeit im Bastelkeller zu vergraben: der unbewusste Glaube, alles Wesentliche im Leben hänge von der Feinarbeit ab, und mit Gründlichkeit und Pedanterie werde es schon klappen.
Während Kargas Maschine noch nicht einmal in Wien gestartet war, hatte Eathscott sich eine ganze Nacht lang mit Sutters Bericht herumgeschlagen; die Spreu vom Weizen zu trennen versucht. In Stichworten das Notwendigste herausgezogen.
Eine vertane Nacht, denn er war zu demselben Ergebnis wie früher gelangt: Anders als Natorp, würde Karga sich nie in eine Internierung fügen.
Und falls doch, blieb er ein unsicherer Kantonist. Der unbedeutende kleine Angestellte eines Konzerns für Unterhaltungselektronik, dem ohne Absicht und Wissen eine der wichtigsten militärischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte gelungen war.
Unklar, ob ihm das zu Kopf steigen und ihn noch widerspenstiger werden lassen würde, als er sich ohnehin schon gab.
Vielleicht – ja, sogar wahrscheinlich – entdeckte er eines Tages seinen wirklichen Wert, und das konnte ihn plötzlich auf andere Gedanken bringen. Dann war da noch dieser irreparable Umstand, dem Garling offenbar besondere Wichtigkeit beimaß: Whylers falsche Einschätzung seiner Ostbeziehungen – DKP-Mitgliedschaft, Freundschaft mit Thaube, Stiefmutter im Osten und seine missverständliche Reise nach Rumänien samt dem mysteriösen Botengang für Thaube.
Sie hatte verschuldet, dass Karga sich nach einiger Zeit mit ziemlicher Sicherheit fragen würde, wieso er eigentlich für eine Seite arbeitete, die ihm so übel mitspielte und so viel Misstrauen entgegenbrachte.
Auch ein weniger empfindlicher Mensch als er würde sich darüber seine Gedanken machen.
Die Schlussfolgerungen lagen auf der Hand. Wenn er vor sich selbst ein Kerl bleiben wollte, würde er sich nicht auf einer einsamen Insel – den Seychellen oder Malediven – verkriechen – dort würde man ihn zuerst suchen –‚ sondern nach einem sicheren Rock Ausschau halten, unter den er seinen Kopf stecken konnte. Aber ohne seine Selbstachtung zu verlieren. Also würde er sich politisch einen Ruck geben, etwas ideologische Einsicht zulegen und dann guten Gewissens ins gegnerische Lager überlaufen – aus «Überzeugung». Zorn, Rachegedanken, das waren die natürlichen Reaktionen in einem Fall wie seinem. Erst recht, wenn er entdeckte, wie man ihm mit seiner Freundin mitgespielt hatte.
Er würde auf der anderen Seite verständnisvolle Freunde finden, die ihn mit der Nase darauf stießen: sie noch einmal genüsslich in den Dreck bohrten wie bei einem Hund, der stubenrein werden sollte, und ihn ausdrücklich in seinen Racheplänen bestätigten.
Er kannte den Laden, die Regeln waren überall ähnlich. Und wenn Karga jemals mit seinem Wissen über ihre Praktiken an die Öffentlichkeit ging – zum Beispiel wegen des «Unfalls» im Kühlwagen –‚ rollten einige Köpfe. Eathscott konnte sich leicht ausrechnen, dass seiner der erste war.
Insofern stimmte er Garlings und Sutters Analyse zu. Natorp hatte begriffen, dass er es in seinem Leben bei der VVG nie weiter als bis zum Abteilungsleiter gebracht hätte. Er war zugänglich für gute Bezahlung und einen gehobenen Posten der militär-technischen Laufbahn auf Hannibal Island; und er sprach leidlich Englisch. Das waren hinreichende Voraussetzungen.
Womöglich fühlte er sich sogar geschmeichelt, dass man ihn so wichtig nahm. Rückblickend mußte er Kargas Entdeckung als einen unerhörten Glücksfall angesehen haben, sonst hätte er nicht sofort eingewilligt, Westdeutschland mit Frau und Kind zu verlassen. Natorps Mitwisserschaft war sein Kapital.
Karga dagegen … nun, man konnte das Risiko eingehen, wenn man wollte – man konnte immer ein Risiko eingehen. Es war zweifelhaft, ob Natorp ohne Unterlagen überhaupt in der Lage sein würde, die Konstruktionspläne zu rekonstruieren. Nicht aus dem Gedächtnis, nahm er an.
Es war auch unwahrscheinlich, dass er ein unehrliches Spiel spielte. Sonst hätte er sich nicht mit Billigung der Geschäftsleitung von der VVG an den Militärischen Abschirmdienst der Deutschen gewandt. Und selbstverständlich würde man ihn bei seiner Arbeit niemals mit Arbeiten betrauen, die dieses Gebiet betrafen.
Es gab genügend andere militärtechnische Aufgaben auf Hannibal Island für ihn. Wie hatte Whyler noch gesagt? – Lasst ihn niemals spüren, dass er eigentlich überflüssig ist, ein Zuträger, der seine Schuldigkeit getan hat. Es könnte sich gegen uns richten. Bei Karga lag der Fall anders.
Die Erfindung entsprang seinem Gehirn, seinen Vorstellungen, er hatte viele Wochen mit der Idee gelebt und sich Tag und Nacht den Kopf darüber zermartert. Man konnte ihn ebenso wenig gehen lassen, wie die Russen den Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe freigaben.
Und die Wasserstoffbombe war ein alter Hut. Sacharow würde höchstens über ein paar Intimitäten aus der Mottenkiste plaudern können.
«Fahrzeug auf der oberen Küstenstraße», ertönte Gatsbys Stimme aus der Sprechanlage. «Schwarzer Lieferwagen, geschlossen, keine Fenster im Laderaum … warten Sie, ja, Marke Talbot – unser Londoner Kennzeichen, Sir.»
Eathscott erhob sich von seinem Beobachtungsposten am Fenster, er hatte im Daily Worker gelesen, mehr zerstreut als bei der Sache: Carl Bäumer ihr amerikanischer Experte für den EMP – zugleich Chefprüfer auf dem Teststand der Luftstreitkräfte in Kirtland und nach Sutter sicher der wichtigste Mann im Laden –‚ hatte ihm morgens bei seiner Ankunft die Neuigkeiten gesteckt, dass Garling einen Herzschrittmacher trug.
Das beschäftigte ihn mehr als die letzten Bergarbeiterstreiks oder der Anstieg der Preise für Kondensmilch.
Es erklärte Garlings persönliche Betroffenheit, vielleicht auch sein Engagement in der Sache. Es war immer wieder überraschend, zu sehen, wie stark persönliche und allgemeine Interessen sich verklammern oder Hand in Hand gehen konnten: Garling arbeitete für die Sicherheit seiner eigenen Herzfunktionen
Eathscott warf die Zeitung auf den Tisch zurück und nickte Sutter auffordernd zu. Dabei fuhr er sich über seine beiden vorstehenden Schneidezähne.
«Das ist er. Unser Mann.»
Sutter blieb ungerührt beim zugemauerten Kamin am gusseisernen Ofen sitzen, eine Mappe mit handbeschriebenen Papieren auf dem Schoß. Als reagiert er nicht auf Kommandos und wolle damit seine Unabhängigkeit beweisen!
Erst, nachdem er die Blätter zu einem sauberen Stapel geordnet hatte, stand er ohne Eile auf. Das Motorgeräusch des Talbot war bereits durch die geschlossenen Doppelfenster zu hören. Eathscott fand, dass seine Handschrift dieselbe Herablassung zeigte wie sein Gesicht und seine Gebärden; geradeso unmerklich, dass man dauernd darüber im Zweifel war und sich herausgefordert fühlte, übertrieben zu reagieren.
Obwohl längst alles entschieden war und Sutter – womöglich als einziger – über die passende Methode verfügte, hätte er sich lieber einen anderen Psychologen für ihre heikle Aufgabe gewünscht. Dass Garling ihnen ausgerechnet Sutter zuteilte, mochte an seinem Ruf liegen, in gewissen Dingen skrupellos zu sein. Bis zu seinem Eintritt in den Geheimdienst hatte er ein umstrittenes Londoner Sozialwerk geleitet.
Einige Insassen, psychisch Kranke, waren in einer Weise mit der chemischen Keule ruhiggestellt worden, die in der Öffentlichkeit Proteststürme auslösen mußte. Zwei Psychiater hatten damals ihre Approbation verloren.
Kendall nahm seine Uniformjacke vom Haken. Er öffnete ihnen die Tür, und Sutter und Eathscott traten vor das Haus.
Sie sahen zu, wie der Lieferwagen langsam auf die kurze Schotterstrecke zur Einfahrt einbog. Über die bemoosten Hänge hoppelte ein Hase. Er stand witternd auf den langen Hinterbeinen, das Fell graugelb, mit schwärzlicher Melierung, und ließ seinen weißen Bauch sehen.
Das schwarze Fahrzeug war ihm nicht geheuer.
Einen Augenblick, ehe er in einem Busch untertauchte, erinnerte er Eathscott in seiner stillen Würde und Biederkeit an Whyler; und ganz plötzlich, wenn auch nur für Sekunden, wünschte er sich, man hätte ihn doch mit einer anderen Aufgabe betraut
«Weiß Karga, dass er in Schottland ist?», erkundige sich Sutter, breitbeinig zwischen hohen Kräutern stehend, die neben den moosbewachsenen Steinen wuchsen.
«Nein. Man hat ihm gesagt, er werde ausgeflogen – aber nicht, wohin. Allerdings fiel der Name Hannibal Island, als er Holler in Deutschland zur Rede stellte.»
Sie dämpften ihre Stimmen, denn die Laderaumtür wurde von innen geöffnet. Holler stieg aus, er winkte dem Fahrer über den Außenspiegel, den Wagen dichter an die Haustür zu fahren.
«Womöglich glaubt er sogar, er sei schon in den Staaten?»
«Ich weiß nicht, was erdenkt. Aber wir sollten zugeben, dass er an einem geheimen Ort interniert ist, vorläufig, zu seiner eigenen Sicherheit.»
«Das könnte ihn ruhigstellen, ja.»
Eathscott verzog spöttisch die Augenbrauen; aber er hielt sein Gesicht dabei abgewandt. Es amüsierte ihn, dass Sutter ein Leben im Dienste der Ruhigstellung geführt hatte. Er wusste nichts von dem Zwischenfall im Kühlwagen.
«Überlassen Sie das mir», fügte Sutter hinzu. «Ich habe Erfahrung darin.»
«Wir haben drei Tage.»
«Ich denke, dass ich nur zwei benötige.»
«Auf jeden Fall sollten wir ihn zum Einlenken gebracht haben, bis die Generalstäbler kommen.»
«Ich sagte ja – überlassen Sie das mir. Ich bin verantwortlich. Unsere Aufgabenteilung ist klar.» Er hatte wieder diesen herablassenden Zug, der seine Nase in einen flachen Zacken zwischen zwei tiefen Faltentälern verwandelte. Es versetzte Eathscott einen Stich.
«Nicht, was die Richtlinienkompetenz anbelangt. Ich leite die Aktion, Sie wird man nur für Ihre eigenen Schnitzer verantwortlich machen.»
«Welche Schnitzer? Ist das als Provokation gemeint? Falls ja, verstehe ich nicht, was Sie gegen mich haben?»
«Ich bade auch die Fehler der anderen aus.»
«Wie Whyler?»
«Wollen Sie damit andeuten, ich hätte Whyler eingeredet, dieser Deutsche sympathisiere mit dem Osten? Etwa, um an seine Stelle zu treten?»
«Davon habe ich nichts gesagt.»
«Man könnte es so auslegen.»
Sie schwiegen. Sutters Blick schweifte zum Dach und musterte mit betonter Neugier den weißgestrichenen Backsteinkamin; außer dass er eine feine, spiralförmige Rauchsäule aufsteigen ließ, gab es wenig Bemerkenswertes daran zu entdecken. Dann wandte er sich leicht die Achseln zuckend nach ihm um. «Lassen wir jetzt den Quatsch.»
Eathscott nickte voller mühsam verhohlener Abneigung. «Ja, wir sind keine Kinder.»
«Also fangen wir an.»
«Anfangen – natürlich.»
«Schluss mit den Albernheiten.» Er streckte seine Hand aus. «Auf gute Zusammenarbeit.»
Eathscott ergriff sie und fand sie zu trocken. Beide folgten den anderen ins Haus.
«Sie sollten noch ein oder zwei Tage das Bett hüten», empfahl Holler im Tone eines Krankenhausbesuchers. Er legte gemütlich seine Hände auf den Rücken. Trotzdem klang seine Stimme so nachdrücklich, als sei Widerspruch ein Widerspruch in sich. Auf jeden Fall aber Verrat an seiner Gesundheit.
Erst geschlagene drei Stunden, nachdem man ihm seine lächerliche Augenbinde abgenommen hatte, war er mit einer in Papier eingewickelten Flasche Martell aufgetaucht – zu einem Zeitpunkt, als Karga sich aufrecht im Bett sitzend ernsthaft zu fragen begann, was in aller Welt eigentlich der Sinn dieser fluchtartigen und jedenfalls überhasteten Reise samt ihrer Jagd durch Nebenkorridore auf den Flughäfen sein könnte, wenn man sich jetzt so viel Zeit ließ und ihn weder nach Deutschland noch auf Hannibal Island gebracht hatte.
Denn für den Michigan See war die Flugdauer zu kurz gewesen, das hatte er auch ohne seine Armbanduhr begriffen. Die Beamten in der Ankunftshalle hatten Oxford-Englisch gesprochen.
Jetzt stand Holler unmerklich tänzelnd in weißen Laufschuhen und einem neuen blauen Trainingsanzug mit Armstreifen vor ihm und gab sich alle Mühe, verbindlich dreinzublicken. Er probiere gerade die Sporteinrichtungen aus. Übermorgen würden sie ein wenig an Kargas Kondition arbeiten.
Es war auffallend, dass sich plötzlich alle mit übertriebener Sorge um sein Wohl bemühten. So auffällig, dass auch ein geistig Minderbemittelter Verdacht geschöpft hätte.
Kleine Aufmerksamkeiten, beim Wunsch für das morgige Frühstück angefangen. Englisch oder kontinental?
Selbstverständlich besorgen wir Ihnen Croissants ... Nein, das macht keine Probleme. Nur eine Frau können wir Ihnen nicht bieten – Sie verstehen? Wir befinden uns im militärischen Sperrgebiet.
Diese Art von Gewerbe vereinbart sich nun mal nicht mit den erforderlichem Sicherheitsüberprüfungen. Kargas manchmal unbeholfenen Englisch begegnete man mit ungewöhnlicher Nachsicht. Holler hatte ihm noch im Flugzeug seinen wirklichen Namen genannt – anscheinend als Vertrauensbeweis: weil man jetzt das Versteckspiel lassen könne.
«Machen Sie das Beste daraus. Genießen Sie die Aussicht, mehr haben wir hier nicht.» Er trat an die Scheibe und zeigte in den winzigen umbauten Innengarten, der mit Kies ausgelegt war.
«Man hat mir noch nicht gesagt, wo wir uns befinden? Ich denke, dass sind Sie mir einfach schuldig.»
«Ja, natürlich – Verzeihung. In einem Haus an der schottischen Küste. Bunkeranlage. Jetzt für militärische Sonderaufgaben genutzt. Hier über uns war einmal ein elektronischer Horchposten zur See hinaus. Etwas weiter unten an der Landstraße finden Sie noch Holzgerüste davon, die Reste der getarnten Empfangsanlagen. Dies ist unser Militärhospital für besondere Zwecke. Wir denken, dass Sie eine Behandlung brauchen, ehe Sie für uns arbeiten können.»
«Behandlung, wieso?»
«Vergessen Sie nicht, dass Hannibal Island eine künstlich verankerte
Insel ist, eine Plattform auf Betonpfeilern. Sie würden dort mit Ihrer
Wasserphobie keinen Tag lang ruhig arbeiten können. Einer unserer
Spezialisten wird Sie davon befreien.»
«Herzlichen Dank. Ich bin wenig optimistisch, dass ihm das gelingen könnte. Außerdem weiß ich gar nicht, ob ich auf Ihrer künstlichen Insel arbeiten will. Amerika hat mir nie gelegen.»
Holler setzte sich nachsichtig nickend zu ihm auf die Bettkante. «Wahrscheinlich bleibt Ihnen gar keine andere Wahl. Es gibt eine Menge Geheimdienste in Ost und West, die mehr als ein kleines Vermögen opfern würden, um Sie in die Finger zu bekommen. Dann Ihr Verfahren wegen Leutners Ermordung.»
«Totschlag. Es war Totschlag.»
« Sie werden es als Mord hinstellen.»
«Man hat mir noch nicht gesagt, um welche Art von militärischer Nutzung es sich eigentlich handelt?»
«In zwei, drei Tagen.» Holler knetete verlegen seine Hände. «Dafür haben wir unsere Fachleute – Leute vom Fach, ja. Gewöhnen Sie sich erst einmal ein. Wir wollen, dass Sie Vertrauen fassen. Diese Geschichte mit dem Kühlwagen war ein bedauerlicher Unfall. Ohne den Beamten am österreichischen Zoll wären Sie jetzt nicht hier.»
«Und Ericks, dieser Dreckskerl?» Karga lehnte sich abweisend im Bett zurück. «Momentaner Ausfall des Gehörs – oder wie soll ich sein Verhalten verstehen?»
«Er hielt sich in der Zollbaracke auf.»
«Früher, meine ich, vor dem Zoll.»
«Sie befanden sich auf ungarischer Seite, vielleicht auch schon im Niemandsland. Selbst wenn er etwas gehört hätte – es wäre kaum vertretbar gewesen, in diesem Stadium anzuhalten.»
«In diesem Stadium, aha. Kaum vertretbar …», sagte Karga halblaut. «Nein, wahrscheinlich nicht.»
«Wir haben noch keine technische Erklärung dafür. Wir wissen einfach nicht, wodurch sich die Kühlanlage einschalten konnte.»
Während Holler ihn aufmerksam musterte, wirkte sein Gesicht wie ein Vergrößerungsspiegel, in dem Kargas Skepsis überdimensionale Ausmaße annahm; seine Unterlippe bewegte sich besorgt nach unten und verharrte in schiefer Stellung.
«Nein, ziehen Sie um Himmels willen keine falschen Schlussfolgerungen daraus – nur das nicht …
Es würde einen Schatten auf unsere künftige Zusammenarbeit werfen. Sie sollen sehen, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht. Sutter, Ihr psychologischer Betreuer, spricht ausgezeichnet Deutsch. Sie können sich in unserer Sprache mit ihm verständigen.
Wir wollen Ihr Bestes. Ihr und unser Bestes natürlich, schließlich handeln wir nicht selbstlos. Aber ich denke, das erwartet auch niemand von uns. Wenn Sie sich für unsere Seite entschieden haben, werden Sie sehen, dass es eine gute Wahl war …»
Die Wahl des Hundes, der Prügel und Kette akzeptiert, weil ihm nichts anderes übrigbleibt – Karga nickte voll undurchsichtigem Grimm, als werde er sich noch einmal alles reiflich durch den Kopf gehen lassen.
«Übrigens bekommen Sie Gesellschaft. Ihr Kollege Natorp ist eingetroffen», erklärte Holler. Er stand schon an der Tür und wandte sich nach ihm um. «Mit Familie. Sie werden im Apartment nebenan wohnen. Wenn Sie wollen, können Sie ihn sehen – aber schonen Sie sich noch, wir möchten sicher sein, dass Ihnen die Unterkühlung nicht geschadet hat.»
Nachdem er gegangen war, stand Karga vom Bett auf, um den Raum zu inspizieren. Er bewegte sich schwerfällig bis zu den künstlich beleuchteten Pflanzen im Innenhof, hinter denen ein winziger Springbrunnen plätscherte. Seine Schritte knirschten auf dem hellen Kies. Er hielt seinen Handrücken unter die Wachstumslampen.
Er war überzeugt, dass hier alles von versteckten Abhöranlagen und Fernsehaugen wimmelte und dass jede seiner Bewegungen auf Monitoren überwacht wurde.
Also benahm er sich wie jemand, der sich langsam in sein Schicksal fügte und den Wert der Dinge schätzen lernte: den gefüllten Kühlschrank mit seinen ausländischen Weinen, die neuen Einbaumöbel, das gerahmte Foto an der Wand, das den Tower und einen Ausschnitt der Themse mit herbstlich verregneten Brücken zeigte – ausgerechnet Wasser …
Er wusste nicht, ob er sich wirklich in sein Schicksal fügen sollte. Ob er Hannibal Island annahm. Nicht in diesem Moment. Er war wie ein Schauspieler, der für Augenblicke in eine Rolle schlüpfte, ganz in ihr aufging, vergaß, dass er ein anderer war und sich dann voller Verwunderung wieder seiner eigentlichen Existenz erinnerte.
Ein Zwischenzustand. Irgendeine Belanglosigkeit würde den Ausschlag geben. Es gab ein Recht auf Freiheit. Sie verwendeten nicht das Wort «Internierung», aber sie meinten dieselbe Sache. Sie nannten es «Mitarbeit unter kontrollierten Bedingungen». Kein Gesetz der freien Welt berechtigte sie dazu.
Er konnte versuchen, sie daran zu hindern. Oder einlenken. Beides war denkbar. Als er seinen Inspektionsgang beendet hatte, nahm er eine Tüte gesalzene Nüsse und setzte sich damit auf die Bettkante.
Er aß sie langsam und kaute gründlich, die Hände in das Blickfeld eines eingebildeten Kameraauges irgendwo im Winkel zwischen Wand und Decke gerückt. Natorp und Familie ...
Und Anja? Was, wenn sie mit ihm nach Hannibal Island ginge?
Es gibt da einiges in deinem Leben, womit ich erst fertig werden muss. Was, in aller Welt, hatte sie damit gemeint?
Nein, nur keine Illusionen. Keine Hoffnungen, mit denen er eines
Tages im Regen stand. Er spürte, dass er sie für immer verloren hatte.
Sie waren zu verschieden. Im Gegensatz zu ihm würde ihr Stolz sie am
Einlenken hindern. Selbst wenn sie einsah, dass sie ihm unrecht tat.
Jeder trug da drinnen seine Hürden mit sich herum, und nach allem,
was er wusste, war diese Hürde für sie zu hoch.