Achtes Kapitel


1


Eathscott holte die Kiste persönlich am Kai ab. Sie war so groß, dass sie gerade auf die Ladefläche passte, wenn man beide Rückenlehnen umkippte. Möwen landeten schreiend auf den alten Häusern und sahen ihnen von den Dächern aus zu.

Der Hafen glich einem verrosteten Hufeisen, in dem noch Nägel steckten: voller Alteisen und anderem Schrott, im Wasser und zu Lande.

Die windschiefen ein- oder zweistöckigen Bauten glichen sich in ihrer Farbe dem Trockendock und seinen schrägen unlackierten Schiffsleibern an. Sie bildeten ein nach Südwesten offenes U, das genau in die Fahrtrichtung der Dartmouth wies, und so hatte Eathscott trotz der hohen Hafenmauern schon im Morgengrauen beobachten können, wie sich der kleine zweckentfremdete Trawler mit Ladung aus Hull näherte. Er brachte Industriegüter und jene mysteriöse Holzkiste, um die einige Matrosen an Deck sicher einen ehrfürchtigen Bogen gemacht hatten, weil sie die Aufschrift Geheimes Militärgut trug.

«Nur persönlich zu übergeben vom Kapitän an den in den Begleitpapieren genannten Empfänger – sonst postwendend zurück nach London», stand in unsauberer Stempelschrift auf ihrem verschraubten Deckel.

«Ein Dutzend miniaturisierter Atombomben, Sir?», fragte der Steuermann. Er stand neben Eathscott auf dem Kai und strich sich durch den Knebelbart. «Oder ein neues Kampfgas?»

«Nichts von beiden. Es ist nur halb so geheim, wie in den Papieren steht. Eine Anlage, mit der man Schwärme von Aluminiumpartikeln, metallene Folien oder Ballons in der Luft von echten militärischen Flugobjekten unterscheiden kann. Im Zweiten Weltkrieg gelangen einige Täuschungsmanöver damit. Das Ganze ist noch im Entwicklungsstadium. Funktioniert sowenig wie die Wettervorhersage. Die Russen arbeiten ebenfalls daran, und sie sind schon einen Schritt weiter als wir.»

«Schlagen Sie ihnen doch einen Tausch vor?»

«Ja, man sollt‘s einfach an der nächsten Straßenecke stehen lassen und abwarten, ob sie es vertauschen.» Er stieß respektlos mit dem Fuß gegen die Bretter. «Ich glaube, das Ding ist nichts wert.»

Zwei Matrosen hoben die Kiste auf die Ladefläche. Eathscott ließ sich den Wagenschlüssel zurückgeben, grüßte kurz und stieg ein. Beim Anfahren sah er auf seine Armbanduhr. Er mußte noch Whorfs Laden finden. Um zehn hatte er eine Unterredung mit Sutter. Erste Analyse, die sich nicht auf Unterlagen und Berichte vom Hörensagen stützte.

Danach würde er ihn dazu überreden, jene Desensitivierung durchzuführen, über die er in einem geheimen Bericht seines Londoner Sozialwerks gelesen hatte – die stärkere Version, also Kombination mit umgekehrter Aversionstherapie, Sutters Spezialität. Wenn er richtig verstand, sogar seine Entdeckung. Sutter hatte in seinen Experimenten das Verfahren des südafrikanischen Psychologen Wolpe mit der Aversionstherapie, wie sie bei schweren Fällen von Alkoholismus Anwendung fand, kombiniert und in eigenständiger Weise erweitert.

Eigentlich sogar ins Gegenteil verkehrt, denn statt unangenehmer Stimuli wendete er positive, lustbetonte Bestätigung durch die chemische und elektrische Reizung bestimmter Hirnsphären an.

Nach Garlings Unterlagen eine beachtliche wissenschaftliche Neuerung. Er würde sich die Sache von Sutter erklären lassen, als habe er von all dem Psychokram noch nie etwas gehört, und dann zum entscheidenden Punkt kommen: der positiven Konditionierung.

Das nur für alle Fälle, falls Karga tatsächlich bis nach Hannibal Island kam und die Anlage hinten auf der Ladefläche aus irgendeinem Grunde versagte. Getreu dem alten Grundsatz: doppelt hält besser. Die Behandlung seiner Angstzustände würde Karga zugleich Vertrauen schöpfen lassen und zur Mitarbeit anregen.

Es waren die Schwachstellen in der Natur eines Menschen, die schließlich zum Erfolg führten, zu seiner Niederlage.

Im Alltag spielten viele unbewusst auf diesem Instrument, und manche brachten es zu einiger Virtuosität darin. Leutner hatte es sicher in dem klaren Bewusstsein eingesetzt, seinen Auftraggebern zu beschaffen, was sie wollten. Sie würden es ebenfalls zur Methode machen – und mit mehr Erfolg. Dazu waren sie von Staats wegen verpflichtet.

Er lachte, ohne sein Gesicht zu verziehen. Es war böse, aber notwendig. Man mußte es im größeren Zusammenhang sehen. Sicher ließ sich immer eine philosophische Diskussion über den Begriff der Notwendigkeit vom Zaun brechen. Aber das bekam der Praxis schlecht.

Vor dem einzigen Spirituosenladen des Ortes hielt er kurz an, beugte sich vor und musterte durch die Windschutzscheibe den Firmenschriftzug. Ein weißhaariger Mann polierte die Glastheke. Eathscott verglich ihn im Geiste mit der Beschreibung in Garlings Instruktionspapieren.

Da das Ergebnis zu seiner Zufriedenheit ausfiel, startete er den Wagen wieder und stellte ihn um die Ecke hinter der Telefonzelle ab. Er wollte vermeiden, dass man sich das Nummernschild merkte.

Im Eingang forderte ein rotes Blechschild unverfroren dazu auf, der einheimischen Schnapsproduktion den Vorrang zu geben. Hier in der Gegend trank man vorzugsweise schottischen Whisky, wie es sich für ein weltbekanntes Herstellerland gehörte. Aber es gab auch andere Spirituosen und ausländische Weine.

An einem Rasdell mit aufgetürmtem portugiesischem Rose, bauchigen grünen Flaschen, zwischen die Glasscheiben geschoben waren, blieb er sinnend stehen, scheinbar in den Anblick ihrer Etiketten versunken. Der Weißhaarige näherte sich von der Seite. Er trug eine Lederschürze und rieb geschäftstüchtig die Hände an ihr.

«Ceasefore ... erinnern Sie sich an die Marke?», fragte Eathscott übertrieben deutlich.

«Ceasef …?»

Der andere steckte seine Hände in die Schürzentasche und blickte über die Schulter zur Theke zurück.

«Ja, natürlich», sagte er mit ebenso übertriebener Artikulation, nur lauter. «Sie meinen natürlich Ceasefave, schottischer Malzwhisky bester Qualität. Nein, der ist uns momentan ausgegangen. Darf’s eine gleichwertige Sorte sein?»

Dann, verhalten: «Sie kommen wegen des Umschlags, nicht wahr? Ich hatte schon nicht mehr mit Ihnen gerechnet. Er liegt seit drei Tagen hier.»

Eathscott entdeckte erst jetzt, dass außer ihnen noch jemand im Verkaufsraum war.

«Warten Sie, ich schicke den Lehrling weg.»

Eathscott beobachtete, dass er dem jungen Burschen, der plötzlich in der Ecke vernehmlich leere Weinflaschen sortierte, eine Anweisung gab. Er verstand nicht, was er sagte. Aber der junge verschwand durch die Tür in der Hinterwand, über der Lager stand. Gleich darauf kam Whorf mit einem braunen Kuvert zurück.

Eathscott vergewisserte sich, dass die Siegelstreifen unversehrt waren. Er zog eine Pfundnote aus der Tasche. «Vielen Dank. Dann bis zum nächsten Mal.»

Als er wieder im Wagen saß, öffnete er das Kuvert. Es war ohne Anschrift, und das DIN-A 4-Blatt darin war mit winziger Maschinenschrift beschrieben – Typ «Micron» oder ähnlich. Jedenfalls kein Typenrad, das in ihren Londoner Büros verwendet wurde. Garling hatte an alles gedacht.

Er hielt es dicht unter die Augen, um es entziffern zu können, weil seine Sehkraft nicht die beste war:


K. wie wir erwartet hatten von L.s Hintermännern in Westdeutschland gesucht. Der ganze Moskauer Apparat in Bewegung. Unser Mann drüben fand heraus, dass sie K. ein Tauschgeschäft vorschlagen werden: Niederschlagung des Verfahrens wegen Totschlag in Ungarn und Straffreiheit als Gegenleistung.

Weiteres Druckmittel: K.s Stiefmutter, die in Ost-Berlin festgehalten wird. Anklage wegen Beihilfe möglich. Das dürfte K. unter ziemlichen moralischen Druck setzen, auch wenn sie nicht seine leibliche Mutter ist. Halten Sie unter allen Umständen diese Informationen von ihm fern. Ziehen Sie in eigener Verantwortung Schlussfolgerungen. Wiederhole: in eigener Verantwortung. Papier nach dem Lesen vernichten!

G.


Eathscott steckte das Blatt ins Kuvert zurück und verbrannte beides im Ascher.

Er fuhr durch den Ort und dann die Küstenstraße entlang, mit einer Hand steuernd, die andere wie überflüssig auf dem Schoß. Das Land rechts und links der Straße versank in trübem Grau, der zerfurchten Haut eines Elefanten nicht unähnlich, in der das feuchtschwarze Asphaltband eine Art Wasserspur bildete.

In eigener Verantwortung. Ein begabter Stratege zu sein, das bereitete ihm einiges Vergnügen. Aber schon nicht mehr die Kehrseite davon. Er würde sich von niemandem einreden lassen, dass er gewissenlos sei. Jedes Opfer war ein Opfer zuviel.

Whyler hatte einmal bemerkt, die dunkle Tat gedeihe in der Grauzone, als Schattengewächs. Nicht Folterknechte und Sadisten seien ihre eigentlichen Rädelsführer, ja nicht einmal die Schreibtischtäter, sondern sie ergebe sich gewissermaßen zwischen Tür und Angel: ein flüchtiger Gedanke, eine vermeintliche Einsicht, der man kein weiteres Nachdenken widmete.

Schon möglich, dass es auf den einen oder anderen von ihnen zutraf. Auf Gart oder Sutter zum Beispiel. Er selbst hatte lange und gründlich über alles nachgedacht.

An der Abzweige zum Haus, als der Schulbus passierte, tasteten seine Fingerspitzen nach hinten zur Kiste und berührten eine der Schrauben im Holz – worauf sie, kaum dass sie mit ihrem Metall Kontakt hatten, wie von einem elektrischen Schlag zurückzuckten ... Kein schöner Tod, bemerkte er ernüchtert. Aber es gab viele, die langwieriger waren. Sogar schmerzhafter.


«Sie würden also annehmen, er sei im Grunde seines Herzens noch immer ein ungezogenes Kind … unser künftiges Enfant terrible?»

Er legte die kalte Pfeife weg und fuhr dann mit der gleichen beschwörenden Stimme fort: «Fast so etwas wie ein verkapptes wildes Tier? Schlecht zu domestizieren? Gaukelt sich seine Sanftmut nur vor?

Oder ein Hund, wenn Ihnen der Vergleich besser liegt, der seine Kette durchzubeißen versucht – vielleicht auch seine eigene Pfote, falls er keinen anderen Ausweg sieht?»

«Wie in der Falle? Ja, so könnte man sagen.»

«Aber sind wir das nicht alle?»

«Mehr oder weniger, doch ... da haben Sie völlig recht. Einige reißen wie wild am Fanghaken. Andere belecken nur die Wunde, die er geschlagen hat. Das ist eine Frage des Naturells.»

«Er brächte also Unruhe in die Kolonie?»

«Sogar beträchtliche.»

«Unsere amerikanischen Freunde würden wenig begeistert sein darüber.» Eathscott legte den Kopf schief und musterte ihn voller nachdenklicher Neugier, als könne er ihn auf diese Weise zum Sprechen ermuntern. Aber Sutter war gar nicht der Mann, der mit seinen Überzeugungen hinter dem Berg hielt.

«Ich denke, sie werden ihn irgendwie verpflichten – ihm einen Arbeitsvertrag mit militärischen Sondervereinbarungen vorschlagen –‚ damit er seine Anwesenheit auf Hannibal Island nicht als Gefangenschaft betrachtet. Er müsste ein Narr sein, diesen Brocken ohne Widerspruch zu schlucken.»

«Und Ihre Behandlung?»

«Ich sagte schon, dass wir ihn wahrscheinlich von seiner Angst befreien können. Das ist ja wohl die Voraussetzung für irgendeine geordnete Arbeit auf der Plattform, oder? Mehr oder weniger erfolgreich jedenfalls. Die Methode steckt noch in den Kinderschuhen. Ihr klinischer Wert wird in der Fachliteratur übertrieben.»

«Sie wenden die Desensitivierungsmethode an, habe ich das richtig verstanden?»

«Desensitivierung, ja. Sie können es auch Desensibilisierung nennen, in der Sache ist es dasselbe. Wir führen ihn schrittweise an die Vorstellung großer Wasserflächen heran. Nach entsprechender Analyse.

Sie können sich das Ganze an Hand einer Gradskala vorstellen, auf der die Abstufungen seiner Angst eingetragen werden. In jeder Sitzung stellt er sich unter meiner Anleitung genau dosiert nur so viel davon vor, wie er ertragen kann, ohne dass seine Angst unbeherrschbar wird – und zu einer neuen Konditionierung. Der übliche Hochschaukelmechanismus.

Statt dessen verbinden wir diese Vorstellung mit einer gründlich eingeübten Entspannungsreaktion. Später, wenn er weit genug ist, bringen wir ihn dazu, sich wie irgendein x-beliebiger Schwimmer im Wasser frei bewegen zu können. Vielleicht nicht ohne jede Beklemmung, aber immerhin. Seine Hydrophobie ist verschwunden. Das ist natürlich die Endphase, unser Ziel. Es tatsächlich zu erreichen, davor haben die Götter den Schweiß gesetzt.»

Er drehte den Kopf und musterte flüchtig das Buchregal, hob dann aber seine Stimme, um aus dem Gedächtnis zu zitieren:

«Wird eine mit Angstreaktionen unvereinbare Reaktion provoziert, dann hemmt die stärkere der Reaktionen die schwächere. Zu den mit Angst unvereinbaren Reaktionen gehört vor allem die tiefe Muskelentspannung. So etwa lautet der klassische Lehrsatz.»

«Aber das Verfahren ist nicht so erfolgreich, wie man sich wünschen würde?», fragte Eathscott und versuchte seinen lauernden Gesichtsausdruck zu verbergen.

«Es hängt von der Mitarbeit und Geschicklichkeit des Patienten ab. Und von anderen Unwägbarkeiten.»

Eathscott wiegte nachdenklich den Kopf. Er erhob sich und ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen bis zur kahlen Betonwand, auf der nur ein armseliges zweibrettriges Bücherregal mit einigen zerlesen aussehenden Lehrbüchern hing. Ihre kartonierten Umschläge wurden an den Ecken von Klebestreifen zusammengehalten; er musterte die Titel.

Sutter hatte sich für ihren Auftrag nicht die Mühe gemacht, den Eindruck einer echten Arztpraxis zu erzeugen.

Es gab zwar einen leeren, unbenutzt wirkenden Schreibtisch mit Stuhlsesseln, einer davon neben der Tür zum Gang. Aber das alles machte den Eindruck des Provisorischen, fast Lieblosen. Sie befanden sich tief unter der Erde. Ein gewöhnlicher Mensch entwickelte in einem Bunkertrakt wie diesem meist einen eher übertrieben wirkenden Sinn für Häuslichkeit – Blumen, Decken, Bilder, ein paar persönliche Dinge auf den Möbeln. Sutter schien nichts von alledem zu vermissen. Eathscott hätte sich mehr Echtheit gewünscht, mehr Seriosität.

Trotzdem zweifelte er keinen Augenblick an Sutters Fähigkeiten.

«Geht Ihre eigene Methode nicht weit darüber hinaus? Ich habe da so was läuten hören.»

«Kombination mit umgekehrter Aversionstherapie, ja.»

Sutter zeigte sich nicht einen Moment lang geschmeichelt. Er verbreitete seinen spröde wirkenden Charme, als gieße er die Plastikblumen draußen im Wandelgang.

«Einen Alkoholiker versucht man mit negativer Konditionierung von seiner Sucht abzubringen. Bei der Verwendung chemischer Stimuli wird dem Patienten ein übelkeitserzeugendes Mittel verabreicht, Emetin oder Apomorphin. Bei sexuellem Fehlverhalten verwendet man eher elektrische Stimuli. Ich kombiniere beide Verfahren, chemische und elektrische, um eine optimale Wirkung zu erzeugen. Elektrisch bei Bedarf. Aber das ist nicht der Kern der Sache. Ich kehre das Verfahren um und setze es zusätzlich zur Muskelentspannung als positive Konditionierung ein. In Kargas Fall: Er würde so lange mit lustbetonten Erfahrungen beim Gedanken an offene Wasserflächen konfrontiert, bis sie ein gewisses Wohlbehagen, eine Art Faszination auf ihn ausübten.

Erst recht der tatsächliche Kontakt mit dem Wasser.

Das verstärkt den Effekt ganz erheblich. Seine Hydrophobie wäre nicht nur verschwunden, sondern hätte sich in ihr Gegenteil verkehrt.»

«Sie sagen, würde, wäre, hätte ... Das klingt, als seien Sie sich nicht ganz sicher?»

«Vom Verfahren her schon. Obwohl es sich noch im Entwicklungsstadium befindet. Ich hatte nicht genügend Gelegenheit, damit zu experimentieren. Sie erinnern sich – diese scheußliche Londoner Geschichte?

Ein paar Journalisten stiegen nachts in meine Büroräume ein und kopierten die Krankenunterlagen. Jedenfalls hat man nie eine andere Erklärung dafür gefunden, wieso sie plötzlich über streng vertrauliche Daten verfügten.

Nicht wegen der Desensitivierungstherapie. Angeblich Medikamentenmissbrauch. Und was kam dabei heraus?»

Er fuhr sich mürrisch über den Mund.

«Sie trommelten so lange in der Presse, bis sie ihren Skandal hatten. Unser Sozialwerk wurde geschlossen. Die übliche Taktik: verdächtigen, entstellen, übertreiben ... Fragen Sie einen psychisch Labilen, worüber er sich beklagen könnte!

Er wird Ihnen tausend und einen Grund nennen. Seinen ganzen Weltschmerz, seine Verzweiflung. Plötzlich bietet man ihm ein Ventil.»

«Sie halten es also für eine praktikable Methode?»

«Ihr Ansatz erscheint mir erfolgversprechend. Jedenfalls den anderen Verfahren überlegen. Als Wissenschaftler bin ich objektiv genug, um zu sehen, dass auch dieser Weg seine Schattenseiten hat.»

«Ja, ich habe davon gehört», gab Eathscott unumwunden zu und wurde damit seinem Vorsatz untreu, sich unwissend zu stellen.

«So?» Sutter hob die Augenbrauen. Er kehrte an seinen Sessel zurück. Trotz seiner behäbig auf dem Bauch gefalteten Hände erinnerte er Eathscott für Augenblicke an ein beleidigtes Kind. Vielleicht, weil er das einzige respektable Ergebnis seiner wissenschaftlichen Karriere unterschätzt wähnte. Aber hinter dem Schreibtisch, der wie ein unangreifbarer Wall war, hatte er sich schnell wieder in der Gewalt. «Die Leute reden viel – und übertreiben dabei.»

«Ich denke, wir sollten nicht zu zimperlich mit ihm umgehen. Jede Medikation hat ihre Nebenwirkungen.» Er hob fragend den Kopf.

«Es sind nicht die Medikamente. Positive Gefühlsreaktionen hervorzurufen, lässt sich dank unseres heutigen Wissens leicht bewerkstelligen. Selbst das Problem der Süchtigkeit oder Abhängigkeit haben wir inzwischen im Griff. Nein … das ist es nicht.»

«Sondern?»

«Es ist das Unnatürliche, das Widersinnige der Konditionierung. Die Natur hat sie nicht gewollt. Warum sollte jemand, der sein Leben lang an Katzen-Phobie litt, plötzlich auf übertriebene Weise in Katzen vernarrt sein? Einige meiner Patienten lebten später mit zwanzig oder dreißig Katzen in ihrem Haushalt, abgeschieden von der übrigen Welt. Sonderlinge, Misanthropen. Sie setzten ihren Lieblingskatzen Grabsteine und vergaßen dabei den Beerdigungstermin ihrer nächsten Verwandten.»

«Etwas makaber, finden Sie nicht auch?»

«Andere verbrachten halbe Nächte auf großen Plätzen, nachdem sie ihre Agoraphobie überwunden hatten.»

«Der Fall ist doch dieser», erklärte Eathscott und nahm einen neuerlichen Anlauf. «Man ist sich einig, Karga unter Beobachtung zu halten. So lange, bis die Fronten endgültig geklärt sind.

Wer weiß, wie lange er überhaupt noch ein Sicherheitsrisiko darstellt. Mag sein, dass die Sowjets schon in wenigen Monaten über das gleiche technische Wissen der EMP-Abschirmung verfügen – durch Verrat oder Kopie des Filters. Obwohl wir dem natürlich einen Riegel vorzuschieben versuchen.

Es genügt nicht, dass sie sich nur ein Exemplar des Geräts beschaffen, seine technischen Daten sind kaum zu analysieren, und wir arbeiten daran, diese Analyse so weit zu erschweren, dass es ohne Konstruktionspläne für sie wertlos wäre.»

«Und die Herstellung?»

«Eine kleine Spezialfirma aus Oregon wird das elektronische Herzstück des Filters produzieren, unter Aufsicht und auf dem Gelände des Pentagons.

Sobald er das Werkstor verlässt, um in Computern, Herzschrittmachern, Raketensteuerungen und so weiter zu verschwinden, besteht keine Gefahr mehr.

Er ist nicht reparierbar, die Öffnung würde seinen Mikroprozessor mitsamt den Schaltkreisen zerstören. Bleibt nur noch Karga. Einen besseren Platz als Hannibal Island haben wir für seine Internierung nicht. Es gibt keinen unkontrollierten Bootsverkehr, keine Freigänge an Land. Die ganze Insel ist so gut abgesichert, dass er nirgends Schaden anrichten kann. Dazu ein streng geregelter Tagesablauf.

Jeder ist gehalten, sich um den anderen zu kümmern. Nachbarschaftskontrolle. Arbeitskurse. Gemeinschaftliche Unterhaltung. Motivation durch Teilhabe am militärtechnischen Fortschritt – Verteidigung der freien Welt und so weiter.

Sie kennen ja die Methoden der Ruhigstellung. Was mich daran interessiert: Nur ein Verrückter würde es unter solchen Bedingungen wagen, durch den See an Land zu schwimmen – oder sind Sie anderer Meinung?»

«Das genau wäre der kritische Punkt.»

«Dazu ist die Küste zu weit weg. Dann die militärischen Sicherheitsanlagen. Aber immerhin: im Dunkeln, in Nacht und Nebel, könnte es vielleicht gelingen.»

«Sie müssen damit rechnen, dass er seine Kräfte überschätzt. Durch positive Konditionierung. Das ist das eigentliche Problem der Therapie, ihre Kehrseite. Er weiß, wie gefährlich es ist, aber er riskiert mehr. Wo ein gewöhnlicher Mensch zurückschreckt, da wird er glauben, er könne es schaffen, weil das Wasser eine eigenartige Faszination auf ihn ausübt. Keinen Zwang, verstehen Sie mich nicht falsch. Er ist frei.»

«Mit anderen Worten: Er würde ertrinken?»

«Das ist anzunehmen, ja. Selbstüberschätzung – er wäre nicht der erste. Er ist psychisch besonders präpariert dafür. Psychisch, aber nicht physisch. Bei einem Fluchtversuch steht man unter zusätzlichem Druck, das stärkt nicht gerade das Urteilsvermögen. Irgendwann verlassen ihn dann die Kräfte. Er hat keine Übung. Die Plattform liegt vier Kilometer vor der Küste. Bei guter Sicht sieht es nur nach einer Steinwurfweite aus.»

«Andererseits ist Ihre Methode der herkömmlichen weit überlegen – so habe ich Sie doch verstanden, oder? Sollten wir da nicht ein kleines Risiko eingehen? Wenn er ehrlich ist, wenn er zu seinem Wort steht, meine ich, mit uns zusammenzuarbeiten, wird er nie in Versuchung kommen. Dann ist die Frage gegenstandslos. Erst, wenn er uns etwas vormacht. Das ist sein Problem, finde ich. Wir müssen praktisch denken.»

«Und die Verantwortung – wer soll dafür gerade stehen? Ich bin nur ausführendes Organ.»

«Wir werden ihn etwas stärker im Auge behalten und über die besondere Problematik aufklären. Aber erst, wenn es soweit ist, auf Hannibal Island. Überlassen Sie das mir. Nur keine schlafenden Hunde wecken. In dieser Phase würde es ihn in eine unnötige Abwehrhaltung manövrieren.»

«Ja, es könnte ihn blockieren.» Sutters Achseln zuckten müde. Er hielt die Hand vor den Mund und sah auf seine Armbanduhr. «Essenszeit. Ein Tee vorher würde nicht schaden?»

Eathscott nickte bereitwillig, sie gingen gemeinsam hinaus, und Sutter schloss sorgfältig ab, als habe er in seinem Schreibtisch größere Geheimnisse zu verbergen. Seinen geröteten Augen nach zu urteilen, hatte er die Nacht über wieder in den alten Sozialwerksberichten gelesen. Seine Lieblingslektüre.

Eathscott lachte insgeheim. Sie steckten in der Schreibtischschublade. Offenbar trauerte er vergangenen Zeiten nach: all den willigen Patienten, die sich seiner Fürsorge nicht hatten erwehren können. Deshalb rechnete Eathscott auch damit, dass er trotz des Risikos einwilligen würde – vorausgesetzt, es gelang ihm, die Verantwortung dafür auf jemand anders abzuwälzen.

Nein, Sutter würde keine Schwierigkeiten machen, bei aller gegenseitigen Abneigung. Eathscott spürte es deutlich, während sie nebeneinander durch den Flur gingen. Selbst wenn er ahnte, weshalb Eathscott so verlegen darum war, dass er seine eigene Version der Therapie durchführte und nicht die der geltenden Lehrmeinung.

Interessierte es ihn womöglich, ob er wirklich ertrank?

Wie auch immer, darüber wollte er keine Spekulationen anstellen. Allerdings schränkte es den Wert seiner Methode ein, jedenfalls bei dieser Form der Angst. Und es ließ sich als ein bequemer Weg ansehen, das an Kargas Fall bestätigt zu finden. Ihr Risiko war gering. Sie wussten beide, dass der wirkliche Grund für sein Ertrinken nie entdeckt werden würde.

Selbstüberschätzung. Internierungskoller. Das rechte Augenmaß für die Gefahr verloren – konnte man sich in Kargas Situation wirklich darüber wundern?

Wenn Sutter klug war, gab es diesmal in seinem Schreibtisch keine belastenden Krankenunterlagen

Die Kantine lag am anderen Ende des Gangs, ein kleiner, blendend hell erleuchteter Raum mit Kunststofftischen und einer Metalltheke. Das ältliche Mädchen mit dem verhärmten Mund dahinter sortierte belegte Brote in die Kühlvitrine; sie trug ein dunkelblaues Uniformkostüm ohne Rangabzeichen, eine Stenotypistin, die aus der Zentrale abbeordert war, Eathscott erinnerte sich.

Die niedrige Betondecke erzeugte den unbehaglichen Eindruck, über ihren Köpfen laste ein Gebirge. Er blieb stehen und sah durch die Trennscheibe. An einem der Tische saßen zwei Arbeiter in Monteuranzügen, Spezialisten für die Wartung des unterirdischen Traktes.

Natorp und Karga unterhielten sich neben der Durchreiche. Natorp schien irgend etwas demonstrieren zu wollen. Er redete auf Karga ein – lebhaft gestikulierend und so eindringlich, dass Eathscott befürchtete, Karga könne die Geduld verlieren. Natorps Fingerspitzen zeichneten Linien auf den verchromten Tank des Kaffeeautomaten.

Sie raufen sich schon zusammen, beruhigte Eathscott sich. Das war vorauszusehen. Ihre Lage zwang sie dazu. Wer überleben wollte, gab nach.

Sutter war ebenfalls stehengeblieben und folgte Eathscotts Blick. «Schließlich läuft er bei uns ja nicht Gefahr, im Swimming-pool zu ertrinken.»

«Dann sind wir uns also einig?»

«Sie bestimmen die Richtlinien.»

«Ich habe vor, ihn schon hier an einem anderen militärischen Entwicklungsprojekt arbeiten zu lassen – nicht an seiner Erfindung. Ein Gerät, das simulierte Flugobjekte von echten unterscheiden kann. Als Beschäftigungstherapie. Was halten Sie davon?»

«Arbeit ist in seiner Situation immer nützlich. Sie wird ihn stabilisieren.»

«Fein, dass wir endlich eine Basis gefunden haben» Er reichte ihm die Hand. «Das macht vieles leichter.»