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Er absolvierte sein tägliches Laufpensum durch die unterirdischen Gänge mit der Verbissenheit eines Rekonvaleszenten, der es durch reine Willenskraft geschafft hatte, von einem Krebsleiden zu genesen und jetzt um ein Vielfaches mehr als nötig tat, weil er fürchtete, seine Spannkraft könne nachlassen und alles wieder zunichte machen.

Natürlich wusste er, dass er übertrieb und dass es eher an den Aufbaupräparaten und antriebssteigernden Mitteln lag, die ihm Sutter verabreichte. An ihrem «roborierenden Effekt» wie der Fachjargon lautete.

Holler und Eathscott liefen manchmal mit – in Trainingsanzügen gleicher Farbe. Aber sie gaben früher auf. Gart hielt sich vornehm im Hintergrund; obwohl er durchtrainierter als sie alle wirkte, schien er nichts dafür zu tun. Von Sutter ganz zu schweigen, der Laufen wohl für albern und jedenfalls unter seiner Würde hielt.

Manchmal hatte Karga den Eindruck, dass Harry Gart ihn absichtlich mied, als gebe es zwischen ihnen irgendeinen Grund zur Spannung. In den letzten Tagen hatte sich eine regelrechte Lauforgie entwickelt.

Er war zwar nicht mehr so gut zurecht wie noch vor kurzem, machte sich aber ein Vergnügen daraus, die beiden mit einem eleganten zusätzlichen Spurt hinter sich zu lassen. Man hatte ihm endlich im Dorf solide lederne Laufschuhe besorgt.

Nur ein Spaziergang draußen an der Steilküste wurde ihm nach wie vor verwehrt, obwohl er erst Sutter und dann Eathscott und Holler darum gebeten hatte.

Außer Eathscotts Leuten, ihm und Natorps Familie bewohnten noch zwei weitere Insassen den Trakt. Finnen oder Schweden, schweigsame Burschen mit strohblonden Haaren, die manchmal vor ihre Zimmertüren traten, die Hände in den Hosentaschen versenkt, und ihnen beim Laufen nachblickten, als seien sie nicht recht bei Trost.

Selbst nach einigen Tagen gaben sie noch kein Zeichen des Erkennens, wenn er Ihnen begegnete. Er hatte nur erfahren können, dass sie als Fernfahrer getarnt in die Fänge der polnischen Grenzbehörden geraten waren, vor zwei Wochen zwischen Brest und Lublin.

Arme Teufel, die aus irgendeinem Grunde wie er selbst unter Verschluss gehalten wurden, vielleicht, um vor Nachstellungen geschützt zu werden. Da sie ihn mieden und sich untereinander in einer fremden Sprache verständigten, kümmerte er sich nicht weiter um sie.

Natorps Frau würde auf Hannibal Island ihr zweites Kind zur Welt bringen. Das erste plärrte manchmal über die Sprechanlage, wenn die Abhörschaltungen verrückt spielten: irgendeine unerklärliche Fehlschaltung, die Eathscotts Leute zwar mit hochgezogenen Brauen, aber doch bewundernswürdiger Duldsamkeit in Kauf nahmen. Zwei Techniker waren ständig erfolglos damit beschäftigt, sie wieder in Ordnung zu bringen.

Obwohl dies angeblich eine Art Hospital war, gab es hier unten zur Zeit keinen praktischen Arzt.

Karga nahm an, dass er nur im Bedarfsfall eingeflogen wurde – wenn es um Geheimhaltung ging. Man hatte Natorps Frau morgens in die nächste Stadt gefahren und ihr von einem Allgemeinmediziner bestätigen lassen, dass sie schwanger war.

Wahrscheinlich war das die amüsantere Art und Weise, sich hier die Zeit zu vertreiben und auf andere Gedanken zu kommen. Robuste Ziervögel vermehrten sich auch bei Käfighaltung …

Sie hatte etwas von einem Ziervogel, der in seinem prächtigen bunten Federkleid umherstolzierte und aufgeblasen nach Aufmerksamkeit verlangte. Er mochte sie nicht sonderlich.

Eine Frau, die nicht begehrt wurde, machte sich nach seiner Beobachtung sofort Gedanken darüber, was auf geschlechtlichem Gebiet bei einem aus dem Gleis gelaufen war. Man merkte dem fragend flackernden Blick ihrer Pupillen förmlich an, wie ihr Verstand die lange Reihe der sexuellen Abnormitäten durchging, jeweils an ihm maß nahm und sie dann als mehr oder weniger wahrscheinlich ins Gedächtnis ablegte.

Bei irgendeinem Anlass würden sie dort so treffsicher wieder auftauchen wie ein Computerausdruck. Die Einladung ihres Mannes schlug er mit der Bemerkung aus, dass er zu viele Medikamente einnehme. Partys ohne Alkohol seien ihm ein Gräuel. Wie Eier ohne Salz. Er könne das Gerede schon in alkoholisiertem Zustand nur aushalten, wenn er in angemessenem Tempo trinke: zehn bis zwölf Glas in der Stunde.

Darauf starrte sie ihn an wie jemanden, dem alles zuzutrauen sei. Irgendeiner Bemerkung, er erinnerte sich nicht mehr, hatte er entnehmen können, dass sie ihn für einen zwielichtigen Bruder hielt. Trinker und homosexuell? Womöglich auch noch Atheist und Kommunist? Ihre altmodische, beinahe liebenswerte Ablehnung von allem, was nicht ihren Neigungen entsprach, nahm ihn schon fast wieder für sie ein.

Und unheilbar krank? Denn dann kam der entscheidende Satz, den er nicht vergessen hatte:

«Ihr Freund Thaube soll an dieser … Seuche erkrankt sein. Es geht ihm schlechter, seit Sie sich nicht mehr um ihn kümmern. Gott der Ärmste!

Was für ein Schicksal – den Freund verloren und dann solch ein Fluch. Man hat noch immer kein Mittel dagegen. Wanja sagt, es sei irgendein Problem mit dem Immunsystem? Leider verstehen wir nichts davon …»

So, als seien sie selbst für alle Zeiten gegen diesen Aussatz gefeit. Er konnte sich nicht erklären, wie sie darauf gekommen war. Hatte er Natorp gegenüber überhaupt etwas von Thaubes Veranlagung oder seinem Gesundheitszustand erwähnt?

Die «Radar-Identifizierungsanlage» war völlig unbrauchbar, ein schlechter Witz, wenn man es genau nahm. Obwohl er Eathscott gegenüber längst hätte andeuten können, dass sie nie funktionieren würde, arbeitete er täglich ein oder zwei Stunden daran. Sein Abflug nach Hannibal Island war um eine Woche verlegt worden.

Er stand mit den Konstruktionsblättern in der Hand da, tastete die einzelnen elektronischen Komponenten ab, Transistoren, Schaltkreise, Kabel, den Impulsgenerator und die Bauteile des Funkmesssenders und hoffte, dass er dabei – als gebe es so etwas wie eine Ideenübertragung durch das tote Material – den rettenden Einfall haben würde ...

Aus irgendeinem Grunde war auch noch der Datenrechner ausgefallen. Er sollte die Abweichungen der aufgefangenen Signale durchführen.

Manchmal spielte Karga mit dem Gedanken, das Ganze hinzuwerfen. Aber sobald er Eathscott hereinkommen sah – ein gewinnendes Lächeln auf dem Gesicht und seine kurzstummelige kalte Pfeife zwischen den Zähnen – versagte er es sich, ihn zu enttäuschen.

Es war immerhin eine Möglichkeit, die Zeit zwischen den einzelnen Therapiesitzungen totzuschlagen. Anscheinend hielt man in London viel von dem Ding.

Holler hatte angedeutet, es sei eine besondere Auszeichnung für ihn, daran arbeiten zu dürfen: ein Vertrauensbeweis. Daraus, dass er seine Arbeit nach der Befragung nicht habe beenden müssen, könne man wichtigere Schlussfolgerungen ziehen als aus allen wortreichen Bekundungen.

«Wie haben Sie denn auf meine Antworten reagiert?», wollte Karga wissen.

«Großer Gott …» Holler winkte ab. Sie saßen in einem abgedunkelten Aufenthaltsraum, der als provisorische Bibliothek hergerichtet war.

Rechts neben ihnen war ein Scheibenvorhang aus Kunststofflamellen, der spärliches Licht vom Gang hereinließ; es verlieh den mohairbezogenen dunkelroten Sesseln, ihren Polstern und Lederabsetzungen und den beiden glatten Kugellampen aus Weißglas eine Art schemenhafte Künstlichkeit. Wie in einer Schauspielkulisse oder im Vorraum eines Bordells, das etwas darauf hielt, mit der Zeit zu gehen.

Holler schlug eine Magazinseite mit seinen unberingten, glatt und anonym wirkenden Fingern um – als gehörten sie weder ihm noch irgend jemand anders, sondern seien auf unbestimmte Weise Eigentum der Allgemeinheit: so unbestimmt und vage wie das, was er verlauten ließ.

«Zerbrechen Sie sich doch darüber nicht den Kopf, Robert. Sie sind einfach wieder in ihre Wagen gestiegen, um sich in alle Winde zu zerstreuen …

Das war eine Pflichtübung wie jede andere für sie. Haben sich zum Flughafen kutschieren lassen und zurück an ihre Schreibtische.»

«Wer ist eigentlich verantwortlich für das Projekt?»

«Verantwortlich?» Er ließ sein Magazin sinken. «Eathscott natürlich, unser lieber Eathscott, Robert. Erstklassiger Mann, das kann ich Ihnen versichern. Jung, aber fähig.»

« Sonst niemand?»

«Gott, übergeordnete Stellen natürlich, die irgendwelche Richtlinien ausgeben.»

«Und wer genau?»

«Woher soll ich das wissen?»

«Ich wüsste schließlich gern, wem ich meine Internierung zu verdanken habe.»

«Internierung – was für ein Wort, Robert! Etwas zu stark, finden Sie nicht? Sicherungsverwahrung in Ihrem und unserem Interesse, das käme Ihrem Aufenthalt noch am nächsten. Aber dazu genießen Sie bedeutend mehr Privilegien. Denken Sie nur an Ihre Behandlung! Welcher Schulmediziner hätte sich schon soviel Mühe für ein gewöhnliches Kassenhonorar gemacht?»

«Und der eigentlich Verantwortliche? Darüber haben Sie sich noch nicht ausgelassen …»

«Wenn Sie mich so fragen, Robert, kann man natürlich alles – aber auch alles, Robert! – bis in die höchsten Stellen zurückverfolgen – bis in die Parlamente, bis zum amerikanischen Präsidenten oder ins Bundeskanzleramt.

Oder ins Nato-Hauptquartier bei Brüssel. Ganz einfach, weil unsere Demokratien den Volksentscheid nicht so weit treiben wie die Schweizer.

Und weil jene, die entscheiden, ihren Ermessensspielraum von den obersten Stellen zudiktiert bekommen. Sonst würde sich die britische Premierministerin auch noch darum kümmern müssen, dass hier seit Tagen die Klimaanlage defekt ist …

Gar nicht mal so eine schlechte Idee», sagte er und blickte gedankenverloren in die dunkle Öffnung des Lüftungsschachtes über ihren Köpfen.

«Sie wollen sagen, irgendjemand ziemlich weit oben hat Anweisung gegeben, mich zu internieren?»

«Das natürlich nicht, Robert. Wie ich sagte, es gibt Ermessensspielräume.»

«Mit denen Schindluder getrieben werden kann?»

«Wie bei den permissive actions, die unser Kollege Bäumer erwähnt hat. Natürlich, warum fragen Sie?»

«Gibt es dafür irgendwelche rechtliche Handhabe – gesetzliche Grundlagen, meine ich?»

«In Ihrem Fall?» Er biss sich unschlüssig auf die Unterlippe und verneinte. «Nein, ich glaube nicht. Das wird ad hoc geregelt. Wie es die Lage erfordert.»

«Aber wenn es Whyler und Eathscott nicht waren, wer dann?»

Holler wandte sich wieder den Magazinseiten zu. Er schien lieber schweigen zu wollen. Schließlich hob er mit gequältem Gesichtsausdruck den Kopf und sagte: «Jemand im übergeordneten Apparat.»

«Und wer hat in meinem besonderen Fall entschieden?», fragte er hartnäckig.

«Sie geben wohl nie auf?», erkundigte sich Holler. «Geheimnissen Sie da nichts hinein. Ich bekomme meine Anweisungen aus Köln, aber natürlich arrangieren wir uns mit den Verbündeten. Was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie Beschwerde einreichen? Ihren Fall an die große Glocke hängen? In der Presse womöglich?»

«Ich sagte schon, dass ich Ihre Beweggründe verstehe.»

«Als wenn das etwas ändern würde. Als wenn Sie sich besser in Ihre Lage finden würden, wenn ich Ihnen Namen nennen könnte. Aber ich kann es nicht, Robert – wirklich nicht. Nicht, weil ich nicht wollte oder dürfte. Es gibt Arbeitsbereiche, es gibt Anweisungen, und manchmal fehlt dem zweiten oder dritten Mann einfach die Verbindung, sie bleibt im Dunkeln ... soll es aus irgendwelchen Gründen bleiben. Es kann einem dann scheinen, als sei der rote Faden unterbrochen. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Alles läuft weiter, als existiere er noch. Jeder weiß, dass er so zu tun hat, als gebe es den roten Faden, als könne er nie zerreißen. Das ist nun mal die Lage, Robert.

Und Sie werden ihn genauso wenig finden und aufwickeln können, um an sein Ende zu gelangen, wie ich.»

Er drehte ärgerlich den Kopf. «Wozu auch? Warum sollten wir jede Anweisung bis zu ihrem letzten Urheber zurückverfolgen? Was hätte das für einen Sinn?»

«Und diese Leute da hinter der Scheibe? Das Gremium, die ‚Generalstäbler’? Wie sind ihre Befugnisse?»

«Gutachten, Robert. Ratschläge, Hinweise. Irgendwelche Arbeitspapiere. Man rauft sich zusammen. Natürlich entscheiden sie. Natürlich werden sie ihre Meinung in die Waagschale werfen, und sie schließlich durchsetzen. Dazu sind sie da. Aber über andere Stellen. Offiziell waren sie gar nicht hier. Nicht in Ihrem Fall. Haben Sie doch dafür Verständnis, dass es vertrauliche Entscheidungsfindungen gibt – geben muss …»

«Die im Einzelfall dazu verführen können, Verantwortung zu delegieren, wollen Sie sagen?»

«Manchmal. Zum Besten der Sache, ja.»

«Es erinnert stark an das, was man über die Apparatschiks drüben im Osten hört.» Er lehnte sich nachdenklich zurück und spreizte mit Daumen und Zeigefinger seine Mundwinkel.

«Glauben Sie, die Sowjets wären so zuvorkommend wie wir mit Ihnen umgesprungen?»

«Und wenn sie sich die Pläne zum Bau des Störschutzes anderweitig beschaffen?»

«Natürlich wird man sehr ausgeklügelte Vorkehrungen dagegen treffen.»

Holler nahm wieder das Magazin – sein Titel zeigte eine schon historisch wirkende Großrechenanlage von den Ausmaßen eines Büroschreibtisches, sie war weniger als fünf Jahre alt –‚ hielt es selbstvergessen in der Hand und legte es dann aufgeschlagen aufs Knie zurück.

«Sehen Sie, ähnlich verhält es sich mit der Ausfuhr moderner amerikanischer oder britischer Computer. Aber die kann man nicht so leicht gegen Kopien schützen wie Ihr System. Wenn es sich nur darum gehandelt hätte, dass man drüben in Moskau ein Stück davon in die Finger bekäme … ja, dann!»

Karga hatte die Frage heruntergeschluckt, wer denn bei diesen seltsamen «Entscheidungsfindungen» verantwortlich gewesen wäre, falls Ericks Kühlwagenaggregat doch nicht verrückt gespielt hatte.

Als er jetzt die Tür zum Arbeitsraum aufschloss und die Anlage in der hydraulisch bewegbaren Stahlrohrhalterung unter der kahlen Betondecke mit ihren unordentlich umwickelten Heizungsrohren hängen sah, verlangte es ihn für einen Augenblick nach seinem gemütlichen Bastelkeller zurück: nach den praktischen alten Holzregalen und dem altmodisch blubbernden Gasofen.

Der Hausverwalter war immer dafür gewesen, den Ofen wegen angeblicher Unfallgefahr abbauen zu lassen. Obwohl es sonst keine Gasheizung im Haus gab, konnte er ihm seinen Wunsch nach dem kostenlosen Einbau der Alarmanlage nicht gut abschlagen, die Verlegung neuer Rohre aus dem Heizungskeller wäre zu kostspielig geworden.

Um ihn zu beruhigen und ihm seine Angst zu nehmen, das Haus würde eines Tages in die Luft fliegen, hatte Karga schließlich eine selbstkonstruierte Sicherheitsschaltung eingebaut, durch die sich die ausgegangene Flamme sofort wieder entzündete. Je nach der eingestellten Zeit im Bruchteil einer Sekunde … sicher aber, ehe zuviel Gas ausgeströmt war.

Seiner Ansicht nach eine bedeutend ungefährlichere Konstruktion als der eingebaute Thermostatfühler. Manipulationen an der Zündanlage waren zwar verboten, aber zu den Kontrollterminen ließ sich das Gerät mit zwei, drei Handgriffen abnehmen.

Aber nicht nur sein Gasofen verbreitete eine anheimelndere Atmosphäre: durch den Schacht zum Hof fiel etwas Tageslicht, und die Wände waren mit alten Konstruktionszeichnungen und zwei gerahmten Portraits Gandhis behängt.

Das eine zeigte ihn wenige Stunden, bevor er in Delhi von einem fanatischen Hindu erschossen worden war, sein charakteristisches Umhängetuch über der Kleidung, den Kopf wie immer kahlgeschoren, mit randloser, kreisrunder Brille: ein Bild höchster moralischer Autorität.

Das andere war älter und durch die Gitterstäbe eines Gefängnisses der britischen Besatzungsbehörden aufgenommen.

Durch die gegenüberliegende, ebenfalls vergitterte Fensteröffnung sah man in einen ummauerten Hof. Über dem staubigen Boden und der festgetretenen Erde zwischen zwei Pfosten, wo früher Erschießungen stattgefunden hatten, spielte die Sonne.

Wenn es auch nicht gerade das passende Foto sein mochte, um Gemütlichkeit zu verbreiten, machte es ihn doch für Augenblicke innerlich frei von dem, was er «ihr gewalttätiges Erbe» nannte, den rätselhaften Hang, zwischen Gleichmut und Aufgeregtheit immer die extremere, die härtere Lösung zu wählen. Er wusste sich nicht zu erklären, was in Leutners Wagen mit ihm passiert war, und doch konnte es kein Zwang gewesen sein.

Immerhin entsann er sich deutlich, für den Bruchteil einer Sekunde gezögert zu haben, bevor er seinen Kopf in die Scheibe stieß eben jene Zeitspanne, die man ungenutzt verstreichen ließ.

Hier dagegen hatte er das Gefühl, die Decken und Wände engten ihn ein und der Berg aus Stein über ihnen könne sich jeden Augenblick in Bewegung setzen …

Lustlos senkte er die Anlage über den Hebelschalter ab, bis sie in Brusthöhe vor ihm hing.

Oder war es nur ein Tief? Seit gestern morgen, als er aus dem Bett gestiegen war, sah er wieder alles grau in grau. Trotz seines Laufpensums und der antriebssteigernden Mittel. Es war wie Leerlauf, hohles Getriebe mit kurzen Anwandlungen von Euphorie. Sein Zustand konnte sich unmöglich nur wegen des Gesprächs mit Holler verschlechtert haben. Seine Haut juckte und die Verdauungsstörungen waren unerträglich geworden.

Bei einer Behandlung wie dieser komme manchmal ein Punkt – eine Phase von mehreren Tagen, auch einer ganzen Woche, wenn er Pech habe –‚ an dem man auf den alten Stand zurückfalle, hatte Sutter in der letzten Sitzung erklärt. Scheinbar. Denn seine Hydrophobie habe sich schließlich gebessert, oder?

«Beißen Sie sich da durch! Machen Sie mich einfach für eine Woche zu Ihrem Guru – vertrauen Sie meinen Beschwörungsformeln und Medizinmanntänzen …»

Sein Gesicht war merkwürdig unbewegt dabei geblieben, ohne jede Spur von selbstironischem Lächeln.

«Manchmal … ja, manchmal denke ich, Sie missbrauchen mich als Versuchskaninchen.»

Sutter hatte an seinem Schreibtisch sitzend die Achseln gezuckt und sich erst nach einer geraumen Weile zu einer Antwort bequemt:

«Wenn ich nicht wüsste, was Sie durchgemacht haben, würde ich Ihr notorisches Misstrauen als ernstes Krankheitszeichen bewerten. Querulantentum ist ein … nun ja, es gehört zum Symptombild mancher Geisteskrankheiten. Ihr Glück, dass Sie gerade an mich geraten sind. Welchen Grund haben Sie denn jetzt noch, pessimistisch zu sein?»

Etwas in Sutters Stimme hatte ihn aufhorchen lassen. Keine Drohung, mehr eine Möglichkeit, eine Gefahr, die er geschickt durch die Wahl seiner Worte andeutete. Anstatt ihn wegen angeblicher Agententätigkeit für den Osten ins Gefängnis stecken zu lassen, konnte man auch seine Zwangseinweisung verfügen. Sutters psychologisches Gutachten, ein richterlicher Erlass – er hatte keine Ahnung, ob die gesetzlichen Bestimmungen hier wie in Deutschland waren, aber für Leute ihrer Verbindungen und ihres Kalibers würden sie zu umgehen sein …