Viertes Kapitel


Holler wartete ab, bis das Taxi in den Hohlweg eingebogen war; für Sekunden sah man nur das Dach, dann war es unterhalb der braungelben Erdwelle verschwunden.

Er hatte sich beim geduckten Laufen über die Felder seine Hosenumschläge verdreckt, und die morastige Scholle haftete in dicken Klumpen an seinen Absätzen.

Es war ein Gefühl, als laufe man auf Eiern – was seine Laune nicht gerade verbesserte …

Sein Wagen parkte auf der anderen Seite des Wäldchens, weil es sonst unmöglich gewesen wäre, ungesehen an die Kirche heranzukommen.

Als Karga abgefahren war, hätte er in großen Sprüngen zum Wagen zurückhetzen müssen.

Aber viel mehr als Kargas weitere Stationen interessierte ihn das, was er auf dem Friedhof vergraben hatte.

Nach einem vorsichtigen Blick zum Wohnanbau – seine Fensterläden waren geschlossen – ging er zum Geräteschuppen hinüber. Es war nur ein offener Bretterverschlag, mit Teerpappe abgedeckt. Er nahm den Spaten und reinigte an der oberen Metallkante seine Sohlen und Absätze. Dann wandte er sich wieder den Gräbern zu.

Die Stelle lag zwischen zwei Grabsteinen neben einer verrosteten Wasserleitung.

Nach drei Spatenstichen hatte er die Dose aus dem lockeren Boden befreit. Er schlug den restlichen Lehm am Wasserhahn ab und öffnete ihren Deckel.

Ihr einziger Inhalt, ein Zettel, war in der sauberen Normschrift der technischen Zeichner geschrieben:


Herzlichen Glückwunsch!

Ich stehe hinter Ihnen.


Holler fuhr herum. Er hatte zwar kein Geräusch hinter sich gehört. Aber es war, als habe die Stimme des Zettels laut und deutlich zu ihm gesprochen.

«Wer … ich denke, Ihr Wagen ist …? Verstehe, Sie haben mich aufs Kreuz gelegt, was?»

«Mein Taxi steht im Hohlweg. Ich bin zu Fuß zurückgekommen.»

«Alle Achtung.»

Karga trat aus dem Schatten der verwaschenen Sandsteinfigur, sie zeigte einen mannshohen Bischof, dessen Mitra an beiden Bändern abgeschlagen war.

«Und was nun?», erkundigte er sich.

«Das fragen Sie mich?»

«Sie müssen sich doch irgend etwas bei Ihren Ausgrabungen gedacht haben?»

«Und Sie beim Vergraben.»

«Ich möchte, dass Sie endlich Farbe bekennen.»

«Was wollen Sie hören?»

«Welchen Sinn das Ganze hat, wozu der Aufwand – und natürlich, für wen Sie arbeiten.»

Holler blickte unbehaglich in die Gegend. Der Himmel hatte sich dunkel bezogen. «Wir sollten an einem gemütlicheren Ort darüber reden. Bei einem Glas Wein. Lassen Sie Ihr Taxi fahren. Mein Wagen steht hinter dem Wäldchen.»

«Wenn Sie Ihre Karten jetzt offen auf den Tisch legen, würde ich sogar ein Fass Sauerkrautsaft mit Ihnen trinken.»

Holler ließ die Dose achtlos ins Gras fallen. Sie gingen durch das Tor zum Hohlweg hinunter. Er hielt sich im Hintergrund und wandte das Gesicht ab, während Karga den Fahrer auszahlte.

«Irgendwo an den nächsten Abzweigen muss ein Landgasthof liegen», sagte er, als sie in seinem Wagen saßen.

«Zwei Straßen weiter», meinte Karga nach einem flüchtigen Blick auf die Karte.

«Sie kennen sich in der Gegend aus?»

«Meine Großmutter väterlicherseits liegt hier begraben.»

«Eines der wenigen Details in Ihrer Biographie, das wir noch nicht kennen», bemerkte Holler mit einem Versöhnlichkeit heischenden Lächeln.

Seltsamerweise hieß der Gasthof »Zu den drei Wahrheiten». Weder an der Fassade noch im Innenhof mit seinen trutzigen Arkadenbögen ließ sich irgendein Hinweis darauf entdecken, um welche Wahrheiten es sich handelte; vielleicht beliebige.

«Unsinn», brummte Karga. Er hatte beim Anblick des schmiedeeisernen Hängeschildes den gleichen Gedanken gehabt. »Es gibt nur eine Wahrheit.»

»Da bin ich nicht so sicher.»

Karga musterte ihn von der Seite, offenbar weil er eine Erläuterung erwartete. Aber Holler schwieg.

Während sie auf den Parkplatz fuhren, fragte er sich, welche der »drei Wahrheiten» er für seinen Gast auswählen sollte

Er hatte in der Jugend ohne große Überzeugung einige Semester Politikwissenschaft studiert, und das Ergebnis hatte seine Befürchtungen weit übertroffen. Wenn schon an der Quelle soviel Uneinigkeit herrschte, konnte man von den Volksvertretern keine weltbewegenden Erkenntnisse erwarten.

Seitdem fand er jede überzeugend oder fanatisch vorgetragene Meinung albern.

Eine Wahrheit war so schlecht wie die andere.

Er hätte auch gern die Großmutter in der Gegend begraben gehabt, wo es mehr als eine Wahrheit gab. Das war ein Zeichen zunehmender Einsicht.

Sie setzten sich an einen der halbrunden Tische, von denen man in den Innenhof sah. Karga bestellte Wein. Er nahm dieselbe Sorte, einen schweren dunkelroten, dessen Name griechisch oder italienisch klang. Als er das Glas ins Licht hielt, um die Flüssigkeit zu betrachten, verstand Karga es als Zuprosten und stieß mit ihm an.

»Mein erster Kontakt mit Ihren Leuten war unter weniger angenehmen Umständen.»

»Mit meinen Leuten?»

«Franz und Karl. Falsche Namen wahrscheinlich. Der Einbruch in meine Wohnung. Ich vermute, dass Sie einen höheren Rang in ihrer Organisation bekleiden – wer und was auch immer sie sei –‚ weil Sie mehr Entscheidungsspielraum als diese beiden Kretins haben.»

»Das nehmen Sie an?»

«Waren wir sonst hier?»

»Sie können davon ausgehen, dass ich Ihnen einige Sympathien entgegenbringe, vorausgesetzt, wir reden offen. Und ich glaube, darauf kommt es an.»

»Die Offenheit liegt bei Ihnen.»

«Ich werde Ihnen keine Namen nennen, keine Institutionen. Nennen Sie mich Winters, Karl Winters. Das ist ein Tarnname, zugegeben. Unter dem Namen können Sie mich auch über diese Telefonnummer erreichen, Tag und Nacht.»

Er reichte ihm einen Zettel. »Nur soviel: Wie Sie wissen, glaubt man, dass Sie mit dem Osten sympathisieren. Ein Geständnis in Ihrer Lage wäre die einfachste Lösung. Wir würden dann davon ausgehen, dass Sie zur Besinnung gekommen sind, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.»

»In den Brunnen gefallen … was meinen Sie?»

«Spielen wir nicht länger Versteck.»

«Falls Sie denken, ich hätte irgend etwas mit den Kreisen im Sinn, in denen Thaube verkehrt, liegen Sie völlig falsch. Ich habe diesem Sekretär in Klagenfurt lediglich ein Bücherpaket und einige alte Berichte zu überbringen, auf dem Wege nach Rumänien. Aus purer Gefälligkeit.»

«Das wissen wir.»

»Was wollen Sie dann von mir?»

Holler drehte nachsichtig sein Glas. «Sind Sie wirklich so unbedarft? Wollen Sie uns glauben machen, Sie wüssten nichts?»

»So ist es.»

«Daraus schließe ich, dass Sie sich für die andere Seite entschieden haben? Eine sehr fragwürdige Wahl. Sie denken vielleicht, Sie hätten es mit seriösen Geschäftspartnern zu tun. Aber man wird sich nicht damit zufrieden geben, Ihnen Ihre Ware bloß abzukaufen. Man wird nach Ihrer Schwachstelle suchen, und man wird sie skrupellos ausnutzen, wenn man sie gefunden hat.»

»Welche Ware meinen Sie?»

Hollers Hand krampfte sich ärgerlich um das Weinglas – bis er bemerkte, dass er im Begriff war, es zu zerbrechen. Der Tonfall seiner Stimme änderte sich:

»Warum haben Sie sich mit mir zusammengesetzt, wenn Sie auf diese Art von Spielchen versessen sind?»

»Ich wollte Klarheit.»

«Sie wollen ... wissen, was unsere Seite bietet? Verstehe ich Sie da richtig? Sie wollen ein Angebot? Über Geld würde man sicher einig. Wir zahlen mehr. Schließlich müssen Sie für Ihre Quarantäne angemessen entschädigt werden.»

«Welche Quarantäne?», fragte Karga verständnislos. «Sie reden, als litte ich an einer ansteckenden Krankheit.»

«So kann man es nennen, ja. Mit einiger Phantasie. Auch Ihre Arbeitswünsche könnten berücksichtigt werden. Sie hätten mehr Auswahlmöglichkeiten in den Staaten, Projekte, Mitarbeiter und so weiter. Wahrscheinlich wäre man nicht einmal abgeneigt, Sie außerhalb des engeren Pentagonbereichs unterzubringen.

Als Alternative böte sich Hannibal Island im Michigan See an. Eine künstliche Insel auf der Höhe von Green Bay, die als Sperrgebiet ausgebaut wurde.

Sie würden dort jeden Komfort haben, auch Kontakt zu anderen Technikern. Falls Ihnen Washington nicht läge, meine ich. Die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen natürlich vorausgesetzt.»

Er sah Karga erwartungsvoll an.

Karga schüttelte unbehaglich den Kopf. «Es scheint, dass wir aneinander vorbeireden. Was habe ich mit dem Pentagon zu schaffen? Wenn Sie mir wenigstens diesen einen Punkt erklären könnten?»

«Sie wollen noch immer sagen, dass Sie ...? Und Ihre Reise nach Rumänien?»

«Eine gewöhnliche Urlaubsreise.»

«Nehmen wir einmal an, Ihre Behauptung sei wahr», sagte Holler nachdenklich. «Nur für einen Augenblick. Welche Konsequenzen ergäben sich daraus?»

«Zunächst einmal, mich über alles aufzuklären.»

«Dazu müsste ich mich erst bei meinen Vorgesetzten absichern. Vermutlich würde man ablehnen. Sollten Sie wirklich nichts wissen, dann wäre es selbstmörderisch, Ihnen etwas davon zu sagen.»

«Für mich – oder für Sie?»

«Für beide Seiten.»

«Warum geben Sie sich nicht einfach zu erkennen?»

«Das ist eine Frage, die Sie sich bei etwas gutem Willen selbst beantworten können.»

«Ihre Methoden sind illegal …!»

Karga schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Weingläser zitterten – zog seine Hand aber wieder zurück und ließ sie unnatürlich verkrampft auf dem Oberschenkel liegen, weil er solche Impulsivitäten nicht schätzte.

«Und was Sie beabsichtigen, ebenfalls. Sie glauben, ich hätte irgendeine Ware.

Aber Sie können anscheinend nicht wie gewöhnliche Käufer an mich herantreten. Deshalb wollen Sie mich auf irgendeine verdammte künstliche Insel im Michigansee verfrachten. Ausgerechnet eine Insel. Wahrscheinlich, weil Sie glauben, dort den Preis drücken zu können. Aber ich habe überhaupt keine Ware. Trotzdem steigen Sie weiter in meine Wohnung ein, Sie beschatten meine Freunde und mich. Sie stehlen Umschläge, Tonbänder, inszenieren Verkehrsunfälle, lassen meinen Ausweis verschwinden …»

«Nein, die Ware haben wir bereits.»

«Die Ware haben Sie ...? Dann verstehe ich gar nichts mehr.» Er kratzte sich irritiert an der Stirn.

Holler winkte der Kellnerin. «Sie waren eingeladen. Der Wein geht auf meine Rechnung.»

«Soll das heißen, unser Gespräch ist beendet?»

«Wie gesagt: Ich müsste erst neue Instruktionen einholen. Sie hören wieder von uns. Verzichten Sie auf die Rumänienreise und bleiben Sie am Ort», sagte er eindringlich. «Das ist für Sie und uns die einfachste Lösung.»