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Sie waren aufgestanden und in den kleinen Vorführraum hinter der Rückwand gegangen, weil Eathscott mit einemmal das Bedürfnis verspürt hatte, «alles nicht so todernst zu nehmen». Unter dem Projektor waren drei Stühle um einen runden Glastisch gruppiert. «Nun gut», sagte er und bediente sich dabei aus dem Kühlschrank.
Er goss allen aus einer bauchigen weißen Flasche ein, von der das Etikett abgefallen war – Gin oder etwas Ähnliches, nahm Karga an –‚ und fuhr dann fort:
«Wie auch immer Sie über uns und unsere Absichten denken, was Sie davon halten. Eines ist doch sonnenklar: Wir müssen uns arrangieren in der Sache. Sie sind zu einem Problem geworden, und alles, was wir wollen, ist diesen Burschen begreiflich zu machen, dass Sie keine Gefahr mehr darstellen.
Über unsere Methoden kann man streiten, darüber kann man immer streiten. Wir sind nicht gerade sanft mit Ihnen umgesprungen, zugegeben. Das macht Sie misstrauisch, zu Recht misstrauisch.»
Er nippte und betrachtete ihn über den Rand seines Glases.
«Es lässt Sie überall Ränkespiele wittern ...»
«Wir wollten Ihnen ganz einfach ein wenig auf die Sprünge helfen», bestätigte Holler im Brustton der Überzeugung. Er reichte Bäumer, der eben hereingekommen war, ein Glas – «Bedienen Sie sich, Carl, da steht die Flasche» – und wandte sich wieder Karga zu: «Das ist alles, nehmen Sie uns beim Wort, Robert.»
«Die VVG hat die Rechte des Filters an uns abgetreten. Natürlich erhalten Sie trotzdem eine Abfindung. Als Trostpflaster und für Ihre Unannehmlichkeiten.» Eathscott prostete Karga zu. «Fünfzigtausend … Ist das nichts? Konto nach Ihrer Wahl. Bei der VVG hätten Sie keinen Pfennig bekommen, und falls doch, dann höchstens eine Gratifikation mit eher symbolischem Wert. Vier oder fünftausend Mark vielleicht. Wir zahlen in Dollar.»
Das Ganze schien eine Art verspätete Silvesterparty zu sein …
Warum sollten Sie mir etwas vorspielen, wenn sie andere Absichten hätten? überlegte Karga. Der Kühlwagen. Und wenn es doch ein Defekt im Kühlaggregat gewesen war? Nun gut, sie wollten sein Vertrauen, sie wollten, dass er sich fügte und für einige Zeit auf Hannibal Island arbeitete. Außer Reichweite des Ostens. Ihr Sicherheitsbedürfnis war überproportional entwickelt. Ob lächerlich oder nicht – ob man darüber die Nase rümpfte und sie alle für pathologisch misstrauisch oder verrückt hielt: er hatte keine andere Wahl
Um vier nahm er ein Bad, erst das zweite seit seiner Ankunft, was für ihn ein Zeichen der Anpassung war, trank in der Kantine Tee und sah dann auf die Uhr:
Er hatte noch zehn Minuten. Sutter würde heute mit dem nächsten Abschnitt der Behandlung beginnen.
Im Gang vor dem Operationssaal begegnete ihm Natorp. «Hallo», sagte er verbindlich und blieb stehen. Karga bemerkte, dass er Anstalten machte, seine Hand auszustrecken … und sie auch tatsächlich hob. Im ersten Augenblick war er geneigt, es zu übersehen. Dann drückte er sie zögernd.
Natorps dichte Brauen entspannten sich vor Erleichterung.
«Meine Frau gibt heute Abend eine kleine Party – soweit das hier räumlich möglich ist. Bevor wir nach Hannibal Island weiterfliegen. Sie kommen doch?»
«Ich weiß nicht. Man hat mir geraten, während der Behandlung keinen Alkohol zu trinken. Ich hatte schon ein Glas Gin.»
«Ah richtig ... Sie laborieren da an irgendeinem Symptom. Platzangst, war es das?»
Karga versuchte ein kaum merkliches Kopfnicken, das zugleich verbindlich wirken und ihm signalisieren sollte, dass er wenig Lust hatte, darüber zu reden.
«So etwas Ähnliches.»
Natorps Miene verzog sich vor geheucheltem Mitgefühl. Es war leicht, dahinter die abschätzige Frage zu erkennen, wieso ein Kerl seiner Statur überhaupt an einer so lächerlichen Krankheit leiden konnte.
Während er das dachte, zog sich etwas in der Gegend seines Solarplexus zusammen: denn Natorp mußte es gewesen sein, der Eathscott und seinen Leuten die Informationen über ihn beschafft hatte. Alles, von der Arbeit angefangen, bis zu seinen persönlichen Problemen. Anja konnte es ihnen nicht gesagt haben.
Und Thaube? Er erinnerte sich jetzt, seinen Namen einmal Natorp gegenüber erwähnt zu haben. Selbst der elektronische Bastelkeller war ihnen bekannt, obwohl er anfangs das Gegenteil angenommen hatte. Natorp wusste so gut wie er selbst von seinen Schwierigkeiten mit dem Wasser. Es war kein Problem für ihn gewesen, zu erfahren, weshalb er und Anja nie gemeinsam zum Segeln fuhren.
«Wenn Sie trotzdem kommen wollen? … wir haben auch Alkoholfreies. Wasser und Säfte.»
«Vielleicht», sagte er, um ihn loszuwerden.
«Da ist noch etwas …» Natorp wandte sich zu ihm um, schon halb in der Kantinentür.
«Ja?»
«Unser kleiner Streit kürzlich in der Kantine wegen des ... Sie erinnern sich? Es wäre mir lieber, wenn wir ihn endlich beilegen könnten. Auf gute Zusammenarbeit?»
Karga bewegte zögernd den Kopf; man hätte alles mögliche daraus entnehmen können: Zustimmung wie Ablehnung.
«Ich habe versucht, Ihnen zu erklären, dass ich nicht anders konnte. Aber Sie waren wohl nicht in der Laune, mir zuzuhören. Das kann ich verstehen. Diese Militärfritzen haben ihre eigenen Vorstellungen darüber, wie man in so einem Fall verfahren sollte. Verstehen Sie mich richtig, ich war gezwungen, Ihnen etwas vorzulügen. Die Schließung der Abteilung, Ihr Taschendiktiergerät und so weiter. Sie trauten Ihnen nicht.»
«Wenn es Sie so viel ruhiger schlafen lässt – ich trage Ihnen nichts nach.»
Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich ruckartig abzuwenden, um nicht zuviel Konzessionen zu machen, und als das Ende des Gangs sich zu einer Sitzecke mit hartblättrigen Topfpflanzen verbreiterte, in der ein Mann in blauer Uniformjacke – wahrscheinlich ein Polizeibeamter aus dem Bauernhaus über ihnen – mit einem Wedel die Kunststoffblätter abstaubte, blieb er stehen und wandte sich noch einmal um.
Natorp war ebenfalls stehengeblieben, er sah ihm wie versteinert nach, seine Arme seltsam linkisch bis zur Hüfte angehoben.
Das Licht der wie immer blendend hell erleuchteten Kantine fiel durch die Trennscheibe auf ihn und ließ seine Konturen – die rundlichen Schultern, den nadelgestreiften Anzug, die leichte Knochendeformation am Kinn – klarer hervortreten.
Der kleine Mann mit der niedrigen Stirn und den dichten Augenbrauen bot einen ungewohnten Anblick der Ratlosigkeit, so zerrissen wie Licht und Schatten auf seiner Gestalt. Vielleicht nicht für ihn selbst ungewohnt.
Aber Karga verspürte deutliche Erleichterung. Ein Gefühl der Befreiung: etwas, das den rauen, pelzigen Geschmack des Betrogenseins vertrieb. Es mochte an Sutters Medikamenten liegen, dass er besser als sonst mit solchen Schwierigkeiten fertig wurde.
Er öffnete die Tür zu seinem Ordinationszimmer.