Eine Inspector-Banks-Geschichte
Banks bremste vor dem Haus seiner Eltern und parkte den Renault am Straßenrand der Sozialbausiedlung. Ob der Wagen nachts draußen sicher war? Die Siedlung hatte bereits einen schlechten Ruf gehabt, als er dort in den sechziger Jahren aufwuchs, in den letzten Jahren war es noch schlimmer geworden. Allerdings hatte er gar keine andere Wahl: Seine Eltern besaßen keine Garage. Er überzeugte sich, dass die Türen abgeschlossen waren und die Alarmanlage funktionierte.
Den CD-Spieler konnte er nicht für die Dauer des Wochenendes ausbauen, aber um auf der sicheren Seite zu sein, packte er die CDs in seine Reisetasche. Er nahm zwar nicht an, dass die Autoknacker hier Verwendung für Thelonious Monk, Cecilia Bartoli oder die Grateful Dead hätten, aber man konnte ja nie wissen. Außerdem besaß er jetzt einen Discman und hörte gerne Musik, wenn er im Bett lag und eindöste.
Das Haus seiner Eltern stand am westlichen Rand der Siedlung, in der Nähe der Umgehungsstraße. Gegenüber waren eine leerstehende Fabrik und mehrere Geschäfte. Banks hielt kurz inne und betrachtete die Reihenhäuser aus Ziegelstein - immer fünf, jeweils mit kleinem Garten, niedriger Mauer und Ligusterhecke.
Als er zwölf war, war seine Familie aus dem winzigen, düsteren alten Haus hierhergezogen. Damals waren die Häuser neu gewesen.
Es war ein Freitagnachmittag Ende Oktober. Banks war übers Wochenende hergekommen, um am Sonntag die goldene Hochzeit seiner Eltern zu feiern. Es war erst die zweite Übernachtung bei ihnen, seit er mit achtzehn zu Hause ausgezogen war, um am Londoner Polytechnikum Betriebswirtschaft zu studieren. Als das nicht richtig laufen wollte und die sechziger Jahre Anfang der Siebziger ihren Reiz verloren, war er zur Polizei gegangen. Seitdem arbeitete er hart und viel, außerdem hatte ihn ferngehalten, dass seine Eltern seine Berufswahl offen missbilligten. Ein Besuch zu Hause war immer ein bisschen wie eine Prüfung, aber trotz allem waren und blieben es seine Eltern. Banks schuldete ihnen mehr, als er ihnen je würde zurückgeben können. Sicher hatte er sie in all den Jahren vernachlässigt, dennoch wusste er, dass sie ihn auf ihre Art liebten. Jünger wurden sie auch nicht gerade.
Banks holte tief Luft, öffnete das Tor, ging den Weg hoch zum Eingang und klopfte an die zerkratzte rote Tür. Aus dem Nachbarhaus drang laute Musik. Durch die Milchglasscheibe sah er seine Mutter näher kommen. Sie öffnete die Tür, rieb sich die Hände, als wolle sie sie trocknen, und sagte: »Alan! Schön, dass du da bist! Komm rein, mein Junge, komm rein!«
Banks stellte seine Reisetasche im Flur ab und folgte seiner Mutter ins Wohnzimmer. Es nahm das gesamte Erdgeschoss ein, der hintere Bereich vor der Küche diente als Essecke. Die Tapete hatte ein Muster aus braunem Herbstlaub, die dreiteilige Garnitur war aus farblich dazu passendem braunem Velours. Über dem elektrischen Kamin hing eine sentimentale Herbstlandschaft.
Banks' Vater saß an seinem angestammten Platz in dem Sessel, der den besten Blick auf den Fernseher bot. Er stand nicht auf, sondern brummte nur: »Hallo, mein Sohn, schön, dass du gekommen bist.«
»Hallo, Dad. Wie geht's?«
»Will nicht klagen.« Arthur Banks litt an einer leichten Angina Pectoris, seit er vor einigen Jahren von der Metallblechfabrik vor die Tür gesetzt worden war. Offenbar wurde sie weder besser noch schlechter. Gegen den Schmerz nahm er Tabletten, er brauchte aber kein Inhalationsgerät. Abgesehen von dieser Krankheit und den Schäden, die Alkohol und Zigaretten seiner Leber und Lunge im Laufe der Jahre zugefügt hatten, war er fit wie ein Turnschuh. Er war zwar mager und flach-brüstig, hatte aber noch immer einen dichten Schopf schwarzer Haare mit nur wenigen grauen Strähnen, die er immer mit viel Pomade nach hinten gelte.
Banks' Mutter Ida, pummelig und nervös, klagte, wie schmal Banks aussehe. Dann ging die Küchentür auf, und ein Fremder kam herein.
»Hab das Wasser aufgestellt, Mrs Banks. Na, wen haben wir denn da? Soll ich mal raten?«
»Geoff, das ist unser Sohn Alan. Wir haben doch erzählt, dass er kommt. Zur Feier.«
»Das ist also der Junge, der sich so gut gemacht hat? Mit dem Porsche und dem tollen Haus in South Kensington?«
»Nein, das ist Roy, der zweite. Der kommt erst Sonntagmittag. Er hat noch geschäftlich zu tun. Das hier ist unser Ältester, Alan. Ich hab doch von ihm erzählt. Der da hinten auf dem Bild.«
Sie wies auf ein Foto, das halb verdeckt hinter einem Stapel Frauenzeitschriften im Regal stand. Es zeigte Banks im Alter von sechzehn Jahren, als er eine Saison lang Kapitän der schuleigenen Rugbymannschaft gewesen war. Mit stolzem Gesichtsausdruck stand er in seinem gelb-roten Trikot da, den Ball in der Hand. Es war das einzige Bild von ihm, das seine Eltern je aufgestellt hatten.
»Das ist Geoff Salisbury«, stellte Ida Banks den Fremden vor. »Er wohnt in Nummer fünfundfünfzig.«
Geoff machte einen Schritt nach vorn, die Hand wie eine Waffe ausgestreckt. Er war ein kleiner, kompakter Mann, ungefähr in Banks' Alter, mit lebhaften, leicht wässrigen Augen und kurzem grauem Haar. Als er lächelte, entblößte er eine Reihe offensichtlich falscher Zähne. Er hatte einen festen Händedruck. Seine Hände waren schwielig und trugen Öl- oder Schmierspuren.
»Freut mich, Alan«, sagte er. »Ich würde mich ja gerne noch etwas mit Ihnen unterhalten, aber ich muss los.« An Banks' Mutter gewandt, sagte er: »Haben Sie die Einkaufsliste fertig, Mrs Banks? Ich fahre jetzt zum Asda.«
»Nur wenn es Ihnen keine Umstände macht.«
»Sie wissen doch, dass mir das nichts ausmacht. Außerdem muss ich ja selbst hin.«
Banks' Mutter griff zu ihrer Handtasche, nahm das Portemonnaie heraus und reichte ihm eine Einkaufsliste und einen Zwanzig-Pfund-Schein. »Reicht das?«
»Auf jeden Fall, Mrs Banks. Bestimmt. Bin gleich wieder da. Heute Abend im Coach and Horses, Arthur?«
»Mal sehen. Kommt drauf an, wie's mir geht«, sagte Banks' Vater. Bei näherer Betrachtung wirkte er tatsächlich müde und mitgenommen, fand Banks. Er sah schlechter aus als bei ihrer letzten Begegnung im Sommer. Seine Augen wirkten milchig, seine Haut hatte die Farbe von Haferbrei. Vielleicht waren es die Vorbereitungen für die Feier - Arthur Banks war zwar ein geselliger Mensch im Pub, hatte jedoch noch nie gern viele Leute im Haus gehabt -, aber den größten Teil der Organisation übernahm sicherlich seine Mutter, dachte Banks. Vielleicht wurde sein Vater einfach nur älter.
Geoff Salisbury ging. Banks sah, dass er auf einen roten Fiesta mit rostigem Chassis zusteuerte, der hinter Banks' Renault parkte. Geoff blieb stehen und betrachtete Banks' Wagen, ehe er einstieg und losfuhr.
»Wer war das?«, fragte Banks seine Mutter.
»Hab ich doch gesagt. Geoff Salisbury, ein Nachbar von uns.«
»Er scheint hier ja ein und aus zu gehen.«
»Ich wüsste nicht, was wir ohne ihn machen würden«, entgegnete seine Mutter. »Er ist fast wie ein Sohn für uns. Aber jetzt setz dich erst mal! Tasse Tee?«
Banks nahm Platz, seine Mutter schenkte ihm Tee ein. »Roy kommt also erst am Sonntag?«, fragte er.
»Ja. Er hat gestern Abend angerufen, nicht wahr, Arthur?« Es klang, als sei es ein denkwürdiges Ereignis gewesen. Arthur Banks nickte.
»Er hat am Samstag einen wichtigen Geschäftstermin«, erklärte sie. »Irgendwelche Amis kommen rübergeflogen oder so, die müssen am Abend wieder zurück in New York sein - keine Ahnung. Er meinte jedenfalls, er wäre Sonntagmittag hier.«
»Soll sich bloß kein Bein ausreißen«, murmelte Banks vor sich hin.
Seine Mutter warf ihm einen leidgeprüften Blick zu. Banks wusste, dass sie das ewige Gezänk der Brüder von damals noch gut in Erinnerung hatte. Es war kein Geheimnis, auf welcher Seite sie meistens gestanden hatte.
»Um wie viel Uhr soll die Feier eigentlich losgehen?«, fragte er.
»Wir haben allen gesagt, sie sollen so gegen sechs Uhr da sein. Dann haben wir nach dem Mittagessen noch genug Zeit zum Aufräumen und Vorbereiten. Ach, du hast es wahrscheinlich noch nicht gehört, aber Mrs Summerville ist gestorben«, verkündete Ida Banks in dem leisen, feierlichen Ton, der für Verstorbene vorbehalten war.
»Das tut mir leid«, sagte Banks. Mrs Summerville war die Mutter des ersten Mädchens, mit dem er geschlafen hatte, auch wenn er nicht annahm, dass die verstorbene Mrs Summerville oder seine Mutter das wussten. »Woran denn?«
»Nichts Verdächtiges, falls du das meinst.«
»Gott bewahre!«
Mit gerunzelter Stirn musterte seine Mutter ihn. »Tja ... hm, es war wirklich besser so. Es ging ihr sehr schlecht. Wie Alice Green sagt, ist sie im Schlaf gestorben.«
»Naja ...«, entgegnete Banks. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und trank einen Schluck Tee. Es waren Milch und Zucker drin, obwohl er ihn schon seit zwanzig Jahren schwarz trank.
»Wie geht es den Marshalls?«, fragte er. Die Marshalls waren die Eltern seines Schulfreunds Graham, der mit vierzehn Jahren verschwunden war. Seine Leiche war erst im letzten Sommer entdeckt worden. Banks war hergekommen und hatte der örtlichen Polizei bei dem Fall geholfen. Die Lösung hatte niemanden glücklich gemacht. Banks hatte Detective Inspector Michelle Hart kennengelernt, mit der er sich seitdem in unregelmäßigen Abständen traf. Schade, dass sie nicht dabei ist an diesem Wochenende, dachte er.
»So wie immer, denke ich«, sagte Mrs Banks. »Wir sehen nicht viel von ihnen, stimmt's, Arthur?«
Arthur Banks nickte.
»Ist fast so, als ob sie sich von der Außenwelt abschotten würden, seit du das letzte Mal hier warst.« Seine Mutter warf ihm einen anklagenden Blick zu, als trage er die Schuld an dieser Isolation. Vielleicht stimmte das sogar auf gewisse Weise. Die Wahrheit ist selten so befreiend, wie einem glauben gemacht wird. Oft hemmt sie viel mehr, als dass sie befreit.
»Das tut mir leid«, sagte Banks.
»Hör mal«, fuhr seine Mutter fort, »wenn du schon mal hier bist, könntest du Mrs Green besuchen. Sie fragt immer nach dir und war ganz schön enttäuscht, dass du letzten Sommer nicht bei ihr vorbeigeschaut hast. Sie mag dich sehr gerne, auch wenn ich das nicht verstehen kann, bei dem Lärm, den ihr in ihrem Haus gemacht habt.«
Banks grinste. Auch er dachte gern an Mrs Green, zurück. Sie war die Mutter seines alten Schulfreundes Tony Green, den Banks seit seinem Umzug nicht mehr gesehen hatte. Tony hatte nicht zum harten Kern gehört, war aber bei Banks in der Rugbymannschaft gewesen. Banks hatte Tonys Mutter toll gefunden. Taten die meisten Kinder. Sie erlaubte ihnen, bei ihr im Haus zu rauchen, und hatte nichts gegen die Musik - Beatles und Rolling Stones -, die die meisten Erwachsenen hassten. Ein- oder zweimal hatte sie Banks und Tony Geld in die Hand gedrückt und ins Kino geschickt, damit sie ihre Ruhe hatte. Sie war immer sehr hübsch gewesen, mit einem Busen, von dem die Jungen träumten, außerdem nahm sie kein Blatt vor den Mund. Mrs Green stand in dem Ruf, ihre Meinung freiheraus zu sagen. Niemand, der sie ärgerte, kam ungestraft davon. Tony war irgendwann nach Kanada gezogen, fiel Banks nun ein. Und Mr Green war vor rund neun Monaten an einem Emphysem gestorben. Das hatte ihm seine Mutter am Telefon erzählt, und Banks hatte eine Beileidskarte geschickt. Ja, er wollte Mrs Green auf jeden Fall einen Besuch abstatten.
Und so trank Banks mit seinen Eltern Tee und ließ sich den neuesten Tratsch erzählen. Es war das Übliche: Ein Schulkamerad war nach Australien ausgewandert, ein alter Nachbar vor einem Jahr in ein Heim gezogen und gestorben, und der Junge von den Venables, Hausnummer Sechsundsechzig, saß im Erziehungsheim, weil er einen Rentner überfallen hatte. Banks hatte keine Lust, seine Mutter zu belehren, dass man nicht mehr Erziehungsheim sagte, sondern Jugendstrafanstalt. Für das, was Banks so machte, interessierten seine Eltern sich nicht sonderlich, abgesehen von der Scheidung von Sandra. Sie fragten nach Brian und Tracy und bedauerten, dass beide nicht zur Feier am Sonntag kommen konnten. Brian hatte mit seiner Band eine Reihe wichtiger Konzerte in Deutschland, Tracy eine Grippe. Weil Banks ihr nicht geglaubt hatte, war er bei ihr in Leeds vorbeigefahren, um sie vom Studentenwohnheim aus mitzunehmen, aber als er sah, wie es ihr ging, tat es ihm leid, und er versprach, auf dem Rückweg noch einmal nach ihr zu sehen. Zum Glück hatte sie Freundinnen, die sie mit Hühnersuppe und Medikamenten versorgten.
»Hast du gesehen, wer nebenan eingezogen ist?«, fragte Mrs Banks.
»Nein«, antwortete Banks. »Aber ich hab sie schon gehört.«
»Nicht auf der Seite, auf der anderen. Pakistanis. Aber ich muss sagen, sie machen einen guten Eindruck. Sehr ruhig, sogar die Kinder, nicht wahr, Arthur? Und sehr freundlich. Grüßen immer und fragen, wie's geht. Sprechen auch ganz normal. Ganz anders als die auf der anderen Seite.«
»Was sind das für welche?«, fragte Banks.
Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mal, wie die heißen. Sind vor zwei Wochen eingezogen. Du glaubst nicht, wie unhöflich die sind! Man kann nicht mal sagen, wie viele da wohnen. Ich trau denen nicht über den Weg. Tag und Nacht geht es da rein und raus. Und der Krach! Das Haus ist ein Schweinestall.«
Hörte sich nach Drogen an. Banks nahm sich vor, die Augen offen zu halten. Wenn ihm etwas Verdächtiges auffiel, würde er zur Polizei gehen.
Um halb sechs griff Banks' Vater zur Fernbedienung und machte den Fernseher an, so wie an jedem Wochentag. »Ist es schon so spät?«, fragte Ida Banks. »Dann mache ich besser mal Essen. Koteletts mit Erbsen und Pommes, ja?«
»Schön«, sagte Banks, obwohl er nichts Schweres essen wollte. Er hatte keine Wahl.
»Und hinterher Pudding mit Soße.«
»Ich helfe dir.« Banks folgte seiner Mutter in die Küche.
Wie angekündigt, kehrte Geoff Salisbury mit einer Tüte Lebensmittel von Asda zurück. Er stellte sie auf dem Küchentisch ab und reichte Ida Banks zwei Pfund Wechselgeld, dann gingen die beiden ins Wohnzimmer.
Als Banks die Kartoffeln geschält hatte, begann er die Einkaufstüten auszupacken. Dabei fand er den Bon, der durch das Kondenswasser an einer kalten Apfelsaftflasche klebte.
Die Zahlen waren leicht verwischt, dennoch konnte er erkennen, dass sich die Summe auf 16,08 Pfund belief. Das hieß, es fehlten noch 1,92 Pfund; Geoff hatte seiner Mutter nur zwei gegeben. Mit der Quittung in der Hand ging Banks ins Wohnzimmer.
»Ich glaube, Sie haben sich geirrt mit dem Wechselgeld«, sagte er und hielt Geoff den Bon hin.
Banks' Mutter runzelte die Stirn. »Alan! Was soll das?« Dann, an Geoff gewandt: »Das tut mir schrecklich leid. Unser Alan ist bei der Polizei, daran muss er ständig alle erinnern«, sagte sie mit verächtlichem Schnauben.
»Ach, tragen Sie normalerweise eine blaue Uniform?«
»Nein, ich bin bei der Kripo«, korrigierte Banks.
»Aha. Sherlock Holmes und so.«
»So ähnlich.«
»Dann zeigen Sie mal!« Geoff zog seine Lesebrille aus der Hemdtasche und betrachtete blinzelnd die Quittung. »Verdammt, Sie haben recht!«, gab er zu und errötete. Er zeigte Ida Banks den Zettel. »Jetzt bin ich aber dran. Sehen Sie hier, Mrs Banks? Ich dachte, das wäre eine Acht, aber es ist eine Sechs. Das kommt davon, wenn man zu eitel ist, um im Supermarkt eine Brille aufzusetzen.«
Ida Banks lachte und gab ihm einen neckischen Klaps auf den Arm. »Ach, hören Sie auf, Geoffl So was kann doch jedem mal passieren.«
Geoff zählte ihr den Rest des Geldes in die Hand. Immer noch leicht rot vor Scham, warf er Banks einen kurzen Seitenblick zu. »Ich sehe schon, ich muss mich in Acht nehmen, wo jetzt ein Polizist im Haus ist«, witzelte er.
»Ja«, gab Banks zurück, ohne zu lächeln. »Besser ist das.«
»Das war doch wohl nicht nötig, Alan«, sagte Banks' Mutter, als Geoff Salisbury gegangen war. »Das war peinlich für alle!«
»Mir war das nicht peinlich«, erwiderte Banks. »Schließlich hat er versucht, dich zu betrügen.«
»Red nicht so einen Blödsinn! Er hat sich einfach mit den Zahlen vertan.«
»Macht er das öfter?« »Was?«
»Für euch einkaufen.«
»Ja. Wir können nicht mehr so wie früher, weißt du, dein Vater mit seiner Angina Pectoris und ich mit meinen Beinen und Füßen.«
»Was hast du damit?«
»Krampfadern und entzündete Fußballen. Alt werden ist kein Zuckerschlecken, das kann ich dir sagen, Alan. Wirst du auch noch erleben. Aber Geoff hilft uns so oft, und jetzt hast du ihn beleidigt.«
»Ich glaube nicht, dass er beleidigt ist.«
»Du bist noch keine fünf Minuten hier, und schon gibt es Ärger.«
»Mom, ich glaube wirklich nicht, dass er beleidigt ist. Vielleicht passt er in Zukunft einfach besser auf.«
»Oder wir müssen uns jemand anderen suchen, der für uns einkaufen geht und hin und wieder Staub wischt und saugt. Als ob das so einfach wäre!«
»Er ist bestimmt nicht böse.«
»Na, ich hoffe, dass du dich das nächste Mal bei ihm entschuldigst.«
»Ich soll mich entschuldigen?«
»Ja. Du hast ihm ja praktisch vorgeworfen, er würde stehlen.«
»In Ordnung«, sagte Banks und hob kapitulierend die Hände. »Ich entschuldige mich.«
Wieder schnaubte seine Mutter verächtlich. »Ich kümmere mich mal besser um die Koteletts.« Damit stapfte sie in die Küche und warf die Tür hinter sich zu.
Das Coach and Horses lag ungefähr hundert Meter die Hauptstraße hinunter. Es war einer der Pubs, die sich in den vergangenen vierzig Jahren so gut wie nicht verändert hatten. Selbstverständlich gab es jetzt eine Musikbox und einige Videospiele, auch hatte die Brauerei in den achtziger Jahren Geld für eine bescheidene Modernisierung herausgerückt, in der Hoffnung, jüngeres Publikum anzulocken. Aber es hatte nicht funktioniert. Die Leute, die ins Coach and Horses gingen, besuchten den Pub schon ihr ganzes Leben lang. Und davor hatten ihre Väter dort getrunken.
Auch wenn nicht viele junge Leute da waren, wirkte das Lokal warm und lebendig, fand Banks, als er am Abend um kurz nach acht mit seinem Vater eintrat. Der Pudding mit der Soße lag ihm noch schwer im Magen.
Sein Vater hatte die Strecke ohne allzu viel Schnaufen und Keuchen bewältigt, was er darauf zurückführte, zwei Jahre zuvor mit dem Rauchen aufgehört zu haben. Banks hatte es erst im Sommer getan und verspürte noch immer das Bedürfnis, sich eine Zigarette anzuzünden.
»Arthur! Arthur! Hier sind wir! Hier!«
Geoff Salisbury. Er saß an einem Tisch mit einem älteren Ehepaar, das Banks nicht kannte, und zwei anderen ungefähr sechzigjährigen Männern, die er bei seinem letzten Besuch kennengelernt hatte. Als Banks und sein Vater zu ihnen stießen, machten sie Platz.
»Ich hole was«, sagte Geoff. »Was trinkt ihr?«
»Nein«, sagte Banks, der stehen geblieben war. »Ich bin zu Besuch. Die erste Runde geht auf mich.«
Da niemand widersprach, begab sich Banks an die Theke. Es war nicht so, dass er sich an ungeduldigen Gästen hätte vorbeidrängen müssen. Der Barkeeper, der auch schon im Sommer da gewesen war, grüßte Banks mit einem knappen Nicken und zapfte das Bier in die Gläser. Als Banks das Tablett an den Tisch brachte, fachsimpelte sein Vater bereits mit seinem alten Kumpel Harry Finnegan über Fußball. Harry sah auf und grüßte Banks, fragte, wie es ihm gehe.
»Gut«, sagte Banks. »Aber Sie sehen auch gut aus.«
»Geht so. Tut mir leid, das mit der Trennung von deiner Frau.«
Sandra. Hier blieb nichts geheim. Banks fragte sich, ob sie auch schon von Sean und der Schwangerschaft wussten. »Hm«, machte Banks, »so ist das halt.« Eher in seiner Generation als in ihrer, korrigierte er sich. Die Alten hielten an ihrer Ehe fest, selbst wenn keine Liebe mehr da war. Er hätte aber nicht sagen können, ob das besser oder schlechter war, als alle zehn Jahre den Partner zu wechseln. Vielleicht war es am besten, gar nicht zu heiraten.
Aber seine Eltern liebten sich noch, wenigstens glaubte Banks das. Fünfzig gemeinsame Jahre bedeuteten, dass sie sich wahrscheinlich nicht mehr viel zu sagen hatten, auch die Leidenschaft mochte längst erloschen sein, aber sie kamen gut miteinander zurecht. Banks war eh überzeugt, dass Leidenschaft vergänglich ist. Was seine Eltern miteinander verband, war stärker, tiefer und von längerer Dauer. Er würde es mit Sandra nicht mehr erfahren können: das Gefühl, zusammen alt zu werden. Inzwischen hatte sich Banks an den Verlust gewöhnt, aber hin und wieder empfand er Bedauern, etwas verpasst zu haben, dann bekam er einen Kloß im Hals.
Harry stellte Banks dem Ehepaar am Tisch vor, Dick und Mavis Conroy. Der andere Mann, Jock McFall, grüßte und gab Banks die Hand.
»Hab gehört, du bist jetzt Fan von Leeds United, Alan«, sagte Harry mit einem Augenzwinkern.
Banks nickte. »Ich geb's zu. Auch wenn ich nicht oft zur Eiland Road gehen kann. Näher dran als in der Sportschau komme ich meistens nicht.«
»Eiland Road«, wiederholte sein Vater. »Das kannst du dir doch im Leben nicht leisten, bei dem, was du verdienst, mein Junge.« Alle lachten.
Banks lachte mit. »Stimmt.«
So ging es weiter mit der Unterhaltung, und es bildeten sich kleine Grüppchen: Dick und Mavis sprachen mit Jock McFall über die jüngsten Preiskriege der Supermärkte, Harry und Arthur Banks diskutierten über die schlechte Leistung von Peterborough United in der aktuellen Saison. Und Banks rückte mit dem Stuhl näher an Geoff Salisbury heran.
»Tut mir leid, das mit dem Wechselgeld«, sagte Geoff. »Meine Augen haben sich wirklich stark verschlechtert. Ehrlich, hab mich vertan.«
Banks nickte. »Nichts für ungut«, sagte er, auch wenn GeofF ihn alles andere als überzeugt hatte. Das war das Höchste, was er als Entschuldigung herausbringen würde, es musste reichen. Es hatte keinen Sinn, GeofF gegen seine Eltern aufzubringen und seine Mutter noch mehr zu verärgern. Banks war schließlich nur übers Wochenende da; die anderen mussten Tag für Tag miteinander auskommen. Und da Banks sonst nicht da war, um seinen Eltern beim Einkaufen und Saubermachen zu helfen, war es doch gut, wenn Geoff Salisbury vorbeikam.
»Seit wann wohnen Sie denn hier in der Siedlung, Geoff?«, fragte Banks.
»Ungefähr seit einem Jahr.«
»Wo haben Sie vorher gelebt?«
»Ach, hier und dort. Nie lange an einem Ort.«
»Und warum sind Sie jetzt sesshaft geworden?«
Lachend zuckte Geoff mit den Schultern. »Liegt wahrscheinlich am Alter. Keine Ahnung. Das Umherziehen ist nicht mehr so aufregend wie früher.«
»Na, es hat schon so seine Vorteile zu wissen, dass man immer ein Dach über dem Kopf hat.«
»Allerdings.« Geoff zog ein Kaugummi aus der Tasche. Er packte es aus, schob sich den Streifen in den Mund und faltete das Silberpapier unzählige Male, bis es nur noch ein winziges Quadrat war, das er schließlich in den Aschenbecher warf. Er merkte, dass Banks ihn beobachtete, und musste lachen. »Alte Angewohnheit«, sagte er. »Hab vor fünf Jahren mit dem Rauchen aufgehört und mir diese blöde Sache angewöhnt. Manchmal denk ich, ich wär besser bei Zigaretten geblieben.«
»Kaugummis sind wahrscheinlich gesünder«, meinte Banks. »Was machen Sie beruflich?«
»Gelegenheitsarbeiten.«
»Und was? Reparaturen? Tischlerarbeiten?«
»Hauptsächlich Autos. Ich bastele an den Motoren rum. War mal Automechaniker.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Die letzte Werkstatt, in der ich gearbeitet habe, hat mir gekündigt, danach hab ich nichts mehr gefunden. Liegt wohl an meinem Alter. Die finden für die gleiche Arbeit Jugendliche, die noch grün hinter den Ohren sind, für 'nen Appel und 'n Ei.«
»Stimmt«, sagte Banks. »Das heißt, Sie sind jetzt selbstständig?«
»Ich brauch ja nicht viel, um mich über Wasser zu halten.«
»Und Sie helfen meinen Eltern?«
»Ja, das sind tolle Leute, Arthur und Ida«, sagte Geoff. »Sind wie Mutter und Vater für mich, ehrlich.«
Falls diese Bemerkung in irgendeiner Weise ironisch gemeint war, merkte Geoff es nicht.
»Seit wann kennen Sie sich?«, erkundigte sich Banks.
»Wir haben uns kurz nach Ihrer Abreise diesen Sommer kennengelernt. Ich hab die Geschichte mit dem vermissten Jungen gehört. Furchtbar. Ihre Eltern haben mich von Anfang an gegrüßt, wissen Sie, wenn wir uns auf der Straße begegnet sind. Haben mich zum Tee eingeladen. So was halt. Und da die beiden nicht so ... na ja, Sie wissen schon, was ich meine, da die beiden nicht mehr ganz so gut auf Trab sind, hab ich ihnen hier und da mal einen Gefallen getan. Wäsche waschen, saubermachen, einkaufen gehen und so, ihnen mit dem Geld helfen. Das mache ich gerne.«
»Mit dem Geld?«
»Ja, Rechnungen rechtzeitig bezahlen, so was eben. Sie sind hin und wieder ein bisschen vergesslich, ehrlich gesagt. Ich bringe die Miete zum Gemeindebüro. Das ist für Ihre Eltern immer mit großer Mühe verbunden.«
»Sie sind Ihnen bestimmt dankbar, GeofF.«
»Glaub schon.« Er nickte. »Noch eins?«
Banks sah in sein leeres Glas. »Ja«, sagte er. »Warum nicht? Eins noch.« Er schaute zu seinem Vater hinüber. »Alles klar?«
Arthur Banks nickte und führte sein Gespräch mit Harry Finnegan fort. In der letzten halben Stunde war es voller geworden im Pub, Banks meinte, einige Gesichter zu erkennen. Ein oder zwei sahen ihn fragend an, wandten sich dann aber wieder ab, entweder weil sie ihn doch nicht kannten oder aber nicht mehr kennen wollten. Banks beobachtete Geoff Salisbury an der Theke. Er schien jedermanns Freund zu sein; er schüttelte mehr Hände und schlug mehr Leuten auf den Rücken als ein Politiker am Wahltag. Beliebter Bursche.
Geoff kam mit den Getränken zurück und entschuldigte sich bei Banks, um mit jemand anderem zu sprechen. Banks unterhielt sich eine Weile mit Dick und Mavis - sie wollten wissen, ob er mit zur Ergreifung des Yorkshire Ripper beigetragen hatte -, dann verkündete sein Vater nach dem zweiten Glas, er sei müde und wolle nach Hause. »Du kannst von mir aus bleiben«, sagte er zu Banks.
»Nein, ich komme mit. Ich bin auch ein bisschen müde.«
»Wie du willst.«
Sie verabschiedeten sich und gingen hinaus in die kühle Herbstnacht. Es war mild für die Jahreszeit, fand Banks. Das Wetter eignete sich eher für eine leichte Jacke denn für einen Mantel, aber das Laub färbte sich bunt, der Winter lag in der Luft. Die Wettervorhersage hatte einige Regenschauer gemeldet. Weder Banks noch sein Vater sprachen auf dem Heimweg. Für Arthur Banks war das Gehen anstrengend genug.
Banks' Schlafzimmer war fast noch im selben Zustand wie bei seinem Auszug, hatte er im Sommer erstaunt festgestellt. Nur Tapete, Vorhänge und Bettwäsche waren gewechselt worden. In diesem schmalen Bett hatte er schon mit zwölf Jahren geschlafen.
Als er sich zwischen die straff gespannten Laken zwängte, erinnerte er sich, wie er sich immer heimlich das alte Kofferradio ans Ohr gehalten und unter Pfeifen und Knistern Radio Luxembourg gehört hatte. Anfangs hatte Jimmy Saville die neuesten Top-Ten-Hits von »Mitglied Nr. 11321« gespielt, Elvis Presley. Einige Jahre später kamen dann die Piratensender, die noch stärker rauschten: John Peel spielte die Mothers of Invention, Jefferson Airplane und Country Joe and the Fish - Namen aus einer anderen Welt. Die Musik war derart aufwühlend und aggressiv, dass sie sich selbst über den schlechten Radioempfang hinwegsetzte.
Banks' Augen brannten vom verrauchten Pub und waren zu müde, um Graham Greene zu lesen, deshalb legte er die Cecilia-Bartoli-CD mit Gluck-Arien ein und lauschte ihr beim Einschlafen.
Als er so dalag, musste er an Geoff Salisbury denken. Irgendetwas an ihm machte Banks argwöhnisch. Es war nicht nur das falsche Wechselgeld - das konnte wirklich ein Versehen gewesen sein -, sondern die Art und Weise, wie er sich ins Leben seiner Eltern gedrängt zu haben schien, die Selbstverständlichkeit, mit der er im Haus ein und aus ging. Banks würde sich nicht wundern, wenn Geoff einen Schlüssel hätte. Er stellte die CD ab und drehte sich auf die Seite, wollte das Unbehagen abschütteln, redete sich ein, vielleicht zu misstrauisch zu sein. Bestimmt hatte er dieses Gefühl nur, weil er sich schuldig fühlte, sich nicht selbst um seine älter werdenden Eltern zu kümmern. Eigentlich sollte er froh sein, dass jemand diese Aufgabe übernahm; es wäre ihm bloß lieber gewesen, wenn es nicht Geoff Salisbury gewesen wäre.
Mit einem Schreck fuhr Banks am nächsten Morgen hoch. Im ersten Moment wusste er nicht, wer und wo er war. Es kam ihm vor, als sei er nach vielen Jahren aus dem Koma erwacht - alle Erinnerungen seien verschwunden und seine Umgebung hätte sich völlig verändert - oder als sei er entführt worden und in einem Raumschiff erwacht.
Der Schreck dauerte jedoch zum Glück nur wenige Sekunden, dann fand er sich wieder zurecht, und sein Puls wurde langsamer. Er war in seinem alten Zimmer, natürlich, dem Zimmer, in dem er zwischen seinem zwölften und achtzehnten Lebensjahr geschlafen hatte. Es befand sich im hinteren Teil des Hauses und ging auf die Höfe, eine Gasse und ein Stück ungenutztes Land hinaus, wo er früher mit seinen Freunden gespielt hatte. Als Banks aus dem Fenster blickte, stellte er fest, dass seit seinem letzten Besuch Bauarbeiten begonnen hatten und die Fundamente für noch mehr Häuser gesetzt worden waren. Als ob Peterborough noch größer werden musste. Seit die Stadtplaner Mitte der sechziger Jahre beschlossen hatten, Peterborough zum Auffangbecken der überbevölkerten Londoner Vororte zu machen, war die Stadt unablässig gewachsen, wurden entlegene Dörfer mit Neubausiedlungen und Industriegebieten zugepflastert. Die Stadtplaner und ihre Befürworter behaupteten, hier würde Alt und Neu auf einzigartige Weise verbunden. Banks war eher der Meinung, dass sich König Paeda, der Stadtgründer, im Grab umdrehen würde.
An diesem Samstagmorgen war die Baustelle verlassen; Betonmischer standen untätig herum, die dicken Plastikplanen auf Paletten mit Steinen oder Brettern flatterten im Wind. Wieder ein herrlicher Herbstmorgen: Sonnenschein, strahlend blauer Himmel und kalter Wind. Alles sah frisch aus. Banks schaute auf die Uhr. Es war bereits nach neun; er wunderte sich, so lange und fest geschlafen zu haben, er konnte sich an keinen Traum erinnern. Dann lauschte er auf Geräusche von unten und glaubte, Geschirr in der Spüle klappern und Stimmen im Radio zu hören. Seine Eltern waren offenbar schon auf.
Mit Lust auf einen Tee oder Kaffee zog Banks sich an und ging nach unten. Im Wohnzimmer schaute sein Vater von der Zeitung auf und brummte: »Morgen, Junge.«
»Morgen, Dad«, gab Banks zurück und sah aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, dass sein Auto noch da war. War es. Die Zeitung seines Vaters raschelte, und im Radio wurde nach Auskunft des Moderators als Nächstes ein Wunsch von Mrs Patricia Gaitskell vom Wisteria Drive 43 in Stamford gespielt: Memories Are Made of This von Val Doonican. Du liebe Güte, dachte Banks, vielleicht war er im Schlaf doch in eine Zeitmaschine geraten und jetzt wieder im Jahr 1967.
Möglicherweise hatte er sich deshalb beim Aufwachen so orientierungslos gefühlt.
Er ging in die Küche. Seine Mutter wusch das Frühstücksgeschirr ab und warf ihm einen flüchtigen Blick zu. »Na, kommst du auch mal aus dem Bett?« Genau das hatte sie immer gesagt, wenn er als Jugendlicher den ganzen Vormittag im Bett verbracht hatte. Das Einzige, was ihm den Glauben an seine geistige Gesundheit zurückgab, war der kleine Fernseher auf dem Küchentisch, in dem das Frühstücksprogramm lief. Der war damals noch nicht da gewesen, geschweige denn die Sendungen.
Banks brummelte etwas über eine lange Reise und stellte den elektrischen Wasserkessel an. »Willst du auch eine Tasse Tee?«, fragte er seine Mutter.
»Nein, danke, wir sind schon fertig.«
»Hab ja nur gefragt.«
Sie strafte ihn mit einem vernichtenden Blick, und er machte sich auf die Suche nach den Teebeuteln. Dabei sagte er sich, dass seine Eltern ihn nicht absichtlich übergingen. Sie hatten ihren festen Tagesablauf; er musste sich halt nach ihnen richten.
»Die Teebeutel sind da, wo sie immer sind«, sagte seine Mutter.
Das half ihm nicht besonders, denn er wusste nicht mehr, wo sie aufbewahrt wurden. Ein Tontopf mit der Aufschrift »TEE« sah vielversprechend aus, war aber leer. Daneben stand allerdings eine Dose mit Pulver-Kaffee. Das geht auch, dachte Banks. Solange man sich einredete, dass es ein eigenständiges Getränk und kein richtiger Kaffee war, schmeckte es gar nicht so schlecht.
Doch so lange Banks auch rührte, ein paar Körnchen wollten sich einfach nicht auflösen.
»Willst du gar nichts essen?«, fragte seine Mutter und trocknete sich die Hände am Kittel ab. »Wir haben extra für dich Sugar Puffs geholt, die mochtest du doch immer so gerne.«
Ja, als ich zwölf war, dachte Banks. »Heute mal nicht«, sagte er. »Vielleicht morgen.«
Er ging zurück ins Wohnzimmer, dicht gefolgt von seiner Mutter. Val Doonican war vorbei, jetzt liefen die Searchers mit Some Day We're Gonna Love Again. Schon besser, dachte Banks. Es war schon lustig: Vor fünfunddreißig Jahren hatten die Searchers genau die Sorte Musik gemacht, die seine Eltern als Schund abtaten, heute waren sie ebenso annehmbar wie Val Doonican.
Für den perfekten Start in den Tag brauchte Banks eine Zeitung. Sein Vater verschanzte sich hinter seiner Daily Mail, die er als Labour-Mann nur las, um sich über irgendetwas ärgern zu können. Die Mail war eh nicht nach Banks' Geschmack. Zu wenig Fleisch auf den Rippen, besonders am Wochenende. Er brauchte etwas mit ein bisschen mehr Text und weniger Fotos, beispielsweise den Independent oder den Guardian.
»Ich gehe mal eben rüber und hol mir eine Zeitung«, verkündete er. »Braucht ihr noch irgendwas?«
»Du kannst froh sein, wenn noch welche da sind«, sagte seine Mutter. Sein Vater brummte nur.
Banks verstand die Antworten als Nein und machte sich auf den Weg. Im Nachbarhaus standen alle Fenster im ersten Stock offen, laut dröhnte Musik heraus. Es waren nicht Val Doonican oder die Searchers, eher Nine Inch Nails oder Metallica. Banks betrachtete das Haus. Die Eingangstür stand sperrangelweit auf, an den Fenstern hingen keine Gardinen. Ein ungepflegtes Pärchen kam heraus und trat auf den zugewachsenen Weg. Die beiden sahen aus wie Fred und Rosemary West auf Droge. Die Augen des Mannes erinnerten Banks an den Anfang von Vertigo.
»Morgen«, grüßte Banks. »Schöner Tag heute, nicht?«
Sie sahen ihn an, als sei er vom Mars - oder als kämen sie von dort. Banks zuckte mit den Schultern und ging zum Zeitungshändler auf der anderen Straßenseite. Die hinter einem Asphaltstreifen zurückgesetzte Ladenzeile hatte im Laufe der Jahre viele Veränderungen erlebt. Als seine Familie in die Siedlung gezogen war, gab es eine Imbissbude, einen Damenfrisör, einen Schlachter, ein Lebensmittelgeschäft und einen Waschsalon; jetzt fanden sich dort eine Videothek, ein Lokal namens Caesar's Taj Mahal mit Pizza und indischen Gerichten zum Mitnehmen, ein kleiner Supermarkt und ein Frisörsalon für Damen und Herren. Als Einziges geblieben waren die Imbissbude, die nun nicht nur Fish and Chips, sondern auch chinesische Gerichte zum Mitnehmen verkaufte, sowie der Zeitschriftenhändler Walker.
Banks wartete, um die vielbefahrene Straße überqueren zu können. Auf der anderen Seite standen etwas weiter unten die Ruinen der alten Kugellagerfabrik. Die Tore waren mit Ketten und Schlössern gesichert, um das Grundstück herum zog sich ein hoher, mit Stacheldraht bewehrter Zaun. Die Fabrikfenster waren mit rostigen Gittern versperrt. Trotz der Sicherheitsvorkehrungen waren die meisten Scheiben kaputt, die Fassade des geschwärzten Ziegelbaus war mit bunten Graffiti verziert.
Banks konnte sich noch an die Zeit erinnern, als in der Fabrik gearbeitet wurde: an- und abfahrende Lastwagen, heulende Sirenen und Arbeiter an der Bushaltestelle. Unter ihnen viele junge Frauen und Mädchen, die gerade erst die Schule verlassen hatten. In eine von ihnen war er verliebt gewesen. Sie hieß Mandy und stand immer mit versonnenem Blick rauchend an der Bushaltestelle, einen Schal wie einen Turban um den Kopf geschlungen. Mandy hatte blasse weiche Haut und Lippen wie Julie Christie gehabt. Banks hatte sich mit zwei Schulfreunden Darling angesehen, weil Julie Christie darin eine Nacktszene hatte. Damals waren sie erst vierzehn oder fünfzehn gewesen, aber die gelangweilte Frau im Kassenhäuschen des örtlichen Kinos hatte kaum aufgeschaut, als sie ihnen die Eintrittskarten reichte. Die Nacktszene war super gewesen, auch wenn er vom Rest des Films nicht viel verstanden hatte; er fand ihn nicht so eingängig wie Billy Liar - Geliebter Spinner, den er nur wenige Monate später sah. Einer tristen Umgebung entkommen zu wollen, das hatte er sich nur zu gut vorstellen können.
Irgendwann hatte Mandy einen Verlobungsring getragen, und wenige Wochen später hatte sie nicht mehr an der Haltestelle gestanden. Banks sah sie nie wieder. Lange Zeit blieb er zu Hause und blies Trübsal, und als er Jahre später Beggar's Banquet kaufte und Factory Girl hörte, musste er wieder an sie denken.
Banks ging in den Zeitschriftenladen. Mrs Walker bewegte sich jetzt deutlich langsamer, die Gelenke ihrer linken Hand waren geschwollen. Sah nach Arthritis aus. Unter dem Zeitschriftenständer lag immer noch ein kleiner Stapel Independent, Banks nahm sich ein Exemplar und legte es auf die Theke.
»Sie sind doch der Junge von den Banks, nicht?«, fragte Mrs Walker.
»Genau«, erwiderte er.
»Hab ich mir gedacht. Körperlich ist mit mir zwar nicht mehr viel los, aber mein Kopf funktioniert noch gut. Seit der Sache im Sommer hab ich Sie nicht mehr gesehen. Wie geht's Ihnen?«
»Gut, danke. Ich sehe, Sie halten die Stellung.«
»Mich kriegt man hier nur noch mit den Füßen zuerst raus.«
»Toll, dass Sie das noch ganz alleine schaffen!«
»Ach, ich hab schon Hilfe. Mit den Zeitungen helfen mir ein paar Jungs, und Geoffist ja auch da, der fährt zum Großhändler, macht Inventur und so weiter.«
»Geoff?«
»Ja, Geoff Salisbury. Netter Junge. Ich sag junge, aber er ist wahrscheinlich so alt wie Sie oder noch älter. Immer da, wenn man ihn braucht. Und immer freundlich. Gibt nicht viele Leute, über die man das heutzutage sagen kann.«
»Das stimmt«, bestätigte Banks. Also stellte der allgegenwärtige Geoff Salisbury seine Füße auch unter Mrs Walkers Tisch. Nun, er hatte ja gesagt, er lebe von Gelegenheitsarbeiten. Banks nahm an, dass Mrs Walker ihn für seine Mithilfe bezahlte. Von irgendwas musste er ja leben. Dennoch machte es den Eindruck, als müsse man nicht lange durch die Siedlung gehen, um auf ihren Schutzpatron, den heiligen Geoff Salisbury, zu stoßen.
Die Glocke über der Tür klingelte - neue Kundschaft. Fast erwartete Banks, Salisbury zu sehen, aber als er sich umdrehte, war er baff: Da stand Kay Summerville. Und sie wirkte kaum älter als vor dreißig Jahren, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sicher, das war leicht übertrieben - um die Augen hatte sie ein paar Fältchen, und ihr langes blondes Haar, das ihr immer noch auf die Schultern fiel, war nun am Ansatz dunkel -, dennoch hatte sie immer noch eine tolle Figur und sah klasse aus.
»Kay«, war alles, was Banks mit rauer Stimme hervorbrachte.
Sie war ebenfalls perplex. »Alan!«
»Wollt ihr beide euch den ganzen Tag lang angucken, oder machen Sie jetzt vielleicht mal Platz, junger Mann, damit die Dame kaufen kann, weswegen sie gekommen ist?«, sagte Mrs Walker.
»Natürlich.« Banks trat zur Seite.
Kay lächelte. Sie trug eine Jeansjacke und ein dünnes weißes T-Shirt, dazu eine tiefsitzende Hüftjeans. Und was das für Hüften waren! Kay merkte, dass Banks sie betrachtete, und lächelte ihm zaghaft zu.
»Eine Rolle Polo, bitte, Mrs Walker, und ...« - sie ging zum Zeitschriftenregal und nahm eine Marie Claire heraus - »und die hier.«
Banks blieb trödelnd in der Tür stehen, tat so, als studiere er die Auswahl an Glückwunschkarten. Als Kay bezahlt hatte, kam sie auf ihn zu.
»Kann ich dich begleiten?«, fragte er.
Sie machte einen kleinen Knicks. »Oh, vielen Dank, werter Herr.«
Banks lachte. Mit sechzehn hatte er Kay kennengelernt, kurz vor Eintritt in die Oberstufe. Kay war fünfzehn gewesen, begann gerade mit ihrem letzten Jahr vor den O-Levels. Sie war damals mit ihrer Familie von Nordlondon hergezogen. Banks hatte sie in ihrer blauen Jeans und orangefarbenen Jacke und in der Schuluniform auf der Straße gesehen - weiße Bluse, brauner Blazer, grauer Rock (wahrscheinlich ein paar Zentimeter zu kurz für den Geschmack des Schuldirektors), Schmollmund, blasse Haut, hochgerecktes Kinn und langes blondes Haar, das ihr bis auf den Rücken reichte.
Sie hatte unerreichbar gewirkt, ätherisch, so wie Mandy aus der Fabrik und wie, um ehrlich zu sein, die meisten Frauen oder Mädchen, nach denen es Banks gelüstete, doch eines Tages hatten sie sich im Zeitschriftenladen getroffen, genau wie heute, weil sie beide die neueste Ausgabe des New Musical Express kaufen wollten. Es war nur noch eine Zeitschrift da gewesen. Als Gentleman überließ Banks sie Kay. Gemeinsam gingen sie zurück zur Siedlung und unterhielten sich über Popmusik. Beide waren Fans von Cream und bedauerten die Auflösung der Band im Sommer. On the Road Again von Canned Heat fanden sie beide herrlich, und sie hassten Those Were the Days von Mary Hopkins. Kay versprach, Banks den NME zu leihen, wenn sie ihn durchgelesen hatte. Er fragte, wann das sein würde, und sie sagte, wahrscheinlich am Samstag. Kühn geworden, fragte er, ob sie am Samstagabend mit ihm ins Kino gehen wolle. Als sie bejahte, wäre er fast tot umgefallen.
Sie sahen sich in einer Doppelvorstellung Unterm Holderbusch - Bienen sind zum Stechen da und Was kommt danach ...? an, und das war der Beginn von Banks' erster ernstzunehmender Beziehung.
»Ich habe das von deiner Mutter gehört«, sagte Banks und hielt ihr die Tür auf. »Mein Beileid.«
Kay schob sich eine Strähne aus der Stirn. »Danke. Sie war schon lange krank. Krebs im ganzen Körper, und das Herz war schwach. Es ist zwar ein Klischee, aber in ihrem Fall war es wirklich eine Erlösung.«
»Bist du deswegen hier?«
»Ja. Ich muss mich um das Haus kümmern, bevor die Gemeinde es neu vermietet. Die Miete ist bis zum Monatsende bezahlt, deshalb hab ich mir ein paar Tage freigenommen, um alles zu regeln. Und du?«
»Meine Eltern haben morgen goldene Hochzeit.«
»Oh, wie schön!«
»Ganz schön eindrucksvoll, was? Fünfzig Jahre! Was machst du so beruflich?«
»Investmentbanking.«
»Oh.«
Kay lachte. »Ja, so reagieren alle. Erst mal fällt keinem was dazu ein.«
»Tut mir leid, ist einfach nur ... weiß nicht ...«
Sie lächelte ihn an. »Schon gut. Die meisten kennen sich nicht damit aus. Nicht mal die, die in der Bank arbeiten. Und du? Ich meine mich zu erinnern, dass Mom sagte, du wärst bei der Polizei?«
»Stimmt. Detective Chief Inspector bei der Kriminalpolizei, Abteilung Kapitalverbrechen.«
»Oho, jetzt bin ich aber beeindruckt. Klingt wie Inspector Morse.«
Banks musste lachen. »Na, ich bin ja nicht beim Fernsehen. Ich bin echt. Und lebe noch. Das ist genau wie bei dir: Den meisten fällt erst mal nichts dazu ein. Du bist eigentlich die Erste, die nicht Reißaus nimmt. Hast du keine Leichen im Keller?«
Sie hob mehrmals die Augenbrauen. »Das werde ich dir doch nicht verraten!«
Vor dem Haus von Banks' Eltern blieben sie stehen, ein wenig verlegen und peinlich berührt. Es war wieder einer dieser Augenblicke, fand Banks, wie vor dreißig Jahren, als er sie zum ersten Mal eingeladen hatte. »Hör mal«, sagte er, »wo wir beide zufällig dieses Wochenende hier sind, hast du nicht Lust, heute Abend irgendwo hinzugehen, in einen Pub auf dem Land vielleicht, etwas zu essen und zu trinken und ein bisschen miteinander zu plaudern? Ich meine, du kannst deinen Mann natürlich mitbringen, ist ja klar ...«
Kay lächelte über sein Unbehagen. »Sorry, aber ich bin solo«, sagte sie. »Ja, wäre schön. Kannst du mich um halb acht abholen?«
»Sicher. Super, meine ich.« Banks grinste. »Also, dann bis heute Abend.«
Banks sah Kay nach, und er hätte schwören können, dass sie einen beschwingten Gang hatte. Ihm jedenfalls war beschwingt zumute, und das änderte sich auch nicht durch den Anblick von Geoff Salisbury, der mit seiner Mutter im Flur stand, als Banks die Haustür aufschloss.
»Morgen, Alan«, sagte Geoff. »Hat es Ihnen gefallen gestern Abend?«
»Ja«, erwiderte Banks.
»War das gerade die Tochter von der Summerville, mit der Sie gesprochen haben?«
»Ja«, sagte Banks. »Wir kennen uns von früher.« Geoff runzelte die Stirn. »Tut mir leid, das mit ihrer armen Mutter. Aber ich bin schon wieder weg. Hab nur mal kurz reingeschaut.« An Ida Banks gewandt, sagte er: »Gut, Mrs Banks, immer mit der Ruhe. Ich hole alles, was wir für morgen brauchen, und dann komme ich morgen früh vorbei und mache ein bisschen sauber, ja?«
»Schon gut«, wandte Banks ein. »Das kann ich auch übernehmen.«
»Sei nicht albern«, schalt ihn seine Mutter. »Du weißt doch gar nicht, wie ein Staubsauger funktioniert.« Das mochte vielleicht früher gestimmt haben, jetzt aber nicht mehr. »Das wäre wirklich prima, Geoff«, sagte sie und reichte dem Mann eine Plastikkarte, die er schnell in die Tasche steckte. »Ich weiß, dass wir uns auf Sie verlassen können.«
Es war zu spät, um zu widersprechen. Schon war Geoff Salisbury fort. Er winkte lächelnd und pfiff im Gehen Colonel Bogey vor sich hin.
»Ich meine das ernst«, sagte Banks. »Sag mir doch einfach Bescheid, wenn etwas gemacht werden muss.«
Seine Mutter tätschelte ihm den Arm. »Ich weiß, mein Junge«, sagte sie. »Du meinst es ja nur gut. Aber Geoff ist ... Wir haben uns schon so an ihn gewöhnt. Er weiß, wo alles ist.«
Ach ja?, dachte Banks. »Was hast du ihm da eben eigentlich gegeben?«, erkundigte er sich.
»Was?«
»Du weißt schon. Diese Karte.«
»Ach so. Das war die Geldkarte. Er braucht ja wohl ein bisschen Geld, wenn er das Essen und die Getränke für morgen holen soll, oder?«
Banks blieb fast die Luft weg. »Das heißt, er hat eure PIN-Nummer?«
»Ja, natürlich, du Dummerchen! Sonst könnte er doch gar nichts mit der Karte anfangen!« Mit einem Kopfschütteln drückte sie sich an Banks vorbei ins Wohnzimmer. »Und was war das mit dir und Kay Summerville?«, fragte sie. »Warst du nicht mal mit ihr befreundet?«
»Das ist schon lange her. Aber wir wollen heute Abend zusammen essen gehen.«
Die Kinnlade seiner Mutter fiel herunter. »Aber ich wollte heute Abend Würstchen in Pfannkuchenteig machen - dein Leibgericht.«
Tatsächlich hatte sich Banks mit ungefähr vierzehn Jahren sehr für dieses Gericht erwärmen können. »Tut mir leid«, sagte er, »aber sonst haben wir keine Gelegenheit, mal miteinander zu sprechen.«
»Na, wenn du unbedingt willst«, gab seine Mutter in ihrem berühmten verletzten Tonfall zurück. »Ich muss sagen, sie hat immer einen netten Eindruck auf mich gemacht. Ihre Mutter und ich haben uns nicht so gut gekannt, uns nur im Vorbeigehen gegrüßt, aber du kannst ihr sagen, sie kann gerne bei der Feier morgen vorbeikommen. Ich möchte ihr mein Beileid aussprechen.«
»Ich sag's ihr«, entgegnete Banks und eilte nach oben.
Da Banks' Zimmerfenster geöffnet war, hörte er die Planen von der Baustelle im Wind flattern und die Autos auf der Hauptstraße vorbeibrausen. Außerdem vernahm er einen dumpfen Bass aus dem Nachbarhaus, dazwischen gelegentliches Schreien und Schlagen. Der Garten nebenan sah aus wie ein Schrottplatz: kaputte Möbel, Steine, ein Fahrradwrack. Vielleicht ja auch ein paar verscharrte Leichen ...
Mit knackenden Knien hockte Banks sich vor die Bücher im alten verglasten Bücherschrank und las die Titel auf den Rücken. Da waren sie alle, ein Querschnitt seiner frühen Lektüre, angefangen mit einem großen bebilderten Black Beauty, aus dem ihm seine Mutter vorgelesen hatte, dann alte Jahrbücher von Beano, Dandy und Rupert, außerdem Noddy-Bücher, die ursprünglichen, wo Noddy und Großohr sich mit Golliwog herumtrieben. Als Banks zusätzlich all die Bände der Fünf Freunde und der Schwarzen Sieben sah, hatte er das Gefühl, er allein habe Enid Blyton ein Leben in Luxus ermöglicht.
Dann kam die Lektüre von der weiterführenden Schule: Billy Bunter, fennings und William, gefolgt von Kriegsgeschichten wie Biggles, Das hölzerne Pferd, Die Kanonen von Navarone und Die gelbe Hölle. Daneben standen mehrere Ausgaben der Pan Book of Horror Stories, diese Phase hatte er in seiner Jugend durchlaufen, zusammen mit H. P. Lovecraft und M. R. James. Er besaß nicht viele Kriminalromane, aber es waren noch ein paar eselsohrige alte Taschenbücher von The Saint dabei, Father-Broum-Geschichten und ein kompletter Sherlock Holmes, James Bond war natürlich ebenfalls vertreten, außerdem einige Sextow-Blake-Romane.
Daneben fand Banks Geschichtsbücher, die mit den zahlreichen Bildern, dazu einige Lyrikanthologien von Oxford und Penguin und die illustrierten Kinderenzyklopädien, die jede Woche einen neuen Buchstaben herausgebracht hatten. Er war aber nie über C oder D hinausgekommen.
Im untersten Regal standen Bücher für seine zahlreichen Hobbys wie Fotografie, Münzen, Vögel, Briefmarken und Astronomie sowie mehrere Observer-Bücher über Autos, Flugzeuge, Erdkunde, Bäume, Musik und Teiche. Er hatte diese alten Ausgaben schon in Antiquariaten gesehen, manche waren inzwischen richtig wertvoll. Vielleicht sollte er sie mit nach Hause nehmen. Ob das seinen Eltern recht wäre? Waren seine Bücher und sein Zimmer eine Art Nabelschnur, die letzte Verbindung zwischen ihnen? Welch deprimierender Gedanke.
Ein Buch stand ein Stückchen weit hervor. Zwischen Enid Blytons Der Fluss der Abenteuer und Der Berg der Abenteuer war ein gebrauchtes orangefarbenes Penguin-Taschenbuch namens Lady Chatterleys Liebhaber, eine Neuauflage von 1966 mit einem Vorwort von Richard Hoggart. Neugierig zog Banks es heraus. Er konnte sich nicht erinnern, es gekauft zu haben, und staunte, als er das Vorsatzblatt sah: »Kay Summerville, London, 7. Juni 1969«. Er konnte sich noch gut an den Tag erinnern. Lächelnd legte er das Buch zur Seite. Er wollte es ihr am Abend zurückgeben.
Je länger er über seine Verabredung mit Kay nachdachte, desto mehr freute er sich darauf. Sie war nicht nur eine unheimlich attraktive Frau, sondern auch intelligent. Außerdem hatten sie eine gemeinsame Vergangenheit. Er nahm nicht an, dass die Verabredung zu einem sexuellen Abenteuer führen würde - sicherlich hatte er nicht vor, sie zu verführen -, aber man wusste ja nie. Ob es ihm etwas ausmachen würde? Michelle Hart machte Urlaub in der Toscana. Sie hatten sich gegenseitig zu nichts verpflichtet, und Michelle schien immer ein wenig reserviert zu sein, kurz davor, die zerbrechliche Beziehung zu beenden. Den Grund kannte Banks nicht, aber er spürte, dass sie tiefe, schmerzhafte Geheimnisse hatte, die sie mit niemandem teilen wollte. Seit der Trennung von Sandra hatte er den Eindruck, dass allen Frauen - auch Annie Cabbot oben in York-shire - zu viel Nähe unangenehm gewesen war.
Banks stand auf und schaute auf die Bücher hinunter. Da waren sie, jedes für sich schön, wie verschiedenfarbige Gesteinsschichten oder die Antiquitäten einer archäologischen Ausgrabung. Seine Mutter rief herauf: »Alan, kommst du runter? Das Essen ist fertig. Es gibt Brot mit Dosenfleisch.«
Banks seufzte. »Ich komme!«, rief er. »Muss mir nur noch schnell die Hände waschen, dann bin ich da.« Sicher hatte er früher, als Jugendlicher, gerne Dosenfleisch gegessen, genau wie Sugar Puffs und Würstchen im Teigmantel, doch inzwischen hatte er das Zeug seit Jahren nicht mehr angerührt.
Nach dem Mittagessen brach Banks auf, um Mrs Green zu besuchen. Die Chaoten von nebenan waren draußen. Am Bürgersteig stand ein Lieferwagen ohne Aufschrift. Zwei stramme junge Burschen trugen einen ein Meter fünfzig breiten Fernseher ins Haus. Es sah aus, als würde er nicht durch die Tür passen. Fred und Rosemary standen auf dem Rasen und rieben sich vor Freude die Hände. Ihre Kinder im Alter zwischen fünf und fünfzehn Jahren liefen ihnen zwischen den Beinen herum. Seit dem Besuch der Läuseärztin an seiner Schule hatte Banks nicht mehr so viele rasierte Schädel gesehen. Wieder wollte er die Nachbarn grüßen, aber sie waren viel zu beschäftigt mit dem neuen Fernseher, als dass sie ihn bemerkt hätten. Er hätte seinen Arsch darauf verwettet, dass der Apparat geklaut war.
Der Wind hatte aufgefrischt, merkte Banks. Er trieb schnell ziehende Wolken und kühle Luft heran, es roch nach Regen. Banks zog den Reißverschluss seiner Lederjacke zu und ging die kurze Strecke zu der Sackgasse, in der Mrs Green wohnte, zu Fuß. Sie öffnete auf Banks' Klopfen und drückte ihre Freude darüber aus, ihn zu sehen. Natürlich war sie älter geworden, runder um die Hüften, die Brust hing herab, aber von ihrer Lebhaftigkeit hatte sie nichts eingebüßt. Eifrig machte sie Tee und stellte einen Teller Scones auf den Tisch. Das Wohnzimmer war zurückhaltend eingerichtet - eine schlichte beigefarbene Tapete, keine Drucke oder Gemälde nur auf dem Kaminsims standen einige Familienfotos.
»Wie geht's Tony?«, fragte Banks. »Hab immer bedauert, dass wir keinen Kontakt mehr haben.«
»So ist das nun mal«, sagte Mrs Green. »Man lebt sich auseinander. Das ist normal. Aber das heißt ja nicht, dass man keine gemeinsamen Erinnerungen hat.«
»Stimmt.«
»Tony geht's gut. Er wohnt jetzt in Vancouver. Ist Anwalt für Steuerrecht. Das Foto hier ist ungefähr zwei Jahre alt.« Sie griff zu einer Aufnahme und reichte sie Banks. Er sah das altbekannte Lächeln und den Schalk in Tonys Augen. Inzwischen hatte er offenbar eine Glatze und war etwas runder geworden. Er trug eine grellbunte kurze Hose und ein rotes T-Shirt. Neben Tony standen eine entspannt lächelnde Frau, die Banks für seine Gattin hielt, sowie zwei gelangweilte und/oder coole Jugendliche. Die vier befanden sich am Strand, im Hintergrund waren wolkenverhangene Berge zu sehen. »Ich sage ihm, dass Sie nach ihm gefragt haben«, erklärte Mrs Green.
»Ja, bitte. Aber duzen Sie mich doch, so wie früher.« Banks stellte das Foto zurück auf den Kamin. »Ich war schon mal in Toronto, aber noch nie in Vancouver.«
»Du solltest mal hinfahren, wenn du die Möglichkeit hast. Bill und ich haben ihn vor fünf Jahren besucht. Die Stadt ist wunderbar. Tony und Carol würden sich bestimmt freuen, wenn du vorbeikämst. Sie haben ein großes Haus.«
»Vielleicht irgendwann mal«, meinte Banks.
»Du bist nicht sehr oft hier bei uns, was?«
»Tja«, entgegnete Banks mit einem Schuldgefühl, weil er bei seinem letzten Besuch keine Zeit für Mrs Green gehabt hatte. »Ich bin oben im Norden ziemlich beschäftigt. Sie wissen ja, wie das ist.« Er trank einen Schluck Tee.
»Deine Eltern sind wirklich stolz auf dich, weißt du das?«
Banks hätte sich fast am Tee verschluckt. Wie kam sie bloß darauf?
Mrs Green betrachtete ihn durch ihre Schildpattbrille. »Vielleicht glaubst du das nicht«, sagte sie, »und deine Eltern würden es vielleicht nicht zugeben, aber es stimmt. Besonders seit der Sache letzten Sommer.«
»Wieso glauben Sie das?«
»Ach, meinst du denn, dass ich nichts von euren Auseinandersetzungen mitbekommen hätte? Deine Eltern waren nie damit einverstanden, was du aus deinem Leben gemacht hast, oder? Dein Vater fand, du wärst zum Feind übergelaufen, und deine Mutter fühlte sich von dir im Stich gelassen. Das war jedem klar, der die beiden kennt.«
»Ja?«
»Na, sicher. Und ich wusste natürlich, was dahintersteckte.«
»Was meinen Sie damit?«
Mrs Green grinste. »Ach, sei doch nicht so begriffsstutzig, Alan! Du hattest immer schon diese nervige Angewohnheit, so zu tun, als würdest du das Offensichtliche nicht bemerken. Du wärst in deinem Beruf nicht so weit gekommen, wenn du nicht in der Lage wärst, eins und eins zusammenzuzählen. Du hattest alle Möglichkeiten; deine Eltern keine. Sie mussten sich mit ihrem Los abfinden. Und die Thatcher-Jahre waren hier ziemlich hart. Was glaubst du, wie sich dein Vater gefühlt hat, als die Polizei in den Nachrichten auf Arbeiter einschlug? Auch wenn's Bergleute waren, es waren Arbeiter, so wie er. Was meinst du, wie es ihm ging, als die Polizei in Kampfausrüstung mit dem Überstundengeld vor den Gesichtern der Männer herumwedelte, die alles verloren hatten? Meinst du, es hat ihm Spaß gemacht, jeden Tag in dieser Fabrik zu arbeiten? Ich würde sagen, es war ein Grund zur Freude, als er entlassen wurde, aber für ihn war es ein Schlag ins Gesicht. Und deine Mutter, die bei anderen Leuten geputzt hat? Die beiden haben viele Opfer für dich gebracht, damit du es einmal besser haben würdest, Alan. Und was machst du? Gehst zur Polizei. Du musst doch gewusst haben, was die Leute hier von der Polizei halten.«
»Ich würde sagen, man erwartet von uns, dass die Autos nicht geklaut werden und es möglichst wenig Überfälle und Bandenkriege gibt.«
»Du warst schon immer ein kleiner Frechdachs, Alan Banks. Das wollen die Leute vielleicht heute. Aber damals nicht.«
»Ich verstehe Sie schon«, sagte Banks.
»Aber was ich dir eigentlich sagen will, ist, dass deine Eltern wissen, wie erfolgreich du bist. Sie haben mir von jeder Beförderung erzählt, und du hättest mal den Stolz in ihrer Stimme hören sollen! >Unser Alan ist jetzt Detective Sergeant<, sagten sie, oder >Alan ist jetzt Detective Chief Inspector geworden!< Ich konnte es schon nicht mehr hören. Die beiden haben einfach lange gebraucht, um es zu verstehen, und es fällt ihnen nicht leicht, es zu sagen. Es war auch gut, dass du bei deinem letzten Besuch hier auf der richtigen Seite warst. Sicher, in deinen nichtsnutzigen Bruder waren sie immer geradezu vernarrt.«
»Roy.«
»Ja. Tut mir leid, aber du weißt, dass ich mit meiner Meinung nie hinterm Berg gehalten habe. Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn mochte. Er war falsch und verschlagen, immer führte er etwas im Schilde. Du warst auch kein Engel, alles andere als das, aber du warst nicht verschlagen.«
Grinsend strich Banks sich Butter auf einen Scone.
Er musste daran denken, wie er es in die Wege geleitet hatte, zum ersten Mal mit Kay zu schlafen, während seine Eltern zu Besuch bei seiner Großmutter waren, oder wie Tony und er etwas von Mr Greens Whisky getrunken und die Flasche mit Wasser aufgefüllt hatten. Er hatte nie erfahren, ob es entdeckt worden war. Verschlagen? Alle Kinder sind verschlagen, dachte Banks. In ihrem immerwährenden Kampf gegen die von den Eltern aufgestellten unerklärlichen Regeln und Vorschriften blieb ihnen gar keine andere Wahl. Aber Banks wusste, wie er auf ein Kompliment zu reagieren hatte, selbst wenn es auf Kosten seines Bruders ging.
»Danke«, sagte er. »Roy konnte manchmal ganz schön anstrengend sein.«
»Das ist noch milde ausgedrückt. Leider sehe ich deine Eltern nicht mehr oft, nur manchmal treffe ich Ida auf der Straße«, fuhr Mrs Green fort. »So habe ich von der goldenen Hochzeit erfahren. Sie hat mich eingeladen. Aber es ist traurig: Die Leute ziehen sich immer mehr zurück, wenn sie älter werden. Sie gehen nicht mehr vor die Tür, und ich gehe nicht in die Kneipe. Wie geht's den beiden denn so?«
»Wie immer«, erklärte Banks. »Meine Mutter klagt über Krampfadern und entzündete Fußballen, aber sie kommt einigermaßen zurecht. Mein Vater hat natürlich noch seine Angina Pectoris, aber das scheint immerhin nicht schlimmer zu werden. Sie haben einen Nachbarn, der ihnen hilft. Ein Mann namens Geoff Salisbury. Kennen Sie den?«
Banks hätte es nicht beschwören können, aber er meinte, einen Schatten über Mrs Greens Gesicht huschen zu sehen. Sie kniff die Lippen zusammen.
»Den kenne ich«, sagte sie.
Banks beugte sich im Sessel vor. »Sie klingen nicht gerade begeistert.«
»Bin ich auch nicht. Sicher, ist natürlich ein netter Kerl, dieser Geoff Salisbury. Aber für mein Gefühl ist er ein bisschen zu nett.«
»Woher kennen Sie ihn?«
»Er hat offenbar eine Art Radar für alte Menschen mit Problemen. Irgendwann taucht er bei jedem auf. Meistens, wenn man gerade Hilfe gebrauchen kann.«
»Was meinen Sie damit?«
»Noch etwas Tee?«
»Bitte.« Banks hielt ihr die Tasse hin.
»Du kannst ruhig rauchen, wenn du willst.« Mrs Green lächelte. »Wenn ich euch das mit fünfzehn erlaubt habe, kann ich es dir wohl jetzt kaum verbieten, du bist ja ... wie alt?«
»Alter als damals.« Banks zeigte ihr seine linke Schläfe. »Sehen Sie nicht die grauen Haare?«
Mrs Green lachte und griff sich selbst an den Kopf. »Dann guck dir das mal an!« Es stimmte, sie hatte einen komplett ergrauten Schopf.
»Vielen Dank«, sagte Banks und erinnerte sich, woran Mr Green gestorben war, »aber ich hab aufgehört.«
»Na, das ist ja mal eine gute Nachricht. Wenn wir bloß alle schon früher gewusst hätten, was wir uns damit antun.«
»Was meinten Sie eben? Wegen GeoffSalisbury?«
»Ach ja, was wollte ich noch mal sagen?« Sie lehnte sich zurück, Tasse und Untertasse auf dem Schoß. »Ach, du kennst mich ja. Ich rede immer einfach drauflos.«
»Ich wüsste trotzdem gerne, was Sie denken«, erwiderte Banks. »Um ehrlich zu sein, ist er mir auch nicht besonders sympathisch, und er scheint bei meinen Eltern ein und aus zu gehen.«
Sie winkte ab. »Eigentlich ist es nichts. Er tauchte hier auf, als Bill krank war. Es war zum Ende hin, Bill saß im Rollstuhl und atmete mit diesem furchtbaren Sauerstoffgerät.«
»Und, was wollte er?«
»Was er wollte? Nichts. Er hat um nichts gebeten. Wollte nur helfen. Eins muss ich ihm lassen: Er arbeitet hart und fleißig, damals war er mir durchaus eine Hilfe. Er hat ein paar Dinge im Haus repariert, Sachen erledigt.«
»Wo war dann das Problem?«
»Du glaubst bestimmt, ich bilde mir was ein.«
»Nicht unbedingt.«
»Es war auch keine große Sache. Eher mehrere Kleinigkeiten. Falsches Wechselgeld, eins von Bills Werkzeugen verschwand. Nichts, auf das man den Finger legen konnte.«
Banks dachte an das fehlende Wechselgeld seiner Mutter am Vortag. »Sonst noch was?«
»Wenn man uns so hört!«, sagte Mrs Green und goss sich Tee nach. »Ich werde von der Polizei vernommen!«
Banks grinste. »Tut mir leid, so sollte es nicht klingen. Liegt wahrscheinlich am Thema.«
Sie lachte. »Schon gut, Alan. Ich wollte dich nur ärgern. Aber so einfach erzählt sich das nicht. Es war nur so ein Gefühl.«
»Was für ein Gefühl?«
Sie fasste sich an den Kragen. »Dass er irgendwie ... so drohend über uns schwebte. Wie ein Todesengel. Wie ich mich anhöre! Das ist doch wirklich albern!«
»Sie glauben doch nicht, dass Geoff Salisbury irgendetwas mit dem Tod Ihres Mannes zu tun hatte, oder?«
»Natürlich nicht. Nein, das nicht. Das war ein kaputtes Ventil am Sauerstoffgerät, sagten sie.« Mrs Green lachte bitter. »Einer meinte, in Amerika würden wir Millionen Dollar Schadenersatz bekommen.«
»Das stimmt wahrscheinlich.«
»Tja, wenn wir in Amerika leben würden, hätten wir uns wohl gar nicht die ärztliche Versorgung leisten können, und Bill wäre viel früher gestorben.«
»Auch wieder wahr«, meinte Banks. »Können Sie sich etwas klarer ausdrücken? Dieses Gefühl, das Sie damals hatten?«
»Weiß nicht. Es kam mir vor, als würde er irgendwie warten, in den Kulissen stehen, bis Bill starb.«
»Worauf?«
»Keine Ahnung. Um mehr in die Hand zu nehmen, um mich stärker zu beeinflussen.«
Banks lächelte. »Er wusste offenbar nicht, mit wem er es zu tun hatte.«
Sie blieb ernst. »Du würdest dich wundern, wie leicht es ist, Menschen auszunutzen, die Hilfe brauchen. Nein, das weißt du bestimmt. So was kommt dir sicher öfter unter. Ich hatte jedenfalls das Gefühl, er würde abwartend im Hintergrund stehen und auf Bills Tod warten, um mehr zu sagen zu haben.«
»Aber was hätte denn für ihn dabei herausspringen sollen?«
»Keine Ahnung. Wie gesagt, wahrscheinlich habe ich mir das alles nur eingebildet.«
»Sie haben doch in letzter Zeit nicht im Lotto gewonnen, oder?«
»Hab noch nie einen Schein ausgefüllt.«
»Und Sie haben auch nicht eine Million Pfund unter der Matratze versteckt oder so?«
Mrs Green lachte. »Schön wär's! Nein, da ist nicht viel. Bills Versicherung, die Rente. Ich will mich nicht beklagen, wirklich nicht. Ich komme zurecht.«
»Und was geschah dann?«
»Nach Bills Tod habe ich Geoff Salisbury vor die Tür gesetzt. Auf die freundliche Art. Ich bedankte mich für seine Hilfe, erklärte ihm aber, ich sei durchaus in der Lage, für mich selbst zu sorgen, es wäre mir lieber, wenn er nicht mehr vorbeikäme. Es war nicht so, dass ich seine Hilfe nicht hätte gebrauchen können, aber mir war einfach nicht wohl dabei, wenn er hier war. Vielleicht bin ich nicht nur überempfindlich, sondern auch undankbar.«
»Weiß nicht«, entgegnete Banks. »Wie gesagt, mir liegt er auch nicht besonders, ohne dass ich sagen könnte, warum.«
»Du hast bestimmt Schuldgefühle, weil du dich nicht selbst um deine Eltern kümmern kannst.«
»Möglich. Teilweise schon. Aber da ist noch mehr. Ich traue ihm nicht. Ich weiß nicht, was er im Schilde führt, aber ich traue ihm nicht über den Weg. Vielleicht ist das mein Instinkt.«
»Eines kann ich dir auf jeden Fall sagen: Wenn du es mit Geoff Salisbury aufnimmst, wird dir hier niemand besonders dankbar sein.«
»Ist er so beliebt?«
»Wenn man manche hört, könnte man meinen, ihm scheint die Sonne aus dem ... Du weißt schon.«
Banks grinste. »Ich kann's mir denken. Wie hat er Ihre Zurückweisung aufgenommen?«
Mrs Green zuckte mit den Schultern. »Ganz höflich, würde ich sagen. Zumindest hat er mich danach nicht wieder belästigt. Sicher, ich sehe ihn zwischendurch, und er lacht immer und grüßt, als wäre nichts geschehen. Ich finde nur ...«
»Was?«
»Ach, wahrscheinlich spinne ich wieder. Aber es kommt mir alles so oberflächlich vor, als ob tief darunter, wenn man ihm die Maske abreißt, nun, darunter etwas ganz anderes zum Vorschein kommt. Etwas sehr Unangenehmes.«
Banks beschloss, am Nachmittag kurz ins Stadtzentrum zu fahren. Er musste ein paar Erledigungen für den nächsten Tag machen, eine hübsche Glückwunschkarte und Kerzen kaufen. Er fragte seine Eltern, ob sie etwas brauchten, aber sie verneinten (das hieß wohl, dass Geoff Salisbury sich um alles kümmerte), und so fuhr er los. Anstatt in den Seitenstraßen nach einer Parklücke zu suchen, stellte er den Wagen auf dem Kurzzeitparkplatz hinter dem Rathaus ab und ging zu Fuß zur Bridge Street.
Natürlich hatte sich das Zentrum seit seiner Schulzeit erheblich verändert. Das war den meisten Städten in den vergangenen dreißig Jahren so ergangen, aber Peterborough hatte es mehr getroffen als andere. Es gab ihn nicht mehr, den kleinen Plattenladen in der Seitenstraße, wo er sich jede Woche eine neue Single gekauft hatte, und gelegentlich eine LP, wenn er genug Geld hatte, also Weihnachten oder an seinem Geburtstag. Auch das modrige Antiquariat war verschwunden, wo er stundenlang in den eselsohrigen Taschenbüchern herumgestöbert hatte, während ihn die sauertöpfische Frau an der Kasse mit Argusaugen beobachtete. Der Markt war geschlossen; die Pubs, die er mit sechzehn, siebzehn besucht hatte, waren fort, an ihre Stelle waren neue getreten. Ein altes Kino hatte mehrere Jahre Verwendung als Bingo-Saal gefunden, nun war es ein Nachtclub. Die Kaufhäuser waren verschwunden, umgezogen oder modernisiert worden. Der Platz vor der Kathedrale war jetzt eine Fußgängerzone.
Nur wenige Meter vom Queensgate Centre entfernt stand die alte Kathedrale. In Banks' Kindheit war das majestätische Bauwerk einfach nur da gewesen. Es dominierte die Stadt nicht so wie das Münster in York, und wie die meisten Kinder hatte er der Kirche nur wenig Beachtung geschenkt, wenn nicht gerade Schulprojekte oder Besichtigungen anstanden. Welches Kind interessierte sich schon für eine öde alte Kathedrale, wo alte Leute beten gingen und noch ältere Leute begraben waren? Aber jetzt stand er davor und bewunderte die Westfassade mit den drei hochaufragenden gotischen Bögen, flankiert von den Türmen mit ihren Doppelspitzen, ergötzte er sich an dem in der Herbstsonne gelb leuchtenden Stein.
Im Queensgate Centre kaufte Banks eine teure Glückwunschkarte und Kerzen, dann bummelte er noch eine Weile umher und erstand eine CD, von der er annahm, dass Kay sie auf dem Weg zum Essen gerne hören würde. Es war eine alte Scheibe, die er noch nicht hatte, schon länger war ihm die Lücke in seiner Sammlung schmerzlich bewusst gewesen.
Banks sah auf die Uhr. Vier Uhr. Er glaubte, noch Zeit für einen kurzen Spaziergang am Fluss zu haben, ehe er zu seinen Eltern zurückfuhr.
Als er am Amtsgericht und an der Polizeiwache in der Bridge Street vorbeiging, merkte er, dass er Geoff Salisbury einfach nicht aus seinem Kopf verbannen konnte. Irgendetwas an dem Mann störte ihn. Mrs Green hatte recht gehabt: Natürlich hatte er Schuldgefühle, weil Geoff für seine alternden Eltern all das machte, was eigentlich ein braver Sohn tun würde. Aber es steckte noch mehr dahinter, wie auch die scharfsinnige Mrs Green gemerkt hatte. Banks hatte das untrügliche Gefühl, dass Geoff Salisbury ein Kleinverbrecher war, wenn nicht sogar Schlimmeres.
Er warf einen kurzen Blick auf das alte Zollhaus mit der Signalleuchte auf dem Dach, die die Schiffe auf der Nene leitete. Dann bahnte er sich einen Weg hinunter zu dem Pfad, der an der Nene entlangführte. Er fand eine Bank und zog sein Handy hervor, um auf dem Präsidium in Eastvale anzurufen. Detective Inspector Annie Cabbot und Detective Constable Winsome Jackman hatten Wochenenddienst. Annie ging ans Telefon.
»Ach, der Chef, was für eine Überraschung! Wir haben aber auch nicht mal eine Minute Ruhe, was?«
»Ich nehme an, du bist nicht allein, oder?«
»Nein, aber nur Winsome und ich sind hier, ganz nach Dienstplan.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja. Nichts Besonderes. Ein paar Schlägereien gestern Nacht und eine Vergewaltigung in der East-Side-Siedlung. Wir haben einen zur Vernehmung da.«
»Das ist alles?«
»Na klar, wir kommen zurecht. Immer schön entspannt bleiben!«
»Ich versuch's ja, Annie, ich versuch's. Ich rufe ja auch gar nicht an, um euch zu kontrollieren. Ich weiß, dass ihr zurechtkommt. Ich möchte gerne, dass du ein paar Dinge für mich überprüfst.«
»Ich soll was überprüfen?«
»Genau. Und zwar eine Person. Guck mal, ob du irgendetwas finden kannst.«
»Ich kann's nicht glauben! Ich denke, Familie Banks feiert goldene Hochzeit!«
»Du kennst doch die Vorschriften, Annie: Wir dürfen kein Unrecht ignorieren, egal ob wir im Dienst sind oder nicht.«
»Ach, was für'n Quatsch! Na gut. Worum geht's?«
Banks nannte ihr Name und Anschrift von Geoff Salisbury, dazu das Kennzeichen des Fiesta, das er sich für alle Fälle gemerkt hatte.
»Was ist mit dem Mann?«, fragte Annie.
»Weiß ich noch nicht«, erwiderte Banks. »Hoffentlich nichts. Ist eine verdächtige Person hier aus dem Viertel. Zuerst mal möchte ich wissen, ob er vorbestraft ist, und dann alles, was du sonst noch über ihn rausbekommen kannst.«
»Gut. Soll ich mich melden?«
»Ja, auf dem Handy. Ich lasse es an.« Banks wollte nicht, dass ihn der Anruf im Haus seiner Eltern erreichte. »Wenn ich nicht drangehe, hinterlass mir eine Nachricht, dann melde ich mich.«
»Gut. Alles klar.«
Mit einem leichten Schuldgefühl steckte Banks das Telefon zurück in die Tasche und ging zu seinem Wagen, obwohl er nichts getan hatte, weswegen er sich hätte schuldig fühlen müssen.
In die Badewanne zu gehen war immer noch etwas Besonderes, obwohl seine Eltern jetzt ein Haus mit richtigem Badezimmer hatten. Banks musste aufpassen, nicht das gesamte heiße Wasser zu verbrauchen. Nach kurzem Baden und Rasieren war er fertig. Da er nicht mit einer Verabredung gerechnet hatte, war er nicht besonders gut mit Kleidung ausgestattet. Er musste sich mit einer grauen Baumwollhose und einem blauen Ox-ford-Hemd begnügen. Ehe er nach unten ging, klopfte er zuerst die Taschen seiner Sportjacke nach Autoschlüsseln und Portemonnaie ab, dann steckte er Lady Chatterleys Liebhaber ein, Kays Buch, das er nachts im Bücherregal gefunden hatte.
Annie hatte noch nicht zurückgerufen, und da es nach sieben Uhr am Samstagabend war, nahm Banks an, dass sie sich erst am nächsten Tag melden würde. Er wollte auf keinen Fall, dass das Handy im Restaurant klingelte, deshalb stellte er es ab. Die Sache war sowieso nicht besonders eilig; er wollte lediglich wissen, ob Salisbury vorbestraft war.
»Hier«, sagte seine Mutter. »Nimm besser den Hausschlüssel mit. Du kommst bestimmt erst spät zurück.«
»Glaube ich nicht«, entgegnete Banks.
»Egal. Nicht dass du zu irgendeiner unchristlichen Uhrzeit an die Tür klopfst und uns weckst.«
Banks schob den Schlüssel in die Tasche. »Wir gehen doch nur essen.«
»Und sei leise, wenn du wiederkommst«, fuhr seine Mutter fort. »Du weißt, dass dein Vater einen leichten Schlaf hat.«
Banks wusste nur, dass seine Mutter immer geklagt hatte, vom kleinsten Geräusch aufzuwachen, aber er sagte nichts, sondern verabschiedete sich mit der Versicherung, es würde nicht spät werden.
In einem langen, weiten dunklen Rock und einer weißen Bluse, darüber eine Wildlederjacke, kam Kay an die Tür. Banks machte ihr ein Kompliment zu ihrem Aussehen und fühlte sich wieder wie ein verlegener Teenager, der mit ihr ins Kino ging, um Unterm Holderbusch zu sehen. Seine jugendliche Verzweiflung, in einem Provinznest zu leben, war durch den Film nur verstärkt worden, aber die Musik war ordentlich gewesen. Und was noch besser war: Die herrliche Judy Geeson spielte mit.
Doch die Hauptattraktion des Abends war natürlich Kay Summerville gewesen.
Irgendwie hatte Banks in der letzten Reihe neben den anderen Möchtegern-Pärchen den Mut aufgebracht, den Arm um Kay zu legen, was sie nicht sonderlich zu stören schien. Nach einer gewissen Zeit hatte sein Arm höllisch weh getan, dann war er eingeschlafen, aber Banks wäre lieber tot umgefallen, als ihn fortzunehmen, hatte er sich doch so überwinden müssen, ihn dorthin zu legen. Schulfreunde hatten ihm erzählt, sie hätten in ebendiesem Kino die Bluse ihrer Freundin aufgeknöpft und deren Brüste berührt, aber das traute sich Banks nicht. Nicht bei der ersten Verabredung.
Auf dem Heimweg hatten sie Händchen gehalten und eine Weile im Haltestellenhäuschen geknutscht; weiter war es an jenem Abend nicht gegangen. Das alles stand Banks nun wieder lebhaft vor Augen, als Kay sich neben ihn ins Auto setzte: die warme, etwas dunstige Abendluft, die verschwommenen Lichter, der Lärm eines nahe gelegenen Pubs, der fruchtige Chemiegeschmack ihres Lippenstifts, die weiche Haut unter ihrem Ohr, das kribbelige Gefühl, sein Ständer, als er sie berührte, und die Wärme ihrer kleinen Brüste, die sich gegen ihn drückten.
»Und, hast du eine Idee?«, fragte Kay.
»Was für eine Idee?«
»Wo wir hinfahren sollen. Ich kenne mich hier ungefähr genauso wenig aus wie du.«
»Ach so! Ich dachte, wir fahren einfach mal raus Richtung Fotheringhay. Das ist nicht zu weit, da müsste etwas Vernünftiges zu finden sein.«
Kay lachte. »Der Laden heißt dann wahrscheinlich >Maria, Königin von Schottland< oder so.«
»Na, die Frau ist jedenfalls rumgekommen.«
»Hatte keine große Wahl, oder? Was für ein elendes Leben!«
»Hättest du keine Lust gehabt, Königin zu sein?«
Kay schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin lieber eine langweilige Bürgerin.«
Banks schob die CD von Blind Faith ein, die er am Nachmittag gekauft hatte. Stevie Winwoods Had to Cry Today ertönte so frisch und herzzerreißend, wie der Tag gewesen war.
»Das ist doch nicht -«, begann Kay und legte den Kopf in den Nacken. »Mein Gott, das habe ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gehört! Stehst du immer noch auf so was?«
»Klar! Die Musik zwischen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre«, antwortete Banks. »Meiner Meinung nach wurde in den acht, neun Jahren zwischen Love Me Do und der Zeit, als alle starben, die beste Rockmusik gemacht, die es je gab.«
»Ganz schön radikale Ansicht. Und was ist mit Punk?«
»Zu viel Krach, zu wenig Können. The Clash geht noch.«
»Und Roxy Music, David Bowie? REM, The Pretenders?«
»Keine Regel ohne Ausnahme.«
Kay lachte. »Und was gibt's sonst noch heute?«
»Ich bin Hip-Hop-Fan. Und du?«
Kay stieß ihn in die Seite. »Jetzt mal im Ernst!«
»Hauptsächlich Jazz und Klassik. Aber ich höre immer noch gerne Rock und Folk: Sheryl Crow, Lucinda Williams, Beth Orton.«
»Ich höre leider gar nicht mehr viel Musik«, sagte Kay. »Keine Zeit. Manchmal mache ich das Radio an, wenn ich im Bad bin, aber ich höre kaum hin. Wenn ich mir was aussuchen könnte, würde ich ein Streichquartett oder irgendwelche Kammermusik wählen. Vielleicht Schubert.«
»Der alte Franz ist ganz ordentlich. Wie wäre es hiermit?«
Als eines von Banks' Lieblingsstücken lief, Can't Find My Way Home«, bog er von der Hauptstraße ab. Sie fuhren durch ein kleines Dorf mit riedgedeckten grauen Cottages, die sich um eine Grünfläche drängten. Durch die Vorhänge schien Licht, hier und dort flackerte ein Fernseher. Der Pub hieß nicht »Maria, Königin von Schottland«, sondern sehr viel bescheidener »Fox and Hounds«. Banks parkte vor dem Lokal und stellte die Musik aus.
Mit eingezogenem Kopf traten Banks und Kay unter dem niedrigen Türbalken hindurch. Der Pub war bereits gut besucht, er verströmte die gedämpfte Atmosphäre einer Landgaststätte, so wie sie die Städter lieben. Die beiden gingen zur Theke, Banks bestellte ein Glas Bitter, Kay einen Wodka Tonic. Dann wurden sie von einem jungen Mädchen, das nicht älter als sechzehn sein konnte, in den Restaurantbereich geführt. Sie erklärte, die Abendkarte stehe auf der Tafel neben dem Fenster. Schon auf den ersten Blick wusste Banks, dass sie den richtigen Ort gewählt hatten: Es gab eine große Auswahl an Biersorten und gutem Essen, dazu klassische Pubkost, nichts allzu Exotisches. Der Geräuschpegel war annehmbar, man hörte lediglich die verhaltenen Gespräche von den anderen Tischen, die Darttreffer in der Scheibe am anderen Ende, manchmal begleitet von einem Fluch oder Jubel, dazu das Klingeln der Kasse.
»Prost«, sagte Banks, als sie die Karte gelesen und sich hingesetzt hatten. »Auf ... auf ...«
»Auf alte Zeiten«, ergänzte Kay.
»Genau.«
Sie stießen miteinander an, jeder trank einen Schluck. Banks hätte gerne eine Zigarette geraucht - teils aus Nervosität, teils aus Gewohnheit, schließlich war er in einem Pub -, aber er hielt es aus und vergaß es bald wieder.
»Kannst du dich noch an das Konzert erinnern?«, fragte er.
Kays Augen funkelten. »Na, klar! Nicht unbedingt an die Musik - ich meine, wenn du mich fragen würdest, wüsste ich nicht mal mehr, was sie gespielt haben und wer sonst noch auftrat -, aber das ganze Abenteuer, klar, wie könnte ich das vergessen? Danach durfte ich wochenlang nicht aus dem Haus, nur zur Schule.«
Banks lachte. »Ich auch nicht.«
Nachdem Kay am 7. Juni 1969 in einem Antiquariat auf der Charing Cross Road Lady Chatterleys Liebhaber gekauft hatte, war sie zusammen mit Banks mit dem Zug nach London gefahren, um ein Gratis-Konzert von Blind Faith im Hydepark zu sehen. Durch eine Kombination unglücklicher Umstände - beispielsweise waren sie mit neuen »Freunden« auf einen Joint in eine Wohnung in Chelsea gegangen - hatten sie den Zug nach Hause verpasst und waren erst früh am nächsten Morgen daheim eingetroffen. Versteht sich von selbst, dass die Eltern ihnen schwere Vorwürfe gemacht hatten.
»So«, begann Kay, »dann erzähl mir mal von den letzten dreißig Jahren. Bist du verheiratet? Hast du Kinder?«
»Zwei Kinder: Das Mädchen geht zur Uni, der Junge spielt in einer Rockband. Sag nicht, dass mir das recht geschieht.«
Kay lachte. »Gott bewahre! Vielleicht verdient er genug, um dich später mal auszuhalten.«
»Das hoffe ich.«
»Und deine Frau?«
Die Kellnerin kam mit dem Block in der Hand. »Haben Sie gewählt?«
Banks warf Kay einen Blick zu, sie nickte und bestellte Seezunge mit Salat. Er nahm Rehmedaillons in Portwein mit Pilzsauce.
»Noch etwas zu trinken?«
Banks schaute auf sein halbvolles Glas und schüttelte den Kopf. Kay bestellte ein Glas Weißwein.
»Was hast du eben gesagt?«, fragte Kay, als die Kellnerin gegangen war. »Über deine Frau?«
Banks hielt inne. »Ich bin geschieden.«
»Seit wann?«
»Seit zwei Jahren. Sie ist schon wieder verheiratet.«
Kay pfiff anerkennend. »Das ist schnell. Normalerweise erwartet man so was wie ... hm ... weiß nicht ...«
»Wie eine Trauerphase?«
»Das ist nicht das richtige Wort, aber es kommt ungefähr hin.«
»Es hat mich bös überrascht. Ich kann nicht behaupten, dass ich es eilig hätte, wieder zu heiraten.«
»Gibt es eine Neue?«
Banks dachte an Michelle und Annie. Mit erneutem Schuldgefühl sagte er: »Nichts Ernstes. Ist noch zu früh.«
»Aha.«
»Und du?«
»Was?«
»Bist du noch verheiratet?«
»Seit fünf Jahren nicht mehr.«
»Tut mir leid.«
»Muss es nicht. Er ist mit seiner Sekretärin durchgebrannt.«
»Das muss hart gewesen sein.«
»Damals ja, ich würde schon sagen, dass es meine Selbstachtung ganz schön gebeutelt hat. Sie war natürlich deutlich jünger als ich. Aber jetzt bin ich drüber weg.«
»Und, was Neues?«
»Niemand Besonderes.« Kay lächelte und errötete leicht, dann griff sie zu ihrem Glas und trank. Dieses Lächeln und Erröten kannte Banks von früher, als er sich zum ersten Mal mit ihr verabredet hatte. Was war nur mit ihnen geschehen?, fragte er sich. Warum hatten sie sich getrennt? Aber er kannte die Antwort: Es war seine Schuld gewesen.
Das Essen kam, kurz darauf auch Kays Wein. Banks blieb beim Bier, er musste noch fahren. »Wie kommst du zurecht mit dem Aufräumen?«, fragte er, als sie beide ein wenig gegessen hatten.
»Ganz gut, würde ich sagen. Das meiste hab ich erledigt, bis aufs Saubermachen.« Sie lächelte. »War noch nie meine starke Seite, auch nicht bei mir zu Hause.
Mache ich wahrscheinlich morgen. Am Montagmorgen kommt jemand vorbei und holt die Möbel ab. Er hat nicht viel geboten, aber was soll's ... Der Rest ist schon gepackt und wird zu mir transportiert.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist schwer, das Leben eines anderen Menschen durchzusehen. Die Erinnerungen der eigenen Mutter. Weißt du, ich habe Briefe gefunden, die sie vor langer Zeit von einem jungen Mann bekam - natürlich bevor sie meinen Vater kennenlernte -, das sind richtige Liebesbriefe. Einer oder zwei sogar ganz pikant.«
»Man kann sich immer nur schwer vorstellen, dass die Eltern auch ein eigenes Leben haben, nicht?«
Kay nickte. »Hab auch viele andere Sachen gefunden: alte Fotos, von mir als Kind am Meer, Briefe von mir, als ich an der Uni war. Voller Ehrgeiz und Energie.« Sie bekam feuchte Augen.
»Und jetzt?«
Kay wischte die Tränen fort. »Ach, ich bin wohl immer noch ziemlich ehrgeizig. Ich arbeite praktisch den lieben langen Tag. Ich weiß, dass ich meine Mutter vernachlässigt habe, besonders nach Dads Tod.« Banks erinnerte sich, dass Kays Vater zehn Jahre zuvor bei einem Autounfall verunglückt war. Ihre Mutter hatte überlebt. Damals hatte man in der Siedlung wochenlang von nichts anderem gesprochen, seine Mutter hatte es ihm erzählt. Kay lachte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Weiß nicht, vielleicht ist das so was Unbewusstes - ich war immer Dads Liebling -, aber zu der Zeit hatte ich gerade beruflich richtigen Aufwind. Endlich war das Leben spannend: viele Reisen, Partys, Geld. Ich hatte kaum Zeit, um mal heimzufahren und Mom zu helfen, selbst dann nicht, als sie krank war. Verdammt, als sie starb, war ich in Zürich. Ich hab's gerade so geschafft, rechtzeitig zur Beerdigung herzukommen. Tolle Tochter! Und 'ne tolle Mutter. Selbst meine Kinder sagen, dass sie mich nie sehen.«
»Du hast Kinder?«
»Ja, drei Töchter. Alle verheiratet. Ich habe bereits Enkelkinder, Alan! Kannst du das glauben? Ich bin eine alte Großmutter!«
»Kaum zu glauben, wenn man dich so sieht.«
Sie errötete abermals. »Oh, danke. Aber ich sage dir, dafür muss man heute schwer arbeiten und eine Menge Geld in Cremes und Salben investieren. Weißt du noch, als Kinder? Wir dachten, wir würden ewig leben.«
»Stimmt«, bestätigte Banks. »Ich warte immer noch auf die Weisheit, die angeblich mit dem Alter kommt.«
»Ich auch.«
In behaglichem Schweigen aßen sie weiter. Banks beobachtete, wie Kay mit der Gabel Stücke von der Seezunge abtrennte. Seine Medaillons waren hervorragend: zart und köstlich. Er fand, er könnte noch etwas trinken, und bat die Kellnerin um ein Glas Rotwein.
»Wie geht es denn deinen Eltern?«, erkundigte sich Kay.
»Gut. Ach, da fällt mir ein: Meine Mutter lädt dich ein, morgen vorbeizukommen, wenn du Lust hast.«
Kay nickte langsam. »Gerne. Ja, das wäre schön.«
»So gegen sechs?«
»Okay. Für eine halbe Stunde oder so.« Sie runzelte die Stirn. »Da gibt es eine Sache mit meiner Mutter, die macht mir ein bisschen Sorgen.«
»Was denn?«
»Eigentlich ist es nichts, aber ich bin gestern ihre Finanzen durchgegangen, und da habe ich gemerkt, dass sie am Tag, als sie starb, hundert Pfund am Geldautomaten abgehoben hat, aber ich kann das Geld nirgends finden. In ihrem Portemonnaie sind nur sechs, sieben Pfund, und sie war nicht der Typ, der das Geld unter der Matratze versteckt.«
Die kleine Narbe an Banks' rechtem Auge begann zu jucken. »Vielleicht musste sie noch Rechnungen bezahlen, oder sie hatte Schulden?«
»Bloß keine Schulden machen, das war Moms Wahlspruch. Alle Rechnungen waren bezahlt. Nein, ich weiß es wirklich nicht. Was sagt Sherlock Holmes dazu?«
»Ich denke, es gibt wahrscheinlich eine einleuchtende Erklärung.«
»Kann sein. Was mich nur wundert, ist: Wie ist sie an das Geld gekommen?«
»Was meinst du damit?«
»Nun, sie war in den letzten Tagen ans Bett gefesselt. Sie hatte natürlich eine Pflegerin auf Abruf, rund um die Uhr, und Dr. Grenville kam oft vorbei, aber ... Ich wüsste wirklich nicht, wie sie zum Geldautomaten hätte kommen sollen.«
Es juckte stärker. Banks kratzte sich am Auge. »Hast du mal von einem Mann namens Geoff Salisbury gehört?«, fragte er.
Kay runzelte die Stirn. »Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Ich glaube, er hat sich mir bei der Beerdigung vorgestellt. Ist ein Nachbar. Warum?«
»Ach, nur so«, meinte Banks. »Nicht so wichtig. Nachtisch?«
»Möchtest du Musik hören?«, fragte Kay. Sie waren in ihrem Elternhaus, Banks hatte die Einladung zu einem Schlummertrunk angenommen - eine kleine Flasche »medizinischen« Brandy, die Kay beim Ausräumen der Küchenschränke gefunden hatte. Sie tranken ihn aus gesprungenen Teetassen, die sie in den Müll werfen wollte.
»Gern«, antwortete Banks.
Kay ging zu der alten Stereoanlage. »Mal sehen«, sagte sie und suchte eine Kiste mit Schallplatten durch. »Die habe ich gestern Abend eingepackt, ohne besonders auf die Titel zu achten. Wahrscheinlich ist die Auswahl eh nicht groß. Dad hat nur die Sachen gehört, die er aus dem Krieg kannte, und Mom hat sich gar nicht groß für Musik interessiert. Wie du siehst, haben sie keinen CD-Spieler. Ich glaube, die letzte Platte haben sie 1960 gekauft.«
Banks ging zu ihr, betrachtete die altmodischen Hüllen. Wenigstens konnte er die Rückseite der Cover lesen, anders als bei den kleinen Buchstaben auf den CD-Hüllen. »Das war nach 1960«, sagte er und zeigte auf Beatles for Sale.
»Dann ist das eine von mir«, sagte Kay. »Hab ich gar nicht gesehen.«
Banks klappte die Hülle auf. Auf dem Foto innen war etwas mit einem blauen Kugelschreiber geschrieben. Es war schwer zu lesen, aber er meinte zu entziffern: Kay Summerville liebt Alan Banks. Er reichte die Hülle an Kay weiter. Sie wurde rot und legte sie zur Seite. »Die habe ich mal Susan Fish geliehen«, erklärte sie. »Diese falsche Schlange! Das hatte ich noch gar nicht gesehen.«
Sie zog eine andere Platte hervor. »Ah, die wäre doch nicht schlecht.«
Knisternd traf die Nadel auf die Rille, das Geräusch verursachte bei Banks einen unerwarteten Schauer von Wonne und Sehnsucht. Dann begann Billie Holiday mit Solitude.
»Besser geht's fast nicht«, sagte er.
»Wollen wir tanzen?«, fragte Kay.
»Weiß nicht«, sagte Banks. »Weißt du noch, dass der Pfarrer uns im Jugendheim nicht tanzen lassen wollte, weil das angeblich zu Sex führt?«
»Ja, natürlich«, lachte Kay.
Dann lag sie in seinen Armen, Billie Holiday sang über Einsamkeit, und was sie taten, ging noch so gerade als Tanzen durch.
»Ein kluger Mann, der Pfarrer damals«, sagte Banks ungefähr eine Stunde später auf dem Sofa. Billie Holiday war längst verklungen, die nackte Kay lag auf ihm, ihr Kopf an seiner Brust, mit den Fingern fuhr sie ihm träge über den Körper. Es war gut gewesen - auf jeden Fall besser als das Gefummel damals, an das er sich kaum noch erinnern konnte -, auch wenn das Ganze etwas leicht Melancholisches und Verzweifeltes gehabt hatte, als wollten beide etwas festhalten, was sich ihnen entzog.
»Was ist damals nur passiert?«, fragte Kay. »Vor all den Jahren?«
»Wir waren doch noch Kinder. Was wussten wir schon?«
»Hm. Aber hast du mal überlegt, was geworden wäre, wenn ...? Also, wenn wir nicht ...?«
»Klar.«
»Und?«
»Keine Ahnung. Es fällt mir schwer, mir ein Leben ohne Sandra und die Kinder vorzustellen.«
»Geht mir genauso. Ich meine, auch wenn das Ende schrecklich war, hatten Keith und ich auch schöne Zeiten. Und die Kinder sind klasse. Ich meine ja nur, rein hypothetisch. In der Phantasie. Ich bin schon an Orten gewesen und habe Sachen erlebt, da hätte ich dich gerne dabeigehabt.«
»Ja?«
»Doch. Hast du das nie gedacht?«
»Kann ich nicht behaupten«, erwiderte er, obwohl es nicht stimmte.
Sie stieß ihn in die Seite. »Blödmann!«
»Es gibt was, das ich dir nie erzählt habe«, sagte Banks und streichelte ihr seidig blondes Haar und die weiche Stelle unter ihrem Ohr.
»Und das willst du mir jetzt erzählen?«
»Ja.«
»Hältst du das für eine gute Idee?«
»Der Zeitpunkt erscheint mir passend.«
»Warum?«
»Nur so.«
Kay rührte sich. »Gut. Erzähl!«
»Kannst du dich noch an das erste Mal erinnern, als meine Eltern weg waren und du zu uns kamst? Der Tag, an dem wir es zum ersten Mal machen wollten?«
»Wie könnte ich das vergessen? Das erste Mal mit jemandem schlafen! Ich hatte supergroßen Schiss.«
»Ich auch. Wegen uns beiden. War total nervös.«
Er wusste noch, dass er und Kay im Laufe der Monate vom Knutschen an der Bushaltestelle zum Anfassen oben, zuerst über dem Pullover, dann darunter, fortgeschritten waren, bis nur noch der dünne BH zwischen seinen Händen und ihrer nackten Haut gewesen war. Nach einigen Wochen und viel ungeschicktem Genestel an dem BH-Verschluss konnte er endlich die unvorstellbar zarten, festen Hügel darunter betasten.
Sie waren fast ein Jahr zusammen gewesen, als die Rede auf Berührungen unterhalb der Gürtellinie kam. Verständlicherweise waren beide ein bisschen nervös. Auch wenn es die »Swinging Sixties« waren und man sich in Woodstock in aller Öffentlichkeit liebte: Banks und Kay waren unerfahrene Jugendliche vom Lande. Die Eskapaden drogenabhängiger Popstars und die freie Liebe der Hippies erschienen ihnen so unwirklich wie ein Hollywood-Film.
Aber sie hatten es getan.
»Tja«, sagte Banks. »Ich musste ja los und ... na ja ... Kondome kaufen.«
»Verhüterli? Na klar, logisch. Weißt du, darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht.«
»Ich konnte aber nicht einfach bei uns in die Drogerie oder zum Frisör gehen, oder? Da kannten mich ja alle. Irgendjemand hätte es meinen Eltern erzählt.«
Kay stützte sich auf den Ellbogen und beugte sich über Banks, er spürte ihre harte Brustwarze auf seiner Haut. Er roch den Weißwein und den billigen Brandy in ihrem Atem, sah das Licht in ihren dunkelblauen Augen flackern. »Und, was hast du gemacht? Wo bist du hingegangen?«, fragte sie.
»Ich bin meilenweit ans andere Ende der Stadt gelaufen und fand einen Herrenfrisör, wo mich mit Sicherheit keiner kannte.«
Kay kicherte. »Ach, wie süß!«
»Ich bin noch nicht fertig.«
»Weiter!«
»Weißt du noch, dass die alten Herrenfrisöre früher eine Art Gang mit einer Kasse zwischen Innen- und Außentür hatten, so eine intime Ecke, wo man Shampoo und Rasierklingen und so was kaufen konnte?«
»Zum Beispiel Verhüterli?«
»Genau.«
»Ja, weiß ich noch. Mein Vater hat mich als kleines Mädchen manchmal mit zum Frisör genommen.«
»Eben«, fuhr Banks fort. »Wie gesagt, ich war schon auf halbem Weg nach Cambridge und stand frech wie Oskar vor diesem Frisör in einer Straße, wo mich unmöglich jemand kennen konnte.«
Kay lächelte. »Und was geschah dann?« Sie bewegte den Kopf, ihr Haar kitzelte ihn an der Brust.
»Tja, wie es der Zufall wollte, hatte eben dieser Laden keine diskrete Verkaufsecke. Fehlanzeige! Ich machte die Tür auf und stand direkt neben dem Frisörstuhl. Der Frisör rasierte gerade einen Kunden, das weiß ich noch, es waren zig Männer da. Jeder Stuhl war besetzt, und ich könnte schwören, dass in dem Moment, als ich reinging, alle von ihren Zeitungen aufsahen und mich angafften.«
»Mein Gott! Was hast du getan?«
»Na, was schon? Es war zu spät zum Umkehren. Ich hab die Zähne zusammengebissen und mit so tiefer Stimme wie möglich gesagt: >Ein Dreierpäckchen, bitte.<«
Kay legte die Hand auf den Mund, um nicht laut los-zuprusten. »O nein! Ohne Quatsch?«
»Ungelogen.«
»Was sagte er dazu, der Frisör?«
»Kein Wort. Er unterbrach die Arbeit, die bloße Klinge in der Hand, ging zu seinem Schrank und gab mir die Packung. Aber du hättest die Kerle grölen hören müssen! Als ob Peterborough United gewonnen hätte! Ich wurde knallrot.«
Kay bekam einen Lachanfall und konnte nicht mehr aufhören. Banks lachte mit, hielt sie eng umschlungen, und nach einer Weile wurde das Lachen wieder zu Lust.
Es war nach zwei Uhr, als Banks den Schlüssel in das Türschloss seines Elternhauses schob und ihn so leise wie möglich umdrehte. Langsam drückte er die Tür hinter sich zu, um keinen Lärm zu machen, dann vergewisserte er sich, dass die Kette vorgelegt war. Die Treppenstufen knarrten ein wenig, als er auf Zehenspitzen nach oben schlich. Er konnte sich nicht die Zähne putzen, weil er dazu im Badezimmer das Licht hätte einschalten müssen und das Wasser gerauscht hätte. Er glaubte, sich auch im Dunkeln ausziehen und ins Bett krabbeln zu können. Es würde zwar quietschen, aber daran konnte er nichts ändern. Zum Glück war er so klug gewesen, noch bei Kay zur Toilette zu gehen.
Kaum hatte er den Treppenabsatz erreicht, hörte er seine Mutter mit seinem Vater reden, der brummend etwas erwiderte. Genau verstehen konnte Banks nichts, aber er wusste, dass es um ihn ging, um seine späte Heimkehr. Er spürte, dass er rot wurde. Es war völlig egal, wie leise er sich verhielt: Seine Mutter hatte wach gelegen, bis er wieder da war, genau wie damals, als er noch zu Hause wohnte.
Obwohl er spät schlafen gegangen war, wachte Banks früh am Sonntagmorgen vom Geräusch des Regens auf, der von heftigen Böen gegen sein Zimmerfenster gepeitscht wurde. Im übrigen Haus war es ruhig, er glaubte nicht, dass seine Eltern schon aufgestanden waren. Sein erster Gedanke war, was um alles in der Welt Kay und er in der letzten Nacht getan hatten, doch je länger er darüber nachdachte, desto weniger bereute er es. Dann war es halt die Schuld von Billie Holiday, dachte er, oder es lag am Tanzen, an der alten Siedlung und der alten Liebe. Egal, was es war, es war etwas Besonderes gewesen. Er wollte keine Schuldgefühle haben.
Er konnte nur hoffen, dass sich Kay in der feuchtgrauen Morgendämmerung genauso fühlte.
Als er aufstand und zu seiner Reisetasche ging, die im Schrank stand, fielen ihm zwei Dinge gleichzeitig ein: dass er vergessen hatte, Kay ihre alte Ausgabe von Lady Chatterleys Liebhaber zurückzugeben, und dass er überzeugt war, ein winziges, säuberlich gefaltetes Quadrat Silberpapier in ihrem Badezimmermülleimer gesehen zu haben. Vielleicht hatte Mrs Summerville zum Ende ihres Lebens mit Kaugummikauen begonnen, auch wenn er das bezweifelte. Oder aber Kay tat es, obwohl er am Abend nichts davon bemerkt hatte. Außerdem hatte sie im Zeitungsladen Minzbonbons gekauft, kein Kaugummi. Das nährte in ihm den starken Verdacht, dass Geoff Salisbury irgendwann in den letzten Wochen bei den Summervilles gewesen sein musste, und nahm ihm fast jeden Zweifel, was das Schicksal der hundert Pfund anbetraf.
Was sollte er bloß mit ihm machen? Das war hier die große Frage.
Banks zog die Tasche aus dem Schrank und streckte sich. Er beschloss, den Tag schlicht gekleidet zu beginnen: Jeans und Pullover mit Polokragen. Für die Feier später wollte er sich umziehen. Dies war der große Tag seiner Eltern, Roy würde aus London kommen. Banks nahm sich vor, seinen Eltern zuliebe nett zu seinem Bruder zu sein.
Als er die Tasche wieder in den Schrank schob, entdeckte er mehrere Pappkartons. Beim letzten Besuch hatte er alte Schallplatten und Tagebücher gefunden, die waren noch da, aber jetzt war offenbar noch mehr hinzugekommen. Neugierig öffnete er die andere Schranktür und holte den Karton heraus. Der Deckel war zugeklappt, aber nicht zugeklebt, und obendrauf stand in der unnachahmlichen Handschrift seiner Mutter: Alan. Also noch mehr Relikte aus seiner Kindheit.
Obenauf lagen alte Zeugnisse, diesmal vom Gymnasium, in denen er zumeist aufgefordert wurde, sich mehr anzustrengen, er könne mehr, wenn er sich nur richtig reinknien würde usw. Die Zeugnisse waren mit schwarzer Tinte handgeschrieben, hin und wieder hatte Banks Schwierigkeiten, die Kommentare zu entziffern. Er erinnerte sich an einige Namen: Mr Newman, Mr Phelps, Mr Hawtry. Aber die meisten sagten ihm nichts mehr.
Bei den Zeugnissen lag ein Klassenfoto vom 14. Mai 1967. Da standen sie alle, drei Reihen heranwachsender Jungen in Schuluniform. Banks kannte noch viele Gesichter: Steve Hill, Paul Major, Dave Grenfell, seine besten Freunde, dann Tony Green, John McLeod, der berüchtigte Schläger, und Ian Marston, der sich vor sieben oder acht Jahren umgebracht hatte, als er mit seinem Kurierdienst gescheitert war, wie Banks' Mutter berichtet hatte. An die Übrigen konnte er sich kaum erinnern, vielleicht hier und dort an ein Detail, ein langes Gesicht voller Sommersprossen, eine große Nase, abstehende Ohren, aber er wusste die Namen nicht mehr. Bei seinem letzten Besuch hatte er sich mit Dave Grenfell und Paul Major getroffen und erfahren, dass Steve Hill an Lungenkrebs gestorben war, aber was aus den anderen geworden war, wusste Banks nicht. Einige mochten tot sein, andere im Sterben liegen, wieder andere Erfolg haben, manche scheitern, ein paar mochten kriminell sein, viele waren wohl geschieden. Ein aufsässig wirkender Junge war dabei, der mit großspurigem Gesichtsausdruck in die Kamera schaute, das schwarze Haar ein klein wenig zu lang, die Krawatte leicht schief, der oberste Knopf entgegen der Schulvorschrift geöffnet - das war er selbst. Ein noch größeres Rätsel als die anderen.
Dann kamen Schulhefte mit Rechenaufgaben und Aufsätzen. Eines enthielt Gedichte, die Banks geschrieben hatte, als er die Entwicklungsphase durchmachte, in der Lyrik ein vertretbares Ausdrucksmittel war, solange man seine Ergüsse für sich behielt. Unerträglich verlegen sah er sich nun die Gedichte wieder an. Dazu schlug der Herbstregen gegen die Fensterscheibe.
Es waren Zeilen über die Unsicherheit des Heranwachsens, Liebesgedichte für Julie Christie und Judy Geeson, Lyrik über die Falschheit der Welt. Natürlich reimte sich nichts, auch hatte er das Metrum nicht sonderlich beachtet; die Zeilen endeten immer dann, wenn sie aufhören sollten, nur damit es auf dem Blatt wie ein Gedicht aussah. Und alles war kleingeschrieben. Na, überlegte Banks, soweit er wusste, war das nicht viel anders als die Sachen, die die meisten Dichter heute veröffentlichten. Furchtbare Ausdrücke und Bilder sprangen ihn an: »Ich fühle mich wie eine Leiche/im Sarg deines Denkens.« Wie um alles in der Welt war er auf solche Sätze gekommen? Worum ging es da überhaupt? Er wusste nicht mal mehr, wessen Denken der Sarg gewesen sein sollte. Dann fand er ein Gedicht mit der Überschrift »Für Kay«, das folgende unsterblichen Zeilen enthielt:
ich glitt über dein leben wie ein kiesel übers wasser
ich versank
schnell wich die flut
Was hatte er dabei gedacht? Es gab noch ein Bild über sie, »nackt/ auf einem Schaffell / vor knisterndem feuer«, obwohl Banks sich nicht erinnern konnte, jemals mit ihr auf einem Schaffell gelegen zu haben. Außerdem knisterten die elektrischen Kamine nicht, die sie in der Siedlung hatten. Dichterische Freiheit?
Er dachte an das erste Mal in diesem Zimmer, als seine Eltern nicht zu Hause gewesen waren. Sie hatten sich unbeholfen angestellt, es war weit weniger bedeutsam für beide, als er sich in seiner Phantasie ausgemalt hatte, aber letztendlich war es ganz passabel gelaufen, und sie beschlossen, dass es ihnen gefallen hatte und sie es wiederholen wollten. In den nächsten Monaten wurden sie immer besser, stahlen sich hier und dort eine Stunde, wenn die Eltern nicht da waren. Einmal waren sie fast erwischt worden, als Kays Mutter früher als erwartet vom Zahnarzt zurückkam. Sie konnten sich gerade noch rechtzeitig anziehen und das Bett machen und erzählten ihr, sie hätten Musik gehört, obwohl Banks an dem Gesichtsausdruck von Mrs Summerville ablesen konnte, dass das zerzauste Haar ihrer Tochter etwas anderes verriet. Kay erzählte ihm später, dass sie am Abend eine Standpauke über die Gefahren von Jugendschwangerschaften und den Ruf von Frauen bekam, die sich nicht für die Ehe »aufsparten«. Banks oder die Ereignisse des Nachmittags wurden allerdings nicht erwähnt, und es versuchte auch niemand, ihnen ihre Treffen zu verbieten.
Lächelnd schob Banks das Heft mit den Gedichten in seine Reisetasche. Er wollte es zu Hause in seinem Cottage in Gratly verbrennen. Dabei fiel ein Zeitungsausschnitt zwischen zwei leeren Seiten heraus. Es war ein Bericht aus der Lokalzeitung über das Verschwinden von Graham Marshall, ein Schulkamerad von Banks und der Grund für seinen Aufenthalt in Peterborough im letzten Sommer. Neben dem Artikel war ein Foto von Graham mit seinem hellen Haar, dem melancholischen Gesichtsausdruck und seiner blassen Haut. Er sah aus wie ein Dichter des Fin de Siecle.
Banks kramte erneut im Karton und fand weitere 45er-Singles, die er ganz vergessen hatte: A Whiter Shade of Pale von Procol Harum, Juliet von den Four Pennies, Hippy Hippy Shake von Swinging Blue Jeans, Summer in the City von Lovin' Spoonful, Elvis Presleys Devil in Disguise und Still I'm Sad von den Yardbirds.
Banks stellte den Karton auf einen anderen mit der Aufschrift »Roy« und ging auf Zehenspitzen nach unten in die Küche, um eine Tasse Tee zu trinken. Er bekam fast einen Herzinfarkt, als er Geoff Salisbury am Küchentisch sitzen und einen Toast essen sah.
»Morgen, Alan!«, grüßte Geoff. »Ich wollte ein bisschen saubermachen. Hab den alten Herrschaften schon eine Tasse Tee gemacht, die Guten. Heute ist ihr großer Tag. Auch 'ne Tasse?«
Banks hätte am liebsten gesagt, er würde sich selbst Tee kochen, doch dann fiel ihm wieder ein, dass er am Vortag die Teebeutel nicht gefunden hatte. Deshalb holte er sich einen Becher. »Danke«, grummelte er.
»Morgenmuffel, was?«, fragte Geoff. »Na, nach so einer langen Nacht wie gestern ist man natürlich besonders müde, das kann ich mir vorstellen. Ihre arme Mutter hat die halbe Nacht wach gelegen und sich Sorgen gemacht.« Salisbury zwinkerte Banks zu. »War schön mit der Summerville?«
Also hatte seine Mutter Geoffbereits erzählt, dass Banks mit Kay Summerville unterwegs gewesen und erst weit nach Mitternacht zurückgekehrt war. Es war noch nicht mal neun Uhr morgens, und dieser Kerl wusste bereits Bescheid. Langsam ging ihm Geoff Salisbury so richtig auf den Geist. Auch wenn Banks noch keine Möglichkeit gehabt hatte, Annie wegen der Vorstrafen anzurufen, fand er, dass er genauso gut jetzt in die Offensive gehen und ein paar Dinge klarstellen konnte.
»Ich bin wirklich froh, dass Sie hier sind«, sagte er. »Ich wollte mal in Ruhe ein Wort mit Ihnen reden.«
»Ach, worüber denn?«
»Über Ihre langen Finger.«
»Wie bitte?«
»Sie wissen genau, wovon ich spreche. Tun Sie nicht so unschuldig! Das zieht bei mir nicht.«
»Ich verstehe ja, dass Ihre Arbeit Sie zynisch macht, aber warum haben Sie es ausgerechnet auf mich abgesehen? Was habe ich Ihnen getan?«
»Das wissen Sie ganz genau.«
»Hören Sie, wenn es um das Wechselgeld geht: Ich dachte, wir hätten geklärt, dass ich mich da wirklich geirrt habe. Ich dachte, das hätten wir ad acta gelegt.«
»Das hätte ich vielleicht, wenn ich nicht noch einige andere interessante Dinge gehört hätte.«
»Ach, die Summerville, was? Wenn sie irgendwas gesagt hat, dann war das gelogen. Sie kann mich nicht leiden.«
»Tja«, entgegnete Banks, »das beweist ihren guten Geschmack. Es ist völlig unwichtig, wer was erzählt hat. Es geht darum, dass ich von mehreren Leuten unabhängig voneinander gehört habe, dass Sachen verschwunden sind, wenn Sie in der Nähe waren. Beispielsweise Geld.«
Salisbury wurde rot. »Das verbitte ich mir!«
»Kann ich mir vorstellen. Aber stimmt es?«
»Natürlich nicht. Ich weiß nicht, wer -«
»Wie schon gesagt, das ist unerheblich.«
Salisbury stand auf. »Für mich aber nicht. Sie glauben es vielleicht nicht, aber es gibt Menschen, die es auf mich abgesehen haben. Nicht alle wissen zu schätzen, was ich für die anständigen Leute hier tue, verstehen Sie?«
»Was meinen Sie damit?«
»Schon gut. Wenn Sie jetzt mit Ihren haltlosen Anschuldigungen fertig sind, würde ich mich gerne an die Arbeit machen. Ihnen ist die goldene Hochzeit Ihrer Eltern vielleicht nicht so wichtig, aber mir schon. Arthur und Ida bedeuten mir sehr viel.«
Noch ehe Banks etwas erwidern konnte, war Salisbury nach vorn gegangen und hatte den Staubsauger eingeschaltet. Verärgert über Salisburys Reaktion und seine eigenen unpräzisen Anschuldigungen, lief Banks hinüber zum Zeitungsladen, um sich eine Sunday Times zu holen.
Allein ging Banks am Sonntagmittag ins Bricklayer's Inn, um sich ein Glas Bier zu gönnen. Er nahm die Zeitung mit und versprach, zum Essen um zwei Uhr zurück zu sein. Es kam ihm vor wie die erste richtige Auszeit an diesem Wochenende, und er machte das Beste daraus. Es gelang ihm sogar, das Kreuzworträtsel zu drei Vierteln zu lösen, ohne Annies Hilfe ein passables Ergebnis. Auf dem Heimweg stellte er sich in einem vom Regen gepeitschten Wartehäuschen vor den Toren der verlassenen Fabrik unter, um Annie in Eastvale anzurufen. Auch wenn das Häuschen noch nicht lange dort stand, musste Banks unwillkürlich an Mandy mit ihren Julie-Christie-Lippen und dem verträumten Blick denken. Was wohl aus ihr geworden war? Ob sie je gefunden hatte, wonach sie sich sehnte? Wahrscheinlich nicht, so wie die meisten Menschen. Auch wenn es ihm vorkam wie ein anderes Zeitalter: Mandy wäre jetzt auch erst Anfang fünfzig, das empfand Banks nicht mehr als alt.
Constable Winsome Jackman meldete sich. »Ist Inspector Cabbot nicht da?«, fragte Banks.
»Leider nicht, Sir«, sagte Winsome. »Sie ist in der East-Side-Siedlung und befragt Nachbarn wegen der Vergewaltigung.«
»Wissen Sie, wann sie zurückkommt?«
»Nein, Sir. Tut mir leid, aber Sie müssen wohl mit mir vorliebnehmen.«
Er hörte den Humor in ihrer Stimme, ihren singenden jamaikanischen Tonfall. Wusste Winsome, dass Annie und er mal was miteinander gehabt hatten? Es würde ihn nicht wundern. Auch wenn man sich noch so sehr bemühte, so etwas geheim zu halten, gab es immer Menschen, die es scheinbar rochen.
»Aber Inspector Cabbot hat eine Nachricht für Sie hinterlassen«, fuhr Winsome fort.
»Ach ja?«
»Wegen dieses Mannes, nach dem Sie gefragt haben, Geoffrey Salisbury.«
»Genau. Ist er vorbestraft?«
»Ja, Sir. Einmal verurteilt. Vor sechs Jahren. Achtzehn Monate.«
»Weswegen?«
»Betrug. Kurz gesagt hat er versucht, die Ersparnisse einer alten Dame an sich zu bringen, aber sie war schlauer, als er gedacht hatte.«
»Ach, tatsächlich?«, gab Banks zurück. »Na, das ist ja eine Überraschung!«
»Wie?«
»Schon gut. Wo war das?«
»In Loughborough, Sir.«
Das war nicht weit, überlegte Banks. »Vielen Dank«, sagte er. »Auch an Inspector Cabbot. Hat mir sehr geholfen.«
»Da ist noch was. Inspector Cabbot lässt Ihnen ausrichten, dass sie noch mit den zuständigen Beamten sprechen will, die mit dem Fall zu tun hatten. Sie meinte, es stecke vielleicht noch mehr dahinter, als auf den ersten Blick ersichtlich ist.«
»Was hat sie damit gemeint?«
»Keine Ahnung, Sir. Soll ich ihr sagen, dass sie sich bei Ihnen melden soll, wenn sie mit Loughborough gesprochen hat?«
»Das wäre nett, Winsome. Noch mal danke.«
»Kein Problem. Viel Spaß auf der Feier.«
Roy erschien nicht zum Mittagessen, womit Banks irgendwie gerechnet hatte. Sie aßen ohne ihn, und Ida Banks machte sich unentwegt Sorgen, konnte die Mahlzeit gar nicht richtig genießen. Arthur versuchte, sie zu beruhigen, versicherte ihr, es sei bestimmt nichts passiert, Roy sitze nicht in einem brennenden Wagen auf der M1. Banks schwieg. Er kannte seine Mutter gut genug, um zu wissen, dass alles, was er über Roy sagte, nur Öl ins Feuer gegossen hätte. Stattdessen vertilgte er wie ein braver Junge sein Roastbeef und den Yorkshire-Pudding - ein leckeres Essen, wenn man durchgegartes Fleisch und matschiges Gemüse mochte - und war dankbar für kleine Dinge. Zum einen war seine Mutter viel zu durcheinander, um ihm das späte Heimkommen in der Nacht vorzuhalten, zum anderen hatte sich der vermaledeite Geoff Salisbury nun endlich nach Hause verzogen und aß nicht mit ihnen, auch wenn er versprochen hatte, bald zurückzukehren, um alles für die Feier vorzubereiten.
Das Telefon klingelte schließlich um halb drei, sie wollten gerade die Biskuitrolle essen. Banks' Mutter sprang auf und eilte in den Flur. Als sie zurückkam, war sie deutlich ruhiger und teilte Banks und seinem Vater mit, der arme Roy hätte es einfach nicht geschafft, pünktlich aufzubrechen, dann hätte der Regen ihn noch weiter aufgehalten. Außerdem wäre ein Stau auf der M25, er sitze fest, würde aber so schnell wie möglich kommen.
»Na, siehst du«, entgegnete Arthur. »Die ganzen Sorgen umsonst. Ich habe doch gesagt, dass nichts passiert ist.«
»Aber man weiß nie, oder?«, gab sie zurück.
Banks bot sich an, abzuwaschen, und zu seiner Überraschung wurde sein Angebot angenommen. Mit der aufgeschlagenen Zeitung auf dem Schoß hielt sein Vater einen Mittagsschlaf, und seine Mutter machte ein kleines Nickerchen, um ihre Nerven zu beruhigen. Als Banks fertig war, goss er sich heimlich etwas vom Johnnie Walker seines Vaters ein, um seine Nerven zu beruhigen. Kaum hatte er ihn heruntergeschluckt, gab es eine gewaltige Explosion.
So hörte es sich jedenfalls an. Langsam gewöhnten sich Banks' Ohren an den Lärm, dann wurde ihm klar, dass die Nachbarn die Musik angemacht hatten. Gangsta-Rap auf Heavy Metal, nur im weitesten Sinn als Musik zu bezeichnen. Banks' Vater wachte auf. »Schon wieder«, brummte er. »Man hat hier keine fünf Minuten Ruhe.«
Banks setzte sich auf die Sessellehne. »Ist das oft so?«, fragte er.
Sein Vater nickte. »Ständig. Ich hab natürlich versucht, mit denen zu reden, aber der Kerl ist ein dummes Arschloch. Wenn ich zwanzig, dreißig Jahre jünger wäre ...«
Banks hörte die Schritte seiner Mutter auf der Treppe. »Schon wieder«, rief sie nach unten.
»Ist nicht gut für die Nerven«, bemerkte Arthur Banks.
»Hast du schon mit der Gemeinde gesprochen?«
»Ja, aber die sagen, sie können nichts tun, höchstens eine Verwarnung aussprechen.«
»Und Geoff Salisbury?«
»Geoff ist wirklich nett, aber er hat keinen Mumm für so was. Der Kerl nebenan ist nicht ohne.«
»Gut«, sagte Banks und stand auf. »Bin gleich wieder da.«
»Wo willst du hin, Alan?«, fragte seine Mutter und kam die Treppe herunter.
»Ich will mit denen nur ein Wörtchen reden, mehr nicht.«
»Nicht dass du Ärger machst. Hörst du? Sei vorsichtig! Und vergiss nicht, dass wir hier wohnen müssen, auch wenn du wieder weg bist.«
Banks tätschelte seiner Mutter den Arm. »Keine Sorge, Mom«, sagte er. »Ich weiß, was ich tue. Ich passe schon auf, dass ihr keine Probleme bekommt.«
Es regnete noch immer. Banks klopfte an die Tür des Nachbarhauses, doch es öffnete niemand. Kein Wunder, dachte er, bei der Lautstärke. Alle Fenster waren geöffnet, der zornige Heavy-Metal-Rap dröhnte heraus, der Sänger prahlte, er werde eine Hure vergewaltigen und ein Schwein zeugen.
Banks drehte am Knauf: Die Tür war nicht verschlossen. Er stand in einem schmalen Flur, eine Treppe führte nach oben zu den Schlafzimmern. Die Tapete löste sich von der Wand, auf der Treppe lag etwas, das wie ein Schlafsack aussah. Banks stieß mit dem Fuß dagegen. Er war leer.
Ihm war unangenehm, das Haus ohne Ankündigung zu betreten, aber es gab offenbar keine andere Möglichkeit. Mehrmals rief er laut, konnte aber kaum seine eigene Stimme verstehen.
Schließlich ging er ins Wohnzimmer. Schnell war ihm klar, warum die Fenster immer offen standen; der Gestank war unerträglich, eine Mischung aus diversen Düften: menschliche Gerüche wie Schweiß und Urin, aber auch vergammeltes Gemüse, verbranntes Plastik und Marihuana. Auf dem Boden lagen alte Zeitungen und Müll, die Möbel sahen aus, als hätte ein Hund daran genagt, auch wenn keiner zu sehen war. Wahrscheinlich haben sie einen Pitbull, dachte Banks und war dankbar, dass er nicht zu sehen war. Auf Sofa und Sesseln lümmelten sich drei Personen. Der Mann stand auf, als Banks eintrat.
»Was willst du hier?«, schrie er.
»Ich kann nicht von den Lippen lesen«, gab Banks zurück, stieg über die riesige Stereoanlage und drehte die Lautstärke herunter. »Schon besser.«
Es war der Herr des Hauses, Fred West wie aus dem Gesicht geschnitten. Aus einem der Sessel sah ihnen eine Frau zu, die Banks für seine Angetraute hielt. Ein ungefähr dreizehn- oder vierzehnjähriges Mädchen saß im anderen Sessel und starrte ausdruckslos vor sich hin.
Der Mann baute sich vor Banks auf und wies mit dem Daumen auf die Tür. »Genug«, sagte er. »Schluss mit lustig! Ab nach draußen!«
»Ich wollte Sie bitten, die Musik leiser zu stellen«, erklärte Banks. »Wir können nebenan kaum das eigene Wort verstehen.«
»Was interessiert dich das? Du kommst doch gar nicht von hier!«
»Ich habe hier schon gelebt, da gab es Sie noch gar nicht. Ich bin hier aufgewachsen. Nebenan ist mein Elternhaus, meine Eltern haben heute Hochzeitstag.«
»Na, toll für euch! Wir hab'n leider kein Geschenk. Und jetzt verpiss dich, sonst werde ich so richtig unangenehm.«
»Sie verstehen nicht richtig«, sagte Banks und zog seinen Dienstausweis hervor. »Ich bin Polizeibeamter und bitte Sie höflich, die Musik leiser zu stellen.«
Der Mann beugte sich vor und musterte den Ausweis. »North Yorkshire!«, lachte er. »Sie haben hier überhaupt nichts zu melden. Das ist hier nicht Ihr Zuständigkeitsbereich.«
»Tolles Wort. Lange für geübt, was?«
»Ich hab keine Angst vor Ihnen! Ab jetzt!«
»Wäre aber besser«, gab Banks zurück.
Der Mann ging zur Anlage und drehte die Lautstärke wieder auf. Das Mädchen und die Frau hatten sich nicht bewegt. Sie sahen einfach nur zu. Banks nahm an, dass sie irgendetwas genommen hatten. Er meinte, unter einer Zeitung auf dem Boden eine halbverdeckte Crack-Pfeife zu sehen, aber sie hatten kein Crack geraucht, denn sie waren nicht zappelig oder aufgedreht, sondern praktisch komatös. Wahrscheinlich Heroin oder Downer.
Mit einem Seufzer ging Banks zur Anlage, hob den CD-Spieler hoch, riss die Kabel heraus und ließ ihn auf den Boden fallen. Die Musik verstummte. Die Frauen bewegten sich immer noch nicht, doch Fred stürzte sich auf ihn. Er war untersetzt und ein paar Zentimeter größer als Banks, hatte einen kräftigen Oberkörper. Doch Banks' Vorteil waren seine unvermutete Kraft und Wendigkeit. Er umfasste das Handgelenk des anderen und drehte ihm den Arm auf den Rücken, bis Fred auf die Knie sank. Mit dem Fuß trat Banks ihm an die linke Niere. Wenn Banks den Arm nur ein klein wenig weiter nach oben drehte, wurde der Schmerz unerträglich. Noch etwas mehr Druck, und der Arm würde brechen oder das Schultergelenk herausspringen. Die Frauen sahen mit stierem Blick zu. So etwas hatten sie noch nicht erlebt.
»Dafür mach ich dich fertig!«, kreischte der Mann. »Dafür kommst du in den Knast, auch wenn du Bulle bist. Du hast kein Recht, das Eigentum anderer Menschen zu zerstören!«
»Jetzt halt mal den Rand, Fred!«, sagte Banks. »Ist wahrscheinlich eh geklaut.«
»Ich heiße Lenny. Ich bin der Falsche.«
»Mein Fehler, Lenny, tut mir leid. Hörst du mir zu?«
»Ich hab trotzdem keine Angst vor -«
Banks drehte den Arm ein wenig weiter, Lenny schrie auf. Banks ließ kurz nach, dann wiederholte er seine Frage.
»Schon gut«, sagte Lenny. »Ich höre zu, ja. Lassen Sie los!«
Banks dachte gar nicht daran. »Tut mir leid mit dem CD-Spieler«, sagte er, »ich höre selbst gern Musik, hat mir fast genauso weh getan wie dir. Der läuft bestimmt bald wieder, ist nur runtergefallen, mehr nicht. Falls er nicht mehr geht, habt ihr bestimmt kein Problem, einen neuen zu klauen. Aber zuerst möchte ich ein kleines Versprechen hören.«
»Was für ein Versprechen?«
Banks drehte den Arm noch ein wenig weiter um. Lenny brüllte, das Gesicht rot vor Schmerz. Die Frau, die Banks für Lennys Ehefrau hielt, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete das Schauspiel mit großem Interesse, so als schaue sie Fernsehen. Das Mädchen fing an, sich die Fingernägel zu polieren. Nach dem plötzlichen Ableben des CD-Spielers lauschte Banks auf die Stille, hörte aber keine anderen Geräusche im Haus. Ein gutes Zeichen. Kein Hinterhalt.
»Ich möchte gerne ein Versprechen, dass hier nie wieder die Musik so laut gemacht wird, dass es meine Eltern nebenan stört. Wäre das wohl möglich, Lenny?«
»Das ist mein Haus! Hier mache ich, was ich will!«
Ein Ruck. Ein Schrei.
»Lenny, du hörst mir nicht richtig zu. Wenn du das ernst meinst, was du gerade gesagt hast, solltest du in ein frei stehendes Haus ziehen, ohne Nachbarn. Außerdem ist das gar nicht dein Haus. Es gehört der Gemeinde. Du hast es nur gemietet.«
»Sie sind ein richtiges Schwein«, keuchte Lenny. »Schlimmer als die Verbrecher, die Sie wegsperren. Bah!« Er spuckte auf den Boden.
»Jaja, ist nichts Neues. Aber wir reden hier nicht über mich, sondern über dein Versprechen.«
»Was für ein Versprechen? Ich habe nichts versprochen, verdammt noch mal!«
»Tust du aber gleich, nicht wahr?«
Lenny schwieg. Mit gerunzelter Stirn sah die Frau ihn an. Banks wusste nicht, ob sie es spannend fand. Tut er's oder tut er's nicht? Das Mädchen stand auf und wollte das Zimmer verlassen.
»Wo willst du hin?«, fragte Banks.
»Pinkeln«, erwiderte sie und tat so, als hocke sie sich hin.
Banks war ein wenig besorgt, sie könne mit einer Waffe zurückkehren. »Warte kurz, Kleine«, sagte er. »Bis ich hier fertig bin.«
»Ich mach mir gleich in die Hose.«
»Ich hab gesagt, du sollst warten. Das kriegst du schon hin.«
»Die Jeans ist neu.«
Banks sah Lenny an. Das Mädchen ließ sich gegen den Türpfosten sacken und verschränkte die Beine. Banks behielt sie im Auge. Sie kaute auf der Unterlippe und schmollte.
»Also, Lenny, je schneller du mir das versprichst, desto schneller kann dein Mädchen hier zur Toilette.«
»Das ist nicht mein Mädchen. Macht sie sich halt in die Hose. Mir doch egal. Wäre nicht das erste Mal.«
Banks verdrehte seinen Arm noch stärker, Lenny fluchte. »Ich möchte gerne, dass du mir versprichst, die Musik nie wieder so laut zu machen, dass es meine Eltern stört, verstanden?«, sagte er langsam.
»Verstanden.«
»Und wenn doch«, fuhr Banks fort, »dann sind meine Kollegen von der Drogentruppe so schnell hier, dass du keine Zeit mehr hast, das E im Klo runterzuspülen, hast du das verstanden?«
»Ja.«
»Versprichst du das jetzt?«
»Ich -«
Banks verdrehte ihm wieder den Arm. »Versprichst du das?«
»Schon gut, ja! Mensch noch mal, ich verspreche es!«
»Und wenn du irgendwas machst - egal, was -, wenn du versuchst, meinen Eltern was zu tun, dann gilt das Versprechen für mich als gebrochen. Und um so was kümmere ich mich persönlich. North Yorkshire ist nicht so weit weg. Kapiert?«
»Ja. Jetzt lassen Sie los!«
Banks ließ ihn los, Lenny wand sich noch eine Zeitlang auf dem Boden, rieb sich Arm und Schulter. Dann sank er in seinen Sessel und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an.
»Sie sind doch verrückt, echt«, sagte er. »Sie gehören hinter Gitter.«
»Kann schon sein.«
»Kann ich jetzt?«, fragte das Mädchen in der Tür. »Seid ihr fertig? Ich platze nämlich gleich.«
»Wir sind fertig, Kleine«, sagte Banks. »Du kannst gehen.«
»Wurde auch Zeit!« Mit diesen Worten flitzte sie die Treppe hoch. Die Frau auf dem Sofa sah Lenny voller Verachtung an, sagte aber nichts.
»Hast du hier das Sagen, Lenny?«, fragte Banks, als er ihren Blick bemerkte. »Wenn ich hier nämlich nur mit dem Indianer und nicht mit dem Häuptling gesprochen habe, war das umsonst, wenn du weißt, was ich meine.«
»Und wie ich hier das Sagen habe«, knurrte Lenny mit bösem Blick auf die Frau. »Das wissen die.«
Sie schnaubte verächtlich, aber Banks sah Angst in ihren Augen, die erste Gefühlsregung, die er bemerkte. Lenny war hier der Herrscher, und er setzte sich wahrscheinlich mit denselben Mitteln durch, die Banks gerade benutzt hatte. Banks fühlte sich deswegen nicht unbedingt gut, aber es war nicht zu ändern. Er fragte sich, welcher Missbrauch in diesem Haus wohl sonst noch vor sich ging, abgesehen von den Drogen. Zum Beispiel mit dem Mädchen oder den anderen Kindern, wo auch immer die waren. Ihn würde nichts überraschen. Vielleicht würde er trotzdem der Drogentruppe Bescheid sagen, und dem Sozialdienst. Dieses Pack musste man im Auge behalten, so viel war sicher.
Als er ging, rauschte die Toilettenspülung.
Als Roy gegen vier Uhr eintraf, wich Banks' Anspannung langsam. Bis dahin hatte er Geoff geholfen, Getränke und Speisen auf Tischen in der Küche aufzustellen. Seinen Eltern zuliebe hatte er sich stark am Riemen gerissen, obwohl Geoff ihn wie einen Untergebenen behandelte. »Alan, könnten Sie das bitte mal eben da rüberstellen ... So ist es schön ... Wenn Sie mal eben noch was einkaufen könnten ...« Und so weiter. Banks wollte Geoff eigentlich allein in die Finger bekommen und ihm angesichts von Winsomes Informationen noch mal auf den Zahn fühlen, aber seine Mutter war immer in der Nähe und erteilte ebenfalls Befehle. Klugerweise war sein Vater zum »Ruhen« nach oben gegangen.
Als es klingelte, rannte Ida Banks fast zur Tür, und Banks hörte, wie sie Roy voller Freude begrüßte. Nachdem sein Bruder sich aus dem Regenmantel geschält hatte, kam er mit einem flaschenförmigen Gegenstand in der Hand ins Wohnzimmer, hinter ihm eine junge Frau. Sie sieht aus wie zwanzig, dachte Banks. Sie hatte kurzes wuscheliges Haar, schwarz mit blonden Strähnen, dazu ein hübsches blasses Gesicht und wunderschöne Augen, die so glänzten wie Kastanien im September. Sie trug ein silbernes Piercing unter der Unterlippe, Jeans und einen kurzen Wollpullover, der den Blick auf ihren nackten flachen Bauch und den Nabel mit einem Ring darin freigab.
»Das ist Corinne«, erklärte Roy. »Das ist mein Bruder Alan, Corinne.«
Corinne gab Banks die Hand, lächelte schüchtern und wandte den Blick ab.
Roys Blick fiel auf Geoff, er streckte ihm die Hand entgegen und grinste wie ein Versicherungsvertreter. »Und Sie sind -?«
»Geoff. Geoff Salisbury.«
»Geoff, natürlich! Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Meine Eltern sagen, ohne Sie wären sie aufgeschmissen.«
Geoff strahlte und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ähm ... das ist, glaube ich, ein bisschen übertrieben.«
Wie bescheiden!, dachte Banks.
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Roy. »Ganz und gar nicht.« Er schüttelte Geoff die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Schön, Sie endlich kennenzulernen.«
Geoff aalte sich in Roys Anerkennung wie ein Kind in den Armen seiner Mutter.
Ida Banks stand lächelnd daneben. Roy umarmte sie. Dann überreichte er ihr das Geschenk. Ida Banks packte es aus. Es war eine Flasche Veuve Clicquot. Eine alte.
Sie drehte sich zu ihrem Mann um. »Ach, Arthur, guck mal! Champagner!«
»Und zwar richtiger«, sagte Roy und zwinkerte Banks zu. »Kein spanischer Cava oder Sekt aus Übersee.«
Arthur Banks brummte. Zufällig wusste Banks, dass sein Vater Champagner hasste, sowohl den Geschmack als auch das Getränk als Symbol der oberen Zehntausend.
»Den heben wir uns für eine besondere Gelegenheit auf«, sagte seine Mutter und nahm ihn mit in die Küche, wo sie ihn in den Tiefen des Speiseschranks verstaute. Da würde er wohl auch liegen bleiben. Banks wollte sagen, dass sie so eine besondere Gelegenheit wie an diesem Tag so schnell nicht mehr haben würden, wusste aber, dass es besser war, den Mund zu halten, wenn Roy die Spendierhosen anhatte. Er selbst hatte ein paar Dosen Bier gekauft. Die würden auf jeden Fall im Laufe des Abends geleert werden.
»So«, sagte Ida Banks, rieb sich die Hände und legte die Hand auf Corinnes Schulter, »wie wär's mit einem Gläschen zum Anstoßen? Corinne, Schätzchen, was nehmen Sie?«
»Ein Alster?«
»Aber sicher, Schätzchen. Und du, Roy?«
»Nur ein Perrier, Mama«, antwortete er. »Ich muss noch fahren.«
»Natürlich.« Ida Banks runzelte die Stirn. »Was willst du haben, Perrier? Ich glaube, das haben wir nicht, oder, Alan?«
Banks schüttelte den Kopf. »Nur Leitungswasser.«
»Aber das geht ja nicht«, sagte seine Mutter abfällig.
»Schon gut, Mrs Banks«, ertönte Geoffs Stimme, »ich lauf eben rüber zum Laden. Ali hat bestimmt was. Bei dem gibt's alles.« Und bevor jemand etwas sagen konnte, war er fort.
Ida Banks wandte sich wieder an Roy. »Aber du fährst doch erst später, mein Sohn, oder? Willst du nicht erst mal ein bisschen was Stärkeres trinken?«
»Na gut«, sagte Roy. »Du hast mich überredet. Ich nehme einen Weißwein.«
Sie schaute Banks fragend an. »Den haben wir, Mom«, erklärte er. Dann, an seinen Bruder gewandt: »Trinkst du auch den mit Schraubverschluss, Roy?«
»Na klar«, sagte Roy und verzog das Gesicht.
Banks und sein Vater nahmen ein Bier.
»Kommen Sie, Corinne«, sagte Ida Banks und fasste Corinne am Arm. »Sie können mir Gesellschaft leisten und beim Einschenken helfen.«
Banks konnte es kaum glauben: Seine Mutter scharwenzelte um Roys zwanzigjähriges Küken herum. Hätte Banks die Frau mitgebracht, hätte seine Mutter nur ein abfälliges Schnauben für sie übrig gehabt. Aber damit hätte er rechnen müssen. Roy war fünf Jahre jünger. Er hatte miterlebt, wie Banks alles falsch machte und dafür bestraft wurde - zu lange ausgehen, unter der Bettdecke Radio hören, obwohl er schlafen sollte, rauchen, zu Hause ausziehen, um in London zum College zu gehen, bei der Polizei anfangen. Aufmerksam hatte Roy die Reaktionen seiner Eltern verfolgt, aus den Fehlern seines Bruders gelernt und sich entsprechend verhalten. In den Augen seiner Mutter machte Roy immer alles richtig, und selbst Arthur Banks, der nie seine Gefühle zeigte, schien Roy nicht so sehr zu missbilligen wie seinen älteren Sohn. Was Banks schon irgendwie komisch fand, da Roy ein ausgemachter Kapitalist war.
Roy setzte sich, nicht ohne zuvor an der rasiermesserscharfen Falte seines schwarzen Anzugs gezupft zu haben. »Und, wie läuft's bei der Schmiere?«, fragte er seinen Bruder, sah aber weg, bevor er es ausgesprochen hatte. Es interessierte ihn nicht die Bohne.
»Gut«, entgegnete Banks.
»Ist das da draußen dein Renault?«
»Ja, warum?«
»Nicht schlecht. Sieht ja ganz neu aus. Hast du Bestechungsgeld eingetrieben?«
»Ach, du kennst mich doch, Roy, hier ein paar tausend, da ein paar tausend.«
Roy lachte. Wie die besten Freundinnen kamen Corinne und Ida Banks aus der Küche, die Getränke auf einem Tablett, gleichzeitig kehrte Geoffvom Einkaufen zurück. »Tut mir leid, Perrier hatte er nicht«, erklärte er. »Ich hab das hier genommen, hat Ali empfohlen. St. Irgendwas, kann ich nicht aussprechen. Geht das?«
»Na klar«, sagte Roy. »Sind Sie so lieb und stellen es in den Kühlschrank, Geoff?«
Das schien Geoff nur zu gerne zu tun.
»Ist das nicht schön?«, sagte Ida Banks, als sie die Getränke verteilte. »Wir können unsere eigene kleine Familienfeier haben, bevor die anderen Gäste kommen. Corinne hat mir erzählt, dass sie Steuerberaterin ist, Roy.«
»Das stimmt. Sie hat mir ein Vermögen an Steuern gespart.«
Corinne setzte sich neben ihn auf den Boden und lehnte den Kopf an seinen Oberschenkel. Er streichelte ihr das Haar wie einem treuen Hund. »Sie kennt sich aus mit Zahlen, nicht wahr, Corinne?«
Sie wurde rot. »Wenn du das sagst, Roy.«
Sie schien ein wirklich nettes Mädchen zu sein, weshalb Banks sich noch mehr wunderte, dass sie mit Roy zusammen war. Nicht dass sein Bruder nicht charmant war oder schlecht aussah. Nein, von beiden Eigenschaften hatte er besonders viel mitbekommen. Zum Anzug trug er einen hellblauen Seidenpullover mit Polokragen. Sein Haar war nicht ganz so schwarz wie das von Banks, aber länger, reichte über Ohren und Kragen und war exquisit geschnitten. Neben dem Kinngrübchen hatte er eine kleine Narbe vom Rasieren. Seine strahlend blauen Augen ähnelten denen von Banks, waren aber berechnend und kalt, während Banks neugierig und eindringlich dreinschaute.
Schon mehr als einmal hatte Banks gedacht, dass auf seinen Bruder Roy die klassische Definition des Psychopathen zutraf: Er war oberflächlich und seicht, egozentrisch, manipulativ und nur auf seinen Vorteil bedacht. Gefühle wie Reue, Mitleid oder Schuld gingen ihm völlig ab. Sein Verhalten und seine emotionalen Reaktionen waren erlernt, abgeschaut bei anderen, um möglichst gut durch die Welt zu kommen. In Wirklichkeit, vermutete Banks, interessierten ihn nur seine eigenen Bedürfnisse und wie er sie befriedigen konnte, dazu sein Erfolg, der sich selbstredend an Geld und Macht messen ließ. Vielleicht war er deshalb schon dreimal verheiratet gewesen.
»Ups, da fällt mir was ein«, sagte Roy, stellte sein Glas ab und sprang auf. Corinne wäre beinahe umgefallen, »'tschuldigung, Süße.« Er klopfte ihr auf die Schulter.
»Muss mal eben schnell zum Porsche. Hab was vergessen. Ist besser, wenn es nicht zu lange da draußen rumsteht. In so einer Gegend weiß man nie. Können Sie mir helfen, Geoff?«
Geoff kam gerade aus der Küche zurück und erklärte mit dem Bier in der Hand, nur zu gerne würde er alles für Roy tun. Corinne lächelte schüchtern, als die beiden nach draußen gingen. Banks hatte noch kein Wort von ihr gehört und fragte sich, was für eine Stimme sie wohl hatte, was für einen Akzent. »Woher kommen Sie?«, fragte er.
»Aus Canterbury«, erklärte sie. »Also, da bin ich aufgewachsen. Danach war ich in Manchester auf der Uni.«
Sie hatte keinen erkennbaren Akzent, drückte sich höflich aus, hatte eine gute Ausbildung, und ihre Stimme war angenehm weich und wohlklingend, nur ein wenig dünn.
»Seit wann kennen Sie Roy?«
»Seit rund drei Monaten.«
»Sie wollen sich verloben«, verkündete Ida Banks. »Da haben wir mal wirklich was zu feiern.«
Corinne errötete.
»Stimmt das?«, fragte Banks.
Lächelnd nickte sie. Er hatte das Gefühl, sie warnen zu müssen. Roy war schon dreimal verheiratet gewesen; zwei seiner Exfrauen hatten Banks irgendwann anvertraut, was für ein untreuer, gemeiner Kerl Roy war. Geschlagen hatte er sie nicht - das schworen sie -, aber er beschnitt ihre Freiheiten und terrorisierte sie. Die zweite, eine wirklich kluge Neurochirurgin namens Maria, musste nach der Trennung jahrelang zum Therapeuten, um ihre zerrüttete Selbstachtung wiederzuerlangen. Banks hatte - wenn auch in unregelmäßigen Abständen - ihre Veränderung von einer selbstsicheren jungen Ärztin zu einem kleinlauten, stummen Wrack miterlebt, dessen Hände so stark zitterten, dass sie keine Wunde mehr nähen konnte. Die dritte Frau hatte Gott sei Dank früh genug die Zeichen der Zeit erkannt und Roy verlassen.
Roy und Geoff kehrten mit großen Pappkartons zurück, die sie auf dem Wohnzimmerteppich abstellten. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Roy. »Los, macht sie auf.«
Banks' Eltern sahen sich an, dann holte seine Mutter eine Schere aus der Küchenschublade und kniete sich neben den größten Karton. Roy und Geoff halfen ihr, und kurz daraufstanden ein Monitor, ein Prozessor und eine Tastatur im Zimmer.
»Ein Computer!«, sagte Ida Banks. Sie war offenbar sprachlos.
»Jetzt könnt ihr auch ins Internet«, erklärte Roy. »Wir können uns gegenseitig E-Mails schicken.«
»Ja?«
»Na klar!«
»Aber das war doch bestimmt ... teuer.«
»Ach, schon gut. Heutzutage sollte jeder einen Computer haben. Das ist die Zukunft.«
Ida Banks berührte vorsichtig das Gehäuse, als würde es beißen. »Die Zukunft -«
»Wir räumen ihn besser erst mal aus dem Weg«, sagte Arthur Banks. »Gleich kommt der Besuch.«
»Gut.«
Zusammen trugen Geoff, Roy und Banks den Computer nach oben und stellten ihn auf dem Tisch im leeren Schlafzimmer auf.
»Das ist aber toll für die beiden«, sagte Geoff.
Banks fand, es sei das dümmste Geschenk, das man sich vorstellen konnte. Seine Eltern waren beide über siebzig; sie würden nicht mehr lernen, wie man einen Computer bediente. Sein Geschenk, ein besonders trübsinniges Gemälde einer Yorkshire-Landschaft, hatte er in einem Antiquitätengeschäft in Richmond entdeckt. Es war höflich gelobt worden, aber er hatte das Gefühl, es würde hinten im Schrank enden. Der Computer würde unangeschlossen als Staubfänger auf dem Schreibtisch stehen bleiben. Es sei denn, Geoff Salisbury hätte Lust, ihn zu benutzen.
Als die drei wieder nach unten gingen, klingelte es an der Tür.
»Da kommen die ersten Gäste«, sagte Geoff. »Es geht los!«
Als Erste trafen Onkel Frank und Tante Harriet ein, danach verlor Banks den Überblick. Es kamen Verwandte, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, Cousins und Cousinen, von denen er noch nie gehört hatte. Natürlich war das zu erwarten gewesen, da seine Mutter und sein Vater aus großen Familien stammten - sechs beziehungsweise vier Kinder -, dennoch war Banks sprachlos.
Geoff spielte den Kellner, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Roy arbeitete sich durch den Raum wie ein Politiker, war mit jedem auf Du und Du, als bedeuteten ihm diese Menschen, die er wahrscheinlich noch nie gesehen hatte, mehr als sein eigenes Leben. Tatsächlich hatte er die Eltern noch seltener als Banks besucht und mit den entfernteren Verwandten kaum je zu tun gehabt.
Arthur Banks schien das alles zu verwirren, er wirkte müde, blieb in seinem Sessel sitzen, ein Glas Bier neben sich. Ida hingegen geriet in Feierlaune, und Banks bildete sich ein, sogar einen leichten Schwips bei ihr zu bemerken. Im Hintergrund lief leise Musik, Schlager und Big Bands, irgendwann war auch Pop dabei, da hatte wohl jemand einen alten Sampler herausgekramt. Es war ungefähr die Mischung, die Banks in seinem Zimmer gefunden hatte, dazu etwas seichtere Stücke aus derselben Zeit - Cliff Richard, Eden Kane, Frank Ifield, Billy Fury, die Bachelors und der allgegenwärtige Val Doonican -, aber es war lediglich untermalende Hintergrundmusik.
In einer ruhigeren Phase nach dem Eintreffen der ersten Gäste gelang es Banks, Roy kurz unter vier Augen zu sprechen. Derweil bewunderten zwei junge, ähnlich geschmückte Cousinen Corinnes Körperpiercings.
»Ich wollte schon die ganze Zeit mit dir reden«, sagte Banks. »Es geht um Geoff Salisbury.«
»Was ist mit ihm? Er macht einen anständigen Eindruck auf mich. Kümmert sich doch toll um Mom und Dad.«
»Das ist es ja. Ich glaube, er beklaut sie.«
»Ach, ich bitte dich, Alan! Dein Bullenhirn kann wohl nicht einmal 'ne Pause einlegen, was?«
»Nein, es steckt mehr dahinter.« Banks erzählte ihm von dem falschen Wechselgeld.
»Das kann doch verschiedene Gründe haben«, gab Roy zurück. »Er hat sich einfach vertan. Du musst doch nicht immer das Schlimmste von den Leuten denken.«
»Er hat ihre Geheimnummer. Sie geben ihm ihre Geldkarte.«
»Er kümmert sich um die finanziellen Sachen. Mensch noch mal, einer muss das doch tun! Ist ja nicht gerade so, als ob du immer hier wärst, oder?«
Banks merkte, dass er auf verlorenem Posten stand. Roy wollte einfach nicht glauben, dass Geoff kein Geschenk des Himmels war, jeden Beweis des Gegenteils würde er ignorieren. »Er ist vorbestraft«, versuchte es Banks dennoch, ritt sich aber nur noch weiter hinein. »Hat alte Leute um ihre Ersparnisse betrogen.«
Roy lachte nur. »Mom und Dad haben nichts, was man ihnen abschwatzen könnte. Das weißt du genauso gut wie ich. Außerdem, bist du nicht für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft? Ich nehme doch wohl an, dass er seine Schuld gegenüber der Gesellschaft abgebüßt hat.«
»Ja, aber -«
»Na also!«
»Mach die Augen auf, Roy! Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt!«
»Hör mal zu, großer Bruder! Was macht das schon, wenn er hier und da mal ein bisschen was einsteckt? Er macht praktisch alle Besorgungen für sie, dazu das Haus, da hat er das doch wohl verdient, oder?«
»Darum geht es nicht. Wenn er für seine Dienste bezahlt werden will, ist das was anderes.«
»Vielleicht ist es ihm lieber so.«
»Ganz schön komische Art.«
Roy zuckte mit den Schultern und legte den Arm um Banks. »Wie gesagt, du bist doch auch nicht da, um das alles zu erledigen, oder? Ich kann nur sagen, sei froh und wecke keine schlafenden Hunde. Guck mal, da ist Onkel Ken. Bis gleich!«
Banks murmelte etwas vor sich hin. Er hätte wissen müssen, dass das Gespräch mit Roy reine Zeitverschwendung war. Bestände nur der geringste Verdacht, dass ihm jemand Geld aus der Tasche ziehen wollte, zack, würde er wahrscheinlich sofort einen Auftragskiller anheuern, aber wenn es um seine Eltern ging ... Andererseits: Hatte Roy vielleicht recht? Maß Banks alldem zu viel Bedeutung bei? War er ein Spielverderber? Er beobachtete seine Eltern: Sie wirkten durchaus glücklich - seine Mutter auf jeden Fall -, welches Recht hatte er also, das in Frage zu stellen? Woher nahm er das Recht, einmal alle Jubeljahre bei ihnen aufzukreuzen und ihnen das kleine Glück zu verderben, das sie noch hatten? Seine Mutter himmelte Geoff an, das merkte Banks an der Art, wie sie ihn ansah und von ihm sprach. Und Geoffs Anwesenheit machte auch seinem Vater das Leben ein ganzes Stück leichter. Roy hatte recht. Banks hatte sich zu stark eingemischt; es wurde Zeit, dass er sich zurückzog und die Leute ihr eigenes Leben führen ließ.
»Was du wohl gerade denkst!«
Banks drehte sich um. Kay stand vor ihm. »Ich hab dich gar nicht kommen hören«, sagte er. »Schön, dich zu sehen.«
Lächelnd legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Freut mich auch. Ich hab gerade mit deiner Mutter gesprochen. Sie hat mir ihr Beileid ausgedrückt.«
Kay trug ein zitronengelbes Sommerkleid, das ihr bis knapp übers Knie reichte. Das Haar hatte sie hochgesteckt, es wurde von einer gemusterten Lederspange gehalten.
»Du siehst toll aus«, sagte Banks.
Kay wurde rot. »Danke. Gibt's auch was zu trinken für die Dame?«
»Klar. Einen Wodka Tonic?«
»Gern.« Sie hielt ihn am Arm fest. »Und geh nicht zu weit weg. Ich kenne hier niemanden.«
»Klar kennst du hier Leute«, sagte Banks. »Meine Eltern zum Beispiel.«
»Die habe ich seit Jahren nicht gesehen.«
»Meinen Bruder Roy?«
»Der war damals noch ein kleiner Junge. Und immer im Weg, wenn ich mich recht entsinne.«
Banks nickte. Er wusste noch, dass er Roy mehr als einmal hatte Geld geben müssen, damit er sich trollte. »Du kennst Geoff Salisbury«, ergänzte Banks und nickte in Richtung des Kamins, wo Geoff mit einer Cousine sprach, deren Namen Banks vergessen hatte.
Kay erschauderte leicht. »Bah! Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber wenn ich den sehe, überläuft es mich immer eiskalt.«
Sie holten sich etwas zu trinken.
»Komm«, sagte Banks zu Kay. »Gehen wir ein bisschen frische Luft schnappen.«
Sie traten nach draußen auf die Treppe. Banks hörte Musik von nebenan, aber sie war leise. Am Nachmittag hatte es aufgehört zu regnen, der Abend war doch noch schön geworden. Es wurde bereits dunkel, die Sterne gingen auf. Sogar eine blasse Mondsichel stand tief am Himmel. Banks lehnte sich gegen die Mauer. Schweigend stand Kay neben ihm.
»Wegen gestern -«, setzte er an.
Kay legte ihm den Finger auf die Lippen, damit er nicht weitersprach. »Nein, sag nichts. Es war wunderbar. Etwas Besonderes. Lassen wir's dabei, ja?«
»Wenn das für dich okay ist«, sagte Banks. Er hatte dasselbe gedacht. Was zwischen ihnen geschehen war, hatte mit der Vergangenheit zu tun, mit nicht abgeschlossenen Dingen. Es war eine magische Nacht gewesen. Eine Zeitreise. Morgen würden sie beide in ihr Leben zurückkehren und sich wahrscheinlich nie wiedersehen. Banks dachte daran, wie ihre Beziehung damals zerbrochen war. Als er nach London ging, hatte er geglaubt, Kay niemals wiederzusehen. Ihr Treffen war schön gewesen. Es war in Ordnung so. So musste es sein.
Sie gingen wieder hinein. Die Feier war in vollem Gange. Banks und Kay unterhielten sich eine Weile mit Mrs Green; Banks versprach, sich öfter bei ihr blicken zu lassen. Tante Florence erfreute ihn mit einer Geschichte über ihren grauen Star, Tante Lynn erzählte von ihrer Gallenblasenoperation. Dann hörte er von Cousin Patricks Prostataproblemen, Onkel Geralds Hämorrhoiden und der manischen Depression von Cousine Louise. Am Ende kam er zu dem Schluss, dass er sich besser umbrachte, bevor er alt wurde. Dann ging es um Cousine Beths Scheidung, Nicks und Janets drittes Kind, ein Mädchen namens Shania, um Sharons Beförderung, Gails Fehlgeburt und Ayeshas Brust-OP. Kay stand die ganze Zeit höflich neben Banks, stellte Fragen oder gab verständnisvolle Kommentare ab. Roy arbeitete sich weiter durch den Raum, unermüdlich.
Wie üblich nickte Onkel Ted irgendwann ein. Cousine Angie trank zu viel und übergab sich in die Küchenspüle. Dabei löste sich ihr Nasenpiercing, das sie fast verschluckte. Onkel Gerald und Onkel Frank hätten sich beinahe geprügelt. Tante Ruth machte sich in die Hose, und die niedliche magersüchtige kleine Cousine Sue, dürr wie ein Grashalm im Wind, wurde weinerlich und versuchte auf jämmerliche Weise, Banks anzumachen.
Kurz gesagt: Es war eine typische Familienfeier.
Roy und Corinne brachen früh auf. Sie verabschiedeten sich von Banks und Kay, und wie immer lud Roy den großen Bruder ein, ihn mal in South Kensington zu besuchen, sie müssten sich wirklich häufiger sehen, hoffentlich könne Banks im nächsten Jahr zur Hochzeit kommen. Banks versprach, es zu versuchen, und gab der errötenden zukünftigen Braut einen Kuss auf die blasse kühle Wange. Dann waren sie fort.
Als Banks sich umsah, stellte er fest, dass auch Geoff Salisbury gegangen war. Nur noch wenige Verwandte waren da, entweder sturzbetrunken oder in vertrauliche Gespräche vertieft. Banks fand seine Mutter bei ihrer Schwester Flo und sagte, er wolle Kay nach Hause bringen und komme gleich wieder zurück.
Es war still auf der Straße, die Abendluft kühl. Sie sahen nur wenige Menschen auf dem kurzen Weg zu Kays Haus.
»Ich komme besser nicht mit rein«, sagte Banks auf der Schwelle.
»Nein.«
Er fragte sich, was wohl passieren würde, wenn er sich vorbeugte und sie küsste. Würde die Entschlossenheit dahinschmelzen? Er hatte das Gefühl, dass sie nur vorgeschoben war.
»Also«, sagte er, »wenn du mal bei mir in der Nähe bist ...«
»Klar.« Sie lächelte ihn auf eine Weise an, die ihm sagte, dass das nie der Fall sein würde, und nach einem kurzen Kuss auf die Wange ging die Tür auf und wieder zu, und Banks stand allein vor dem Haus.
Er wollte nicht direkt zurück zu der ausklingenden Feier, wollte nicht den betrunkenen Verwandten begegnen, die für die Heimfahrt schnell wieder nüchtern werden mussten, wollte nicht die umgekippten Getränke und das Essen auf dem Teppich sehen. Irgendwann würde er heimkehren müssen. Er war es seinen Eltern schuldig, zumindest beim Aufräumen zu helfen, aber er konnte es noch ein wenig vor sich herschieben.
Der Mond stand nun höher; Banks sah die Sterne, Planeten, ja ganze Sternbilder über dem bernsteingelben Licht der Straßenlaternen. Sonderbar melancholisch ging er durch die stillen sonntagabendlichen Straßen des Viertels, vorbei an den Einliegerwohnungen, zu denen er früher die Zeitung gebracht hatte, vorbei an dem Haus, wo sein verstorbener Freund Steve Hill gewohnt hatte. Steve hatte hinten im Garten unter einer Glasglocke Kröten gehalten, erinnerte sich Banks, aber Steve war unzuverlässig, während eines Sommers hatte er die Tiere vergessen, sie schrumpften ein und starben. Zuletzt sahen sie aus wie getrocknete Pilze.
Seine Melancholie hatte wahrscheinlich mit Kay zu tun, überlegte Banks, auch wenn er den letzten Abend eigentlich nicht wiederholen wollte. Die Nacht hatte einen eigenen Zauber gehabt, der jedem Wiederholungsversuch abgehen würde. Er dachte daran, wie ihre Beziehung damals zerbrochen war. Es war seine Schuld gewesen.
Alles hatte damit angefangen, dass Kay mit sechzehn von der Schule abging und bei der Lloyd's-Bank im Stadtzentrum anfing. Sie schloss neue Freundschaften, hatte mehr Geld zur Verfügung, ging freitags nach der Arbeit mit den Kollegen etwas trinken. Banks blieb auf der Schule, machte seine A-Levels, und irgendwie war er als Schuljunge nicht so attraktiv wie die etwas älteren, besser gekleideten, weltläufigeren Männer aus Kays Büro. Sie konnten mit ihrem Geld protzen, und was noch wichtiger war: Einige hatten Autos. Einen gewissen Nigel, ein Typ mit dicker Nase und einem MG Triumph, hatte Banks ganz besonders auf dem Kieker gehabt. Kay versicherte ihm, da würde nichts laufen, aber Banks war krank vor Eifersucht und quälte sich mit Phantasien, in denen sie fremdging. Irgendwann verließ Kay ihn. Sie könne sein ständiges Gefrage, mit wem sie sich treffe und was sie mache, nicht mehr ertragen, sagte sie. Es sei furchtbar, wie besessen er reagiere, wenn sie einen anderen Mann auch nur ansehe.
Die Ironie des Ganzen war, dass seine A-Levels nicht für die Uni reichten - der erste schlimme Streit zwischen seinen Eltern und ihm. Es war umsonst gewesen. Er hatte zu viel Zeit mit Kay verbracht, nicht gelernt, sondern Hendrix, Dylan und Pink Floyd gehört und Bücher gelesen, die nicht auf dem Lehrplan standen.
Kurz nach der Trennung zog Banks nach London und studierte Betriebswirtschaft am Polytechnikum. Ein oder zwei Jahre und mehrere kurze, unbefriedigende, oberflächliche Beziehungen später lernte er Sandra kennen.
Als Banks die Eisenbahnschienen am Rande der Siedlung erreichte, hörte er einen Hund bellen. Ein Nahverkehrszug ratterte vorbei, in den Fenstern waren nur ein oder zwei Menschen zu sehen. Banks kehrte um. Nach wenigen Metern begann sein Handy zu klingeln. Er hatte vergessen, es abzustellen.
»Alan? Ich hoffe, ich störe nicht.«
Es war Annie Cabbot. Banks fragte sich, wie er sich wohl gefühlt hätte, wenn er zu Kay hineingegangen wäre und das Telefon dort geklingelt hätte ... Nein, der Gedanke war müßig.
»Nein«, sagte er leise. Da er gerade bei den Telefonzellen am Ende der Straße war, beschloss er, sich hineinzustellen. Dann sah er wenigstens nicht wie einer dieser Dummköpfe aus, die im Gehen mit ihrer Freundin sprechen.
»Tut mir leid, dass ich mich so spät melde«, sagte Annie.
»Schon gut. Du bist doch gar nicht im Dienst, oder?«
»Nein, aber ich habe auf einen Anruf von Sergeant Ryan in Loughborough gewartet. Er war im Kino.«
»Sergeant Ryan? Geht's um Geoff Salisbury?«
»Ja. Was ist los, Alan? Du klingst so komisch. Weit weg.«
»Tja, wenn man mitten in einer Sozialbausiedlung steht und mit dem Handy telefoniert ...«
Annie lachte. »Konnte ich ja nicht wissen. Ich bin nicht ganz so konservativ wie du.«
»Okay, sehe ich ein. Was hatte dieser Ryan zu berichten?«
»Das ist eigentlich ganz interessant«, sagte Annie. »Ich dachte jedenfalls, du würdest es gerne wissen.«
»Erzähl!«
»Wie Winsome dir bereits ausgerichtet hat, wurde Salisbury wegen Diebstahls verurteilt. Er hatte eine Nachbarin bestohlen, eine ältere Frau. Angefangen hatte es damit, dass er ihr im Haus half, Besorgungen machte und so.«
»Kommt mir bekannt vor«, sagte Banks. »Und weiter?«
»Es gelang ihm offenbar, sich zwischen sie und ihre Kinder zu stellen und in ihrem Testament bedacht zu werden. Sie hatte zwar nicht viel, nur ein paar hundert Pfund und eine Versicherung, aber er bekam das meiste.«
»Und dann?«
»Die Familie focht das Testament an. Unzulässige Beeinflussung, irgend so was. Schwer zu beweisen. Am Ende gewann Mr Salisbury.«
»Und wieso wurde er verurteilt?«
»Dazu komme ich noch. Während des Verfahrens kam heraus, dass Geoff Salisbury die Frau überredet hatte, in sein inexistentes Unternehmen zu investieren. Eine Autowerkstatt.«
»Aha.«
»Aber auch nicht viel. Zweihundert Pfund.«
»Das ist egal«, sagte Banks. »Ist einer, der arme Leute beraubt, etwa weniger schuldig als einer, der reiche bestiehlt?«
»Tut mir leid, das ist mir ein bisschen zu philosophisch so spät am Sonntagabend, aber ich würde mal sagen, er ist noch viel eher schuldig, oder?«
»Allerdings. Danke, Annie. Für alles und so, du weißt schon.«
»Ähm, das ist noch nicht alles.«
»Nein?«
»Nein. Mitten in diesem Prozess starb Mr Salisburys eigene Mutter. Nun, sie war alt und -«
»Krank?«
»Woher weißt du das? Sie hatte Zucker. Jedenfalls starb sie. Oder ...«
Banks' Rücken begann zu jucken. »Oder was?«
»Oder er half ein bisschen nach. Es konnte nie was nachgewiesen werden. Es gab nicht mal ein Ermittlungsverfahren. Aber Sergeant Ryan gehörte zu den ermittelnden Beamten, und er meint, das Ganze kam ihnen so verdächtig vor, dass sie eine Obduktion anordneten. Negativ. Die Frau war alt, sie wurde hypoglykämisch, und das war's.«
»Was wurde sie?«
»Hypoglykämisch, unterzuckert. Das kann Diabetikern offenbar passieren, wenn sie zu viel Insulin im Körper haben oder zu wenig essen.«
»Er hat ihr eine Überdosis Insulin gegeben?«
»Daraufgibt es keinen Hinweis.«
»Aber das kann man auslösen, dieses hypoglykämische Koma?«
»Ja. Aber es ist schwer nachzuweisen.«
»Was meint der Kollege Ryan?«
»Er meinte, seine ältere Schwester sei zuckerkrank und hätte gerade für diesen Fall immer die ganze Schublade voller Schokoriegel und Süßigkeiten.«
»Ich dachte, Diabetiker müssten Zucker meiden wie die Pest?«
»Dachte ich auch. Müssen Sie auch. Es sei denn, sie sind unterzuckert. Dann brauchen sie eine große Dosis.«
»Sonst?«
»Sonst fallen sie ins Koma und sterben. Bei Mrs Salisbury gab es noch andere Komplikationen. Ein schwaches Herz zum Beispiel.«
»Was sagt Kollege Ryan?«
»Dass der Arzt keine zuckerhaltigen Produkte in der Nähe von Mrs Salisburys Bett finden konnte und ihm das an sich schon merkwürdig vorkam. Seiner Meinung nach - also Ryans - war Geoff Salisbury schuld an ihrem Tod, weil er wusste, dass sie irgendwann eine große Portion Zucker brauchen würde.«
»Willst du damit sagen, dass er seine eigene Mutter umgebracht hat?«
»Sterbehilfe, aber trotzdem Mord.«
»Du meine Güte«, sagte Banks. »Das ändert alles.«
»Ja?«
»Ich hatte schon überlegt, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Nein. Ich danke dir vielmals, Annie.«
»Gern. Sehen wir uns morgen?«
»Klar. Noch mal danke.«
Fehlende Schokolade. Ein kaputtes Ventil am SauerstofFgerät. Banks fragte sich, bei wem Geoff Salisbury in den letzten Minuten noch nachgeholfen hatte. Und wie lange es dauern würde, bis sein Vater den nächsten Anfall bekam und seine Nitroglyzerin-Tabletten nicht finden konnte. Banks schob sein Handy in die Tasche und steuerte schnurstracks auf das Haus von Geoff Salisbury zu.
»Hören Sie, Sie lassen ja offensichtlich nicht locker bei der Sache, was?«, sagte Salisbury, nachdem Banks ihn informiert hatte, dass er von der Vorstrafe wusste. »Gut, ich war im Gefängnis. Dafür muss ich mich nicht schämen. Ich habe meine Zeit abgesessen.«
»Ich finde«, sagte Banks, »dass man sich wohl dafür schämen muss. Aber da sind die Betroffenen oft anderer Ansicht. Waren Sie auch unschuldig, so wie alle anderen?«
»Nein, ich habe das getan. Ich wusste nicht mehr ein noch aus, und die Frau brauchte das Geld nicht, deshalb habe ich sie betrogen. Ich behaupte nicht, stolz darauf zu sein, aber wie schon gesagt, ich habe meine Zeit abgesessen, ich habe meine Schuld gegenüber der Gesellschaft abgebüßt.«
Die Schuld gegenüber der Gesellschaft. Roys Worte. Wenn man drüber nachdachte, eigentlich ein sonderbarer Satz. »Schön, wenn das so einfach wäre«, sagte Banks. Salisburys Wohnzimmer war nicht so sauber und aufgeräumt, wie er erwartet hatte, aber vielleicht verbrauchte Salisbury all seine Kraft bei anderen Leuten und hatte für sein Haus nichts übrig. In den Ecken sammelte sich Staub, der Teppich war verschlissen; in einer halbleeren Kaffeetasse auf dem Tisch schwamm Schimmel.
»In Ordnung«, sagte Salisbury. »Nehmen wir einfach mal an, ich hätte tatsächlich Menschen bestohlen. Dennoch gibt es Leute, die glauben, dass ich hier die gute Seele bin.«
»Was soll das heißen?«
»In so einem Viertel brauchen die alten Leute jemanden, der ihnen hilft, der auf sie aufpasst. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, und wenn es so weit ist, rücken über die Warteliste meistens nur junge Leute nach. Sie wissen genauso gut wie ich, was das für welche sind. Mädchen, die gerade mit der Schule fertig sind und drei Kinder haben, aber keinen Mann. Oder solche wie die, die neben Ihren Eltern wohnen. Abschaum. Sie sind bei der Polizei, Alan, Sie können mir nicht erzählen, dass der Kerl nicht >Knast< auf seine Stirn tätowiert hat. Und bei den Kindern ist das wohl nur eine Frage der Zeit. Und wenn es nicht solcher Dreck ist, dann sind's Ausländer. Kanacken, Kaffern, Pakis. Die mit dem Turban. Die kommen mit ihren komischen Bräuchen, schlachten Ziegen auf der Straße und scheren sich nicht die Bohne um unsere Lebensweise und Tradition. Verstehen Sie, die alten Leute bekommen Angst, wenn um sie herum alles auf einmal bedrohlich und fremd ist. Ihre Welt ändert sich so schnell, und sie können nicht mehr so wie früher, sie fühlen sich alleingelassen und haben Angst. Da können sie einen wie mich gut gebrauchen. Ich beruhige sie, erledige dies und das, ich habe ein freundliches Gesicht, das sie kennen. Wenn ich nun dadurch ein bisschen Geld verdienen würde? Rein theoretisch?«
»Dann würde ich rein theoretisch sagen, dass Sie ein Dieb sind.«
»Leeres Gerede, mehr nicht.«
»Nein, unsere Rechtsprechung.«
»Na, Sie müssen das ja sagen.«
»Versuchen Sie's mal hiermit: Mord.«
Salisbury blinzelte und sah ihn an. »Was?«
»Sie haben mich wohl verstanden, Geoff. Sie haben bestimmt einen schöneren Namen dafür, irgendetwas Hehres, Edles wie zum Beispiel Sterbehilfe, aber in meinen Augen ist und bleibt es Mord.«
Salisbury lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Ach, ich glaube schon. Es fing an mit Ihrer eigenen Mutter. Erzählen Sie mir nicht, dass eine Frau, die seit Jahrzehnten Diabetes hat, nicht weiß, dass sie immer Zucker zur Hand haben muss, falls sie mal unterzuckert ist.«
Salisbury schlug mit der Faust auf die Stuhllehne. »Das ist längst passé«, sagte er. »Ich war gar nicht da. Da hat mir nie einer was nachweisen können!«
»Ich behaupte ja nicht, dass Sie es nicht klug angestellt haben, Geoff. Sie waren nie dabei, stimmt's? Bei Mr Greens kaputtem Ventil beispielsweise. Nicht schwer für einen Automechaniker, oder? Und was war mit Mrs Summerville? Einfach mal im Schlaf das Kissen aufs Gesicht gedrückt, Geoff? Da werden nicht viele Fragen gestellt. Oder ein bisschen zu viel Morphium? Sie war ja allein. Sie hatten einen Schlüssel. Sie bekommen immer einen Schlüssel, nicht? Und was ist mit den hundert Pfund, die Sie an ihrem Todestag abgehoben haben? Kleiner Fehler. Selbst hätte Mrs Summerville das Geld nicht holen können, sie war schließlich ans Bett gefesselt. Ihre Tochter konnte das Geld nirgends finden.«
Salisbury sprang auf. »Sie können überhaupt nichts beweisen! Raus hier, aber sofort! Raus!«
Banks rührte sich nicht. »Damit kommen Sie nicht so leicht davon, Geoff, schon gar nicht, wenn Sie es jetzt bei meinen Eltern versuchen. Bei Mrs Summerville im Papierkorb habe ich eins von Ihren kleingefalteten Silberpapierchen gefunden. Ich wette, da sind Ihre Fingerabdrücke drauf!«
»Dann war ich halt da. Ich habe ihr geholfen. Wie den anderen auch. Und? Das beweist doch gar nichts!«
»Aber ich wette, wenn die Leiche exhumiert wird, finden wir Hinweise auf Manipulation, Beweise für Ihre Tat. Sie ist noch nicht so lange tot wie die anderen, Geoff. Das sind gerichtsmedizinische Beweise. Auch im Haus.«
Zum ersten Mal zögerte Salisbury und setzte sich wieder. Banks hatte es einfach versucht, hatte im Trüben gefischt und schien einen Nerv getroffen zu haben. »Die Frau hatte Krebs und ein schwaches Herz«, fuhr er fort. »Sie mussten einfach nur zudrücken. Sie hatte nicht genug Kraft, um sich zu wehren, stimmt's?«
»Was meinen Sie mit >gerichtsmedizinischen Beweisen<?«, fragte Geoff. »Die wird doch nicht wieder ausgegraben!«
»O doch. Wenn ich es anordne. Und Sie wissen ganz genau, was man dann findet, nicht?«
»Aber der Arzt hat die Sterbeurkunde ausgestellt. Es gab keine Untersuchung, das war alles ganz unauffällig.«
»Warum sollte es auch, Geoff? Sie wissen doch, wie so was läuft. Alle Opfer wurden während ihrer Krankheit medizinisch betreut, alle waren in den letzten vierzehn Tagen vor ihrem Tod vom Arzt untersucht worden, alle waren tödlich krank und konnten jeden Moment sterben. Es gab keinen Anlass für eine richterliche Feststellung der Todesursache. Und vergessen wir nicht: Niemand ist in Anwesenheit von Familienmitgliedern gestorben. Nicht mal Ihre Mutter. In weiser Voraussicht waren Sie an dem Abend unterwegs, stimmt's?«
»Das ist an den Haaren herbeigezogen. Die werden den Sarg nie und nimmer aufmachen.«
»O doch! Da wollen wir dem lieben Gott mal danken, dass sie beerdigt und nicht verbrannt wurde, was? Was wird man finden? Verraten Sie's mir!«
Salisbury fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, sah Banks an und sagte lange Zeit gar nichts. »Sie halten sich wohl für besonders schlau, was?«, fragte er schließlich. »Sie haben überhaupt keine Ahnung.«
»Wovon?«
»Vom Leiden.«
»Dann erzählen Sie mal, Geoff! Ich würde es gerne wissen.«
»Warum sollte ich? Sie würden es sowieso nicht verstehen.«
»Glauben Sie mir, ich werd's versuchen. Und für Sie wäre es auch besser. Wenn wir die Leiche nicht exhumieren müssten, meine ich. Das ist 'ne Menge Arbeit. Dreckige Arbeit. Macht keiner gerne. Ich denke, wir können Ihnen etwas anhängen, da bin ich mir sicher, aber wenn Sie uns helfen, wenn Sie mir alles erzählen, wird es deutlich leichter für Sie.«
»Was glauben Sie, warum sich die Leute von mir betrügen ließen, warum ich das Geld nehmen konnte?«
Banks runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»Glauben Sie wirklich, dass die nicht wussten, was ich mache? Natürlich wussten es alle, aber keiner hat was gesagt. Bezahlung, das war es. Es konnte nur keiner geradeheraus sagen. Was sie wirklich von mir wollten. Aber auf diese Weise wollten sie mich bezahlen, mir mitteilen, was ich tun sollte.«
»Moment mal«, unterbrach ihn Banks. »Habe ich das richtig verstanden: Sie haben Mr Green und Mrs Summerville umgebracht?«
»Ja. Nein. Ich habe sie erlöst. Von ihrem Leiden.«
»Und Ihre Mutter?«
»Sie wollte es so. Alle wollten es. Es war wunderschön.«
»Was?«
Salisburys Augen glänzten. »Die Verwandlung. Vom Schmerz zum Frieden. Vom Leiden zur Gnade. Als ob ich Gott wäre.«
»Hat Mrs Green oder jemand aus der Familie Summerville Sie zu Ihren Taten angehalten?«
»Nicht ausdrücklich, nein.«
»Aber dass man Sie mit Ihren kleinen Betrügereien davonkommen ließ, das haben Sie in diese Richtung interpretiert, ja?«
»Wie gesagt, die wussten es. Auf diese Weise haben sie für das bezahlt, was sie gemacht haben wollten. Enge Angehörige können das doch nicht tun, oder? Sie würden sofort unter Verdacht stehen, oder sie kümmern sich nicht und sind nie da, wie Sie und die Tochter von der Summerville. Sie sehen die Schmerzen nicht, ich schon. Tagein, tagaus. Ich war der Erlöser. Irgendjemand musste es doch tun.«
Banks stand auf.
»Was haben Sie vor?«
»Ich rufe jetzt die Polizei, und dann wiederholen Sie bitte, was Sie mir gerade erzählt haben. Alles. Vielleicht sind Sie ja krank und brauchen Hilfe. Ich weiß es nicht.« Ich weiß nur, dachte Banks, als er sein Handy hervorzog, dass dieser Kerl aus diesem Viertel verschwinden muss, so weit fort von meinen Eltern wie möglich.
Ungefähr eine Stunde später trafen bei Geoff Salisbury zwei uniformierte Constables und ein mürrischer Detective Sergeant ein, den man aus einem sonntagabendlichen Dartwettbewerb im Pub geholt hatte.
»Bei allem Respekt vor Ihrem Dienstgrad und so, aber wir haben es nicht besonders gern, wenn die Kripo von North Yorkshire bei uns vor der Haustür rumschnüffelt und unsere Arbeit macht«, meinte der Sergeant bärbeißig. Er hieß Les Kelly und bekam schon früh schütteres Haar. Zum Glück hatte Banks Sergeant Kelly noch nicht bei seinem letzten Aufenthalt in Peterborough kennengelernt.
Banks grinste in sich hinein. Er hätte wahrscheinlich genauso reagiert, wenn Kelly in den Norden gekommen wäre und dort auf eigene Faust ermittelt hätte. Zumindest, wenn Banks zehn Jahre jünger und Sergeant gewesen wäre.
»Glauben Sie mir, Sergeant Kelly, das war nicht meine Absicht«, erklärte er. »Ich wollte eigentlich nur feiern.«
»Wie bitte?«
Banks seufzte. »Ich bin hier aufgewachsen, weiter die Straße runter. Ich bin zur goldenen Hochzeit meiner Eltern da und fand dabei heraus, was hier vor sich geht.« Er wies auf Salisbury, der bei den uniformierten Kollegen aussagte.
»Sollen wir vielleicht mal kurz vor die Tür gehen?«, schlug Kelly vor. »Die beiden nehmen die Aussage auf, und ich könnte eine Zigarette gebrauchen.«
Banks und Kelly standen vor der Haustür. Kelly zündete sich eine Zigarette an, Banks hätte auch gerne eine geraucht. Einigen Nachbarn war die Ankunft der Polizei nicht verborgen geblieben, hinter dem Streifenwagen hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Nicht dass Polizeiwagen eine Besonderheit im Viertel waren, aber es war schon spät am Sonntagabend.
»Außerdem hätte ich gewonnen«, sagte Kelly.
»Was?«
»Beim Darten.«
Banks grinste. »Oh, tut mir leid.«
»Schon gut. Wir kennen keine Freizeit. Immer bereit, um den nächsten Missetäter zu überführen. Ich bin gerade von den West Midlands hierherversetzt worden. Und Sie kommen hier aus der Gegend?«
»Ja. Ist schon lange her. Bin mit zwölf Jahren hergezogen. Hab da unten gewohnt. Bin mit dem Mädchen gegangen, dessen Mutter dieser Kerl hier umgebracht hat.«
»Der kommt in die Klapsmühle.«
»Sieht so aus. Hauptsache, er bleibt auch drin.«
Kelly sah sich um und schnupperte die Luft, dann nahm er einen langen Zug von seiner Zigarette und blies eine Rauchwolke aus. »Ich bin in einer Gegend groß geworden, die fast genauso aussah«, sagte er. »Barrow-in-Furness.«
»Hab ich noch nie von gehört.«
»Lohnt sich auch nicht.«
»Hören Sie mal, wo Sie gerade hier sind«, sagte Banks, »da ist noch 'ne kleine Angelegenheit, wo Sie vielleicht helfen könnten.«
»Ja? Was denn?«
»Die Familie neben meinen Eltern«, erklärte Banks. »Ich weiß nicht, wie die heißen, aber der Typ sieht aus wie Fred West -«
»Ach, die Wyatts.«
»Wyatt heißen die?«
»Ja, ist eher ein Oberbegriff. Ehrlich gesagt nehme ich an, dass er der einzige Wyatt ist. Sie heißt Fisher. Die Kinder sind von einem Young, einem Harrison und einem Davies. Muss ich noch mehr erzählen?«
»Wie viele insgesamt?«
»Die Gemeinde hat fünf angegeben. Für mehr ist das Haus gar nicht ausgelegt.«
»Ich habe einen Schlafsack auf der Treppe gesehen.«
»Waren Sie im Haus?«
»Lärmbelästigung.«
»Ach so. Nach unserer jüngsten Schätzung leben da ungefähr zwölf Personen, plus/minus zwei.«
»Können Sie nichts unternehmen?«
»Was denn?«
»Wegen Drogen, zum Beispiel. Und es würde mich nicht wundern, wenn einige Kinder sexuell missbraucht würden.«
»Mich auch nicht.« Kelly trat die Zigarette aus. »Ist nur 'ne Frage der Zeit«, erklärte er. »Sie wissen doch, wie sich so was hinziehen kann. Aber wir haben sie im Auge, und das Sozialamt prüft sie ebenfalls. Früher oder später wird einer was finden.«
»Und dann?«
Kelly lachte. »Und dann? Wissen Sie genauso gut wie ich. Dann beginnt das Spiel von vorn. Die ziehen in eine andere Siedlung, so ähnlich wie diese, und es geht wieder von vorne los.«
Die Uniformierten kamen heraus, Geoff Salisbury mit hängenden Schultern zwischen sich. »Fertig«, sagte einer. Salisbury warf Banks einen Blick zu, der zwischen purem Hass und der Bitte um Verständnis und Vergebung schwankte. Banks wusste nicht, was ihm lieber war.
»Gut.« Kelly klatschte in die Hände. »Dann wollen wir mal sehen, was der Wachhabende dazu sagt. Ihnen eine gute Nacht, Chief Inspector Banks. Vielleicht müssen wir noch mal mit Ihnen reden.«
Banks lächelte. »Rufen Sie einfach an.«
Als Banks am sonnigen Montagmorgen vom Vogelgezwitscher vor seinem Fenster erwachte, hatte sich die Nachricht von Geoff Salisburys Verhaftung bereits in der ganzen Siedlung herumgesprochen. Als er zum Frühstück nach unten ging, saßen seine Eltern schweigend am Tisch. Er goss sich eine Tasse Tee ein. Seine Mutter würdigte ihn keines Blickes.
»Habt ihr es schon gehört?«, fragte er.
»Das mit Geoff?«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Mrs Wilkins war hier und hat es mir erzählt. Da steckst du doch hinter, stimmt's?«
»Ich hatte keine andere Wahl, Mom«, sagte Banks und legte ihr die Hand auf den Arm. Sie zog ihn fort.
»Wie konntest du das nur tun? Du weißt ganz genau, was er uns bedeutet hat.«
»Mom, Geoff Salisbury ist ein Mörder! Er hat Mr Green und Kays Mutter umgebracht.« Von seiner eigenen Mutter ganz zu schweigen, dachte Banks. »Ich verstehe nicht, wie du ihn noch verteidigen kannst. Du hast diese Menschen doch gekannt! Das waren deine Nachbarn.«
Mrs Banks schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Doch nicht Geoff! So etwas würde er niemals tun! Er kann keiner Seele etwas zuleide tun.«
»Er hat es gestanden.«
»Weil du ihn dazu gezwungen hast. Du hast ihn so lange verhört, bis er nicht mehr wusste, was er sagte.«
»So arbeite ich nicht, Mom. Glaub mir, er hat das wirklich getan. Möglicherweise hat er geglaubt, etwas Gutes zu tun, der Familie einen Gefallen zu tun, aber das ändert nichts an der Tatsache.«
Banks sah zu seinem Vater hinüber, der seinen Blick erwiderte. Er wusste, dass sie beide denselben Gedanken hatten: Wer wäre der Nächste gewesen?
Banks stand auf. »Ähm, Mom, ich muss jetzt los.«
»Du hast nichts als Ärger gemacht hier! Es sollte ein schönes Wochenende werden! Jetzt guck nur, was du angerichtet hast! Alles verdorben, wie immer! Wenn bloß Roy noch hier wäre!«
Schweren Herzens wandte Banks sich ab. Es gab nichts mehr zu sagen. Ebenso wie sie von Geoff Salisburys Unschuld überzeugt war, glaubte sie an Roys Interesse und Fürsorge.
»Tut mir leid, Mom«, sagte er, dann lief er nach oben, um seine Siebensachen zu packen. Er sah die Kisten mit Schallplatten und Schulheften und beschloss, sie stehenzulassen. Nur die Gedichte nahm er mit.
Loslassen.
Als er in der Tür seines Zimmers stand, kam sein Vater langsam die Treppe herauf. Auf dem Treppenabsatz schauten sie sich an. »Sie ist durcheinander«, sagte Arthur Banks. »Sie weiß nicht, was sie sagt. Ich kümmere mich um sie. Ich sorge dafür, dass sie es einsieht.«
»Was einsieht? Ich bin mir ja selbst nicht sicher. Habe ich das Richtige getan?«
»Das kannst du nur selbst entscheiden, Junge. Aber du hast deine Arbeit getan. Du hattest keine andere Wahl. Du bist bei der Polizei, und er ist ein Verbrecher. Deine Mutter wird schon drüber hinwegkommen. Sie hat ihn einfach gern gemocht. Er hat sich hier nützlich gemacht. Und er konnte richtig charmant sein.«
»Ich weiß«, sagte Banks. »Sind solche Leute oft.«
»Du weißt, dass sie nicht gerne zugibt, wenn sie sich geirrt hat. Aber wenn er die Leute wirklich umgebracht hat, dann hattest du recht. Du hast nur deine Arbeit gemacht. Mich hat nicht gestört, wenn hier und da mal etwas Geld fehlte - glaub nicht, dass ich das nicht gemerkt hätte, ich habe nur wegen deiner Mutter den Mund gehalten -, aber bei Mord ist bei mir Schluss.« Er lachte. »Wer sagt denn, dass ich nicht der Nächste gewesen wäre, hä?«
Sie wussten beide, dass viel mehr Wahrheit in dem Satz steckte, als sie zugeben wollten.
»Tschüs, Dad«, sagte Banks. »Ich melde mich.«
»Lass was von dir hören, mein Junge. Und mach dir keine Sorgen. Deine Mutter kommt schon drüber weg. Ich sag ihr in ein paar Tagen, dass sie dich mal anrufen soll, ja?«
»Bitte.«
Sein Vater lächelte. »Oder lieber eine E-Mail schicken?«
Unwillkürlich trat Banks vor und nahm seinen Vater in den Arm. Es war eine kurze Umarmung, er spürte nur schwach, wie sein Vater ihm die Schulter drückte, aber es reichte.
Banks sprang die Treppe hinunter und stapfte mit Tränen in den Augen zu seinem Wagen. Seine Jackentasche war schwerer als sonst, er merkte, dass er noch immer Kays Lady Chatterleys Liebhaber mit sich herumtrug. Nun konnte er das Buch genauso gut behalten. Vielleicht würde er sogar dazu kommen, es zu lesen, über dreißig Jahre nachdem er es ausgeliehen hatte.
Als er an der Fahrertür stand, stieß er einen lauten Fluch aus. Irgendjemand hatte mit einem Geldstück oder Nagel eine Schramme in den Lack geritzt, von vorne bis hinten. Er meinte, jemanden oben im Haus der Wyatts lauern zu sehen.
Scheiß auf sie. Scheiß auf diese Schweine, dachte er, stieg ein und fuhr davon.